Tinderbox (40)

Reprise – Sonnenblumen

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Tinderbox (40)
Reprise
Sonnenblumen
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 16. Juni 2003, 17.00-18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 17. Juni 2003, 00.00–01.00 Uhr
Dienstag, 17. Juni 2003, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 17. Juni 2003, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Sahar Khalifa : Die Sonnenblume
  • Sahar Khalifa : Das Tor
 
 
Playlist :
  • Siouxsie and the Banshees : Pure
  • Siouxsie and the Banshees : Clockface
  • Siouxsie and the Banshees : Arabian Knights
  • Siouxsie and the Banshees : We Hunger
  • Siouxsie and the Banshees : Got To Get Up
  • Siouxsie and the Banshees : Rhapsody
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/tinderbx/tinder40.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Blühende Landschaften deutscher Einheit
Kapitel 2 : Sahar – Susan
Kapitel 3 : Die Verschwörung der grünen Ampeln
Kapitel 4 : Die Hälfte des Himmels ist leichter zu erringen als die Hälfte der Macht
Kapitel 5 : Sonnenblume
Kapitel 6 : Schluß

Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Blühende Landschaften deutscher Einheit

Jingle Alltag und Geschichte / Tinderbox

Tinderbox
Vierzigster Teil
Reprise
Sonnenblumen

Siouxsie and the Banshees : Pure

O-Ton, Rundfunkansprache Jakob Kaiser, 16. Juni 1953 :

Die Demonstrationen der Bevölkerung in Ostberlin können niemanden überraschen, der die unhaltbaren Zustände des sowjetzonalen Regimes kennt. Trotzdem richte ich an jeden einzelnen Ostberliner und an jeden Bewohner der Sowjetzone die Mahnung, sich weder durch Not noch durch Provokationen zu unbedachten Handlungen hinreißen zu lassen. Niemand soll sich selbst und seine Umgebung in Gefahr bringen. Die grundlegende Änderung eures Daseins kann und wird nur durch die Wiederherstellung der deutschen Einheit und Freiheit erreicht werden.

Gerade in diesem Augenblick, da die Politik um die Wiedervereinigung immerhin in Bewegung geraten ist, sollte sich niemand zu gefahrvollen Aktionen verleiten lassen. Denkt daran, daß wir uns unserer Verpflichtung für euch in jedem Augenblick bewußt sind. Wir werden den großen Mächten die Dringlichkeit einer raschen Lösung der deutschen Frage gerade jetzt mit besonderem Nachdruck vor Augen führen. Dabei brauche ich nicht zu betonen, daß sich Jedermann in der Bundesrepublik wie in der ganzen freien Welt mit euch in Solidarität verbunden weiß. Wir wissen den Sinn und wir wissen den Mut eurer Demonstrationen zu würdigen, bitten euch aber, im Vertrauen auf unsere Solidarität Besonnenheit zu wahren.

Jakob Kaiser, Minister für gesamtdeutsche Fragen der Regierung Adenauer, am 16. Juni 1953, also vor genau 50 Jahren. Ein solcher Jahrestag bedarf natürlich seiner multimedialen Inszenierung, und daher werden wir derzeit mit der politisch korrekten Überdosierung des Arbeiteraufstandes in der DDR versorgt. Spannend ist es ja schon, wie Jakob Kaiser zu den Demonstrierenden spricht. Er ruft zu Besonnenheit und nicht zur Revolution auf. Und er verweist darauf, daß der Westen solidarisch die richtigen Schritte unternehmen werde.

50 Jahre später blühen die Landschaften im Osten in nie geahnter Pracht. Lothar Späth hat das entsprechende Motto ausgegeben und die westlichen sogenannten Investoren haben diesen Ruf erhört und zusammengerafft, was aus den Überresten der DDR abzuwickeln war. Sie gingen auf Plündertour, nur nicht ganz so brutal, wie sie es aus den Ländern des Südens gewohnt waren.

Ich werde mich heute ganz bewußt nicht an dieser Inszenierung beteiligen. Das Tondokument Jakob Kaisers mag genügen. Auch wenn es interessant wäre herauszuarbeiten, warum Normerhöhungen in der DDR böse und wachsender Leistungsdruck im westlichen Kapitalismus gut ist. Auch könnten wir darüber nachdenken, warum ein Unrechtsregime immer dort zu suchen ist, wo die Normen der kapitalistischen Profit– und Leistungsgesellschaft nicht gelten, und warum der Markt kein Unrecht sein kann. Aber tödlich ist er dennoch.

