Israel und Palästina

aus der Reihe: Kapital – Verbrechen

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Kapital – Verbrechen
Israel und Palästina
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 8. April 2002, 17.00–17.55 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 9. April 2002, 00.00–00.55 Uhr
Dienstag, 9. April 2002, 08.00–08.55 Uhr
Dienstag, 9. April 2002, 14.00–14.55 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
 
 

Ich danke der edition Körber–Stiftung und dem Unionsverlag für die freundliche Überlassung der Fotos und der Cover–Abbildungen. Um die Ladezeiten dieser Datei nicht unnötig zu verlängern, habe ich die überlassenen Fotos und Abbildungen verkleinert auf diese Seite übernommen; ein Klick auf die entsprechende Abbildung führt zum Original. Ich danke Katharina Mann für die Bearbeitung der Bilder auf dieser Seite.

 
 
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Notwendige Vorbemerkung

Keine und niemand ist davor gefeit, daß Personen oder Organisationen, mit denen man und frau nichts zu tun haben möchte, die eigenen Gedanken als Steinbruch benutzen, um ihre eigenen wirren, kruden und mitunter auch menschenverachtenden Theorien zu begründen. Offensichtlich betrachten sie die notwendige Kritik an einer konkreten israelischen Politik als Alibi, um versteckt unter dem Deckmantel der Gedankenfreiheit ihren antisemitischen Gedanken frönen zu können.

Bei Auswertung meiner Logfiles mußte ich feststellen, daß eine Homepage, deren Verfasser/innen ich dem nationalrevolutionären Spektrum zurechne, auf eine meiner Seiten verlinkt hat. Von diesem Link, dem rechtlich nur schwer beizukommen ist, distanziere ich mich ausdrücklich und erkläre noch einmal ganz deutlich: Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!

Ansonsten halte ich es mit Siouxsie Sioux, die 1976 aus dem Mittelschichts–England heraus die britische Punk–Szene mit einem einzigen Auftritt im 100 Club aufmischte. Sie pushte die Sex Pistols und wurde innerhalb weniger Monate zum Haßobjekt der Regenbogenpresse. Mit Hakenkreuz–Armband und schwarzen Stiefeln provozierte sie die Öffentlichkeit, die Susan Dallion alias Siouxsie Sioux in die Nazi–Ecke steckte. Doch im Gegensatz zu den Böhsen Onkelz, die ja auch aus der Punk–Bewegung kommen und die immer noch Skinheads und Neonazis anziehen, hat sich Siouxsie Sioux eindeutig verhalten. So waren zu einem Konzert von Siouxsie and the Banshees 1981 jede Menge übel aussehender Skinheads gekommen. Während eines Stücks begannen sie laut Sieg Heil zu grölen. Die Banshees hörten auf zu spielen. Siouxsie rannte hinter die Kulissen und zog sich demonstrativ ein T–Shirt mit aufgedrucktem Davidstern an. Sie kam zurück auf die Bühne, beschimpfte die Skins und widmete ihnen das nächste Lied. Es war das kurz zuvor als Single erschienene Israel.

 

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Bush und Scharon
Kapitel 3 : Edward Said
Kapitel 4 : Michael Warschawski
Kapitel 5 : Dan Bar–On
Kapitel 6 : Argumente für Gewalt?
Kapitel 7 : Vertrauensbildende Maßnahmen
Kapitel 8 : Zusammenfassung
Kapitel 9 : Das Erbe
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte mit anschließender Sendungsankündigung auf Türkisch

Vom heutigen Montag an bis zum Mittwoch findet im beschaulichen Weimar der 2. Sankt–Petersburger Dialog zwischen deutschen und russischen Teilnehmerinnen und Teilnehmern statt. Erwartet werden auch der in Sachen Tschetschenien erfahrene Menschenrechtsexperte Wladimir Putin und sein Kumpel Gerhard Schröder. Beide werden dort über die üblichen Krisenherde konferieren – Palästina, Irak, Afghanistan und die Drohung der USA, ihre Atomwaffen auch in regionalen Konflikten einsetzen zu wollen. Nach Berichten des ZDF vom Sonntag bietet Putin zudem an, zu internationalen Konsultationen über Tschetschenien als Teil der weltweiten Terrorismus–Bekämpfung bereit zu sein. Oder anders ausgedrückt, sagt er: wenn der Westen bereit ist, meine Feinde (und das ist – nebenbei bemerkt – die legale tschetschenische Regierung, die von Rußlands Truppen angegriffen worden ist) zu bekämpfen, dann bin ich bereit, die Bevölkerung Tschetscheniens nicht länger zu drangsalieren, zu entführen, zu bombardieren oder zu foltern. Schröder, Fischer und Scharping – unsere bundesdeutschen Menschenrechtsexperten – werden sicher wohlwollend auf dieses zynische Angebot eingehen.

Doch nicht Tschetschenien soll Thema meiner heutigen Sendung sein. Viel mehr als das, was ich in zwei Sendungen im November und Januar dazu zu sagen hatte, gibt es nicht zu berichten. Karl Grobe–Hagel hat in seinem im Neuen ISP–Verlag erschienenen Buch Geschichte und Politik Rußlands gegenüber Tschetschenien analysiert und ist dabei zu dem Schluß gekommen, daß Rußland im Namen der Antiterror–Bekämpfung einen brutalen und mörderischen Krieg gegen die Zivilbevölkerung führt. Mit Anne Nivat, die ein halbes Jahr in Tschetschenien als Journalistin unterwegs war und Kriegsgreuel miterlebt hat, hatte ich ein längeres Interview geführt und hier bei Radio Darmstadt gesendet. Ihr Bericht ist als Buch mit dem Titel Mitten durch den Krieg im Rotpunktverlag erhältlich.

Doch Schröder hat hier keine Probleme mit seinem Kumpel Putin – und die rotgrüne Menschenrechtskoalition mitsamt der gewissensgeplagten grünen Abgeordneten schweigt und spricht dem russischen Terror in Tschetschenien ihr Vertrauen aus. Verlogene Bande halt.