 

Sahar – Susan

Tödlich ist auch das Besatzungsregime Israels in den besetzten Gebieten Palästinas. Es bietet die Kulisse für die Romane der palästinensischen Autorin Sahar Khalifa, der es jedoch nicht zuletzt auch darum geht, was 35 Jahre Widerstand, die Intifada und die Diplomatie den Menschen im Land und vor allem den Frauen gebracht haben. Das Ergebnis ist desillusionierend. Eine Männerrevolte hat mit Emanzipation wenig, mit Befreiung schon gar nichts zu tun. Dies ist das bittere Fazit, was sie 1997 in ihrem letzten Roman Das Erbe gezogen hat.

Ich möchte hingegen heute ihren 1980 erschienenen Roman Die Sonnenblume vorstellen, weil er sehr vielschichtig die Grundlagen der Misere zum Ausdruck bringt. Ich selbst habe ihn erstmals Ende der 80er Jahre gelesen, und die Neuauflage des Unionsverlages im Frühjahr dieses Jahres dazu genutzt, zu überprüfen, ob das, was ich darin wahrgenommen habe, für mich auch nach 15 Jahren politischen Denkens und Handelns noch wichtig genug erscheint, um mich damit auseinanderzusetzen. Ich nehme die Antwort vorweg. Ja, dieser Roman ist brilliant.

Als zweiten Faden meiner heutigen 40. und vorläufig letzten Folge von Tinderbox werde ich die Geschichte von Siouxsie and the Banshees noch einmal kurz zusammenfassen. Es ist zufällig, daß diese Geschichte parallel zu den Romanen Sahar Khalifas verläuft. 1974 veröffentlichte Sahar Khalifa ihren ersten Roman Wir sind nicht länger eure Sklavinnen, der leider nicht auf Deutsch verfügbar ist. Darin verarbeitet sie die dreizehn Jahre ihrer erzwungenen Ehe genauso wie die Erkenntnis, als Frau in der arabischen Gesellschaft nichts wert zu sein.

1976 traten Siouxsie and the Banshees erstmals im Londoner 100 Club auf mit der Absicht, solange zu spielen, bis man oder frau sie von der Bühne schmeißen würde. Kein Sklavinnendasein trieb sie dazu, nur die Langweile der englischen Mittelschichtsgesellschaft mit all ihrer verlogenen Borniertheit. Punk war angesagt, Provokation, Leben gegen die tote Normalität steriler Warenbeziehungen. Die Provokation war erfolgreich. Nicht nur, daß sie nicht von der Bühne geworfen wurden, nein, sie erhielten einen Plattenvertrag und alternativen Ruhm.

Die Band existierte in wechselnder Besetzung zwanzig Jahre. Vom Punk drifteten sie zum düsteren Gothic und begründeten eine dunkelgefärbte und melancholische Jugendkultur maßgeblich mit, ohne jedoch dafür die Verantwortung übernehmen zu wollen. Gut leben konnten sie jedenfalls davon. Mitte der 80er wurden ihre Songs poppiger und eingänglicher, sie näherten sich dem Mainstream an, ohne sich als Mainstream–Band zu begreifen. Diese Attitüde des Anders–Sein–Wollen durchzieht die Geschichte von Siouxsie and the Banshees.

Als jedoch Mitte der 90er Jahre die kommerzielle Verwertungsmaschinerie den Punk wiederentdeckte und auch Siouxsie sich selbst covern lassen sollte (so wie jetzt Nena), stiegen Susan Dallion alias Siouxsie Sioux, Steven Bailey alias Steve Severin und Peter Clarke alias Budgie aus und lösten die Band auf. Doch vereinzelte Auftritte in den vergangenen Monaten zeigen, daß der Mythos dieser Band noch nicht verblaßt ist.

Während sich Siouxsie and the Banshees zwischen Jet–Set und skurrilen Bühnenshows treiben ließen, ließ die israelische Besatzungspolitik in Palästina derartige Flausen nicht zu. Sahar Khalifa sieht jedoch noch eine Auswirkung dieser Okkupation: die gesellschaftlichen Strukturen zerfallen, Perspektivlosigkeit macht sich breit, aber auch Haß und sinnlose Gewalt. Und wenn schon der äußere Feind nicht besiegt werden kann, so frißt sich die unterdrückte Gewalt nach innen und richtet sich vor allem gegen Frauen und Kinder. Doch auch die palästinensischen Selbstmordkommandos gegen israelische Militärs und Zivilistinnen sind für Sahar Khalifa hieraus eine logische Konsequenz:

Das Töten, die Zerstörungen, das Herausholen aus unseren Häusern mit Bomben und Raketen begann viel früher als die Selbstmordkommandos. Wenigstens 300 Menschen sind getötet worden, 15.000 wurden verwundet, bevor die Intifada zu militärischen Mitteln griff. Es war eine Reaktion auf die militärische Gewalt Israels, nicht das Gegenteil, wie es in Deutschland verbreitet wird. Als Mensch, der die längste Zeit unter Besatzungsbedingungen gelebt hat, sage ich Ihnen: das ist kein Spaß! Wenn Sie mein Buch Das Erbe lesen, werden sie erkennen, daß die Besatzung nicht nur unsere Ökonomie und Politik zerstört, uns nicht nur auf nationaler Ebene bedroht, sondern auch unser soziales Gefüge zersetzt. […]ch bin absolut sicher, daß die Israelis für die ganzen Feindseligkeiten, die jetzt passieren, verantwortlich sind. Wenn sie wollen, daß das aufhört, müssen sie nur akzeptieren, daß wir ihre Partner sind und sich hinter die Grenzen von 1967 zurückziehen. Aber die Israelis wollen nicht, daß wir uns da ansiedeln. Sie wollen uns in ein paar Gebiete pferchen. [1]

Vor zwei Wochen trafen sich die Herren Bush und Sharon mitsamt des neuen palästinensischen Verhandlungsführers Mahmud Abbas, um einen neuen Friedensplan auszubaldowern. Die nächsten Tage zeigten, was davon zu halten ist. Israelis und Palästinenser brachten sich wie gewohnt gegenseitig um. Nur – es gibt hier zweierlei Täter, denn die eine Seite ist brutale terroristische Besatzungsmacht und die andere wehrt sich mit terroristischen Mitteln. Noch einmal Sahar Khalifa zum Verständnis dieses Phänomens:

Die Palästinenser kämpfen endlich gegen die Besatzung, während die Autonomiebehörde – auf westlichen Druck, versteht sich – sagt, wir sollen aufhören mit dem, was sie "Gewalt" nennen. Doch das wäre ein Rückschritt. Man kann die Besatzung nicht beenden, indem man jahrelang, ja über mehrere Generationen hinweg einfach nur dasitzt und redet und redet und redet, ohne daß etwas dabei herauskommt. Das ist einfach nur dumm. Wir haben es versucht, es hat nicht funktioniert. Jetzt wollen wir kämpfen, und darin sind wir unseren politischen Führern voraus. Fragen Sie irgendeinen Palästinenser, ob die Intifada gestoppt werden soll: Die Antwort wird nein sein, es sei denn, die Besatzung endet. Nur unter den Führern finden sich solche, die sagen, laßt uns an den Verhandlungstisch zurückkehren. Aber es ist Unsinn, weil es nicht funktioniert, wie wir alle gesehen haben. […]

Was würden Sie tun? Generationenlang dasitzen und verhandeln? Das hätten die Israelis gerne, das ist Teil ihres Plans. Wissen Sie, was Scharon damals in Madrid [in den 90er Jahren] gesagt hat? Er wäre bereit, über Jahre mit den Palästinensern an einem Tisch zu sitzen, selbst wenn nichts dabei herauskommt. Und währenddessen bauen sie Siedlungen. Sind wir denn dumm? Jeder, der unter einer Besatzung lebt, muß kämpfen. Auch wir Frauen müssen kämpfen. Man bekommt seine Freiheit nicht umsonst. Egal, ob es sich um Besatzer oder um männliche Ausbeuter handelt: Sie geben einem nichts freiwillig, man muß es sich nehmen. [2]

Und so durchziehen alle Romane Sahar Khalifas zwei Handlungsstränge – der Kampf gegen die Okkupation und der Kampf gegen das Patriarchat. Wie ich im Verlauf der Sendung hoffentlich zeigen kann, finden sich bestimmte Muster selbst in der hochzivilisierten quotierten Welt wieder. Und so begrüßt euch für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt Walter Kuhl.

Siouxsie and the Banshees : Clockface

 

Die Verschwörung der grünen Ampeln

Sahar Khalifas erster auf Deutsch vorliegender Roman heißt Der Feigenkaktus. Er spielt Mitte der 70er Jahre im seit 1967 besetzten Palästina. Die Euphorie nach dem Krieg 1973 ist geschwunden, der nackte Überlebensalltag hält die palästinensische Gesellschaft zusammen. Man arbeitet in israelischen Fabriken, raucht israelische Zigaretten und katzbuckelt vor den israelischen Besatzern.