Joschka Fischer hingegen, der ja auch mitverantwortlich für den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 gewesen ist, schweigt nicht zu Israels Politik gegen Palästina. Gerne würde er als Vermittler einspringen, gerne würde er Israelis und Palästinensern die deutschen Vorstellungen von der Wahrung der Menschenrechte einprügeln ..., äh, nein, natürlich nicht, sondern selbstverständlich argumentativ nahebringen. Weil – Joschka Fischer ist ja ein geläuterter Staatsmann, der seiner Gewaltvergangenheit abgeschworen hat.

Reden wir also über Palästina, reden wir also über die israelische Besatzungspolitik. Doch was kann ich euch Neues erzählen über ein Thema, das derzeit in all seinen Facetten in Fernsehen, Hörfunk und Printmedien breitgewalzt wird, so ähnlich breitgewalzt wie sich das Vorgehen der israelischen Panzer auswirkt? Gibt es vielleicht Hintergründiges, worüber es lohnt zu berichten und was es lohnt, gehört zu werden? Ich denke schon. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt begrüßt euch dazu Walter Kuhl.

 

Bush und Scharon

Wir sehen die Bilder im Fernsehen, wir überfliegen die Nachrichten in den Zeitungen. Israel führt Krieg. Premier Scharon hat dies unmißverständlich klargestellt. Scharon, der von einer breiten Mehrheit gewählt worden ist. Scharon, der Kriegsverbrecher. Die Mehrheit der Menschen in Israel war offensichtlich bereit, einem bekannten und anerkannten Kriegsverbrecher die Macht in die Hand zu geben. Über die von christlichen Milizen in den Lagern von Sabra und Schatila 1982 durchgeführten Massaker wachte die israelische Armee unter dem Befehl Ariel Scharons. Weniger bekannt ist, daß Scharon Wiederholungstäter ist. In einer Petition vom 13. Januar 2001 rufen arabische Aktivisten und Organisationen in den USA dazu auf, Scharon zu verhaften und anzuklagen. Darin heißt es :

Drei Jahrzehnte zuvor führte Scharon als junger Armeeoffizier ein israelisches Elitekommando an, die Einheit 101, die brutale Überfälle auf Palästinenser verübte. Das Massaker im Westbank–Dorf Qibya vom 14. Oktober 1953 war vielleicht das berüchtigtste. Scharons Einheit sprengte in diesem Dorf 45 Häuser in die Luft und tötete 69 Zivilisten, zwei Drittel davon Frauen und Kinder. [1]

Darüber berichtet der israelische Historiker Avi Shlaim in seinem Buch Die eiserne Mauer. Der israelische Korrespondent Gideon Levy besuchte das Dorf Qibya 48 Jahre später und schreibt am 16. Februar 2001 in der israelischen Zeitung Ha'aretz über dieses Massaker: Bevor die Häuser in die Luft gesprengt wurden, warfen israelische Soldaten Granaten in die bewohnten Häuser hinein. Die Aktion galt als Vergeltung für die Ermordung einer Israelin und ihrer beiden Kinder am Tag zuvor. Selbstverständlich kamen deren Mörder nicht aus diesem Dorf. Natürlich geht es nie darum, die wirklichen Täter zu fassen. Es geht um Einschüchterung und Machtpolitik. In israelischen Gefängnissen wird gefoltert und das ist auch bis vor kurzem gesetzlich erlaubt gewesen. Willkürlich werden Menschen verhaftet und aufgrund eines Gesetzes aus der britischen Mandatszeit für sechs Monate inhaftiert. Administrativhaft nennt sich das. Diese Administrativhaft kann beliebig oft verlängert werden; in manchen Fällen bis zu sieben Jahren.

Um die Spuren der Folter zu verwischen, ist es weder nahen Angehörigen noch gar Rechtsanwältinnen erlaubt, die Gefangenen in den ersten drei Wochen ihrer Haft zu besuchen. Kinder, die Steine gegen die Besatzungsmacht werfen, werden, wenn sie gefaßt werden, nicht einfach verhaftet. Ihnen werden systematisch Arme und Handgelenke gebrochen. Als weitere Maßnahmen der Besatzungspolitik gelten: das willkürliche Sprengen von Häusern, Wirtschaftsblockaden, Straßensperren und die Vertreibung von den Ländereien, auf denen immer wieder neue jüdische Siedlungen gewaltsam errichtet werden. Es handelt sich hierbei selbstverständlich immer um das fruchtbarste Land der Gegend. All dies sind Maßnahmen, die laut internationalem Völkerrecht und den Genfer Konventionen verboten sind. Aber wer die Macht hat, muß sich darum nicht scheren.

Daß Israel so ziemlich jede UN–Resolution, die das Ende der Besatzungspolitik, der Gewalt und den Rückzug innerhalb der Grenzen vor dem 6–Tage–Krieg 1967 fordert, ignoriert und auch ignorieren kann, ist nur dadurch zu verstehen, daß Israel international Rückendeckung erhält und als Ordnungsfaktor innerhalb der Region eine wichtige Rolle spielt. Israel ist zudem die einzige Atommacht der Region.Ändert sich vielleicht daran etwas? US–Präsident George Dubya Bush forderte Ende letzter Woche Israel zum Rückzug aus den Palästinensergebieten auf. Doch schauen wir etwas genauer hin, hören wir genauer hin. Was hat Bush wirklich gesagt? Er sagt:

Israel muß verstehen, daß seine Reaktion auf die jüngsten Anschläge nur eine vorübergehende Maßnahme ist.