Nach jahrelangem Aufenthalt in den Ölstaaten kehrt Usama in seine Heimat, ein fremdes Land, zurück. Schon am israelischen Grenzposten wird er unfreundlich empfangen. Was willst du hier? Soll ja vorkommen, daß Menschen dorthin zurückkehren wollen, wo ihre Familie lebt. Der Roman spielt, wie auch Die Sonnenblume und Das Tor, im besetzten Nablus, der Heimatstadt Sahar Khalifas.

Befremdet stellt Usama fest, daß auch sein Vetter Adel in Israel arbeitet und sein schwer kranker Onkel die al–Karmi-Familie immer noch im Stile eines patriarchalen Familienfürsten tyrannisiert. Doch der jüngere Sohn der Familie Basil schließt sich dem Widerstand an und beschwört damit für die Familie eine Katastrophe herauf.

Jahre später spielt Sahar Khalifas Roman Die Sonnenblume. Basil wird aus dem israelischen Gefängnis entlassen; aus dem großmäuligen Jungen ist ein Mann geworden. Adel hat sich einer palästinensischen Zeitschrift angeschlossen, in welcher der jungen Rafif die Frauenecke zugewiesen worden ist. Der Grundkonflikt dieses Romans wird schon in der Eingangsszene deutlich.

Er sah sie schon von weitem, ihren Regenmantel, ihren langen Schal, der hinter ihr herflatterte; in der Hand hielt sie einige Bücher. Sie gingen schweigend. An ihrer Seite hatte er das Gefühl, die Welt sei reicher und weniger kalt. Nein, er liebte sie nicht, er mochte sie. Die Frage nach der Liebe war nicht mehr so wichtig wie früher, als er noch jünger war. […] Sie betrachtete ihn verstohlen. Noch immer kann sie nicht zu ihm finden. Sein Herz ist so abgekapselt. Er hat so eine Art zu diskutieren, daß sie ihn nie völlig durchschauen kann.

Buchcover Die Sonnenblume"Du bist heute so schweigsam." – Er lächelte matt. "Ich denke." – "Woran?"

Er blieb auf dem Gehweg stehen. Ergriff sie bei der Hand, gerade noch, bevor ein Auto sie erschreckte. Ihr Herz schlug heftig. Der Schreck war ihr in die Glieder gefahren. "Idiot!" rief sie wütend. – "Aber er hatte Vorfahrt. Für die Fußgänger ist noch immer Rot."

Seine Ruhe machte sie wütend. "Die Straße gehört auch den Fußgängern", sagte sie trotzig, "nicht nur den Autofahrern." Ihre Stimme war lauter als nötig. Die anderen Passanten blickten sich nach ihnen um. Sie fühlte sich allseits von Augen umgeben. Die Fußgänger warteten noch immer auf Grün, eng aneinandergedrückt, aber jeder für sich – verschiedene Persönlichkeiten, unterschiedliche Lebensgeschichten.

"Sogar noch beim Überqueren der Straße wird der Klassenunterschied sichtbar", murmelte sie in Gedanken, während er sie immer noch am Arm festhielt. Er lächelte, ohne Zustimmung zu zeigen. Sein Blick war umwölkt. Sie fühlte sich erniedrigt. Nie zeigte er Emotionen. Mit nichts konnte sie ihn wütend machen, und das machte sie noch wütender. "Nur weil du ein al–Karmi bist", sagte sie zänkisch.

Er blickte sie kalt an. Sie spürte, was er sagen wollte – und konnte sich nicht mehr beherrschen. Erbittert riß sie ihren Arm aus seiner Hand los und rannte über die Straße. Die Reifen eines heranfahrenden Autos quietschten, der Fahrer hupte ärgerlich und fuchtelte drohend mit der Faust.

Er holte sie ein, und nebeneinander gingen sie zum Amud–Tor; er würdigte sie keines Blickes. Als sie die Treppen hinuntergestiegen waren und durch das mächtige Tor schritten, bemerkte er: "Du benimmst dich wie ein kleines Kind."

Sie schritt weiter aus und ging jetzt einen halben Meter vor ihm her. Die Bücher an die Brust gepreßt, sagte sie: "Du bist so kalt, daß du rein nichts begreifst. Ich meinte, daß die Straße in erster Linie für die Fußgänger da ist und erst dann für die Autofahrer. Ich meinte, daß die Ampeln Augenwischerei und ein Komplott sind. Wer hat denn die Ampeln aufgestellt und die Regeln dafür festgelegt? Nur die Einfältigen glauben daran, ich nicht. Und deshalb gehe ich über die Straße, wann es mir paßt. Ich bin frei! Ich gehe über die Straße, wann es mir paßt. Ich warte nicht auf ein Licht von ihnen. Ich mache mir mein eigenes Licht."