Das heißt – übersetzt in die Sprache der Machtpolitik: Nachdem ihr (also die israelische Armee) tabula rasa gemacht habt und ein Land voll verbrannter Erde hinterlassen habt, solltet ihr euch zurückziehen, um den Hoffnungs– und Perspektivlosen Gelegenheit zu geben, sich Israel in jeder Hinsicht zu unterwerfen. In den Worten Bushs:

Frieden mit Israel ist der einzige Weg zu Wohlstand und Erfolg für einen neuen palästinensischen Staat. Das palästinensische Volk hat Frieden und die Chance auf ein besseres Leben verdient. Es braucht Israel als Wirtschaftspartner, nicht aber als Erzfeind. [2]

In diesen Überlegungen spielt Arafat keine Rolle mehr. Er habe den Terror nicht stoppen können. Darauf komme ich gleich noch zurück. Doch einen Gedanken George Dubya Bushs finde ich typisch für die Verlogenheit und den Zynismus der Arroganz der Macht. Er warnte in seiner Rede vom vergangenen Donnerstag die Palästinenser, daß die USA jeden als Terroristen betrachten würden, der Terroristen unterstütze. Selbstverständlich hat er weder sich noch seinen Vater, den Ex–Präsidenten und CIA–Chef gemeint. Er hat nicht diejenigen gemeint, die Scharon aufgebaut und unterstützt haben. Auch nicht den US–Geheimdienst, der das al–Qaida–Netzwerk gesponsert hat, als es noch nützlich war im Kampf gegen die böse Sowjetunion. Von der bis heute andauernden Unterstützung für türkische und kolumbianische Generäle, sowie der terroristischen UÇK im Kosovo und in Mazedonien einmal ganz zu schweigen. Diese Terroristen zu unterstützen, zeugt nämlich von staatsmännischer Größe. Doch wer sich nicht dem Diktat der globalen Macht unterwerfen will, ist ein Terrorist, der mit allen legalen und vor allem illegalen Mitteln zu bekämpfen, zu foltern und zu töten ist.

 

Edward Said

Doch zurück zu Arafat. Edward Said schreibt in der Aprilausgabe der Sozialistischen Zeitung[3] treffend:

Seit ihrem Beginn vor anderthalb Jahren hat die palästinensische Intifada wenig politische Wirkung gehabt, trotz der bemerkenswerten Kraft eines unbewaffneten, schlecht geführten und noch immer entrechteten Volkes, das in einem militärisch besetzten Land den erbarmungslosen Zerstörungen der israelischen Kriegsmaschinerie trotzt.
In den USA haben sich Regierung und die sog. unabhängigen Medien – mit wenigen Ausnahmen – darin übertroffen, auf palästinensischer Gewalt und palästinensischem Terror herumzureiten, ohne die 35–jährige militärische Besatzung durch Israel – die längste in der modernen Geschichte – zu berücksichtigen. Die US–amerikanische Regierung hat nach dem 11. September Yasser Arafats Autonomiebehörde verurteilt, sie biete dem Terrorismus Zuflucht und fördere ihn sogar. Das hat die lächerliche Behauptung der Regierung Sharon noch verstärkt, Israel sei das Opfer und die Palästinenser die Aggressoren.
Die Palästinenser sind in 220 Ghettos eingeschlossen, die von der Armee kontrolliert werden; Apache–Hubschrauber aus den USA, Merkava–Panzer und F–16 mähen täglich Menschen, Häuser, Olivenhaine und Felder nieder; Schulen und Universitäten sowie Geschäfte und zivile Einrichtungen sind völlig zerstört. Hunderte unschuldiger Zivilisten wurden getötet, Zehntausende verwundet; die Mordanschläge gegen palästinensische Führer gehen weiter; der Anteil der Erwerbslosen und Armen liegt jetzt bei 50% – und dann beklagt sich General Anthony Zinni über palästinensische Gewalt bei Arafat, der seinen Amtssitz in Ramallah nicht verlassen kann, weil er dort von israelischen Panzern festgehalten wird und seine reichlich ramponierten Sicherheitskräfte damit beschäftigt sind, die Zerstörung ihrer Büros und Kasernen zu überleben. […]
Jede Forderung Sharons beeilt sich Arafat zu erfüllen, auch wenn Sharon immer neue erhebt, einen Vorfall provoziert oder – mit Unterstützung der USA – einfach sagt, Arafat bleibe für ihn ein irrelevanter Terrorist, dessen Hauptziel es sei, Juden zu töten. Auf diese Anhäufung brutaler Angriffe antwortete Arafat mit der Forderung nach erneuten Verhandlungen, als ob Sharon nicht offen eine Kampagne gegen Verhandlungen führte und sich die ganze Idee des Osloer Friedensprozesses nicht bereits verflüchtigt hätte.
Ein genauerer Blick auf die palästinensische Wirklichkeit erzählt eine etwas ermutigendere Geschichte. Neue Umfragen haben gezeigt, daß unter den Palästinensern Arafat und seine islamistischen Opponenten (die sich beide zu Unrecht als den Widerstand betrachten) zusammen etwa 40–45% Zustimmung erhalten. Das bedeutet, daß eine schweigende Mehrheit der Palästinenser weder das Vertrauen der Autonomiebehörde in den Prozeß von Oslo teilt und auch nicht ihr gesetzloses Regime der Korruption und Repression, noch der Gewalt der Hamas zustimmt.

Soweit Edward Said. [3]

Selbstverständlich gibt es auch Gewalt und Selbstmordattentate von palästinensischer Seite. Aber so zu tun, als kämen sie aus heiterem Himmel, ist so absurd, wie Schimon Peres seinerzeit den Friedensnobelpreis zu überreichen. Inzwischen bedauern es Mitglieder des Nobelkomitees, dem heutigen israelischen Außenminister 1994 für seine Bemühungen um Frieden in der Region ausgezeichnet zu haben. [4]

Dabei hätten schon damals die Mitglieder des Nobelkomitees genauer hinschauen können. Der Vertrag von Oslo war schon damals als Versuch zu erkennen, eine unkontrollierbare Situation wieder kontrollieren zu können. Minimalste Zugeständnisse an Palästinenserinnen und Palästinenser sollten es Israel ermöglichen, weiterhin ungehemmt Siedlungen auf palästinensischem Boden zu errichten. Arafats Autonomiebehörde sollte die Drecksarbeit für Israel erledigen – inklusive der politischen Verfolgung, Inhaftierung und Folterung Oppositioneller.