Er betrachtete ihr verbissenes Gesicht. Ihre weit geöffneten dunklen Augen erschienen noch funkelnder. Ihre leicht vorstehenden Zähne schienen bereit zum Beißen. Ihre Schärfe gefiel ihm. Ihm gab sie Wärme und Vitalität. Er lächelte: "Wenn du das nochmal machst, gehen bei dir alle Lichter aus." – "Alle die Lichter können mich mal." – "Auch das grüne?"

"Das grüne Licht ist Augenwischerei und ein Komplott. Sie wollen uns doch nur hindern, schnell zu gehen, damit sie ihre Ziele durchsetzen. Den Rest überlassen sie den Fußgängern." Sie hob die Faust und schüttelte sie. "Alle die Lichter können mich mal." – "Und eines Tages wirst du dann überfahren." […] – "Ich hätte den anderen ein Beispiel gegeben."

Er empfand Ärger und Beklemmung. Streckte seine Hand aus, zog sie am Arm und drückte: "Sei vernünftig!" – "Laß meinen Arm los", rief sie. – "Du brauchst Vorschriften." – "Und du gibst sie mir?" – "Ja, manchmal." – "Du bist wie das grüne Licht, ein Komplott."

Er zog den Kopf zwischen die Schultern und schlug den Kragen seines Regenmantels hoch. "Du bist völlig verrückt", murmelte er.

Tänzelnd sprang sie die Stufen hinunter und stieß dabei andere Passanten mit den Schultern. Ganz außer Atem rief sie: "Du bist wie alle orientalischen Männer und wie all diese alternden Dickwänste der Familie al–Karmi. Du hast mir aber überhaupt nichts zu befehlen, weder als Mann noch als al–Karmi." – Zum ersten Mal wurde er etwas lauter: "Du bist völlig verrückt."

Sie entfernte sich von ihm; er folgte ihr. Plötzlich war sie in der Menschenmenge verschwunden. Er blieb stehen und schüttelte den Kopf. Dann ging er allein weiter durch die Gassen. […] Schließlich erblickte er sie und holte sie ein. Als er sie am Arm packte, brauste sie auf: "Die Tatsache, daß ich mit dir gehe, gibt dir nicht das Recht, mich an die Kette zu legen. Ich bin dir ebenbürtig, nicht dein Anhängsel."

"Aber du bringst dich um für nichts und wieder nichts." – "Ich habe den anderen ein Beispiel gegeben. Ist das nichts und wieder nichts?" – "Blödsinn." – "Wie kommst du überhaupt dazu, darüber ein Urteil zu fällen?"

"Was schadet es dir, den richtigen Augenblick abzuwarten und erst dann über die Straße zu gehen? Du würdest nicht dein eigenes Leben gefährden und würdest nicht die anderen in Angst und Schrecken versetzen. Außerdem könnte der Verkehr weiterfließen." – "Ha, das sagen sie alle. Wenn ihnen sonst nichts mehr einfällt, nehmen sie das rote Licht als Vorwand. Aber das Spielchen ist zu durchsichtig." […]

Er spürte Mitleid; sein Zorn verflog […]. Ihre Augen durchbohrten ihn, und seine Stimme bebte: "Warum willst du sterben?" – "Ich gebe den Leuten ein Beispiel." – "Dein Beispiel ist furchtbar, weil es verfrüht ist." – "Ich soll sie also warten lassen? Vielleicht müssen sie lange warten." – "Dein Vorbild wird sie ängstigen, vielleicht gar ihr Handeln lähmen. Dann machen sie dir Vorwürfe, statt dir zu folgen." – "Nun bin ich aber über die Straße gegangen und nicht überfahren worden." – "Zufall. […] Aber sie sind dir nicht gefolgt." – "Ja, weil sie feige sind. Weil sie Sicherheit wollen." [3]

Wenn wir diesen Dialog zwischen Adel und Rafif nicht nur als Auseinandersetzung zwischen einem Mann, der eine Frau beschützen will, und einer Frau, die genau daraus ausbrechen will, begreifen, dann enthält dieser Dialog noch zusätzliche Sinnebenen. Er thematisiert sowohl die Ausbruchsversuche von Frauen innerhalb einer Männergesellschaft wie die Frage der angemessenen politischen Strategie. Sicherheit oder Zögern? Voranschreiten oder Verrückt sein? Dummer Heroismus oder reaktionäres Abwarten?

Und es sind Fragen und Auseinandersetzungen wie diese, welche den Roman Die Sonnenblume durchziehen, und die das Gesprür dafür schärfen, warum der palästinensische Widerstand gegen die israelische Besatzung letztlich so erfolglos geblieben ist.