 

Michael Warschawski

Michael Warschawski meint hierzu in einem Interview [5] mit derselben – der Sozialistischen Zeitung:

Frage : Welche Rolle spielt Arafat im Moment?
Ich glaube, daß Arafat nach dem Prozeß von Oslo eine doppelte Politik verfolgt. Ich bin nicht damit einverstanden, Arafat einen Kollaborateur Israels zu nennen, ihn mit Petain zu identifizieren und Arafat und die Autonomiebehörde mit der südlibanesischen Armee von General Lahad zu vergleichen. Das scheint mir ein Irrtum zu sein. Arafat verfolgte in der Vergangenheit eine doppelte Politik und setzt diese Linie derzeit fort. Sie besteht darin, einen Kompromiß zu suchen, was nicht immer auf Zustimmung in der palästinensischen Gemeinschaft stößt und Debatten und schwere Auseinandersetzungen hervorruft. Arafat ist ein nationaler Führer, der offen ist für große Kompromisse, über die man streiten kann und muß und über die gestritten wird. Aber es gibt eine Grenze für seine Kompromißbereitschaft. Das war genau der große Irrtum Ehud Baraks, der in seiner kolonialen Arroganz glaubte, er könne Arafat einen Plan aufzwingen, der die Errichtung von Bantustans vorsah.
Arafat hat bereits einen sehr weitgehenden Kompromiß akzeptiert: Er verzichtet auf 80% Palästinas, akzeptiert die Versöhnung mit Israel, aber er ist nicht bereit, über die restlichen 20% zu verhandeln. Das Minimum ist in seiner Politik klar definiert. Arafat hat nicht die Tür zu einer Kooperation mit Israel zugemacht, aber es gibt eine Grenze. Das ist sein Doppelspiel: Er verhandelt und er ist bereit, die Region zu befrieden, aber das hat einen Preis, und solange Israel nicht bereit ist, diesen Preis zu bezahlen, führt Arafat auch einen Teil des Widerstands gegen die Besatzung. Das Problem ist, daß Sharon und vor ihm Barak den Spielraum Arafat eingeschränkt haben, indem sie ihn zu mehr Widerstand und weniger Kooperation trieben, so daß er nicht anders konnte – gewollt hätte er schon anders. Er ist in Ramallah gefangen, während die Armee die Infrastruktur der palästinensischen Polizei und Verwaltung zerstört. Die Fähigkeit Arafats, die Ordnung aufrecht zu erhalten und ein Minimum an Widerstand zu leisten, um einen für die palästinensische Bevölkerung annehmbaren Kompromiß zu erreichen, ist sehr eingeschränkt.

Soweit Michael Warschawski [5]. Die Frage ist jedoch, mit welchem moralischen Recht Israel sein Überleben und das der Nachkommen des Holocaust dadurch legitimieren kann und darf, daß es Menschen vertreibt, aushungert, foltert oder umbringt. Die Frage ist auch, ab wann eine Kritik an Israel antisemitisch ist, und auch, welche der derzeit an der israelischen Besatzungspolitik vorgebrachten Kritiken in der Tat antisemitisch motiviert sind.

Ich möchte mich der Beantwortung dieser und anderer Fragen von einem ganz anderen Blickwinkel nähern. Der israelische Psychologe Dan Bar–On hat in seinem Buch Die »Anderen« in uns versucht, Wege aufzuzeigen, die einen Dialog als Modell der interkulturellen Konfliktbewältigung ermöglichen können.

Den nachfolgenden Absatz habe ich in freier Rede hinzugefügt:

Und wenn ich gerade von Antisemitismus gesprochen habe, dann frage ich mich schon, was die Berichterstattung in unseren Medien gerade anstellt in einem Land, das in der Tat – mehr oder weniger versteckt, aber manchmal auch sehr manifest – antisemitisch ist. Wenn Israel kritisiert wird, dann bitte sehr mit Methoden und Mitteln, die diesen Antisemitismus nicht fördern.

 

Dan Bar–On

Den nachfolgenden Absatz habe ich in freier Rede hinzugefügt:

Mausklick für VollbildIch möchte, bevor ich Dan Bar–On selbst zu Wort kommen lasse, noch ein paar Worte zu ihm sagen. Dan Bar–On war ursprünglich für die israelische Armee als Psychologe tätig, und hat dort so einiges miterlebt, was das Besatzungsregime auch mit den israelischen Soldatinnen und Soldaten angestellt hat. In seiner psychologischen Arbeit ist er dann aber ein paar Schritte weiter gegangen und hat versucht, mit Überlebenden des Holocaust auf der einen Seite, aber auch mit den Nachkommen dieser Generation auf der Opfer– und auf der Täterseite Gespräche zu führen, und diese auch zusammenzubringen, um einen Dialog zu ermöglichen, der gewisse Barrieren überschreitet. Und dasselbe hat er dann auch mit Israelis und Palästinensern versucht, also eine Möglichkeit des Dialogs. Aber ich lasse ihn am besten selbst zu Wort kommen. Dan Bar–On schreibt in seinem Buch Die »Anderen« in uns :

Die tiefere Ebene des ungelösten Konflikts hängt mit dem Fehlen einer echten Bereitschaft sowohl der palästinensischen als auch der jüdischen Israelis zusammen, das politische Abkommen mitzutragen, weil sie die »Andersheit« des jeweiligen »Anderen« nicht ertragen können. Ich will mich hier auf die Furcht der jüdischen Israelis vor dem arabischen »Anderen« konzentrieren, auf unsere Ambivalenz im Hinblick auf die eigene internalisierte Aggression und die Angst vor dem Ende des Konflikts.
Unsere Furcht vor dem »Anderen«hängt damit zusammen, daß wir der Ernsthaftigkeit der palästinensischen Absichten zutiefst mißtrauen. Sprechen »sie« vom Frieden, befürchten wir dahinter einen langfristigen Plan, uns zu vernichten. […] Unsere ambivalente Einstellung zum Einsatz von Gewalt und Aggression ist ein Rest der monolithischen Konstruktion der Identität und führt dazu, daß wie uns sehr stark und mächtig und gleichzeitig sehr schwach und verletzlich fühlen. Diese Ambivalenz wird verstärkt durch unsere Selbstwahrnehmung als ewige Opfer und Helden, die immer noch mit dem Diaspora–Juden verbunden ist. Sie ist dafür verantwortlich, daß wir sehr sensibel für den Schaden sind, den die andere Seite uns zufügt, aber gar nicht sensibel für das, was wir ihnen zufügen. Unsere Angst vor dem Ende des Konflikts hängt damit zusammen, daß viele Menschen ihre Identität um den Konflikt konstruiert haben und sein Wegfall eine beängstigende Neukonstruktion erfordert. Wenn wir nicht weiterhin durch die Negierung des »Anderen« und durch den Haß des »Anderen« bestimmt bleiben wollen, müssen wir neu definieren, wer wir sind. [6]

Dan Bar–On findet seine Position im israelisch–palästinensischen Konflikt auch und gerade aus seiner psychologischen Arbeit heraus. In den 80er Jahren versuchte er herauszufinden, wie die Nachkommen sowohl der Holocaust–Opfer wie auch der deutschen Täter mit dem Schweigen in ihren Familien umgegangen sind. Daraus erwuchs eine Initiative, die beide Seiten versucht hat zusammenzubringen: To Reflect and Trust [6a]. In der Beschäftigung mit dieser Thematik sind ihm einige wichtige Punkte aufgefallen.

So gibt es in der jüdischen Tradition ein grundlegend anderes Verhältnis zum Konzept der Versöhnung, als wir es gewohnt sind. Versöhnung ist etwas, was nur die Opfer aussprechen können, was aber (von den Tätern oder ihren Nachkommen) nicht eingefordert werden kann. Versöhnung kann und darf verweigert werden. Und so kam es zu einer völlig verständlichen Haltung – nämlich den Deutschen nicht zu verzeihen. Dazu Dan Bar–On :

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Obwohl die Juden nicht bereit waren, den Deutschen zu vergeben und sich mit ihnen zu versöhnen, beteiligten sie sich interessanterweise nach dem Krieg selten an Racheakten gegen Deutsche. Berücksichtigt man die Rachephantasien, von denen die Überlebenden der Nazi–Lager berichteten, ist das verwunderlich. Man könnte behaupten, dies habe eine moralische Erklärung: Die Juden hätten »sich nicht auf die Ebene der Unmenschlichkeit der Nazi–Unterdrücker begeben« wollen. Durch den Verzicht auf Rache fühlten sie sich »stärker als Hitler«. Nach dieser Argumentation scheint die Option des »Auge um Auge« der jüdischen Tradition und Religion zu widersprechen. Eine weitere, im psychosozialen Kontext diskutierte Möglichkeit lautet: Aggression verschwindet nicht, sondern wird transformiert. Danach hätten die Juden einen Teil der zurückgehaltenen Aggression aus der Nazi–Zeit (und aus früheren Verfolgungen) internalisiert, kollektiv verschoben und später gegen die Palästinenser gerichtet. [7]

 

Argumente für Gewalt

Bevor ich Dan Bar–On weiter zu Wort kommen lasse, möchte ich kurz auf die israelische Besiedlung Palästinas eingehen. Es handelt sich hierbei nicht um einen friedlichen Prozeß. Die Errichtung des britischen Mandatsgebietes nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches ging von der Vorstellung aus, daß die arabischen Wilden unfähig seien, sich wie zivilisierte Menschen selbst zu regieren. Entsprechend wurde die zionistische Besiedlung des Landes zumindest stillschweigend gefördert, in der Hoffnung, die Barbaren damit beherrschen zu können.

Die Barbaren jedoch ließen sich das nicht gefallen. Zwar ist es richtig, daß die ersten jüdischen Siedlerinnen und Siedler den größten Teil ihres Landerwerbs mit friedlichen Mitteln erreichten, durch Kauf also, doch stellt sich schon die Frage, ob die ganz normale kapitalistische Gewalt des Marktes wirklich so friedlich ist, wie sie gerne hingestellt wird. Doch neben Landkauf wurden vor allem in den 30er und 40er Jahren auch handfestere Methoden des Landraubs praktiziert. Terrorismus auf beiden Seiten schuf garantiert keine Basis für ein vertrauensvolles Nebeneinander, obwohl es das auch gab. Unerheblich finde ich in diesem Zusammenhang, ob der Großmufti von Jerusalem ein Anhänger Hitlers und seiner Methoden war. Die kollektive Zuschreibung dieser Position auf die gesamte arabische Bevölkerung ist weder eine Legitimation für den Terror heute, noch eine Legitimation für Landraub und Terrorismus in den 30er und 40er Jahren.

Ein gewichtigeres Argument ist jedoch, daß Israel der einzige Staat ist, in dem Jüdinnen und Juden nicht befürchten müssen, diskriminiert, verfolgt, vertrieben oder umgebracht zu werden. Auch wenn dies – wie die jüngsten Selbstmordattentate zeigen – eine sehr zweifelhafte Sicherheit ist, so ist dies allerdings nicht von der Hand zu weisen. Jedoch begründet auch dies nicht eine Politik der Vertreibung und der Besetzung Palästinas mit all seinen unerfreulichen Folgen. Ich denke, dies sind weitgehend Schutzbehauptungen. Dan Bar–On zeigt deutlich, daß gerade die Überlebenden des Holocaust im Israel der 50er und 60er Jahre keinen leichten Stand hatten. Ihnen wurde – offen oder hinter vorgehaltener Hand – vorgeworfen, sich nicht gewehrt zu haben. Das ist zwar absurd, aber psychologisch verständlich. Die Konstruktion der israelischen Identität entstand zur Zeit der Staatsgründung im Abwehrkampf gegen durchaus berechtigte Ansprüche der dort lebenden arabischen Menschen auf dasselbe Land.

Eine Identität, die sich durch Abgrenzung, gegen andere, konstruiert, kann nur künstlich und gewaltsam zusammengehalten werden. Dies ist nicht nur in Israel so, sondern in jeder Gemeinschaft, die sich durch Negativabgrenzung nach außen definiert. Wir sind die Guten und da draußen herrscht das böse Chaos, der Feind. Das Konzept der verschworenen Gemeinschaft läßt keine Abweichung zu und deckt jedes Verbrechen.

Und die Gründung des Staates Israel ist mit Verbrechen gegen das Völkerrecht und die Menschlichkeit verbunden. Hunderttausende Palästinenserinnen und Palästinenser wurden vertrieben oder ergriffen nach mehreren bewußt inszenierten Massakern die Flucht. Zwar ist es richtig, daß nach Ablauf des UN–Mandates und dem Abzug der britischen Mandatstruppen der israelische Teil Palästinas von mehreren arabischen Staaten angegriffen worden ist. Rechtfertigt dies Massaker an der Zivilbevölkerung und das, was wir heute ethnische Säuberungen nennen?