Die Rolle der Frauen in der arabischen Welt ist auch das Thema des folgenden Songs von Siouxsie and the Banshees aus dem Jahr 1981, natürlich mitteleuropäisch paternalistisch gefärbt und dennoch nicht ohne Wahrheit. Bei Sahar Khalifa finden sich durchaus ähnliche Äußerungen.

Das Juwel, die Beute. Ich schaue dir in die Augen.
Kühle Schwimmbecken ertränken dein Bewußtsein.
Was wirst du sonst noch finden?
Ich hörte von einem Gerücht. Was habt ihr ihr angetan?

Unzählige Lichter sollen mich beeindrucken.
Arabische Ehrenmänner sind einfach nur zu deinem Besten.

Eine Touristenoase reflektiert in schäbigen Sonnenschirmen
einen monströsen Öltanker, seine Wunden bluten in Strömen.
Ich hörte von einem Gerücht. Was habt ihr ihr angetan?

Verschleiert und abgeschirmt haltet ihr sie als Babymaschine.
Während ihr weitere Öffnungen erobert, Jungs, Ziegen und sonstige Dinge.
Ausgerissene Schafsaugen ohne Messer und Gabeln.

Unzählige Lichter sollen mich beeindrucken.
Arabische Ehrenmänner sind einfach nur zu deinem Besten.

Siouxsie and the Banshees : Arabian Knights

 

Die Hälfte des Himmels ist leichter zu erringen als die Hälfte der Macht

Eine Revolution ist keine Revolution, wenn sie nicht die Frauen erfaßt, wenn nicht die Frauen selbst ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen können. Dies ist vor allem die Botschaft des im Zuge der Intifada 1990 geschriebenen Romans Das Tor. Die Studentin Samar geht mit ihrem Fragebogen durch Nablus, um die Frauen danach zu befragen, was ihnen die Intifada gebracht habe. Das Ergebnis ist ernüchternd und spiegelt die Realität durchaus wieder. Daß Frauen selbst in scheinbar revolutionären Zeiten instrumentalisiert werden, ist ja nichts Neues. So auch hier.

Buchcover Das TorHusam wird von den israelischen Besatzungssoldaten gesucht und kann sich verwundet ausgerechnet in das verrufene Haus der Prostituierten Nasha retten, deren Mutter angeblich deshalb umgebracht wurde, weil sie mit den Israelis zusammengearbeitet haben soll. Während seiner Fieberträume kommen sich Husam und Nasha näher. Erstaunt stellt sie fest, daß sie erstmals ernst genommen wird.

Sie betrachtete ihn erstaunt, bewundernd. Dieser Junge war trotz seiner Wunde, trotz seines Fieberwahns immer noch verständiger als Asem. Ja wirklich, er war besser als Asem, die große Liebe. Asem, das Herzblatt. Asem al–Marbut, der Mistkerl, der sich nicht um sie kümmerte und kein Erbarmen kannte. Liebe hatte sie ihm geschenkt, alle Liebe. Gehorsam und ein heißes Herz. Zahllose Befehle hatte sie ausgeführt. Dabei war sie nicht mehr als eine Nummer ganz oben auf einem Formular voller Rubriken und Symbole gewesen. Besser gesagt, ganz unten. Das Herz eines Politischen war schon komisch und sonderbar. Gegen die Liebe gefeit. Sogar sie, die Prostituierte, dachte nicht nur an Profit. Aber er addierte und subtrahierte, multiplizierte und dividierte. Der berechnete das Gewicht von jeder Fliege und vergaß die Menschen bei seiner Kalkulation. Menschen waren für ihn Schachfiguren! Wirklich seltsam, das Herz von so einem Politischen! [4]

Sahar Khalifa kannte sie ganz genau. 2002 schrieb sie in einem autobiographischen Aufsatz für eine arabische Zeitschrift:

Während ich den Feigenkaktus schrieb, traf ich auf einen linken jungen Mann. Er war intelligent, ehrgeizig und ein völliges Nervenbündel. Er wollte die Welt verändern, und das war genau das, wovon auch ich träumte. Aber wo sollten wir beginnen? Er sagte vertrauensselig: "Wir fangen damit an, das System zu verändern, indem wir seine Regeln verletzten. Damit machen wir uns zum Beispiel für andere.". Doch ich dachte für mich: "Ich habe doch schon die Regeln gebrochen, aber nichts hat sich verändert. Die Regeln innerhalb des Volkes haben sich nicht verändert, das Familiensystem ist gleich geblieben, und nicht einmal ich habe mich verändert. Wie also wird es für eine Frau in einer Gesellschaft aussehen, gegen die sie rebelliert? Kann sie überhaupt irgendetwas ändern, wenn sie sich außerhalb des Systems stellt?

Sahar Khalifa sprach mit mehr als 50 führenden Intellektuellen, Revolutionären und Ideologen. Sie führte ähnliche Interviews auch mit deren Frauen, Freundinnen oder den aktivsten Frauen ihrer Umgebung. Zu ihrem großen Ärger fand sie bestätigt, was sie aus ihrer eigenen Sozialisation kannte: Ausbeutung, Minderwertigkeit und Sexismus. Sie

entdeckte, daß unsere Führer – die ich für Pioniere, revolutionäre Avantgarden und Progressive hielt – nicht mehr als ein Abziehbild der früheren Generation waren, nur mit einem neuen Aussehen.

Aus dieser Untersuchung, aus dieser desillusionierenden Erfahrung entstand der Roman Die Sonnenblume. Die darin handelnden Charaktere sind nicht erfunden, sie sind ein Abbild der damaligen palästinensischen Gesellschaft in all ihren Facetten. Rafif ist die Frau, die nicht nur an dieser Männergesellschaft scheitert, sondern auch an sich selbst, weil es für sie keinen Weg daraus gibt. Dabei hat sie durchaus den Schlüssel in der Hand und sie hat das Recht und die Logik auf ihrer Seite. Es nutzt ihr nichts. Als sie die Hälfte der revolutionären Zeitschrift verlangt, weil die Hälfte der Gesellschaft aus Frauen besteht, wird sie ausgelacht. So wie jede Frau ausgelacht wird, welche die Privilegien der Männer infrage stellt.

Frauen, die sich wehren, die Ausbeutung, Ungleichbehandlung und Sexismus kritisieren, stören. Und wenn sie nicht gleich als verrückt abgestempelt werden, so wird ihr Verhalten als pathologisch, als krankhaft hingestellt. Männer wußten schon immer, was gut für Frauen ist. Linke Männer sind hier keine Ausnahme, eher die Regel.

Diese Erkenntnis hat sich interessanterweise jemand zu eigen gemacht, von dem man oder frau es gar nicht vermuten würde. Abdullah Öcalan, Vorsitzender der inzwischen aufgelösten kurdischen Arbeiterpartei PKK, wußte ganz genau, was seine Männer trieb, wenn sie eine Waffe in die Hand nahmen. Der kurdische Befreiungskampf war auch immer ein Kampf der verletzten kurdischen Männerehre.

Das einzige, was diese Männer dazu bringen konnte, über ihren beschränkten Horizont hinauszudenken, was sie antreiben konnte, sich und die kurdische Gesellschaft zu revolutionieren, war die Frauenfrage. Und während die wenigen noch verbliebenen linken deutschen Männer Frauen immer noch für einen Nebenwiderspruch halten, forderte Abdullah Öcalan die kurdischen Frauen geradezu auf, die männlichen Privilegien infrage zu stellen. Er wußte genau, warum.

Er wußte, daß der Grad der Emanzipation einer Gesellschaft sich daran mißt, wie frei und gleichberechtigt sich Frauen bewegen können. Und umgekehrt: daß nur revolutionäre Frauen diesen Grad an Emanzipation einfordern und zur Selbstverständlichkeit machen können. Abdullah Öcalan sitzt in türkischer Isolationshaft. Der Virus, den er verbreitet hat, muß isoliert werden. Mit fatalen Folgen für die kurdische Gesellschaft – in der Türkei, in Kurdistan, aber auch für die kurdische community in Deutschland.

Die Parallelen zu Palästina sind offensichtlich. Sahar Khalifa stellt in ihrem Roman Die Sonnenblume die Absurdität dieser Situation in all ihren grotesken Facetten bloß. Kein Wunder, sie ist Feministin. Und während hierzulande der Feminismus zu Gender Studies verwässert wird, thematisiert Sahar Khalifa die Notwendigkeit einer auch geschlechtsspezifischen Revolutionierung der Gesellschaft. Warum soll das auf Palästina beschränkt sein? Haben wir das hier nicht mehr nötig? Träumt weiter – oder lest das anregende Buch von Katja Kullmann: Generation Ally.