Wir haben also – sagt Dan Bar–On – ein Dreieck aus Deutschen, Juden und Palästinensern konstruiert und damit die fehlende Bereitschaft der jüdischen Holocaust–Überlebenden, den Deutschen zu vergeben und sich mit ihnen zu versöhnen, zu begründen versucht. Nun wollen wir zu begründen versuchen, warum die israelischen Juden von den palästinensischen Partnern im gegenwärtigen Konflikt eine andere Haltung erwarten und die Palästinenser nicht bereit sind, diese Erwartung zu erfüllen. Die Palästinenser fordern als Vorbedingung für Vergebung und Versöhnung, daß die Juden die moralische Verantwortung für ihren Anteil an Al Nakbeh (»die Katastrophe«) und am Entstehen des palästinensischen Flüchtlingsproblems 1948 übernehmen. Für die israelischen Juden ist diese Anerkennung gleichbedeutend mit dem Verlust der moralischen Existenz als Staat im Nahen Osten. Dieser Logik zufolge müßten sie im Falle einer Anerkennung der Verantwortung auch die palästinensische Forderung nach einem Rückkehrrecht der Flüchtlinge in ihre Heimat und ihr Land in Israel akzeptieren. Das hieße unter anderem, einen potentiellen Zustrom von Millionen von Flüchtlingen in einem Staat mit jüdischer Mehrheit zu akzeptieren und diese demographische Mehrheit zu gefährden – die Juden würden dann zu einer Minderheit im eigenen Staat. Dies könnte in der Folge bedeuten, daß die Palästinenser ihren Staat bekämen und zusätzlich zur Mehrheit im Staat Israel würden. Es ist der israelisch–jüdische Angsttraum, daß die Palästinenser die Juden nach und nach »ins Meer treiben«. […]
Mit dieser Konstruktion ließe sich begründen, warum eine Gesellschaft, die überwiegend aus Flüchtlingen bestand, die Not ihrer Mitflüchtlinge so lange ignorieren konnte: Sie wurde als Bedrohung der eigenen unabhängigen Existenz betrachtet. Mit diesen Implikationen der Forderung der Palästinenser nach Anerkennung der Fehler der Vergangenheit können die israelischen Juden nicht umgehen. Indem sie aber andererseits heute von den Palästinensern Versöhnung und Vergebung fordern, schließen sie deren Forderung nach »historischer Wahrheit und Versöhnung« aus deren Perspektive aus. [8]

 

Vertrauensbildende Maßnahmen

Mausklick für VollbildUm zu wissen, ob du einer oder jemandem vertrauen kannst, mußt du ihr oder ihm – vertrauen. So simpel dieses Konzept ist, so wenig nutzt es in der konkreten Wirklichkeit. Macht und Herrschaft, Geld und Gewalt sind bestimmende Pole zivilisierten Miteinanders. Dan Bar–Ons Konzept, sowohl die Nachfahren von Holocaust–Opfern und Nazi–Tätern zusammenzubringen, als auch Israelis und Palästinenser miteinander reden statt kämpfen zu lassen, hat eine objektive Schranke. Sie kann zwar individuell überstiegen werden, aber im kollektiven Rahmen funktioniert dieses Konzept nur begrenzt. Dabei ist Dan Bar–On diese Grenze durchaus bewußt. Er weiß um das Machtgefälle zwischen Israelis und Palästinensern. Er weiß, daß hierin ein Problem liegt. Er weiß, daß es einen Unterschied macht, ob ein Täter auf Seiten der Macht oder der Ohnmächtigen handelt, ob ein Opfer die Macht hat, sich zur Wehr zu setzen, oder nicht. Deshalb gibt er sich auch keiner Illusion hin, als sei es relativ einfach, beide Seiten an einen runden Tisch zu setzen. Reflektion über gesellschaftliche Rahmenbedingungen ist daher auch eine Stärke des Ansatzes von Dan Bar–On, beide Gruppen miteinander in Dialog treten zu lassen. Doch eine Perspektive wird weitgehend ausgeblendet. Nämlich zu begreifen, daß die israelische Besiedlung Palästinas mehr ist als Landnahme von weltweit Flüchtigen. Israel ist auch – ich sage sehr bewußt: auch – ein imperialistisches Projekt. Die schon angesprochene Unterstützung Israels durch alle wichtigen westlichen Staaten ist kein Zufall.

Den nachfolgenden Absatz habe ich in freier Rede hinzugefügt:

Ich möchte trotzdem hierzu noch etwas sagen: Wenn ich sage, es ist auch ein imperialistisches Projekt, dann läuft das in eine Argumentationsschiene hinein, die weltweit behauptet, daß hinter allem Bösen die Juden stecken, daß hinter der US–amerikanischen Regierung die Juden stecken, daß hinter dem weltweiten Finanzjudentum eben die Juden stecken, und damit Israel eben ein imperialistisches Projekt ist. Genau diese Schiene meine ich nicht. Israel ist mehr und vielleicht auch in weiten Teilen etwas anderes, aber eben auch ein imperialistisches Projekt – wie die arabischen erdölfördernden Staaten auch ein imperialistisches Projekt sind, nämlich ein Projekt zur Sicherung der Erdölreserven für die westlichen kapitalistischen Länder. Ich meine damit Kuwait, Bahrain, die Vereinigten Arabischen Emirate und andere, deren Grenzen ja von den kolonialen Machthabern zu Beginn des 20. Jahrhunderts gezogen worden sind, künstlich gezogen worden sind, einfach als gerader Strich in die Landschaft. Insofern gilt dasselbe für Israel wie für Kuwait.

1956 taten sich Israel, Großbritannien und Frankreich zusammen, um den Suez–Kanal als eine der wichtigsten Wasserstraßen für die Beherrschung der Welt zu besetzen. Bush fällt Scharon ja auch nicht in die Arme. Es wäre ein Leichtes für ihn, den Terror Scharons zu stoppen. Würden die USA ihre Finanzhilfen einstellen, wäre Israel innerhalb eines Jahres pleite.

Nur – dazu Vorstellungen zu entwickeln, liegt außerhalb meiner Macht und Kompetenz. Warum soll ich begrüßen, wenn die einen Kriegstreiber die anderen unterstützen, oder warum soll ich es begrüßen, wenn sie es lassen? Worin liegt denn eigentlich die Perspektive für ein friedliches Miteinander in einer unfriedlichen Welt? Es ist sicher hilfreich, auf eine israelische Friedensbewegung zu hoffen. Aber was, wenn diese machtlos bleibt? Solange Scharon, Barak, Netanjahu oder Peres und die mit ihnen verbundenen Parteien an der Macht bleiben, wird sich wenig ändern. Allenfalls die Modalitäten des Besatzungsregimes ändern sich geringfügig. Mir ist deshalb nicht klar, auf was eine wirklich resolute Menschenrechtsaktivistin wie Felicia Langer eigentlich hofft, wenn sie schreibt:

Die palästinensischen und israelischen Friedens– und Menschenrechtsorganisationen appellierten im Sommer 2001 an die Weltgemeinschaft, doch endlich zu handeln und die Eskalation der israelischen Armee gegen die Palästinenser zu beenden, einen internationalen Schutz für das palästinensische Volk zu gewährleisten und sicherzustellen, daß jede Friedensregelung auf dem völligen Rückzug Israels aus den besetzten Gebieten basiert, so wie das dem internationalen Recht entspricht. [9]

Wer soll denn das sein? George W. Bush? Tony Blair? Wladimir Putin? Oder Joschka Fischer etwa, von dem Felicia Langer ja selbst schreibt, daß er sich zum Laufburschen der israelischen Forderungen an die Palästinenser hat machen lassen [10]? Der einzige, der mir einfällt, der sich nicht an imperialistischen Plänen zur Beherrschung der Welt beteiligt und dennoch über ausreichend Truppen verfügen würde, ist Fidel Castro. Und wir sind uns wohl einig, daß Kuba ganz sicher nicht um ein Kontingent UN–Friedenstruppen ersucht werden würde.

Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Ich denke, wir müssen uns einmischen. Wir sollten jedoch kein Eingreifen ausgerechnet derjenigen fordern, die sich täglich über das Völkerrecht und die Menschenrechte hinwegsetzen, also diejenigen, die selbst mittelbar oder unmittelbar den Terror fördern. Durch das UN–Wirtschaftsembargo sterben weiterhin Tausende Kinder im Irak. Tschetschenien wird weiterhin platt gemacht. Und was in Afghanistan wirklich passiert, wird uns nicht erzählt, außer, daß die Mörder von gestern heute wieder an der Regierung beteiligt sind.

 

Zusammenfassung

Jingle Alltag und Geschichte

Von der palästinensischen Seite habe ich noch gar nicht geredet. Doch dazu gleich mehr. Vorher möchte ich auf die Bücher hinweisen, die ich im Verlauf dieser Sendung angesprochen oder benutzt habe.

Zunächst das wirklich lesenswerte Buch von Dan Bar–On. Es heißt Die »Anderen« in uns und es geht darin um den Dialog als einem Modell interkultureller Konfliktbewältigung. Es behandelt Aspekte, die ethnischen, aber auch anderen Konflikten zugrundeliegen, und die meist in der Berichterstattung viel zu kurz kommen. Und wer sich mit Israel und Palästina beschäftigt, sollte vielleicht doch einen Blick gerade in dieses Buch werfen, weil es Facetten anreißt, die sonst viel zu kurz kommen. Dieses Buch ist in der edition Körber–Stiftung herausgekommen und kostet 15 Euro.

Das von Dan Bar–On initiierte Projekt To Reflect and Trust versucht, den Abgrund in diesen Konflikten zu überbrücken. Im Sommer 1998 fand in diesem Rahmen in Hamburg ein einzigartiges Seminar statt. Es trafen sich dort in der Friedensarbeit engagierte Menschen aus Südafrika, Nordirland, den USA, Israel und Palästina, und auch Deutsche. Reflektieren und Vertrauen – eine Möglichkeit, eine Situation zu entschärfen, wozu Politikerinnen und Militärs weder willens noch fähig sind.

So heißt dieser von Dan Bar–On herausgegebene Band auch Den Abgrund überbrücken. Wer sich dafür interessiert, wie es möglich sein kann, mit persönlicher Geschichte politischen Feindschaften zu begegnen, sollte dieses Buch zur Hand nehmen, das ebenfalls in der edition Körber–Stiftung erschienen ist. Es kostet 14 Euro.

Von Felicia Langer erschien Ende letzten Jahres im Lamuv–Verlag das Taschenbuch Quo vadis Israel? Ihr Schwerpunkt ist die neue, die Al–Aqsa–Intifada der Palästinenser. Ihr Plädoyer für ein Eingreifen von Außen, um die israelische Besatzungswillkür zu stoppen, bestimmt ihre Aussagen. Sie weiß, wovon sie schreibt. Als israelische Rechtsanwältin hat sie zwei Jahrzehnte lang so ziemlich jede Facette israelischer Gewalt kennengelernt. Ihr Buch kostet knapp 10 Euro.

Und schließlich der Roman Das Erbe von Sahar Khalifa, den ich gleich besprechen werde. Sahar Khalifa nimmt als Palästinenserin und als Frau kein Blatt vor den Mund. Sie glorifiziert den palästinensischen Widerstand nicht, weil sie sieht, auf wessen Rücken er ausgetragen wird. Auf dem Rücken der palästinensischen Frauen nämlich.

Und dann komme ich noch einmal kurz auf den 2. Sankt–Petersburger Dialog zurück, der ja von heute (Montag) bis zum Mittwoch dauert und in Weimar stattfindet. Oder soll ich statt Dialog sagen: Dialüg? Wie auch immer, was dort nicht besprochen wird, findet sich in den Büchern von Karl Grobe–Hagel und Anne Nivat wieder. Karl Grobe–Hagels Buch über Tschetschenien ist im Neuen ISP–Verlag erschienen; das Buch von Anne Nivat aus dem Rotpunktverlag heißt Mitten durch den Krieg.

Anregungen, Nachfragen oder Kritik zu dieser Sendung könnt ihr wie immer auf meine Voice–Mailbox bei Radio Darmstadt aufsprechen. Die Telefonnummer lautet (06151) für Darmstadt, und dann die 8700 192. Oder ihr schickt mir eine Email an: kapitalverbrechen@alltagundgeschichte.de.

Das Sendemanuskript dieser Sendung wird in wenigen Tagen auf meiner Homepage nachzulesen sein: www.waltpolitik.de. Oder ihr hört sie nochmal in der Wiederholung am Dienstag um 0 Uhr, um 8 und um 14 Uhr. Die nächste Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte könnt ihr am Dienstag um 18 Uhr 05 hören. Jetzt gleich folgen die Lokalnachrichten im Originalton Darmstadt. Bevor ich die – vorproduzierte – Besprechung des Romans von Sahar Khalifa starte, möchte ich mich für heute verabschieden. Am Mikrofon war Walter Kuhl.

 

Das Erbe

Mausklick für VollbildVor einigen Jahren fiel mir ein genialer Roman in die Hand: Die Sonnenblume der palästinensischen Autorin Sahar Khalifa. Sie schreibt darin von den Lebensbedingungen in Palästina und vom Kampf gegen die israelische Besatzung. Sie schreibt aber auch von revolutionären Maulhelden (also Männern) und davon, was die Befreiung Palästinas an Befreiung für die Frauen Palästinas bringen mag (wenig). Sahar Khalifa macht sich wenig Illusionen über das, was Männer für Befreiung halten. Dieses Grundthema durchzieht ihre Romane – angefangen mit Der Feigenkaktus, fortgesetzt mit Die Sonnenblume, vertieft in Das Tor und völlig desillusioniert in ihrem neuesten auf Deutsch erschienen Roman Das Erbe.

Die weibliche Hauptfigur des Romans, die die meiste Zeit völlig im Hintergrund bleibt, lebt in den USA und wird durch die Nachricht des Todes ihres Vaters nach Palästina gerufen. Es gebe ein Erbe, heißt es. Und so reist sie nicht nur zurück in ihre Heimat, in der sie nicht einmal geboren wurde, sondern auch in eine andere Welt. Sie spricht nicht einmal richtig Arabisch, und die Sitten und Gebräuche ihrer palästinensischen Verwandtschaft sind ihr nicht nur fremd, sondern befremden sie auch.

Der Roman spielt zur Zeit des Friedensprozesses von Oslo, also etwa 1993. Ein wenig Euphorie macht sich in Palästina breit. Es kann ja nur besser werden. Und wer ein bißchen Geld hat, überlegt, wo er es am besten investieren kann. Aberwitzige Pläne reifen; und die Familie der Hauptfigur beteiligt sich an einem Projekt zum Recycling der Abwässer in der Gegend von Nablus. Doch bis es soweit kommt, bringen Familienfehden und unvorhergesehene Erben die ganzen schönen Pläne mehrfach durcheinander.

Den Höhepunkt des Romans hätte Dario Fo nicht besser ersinnen können. Völlig durchgeknallt geraten die Pläne eines palästinensischen Kulturzentrums mit der wenig durchdachten Kläranlage durcheinander. Ein Riesenchaos entsteht; und es wäre zum Lachen, vielleicht ein befreiendes Lachen in all der Dumpfheit, wenn uns nicht die israelische Armee auf den Boden der Tatsachen zurückholen würde. Die Mutter des Erben ... ja, aber das solltet ihr selbst lesen.

Mausklick für VollbildWas den Roman Das Erbe jedoch auch ausmacht, ist die fast schon verzweifelte Suche nach Identität. Wer ist die Hauptfigur – Amerikanerin oder Palästinenserin? Wohin gehört sie und wohin driftet die palästinensische Gesellschaft? Gibt es noch Hoffnung auf ein besseres Leben? Worin liegt die Perspektive des Kampfes? Geht es letzten Endes darum, ein Stück vom Kuchen abzubekommen? Was macht Palästina aus?

Als die Revolution ausbrach, schlossen sich die Massen an. Intellektuelle und Tagediebe reihten sich ein, Erfolgreiche und Gescheiterte stießen dazu. Nun kamen die ersten Resultate. Doch die Revolution hat sie ausgesaugt. Sie gebar eine Generation, die sich weder qualifiziert noch arbeitet. Die bis mittags schläft und bis in den Morgen durchfeiert. Die debattiert und kommuniziert und auf einem Traum beharrt, der seinen Glanz verloren und seine Visionen eingebüßt hat. Die restauriert, wogegen sie einst aufbegehrte. Diese Generation hat zum Stamm, ja zum Stammesdenken zurückgefunden. Der Scheich ist wieder zur Autorität geworden. [11]

Sahar Khalifa läßt uns mit diesen Fragen allein. Nicht aus Ignoranz oder um uns vor den Kopf zu stoßen. Vielleicht bedarf es einer neuen Generation von Männern und Frauen in Palästina, um die Zeit nach Arafat und Scharon gestalten. Sahar Khalifa leitet heute ein palästinensisches Frauenzentrum in Nablus und Amman. Ihr Roman Das Erbe ist im schweizer Unionsverlag erschienen und kostet 19 Euro 80.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Felicia Langer : Quo vadis Israel? Seite 93    » [1]
[2]   Zitiert nach Darmstädter Echo vom 5. April 2002, Seite 3.   » [2]
[3]   Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 6. Der dort abgedruckte Text ist eine leicht gekürzte Übersetzung aus Al–Ahram Weekly, Kairo.   » [3]
[4]   Darmstädter Echo vom 6. April 2002, Seite 1.   » [4]
[5]   Sozialistische Zeitung, April 2002, Seite 16. Michael Warschawski ist Leiter des Alternative Information Centre in Jerusalem. Das Interview führte Cinzia Nachira Ende Februar 2002.   » [5]
[6]   Dan Bar–On : Die »Anderen« in uns, Seite 210–211.   » [6]
[6a]  Siehe hierzu die Besprechung des Buches von Dan Bar–On Die Last des Schweigens in meiner Sendung Väter vom 18. August 2003.   » [6a]
[7]   Dan Bar–On : Die »Anderen« in uns, Seite 225.   » [7]
[8]   Dan Bar–On : Die »Anderen« in uns, Seite 226–227.   » [8]
[9]   Felicia Langer : Quo vadis Israel? Seite 168.   » [9]
[10]  Felicia Langer : Quo vadis Israel? Seite 163.   » [10]
[11]  Sahar Khalifa : Das Erbe, Seite 305.   » [11]

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 4 Januar 2006 aktualisiert.
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