Wunderschön herausgearbeitet sind die schier endlosen Diskussionen der Redaktion der Zeitschrift, für die Adel und Rafif arbeiten. Neben dem Chefredakteur, der letztlich jeder Gefährdung der Zeitschrift aus dem Weg gehen will, gibt es dort noch den Radikalen Salem:

Taktieren ist falsch und verlogen, sagt er, außerdem unterdrückt es die Spontaneität und Kreativität der Massen. […] Die Politik der kleinen Schritte ist die Rechtfertigung der Defätisten, der Kapitulanten, der Intriganten und der Verräter. [5]

Doch als Rafif ihren revolutionären Plan zur finanziellen Sanierung der Zeitschrift vorschlägt, ist Salem der erste, der sagt:

Immer langsam. Eins nach dem andern …

Und gönnerhaft fährt er fort:

… meine Liebe. [6]

Dabei hatte Rafif nur für die Hälfte des Volkes die Hälfte der Zeitschrift verlangt. Als sie mit den üblichen männlichen Verhaltensmustern lächerlich gemacht wird, geht sie. Keine Frauenecke, kein Absatz. Die Zeitschrift gerät in eine existenzielle Krise. Adel und Basil tun sich zusammen, um die Zeitschrift zu unterstützen. Sie wollen das Land der al–Karmis an die darauf lebenden Bauern verkaufen, um sich damit in die Zeitschrift einzukaufen. Doch sie haben die Rechnung ohne Rafif und vor allem ohne die Israelis gemacht.

Siouxsie and the Banshees : We Hunger

 

Sonnenblume

Sahar Khalifa im UnionsverlagBislang sind fünf Romane der palästinensischen Schriftstellerin und Feministin Sahar Khalifa im schweizer Unionsverlag auf Deutsch erschienen. Den Anfang macht der 1976 erschienene Roman Der Feigenkaktus, dessen sozusagen zweiter Teil Die Sonnenblume ist. 1986 erschien der Roman Memoiren einer unrealistischen Frau. Ihre Absicht bestand darin, exemplarisch am Schicksal eines Mädchens diese Einpflanzung von Ängsten, Frustrationen, von Hilflosigkeit und Ungleichheit nachzuzeichnen. Sahar Khalifa als Leiterin eines Frauenzentrums in Nablus weiß, wovon sie schreibt.

Doch danach fühlte sie sich ausgebrannt. Erst die Intifada Ende der 80er Jahre veranlaßte sie dazu, nachzusehen, was sich für die palästinensischen Frauen verändert habe. Wenn die Studentin Samar im Roman Das Tor ihren Fragebogen auspackt, um einzelne Frauen in Nablus genau danach zu fragen, so äußert sich darin die Autorin, um die Begrenztheit des gesellschaftlichen Aufbruchs, der mit der Intifada verbunden war, zu verdeutlichen. Denn Samar, 26 Jahre alt, wird selbstverständlich zu Hause wie eine Unmündige behandelt.

Dennoch hatte sich etwas geändert; und erst die Erschöpfung nach jahrelangem frustrierenden Kampf gegen die Besatzung führte zum Aufleben des religiösen Fanatismus. Wobei hinzuzufügen wäre, daß die Israelis gezielt fundamentalistische Lehrer einstellten, um den Einfluß der angeblich revolutionären Linken auf die Jugendlichen zurückzudrängen. Aber auch hier hat der Schlaf der Vernunft seine Ungeheuer erzeugt.

1997, einige Jahre nach dem Abkommen von Oslo, zieht Sahar Khalifa in ihrem bislang und vielleicht tatsächlich letzten [7] Roman Das Erbe Bilanz. Was hat Oslo, was hat der angebliche Frieden den Palästinenserinnen und Palästinensern gebracht? Was sie darin beschreiben muß, mutet wie eine Implosion der Gesellschaft, aber auch von Gesellschaftlichkeit, an. Keine Hoffnung auf Besserung, keine Perspektive; aus dem Traum von Befreiung entwickelte sich ein Alptraum. Doch noch 1980 schrieb sie dies – Basil, auch Abu al–Iss genannt, ist die Sonnenblume, die Hoffnung der Jugend, (noch) ein Traum:

Geduld, Abu al–Iss, Geduld. Dein Los, Sonnenblume. Du wirst nach Golgatha hinaufsteigen und dich dem Herrn nähern. Der Gebetsruf kommt nicht an, und Gott ist nicht am größten. Den Glocken folgen Erdbeben. Schwing die Hacke. Es gibt keine Familie mehr und keine Herren. Du allein, Sonnenblume, bist eine winzige Maus, die hoch hinaus will und die auf den Wolken ihr Zelt aufschlägt und mit einer Angel die Sterne fängt. Du gehst in Rauch und Flammen auf. Du erlöschst wie eine Kerze. […] Schlag und flieh. Du allein, Abu al–Iss, bist wach. […] Das Blut des Sonnensystems besteht aus Wachstropfen. Die schmelzen und schrumpfen. Doch sie widerstehen der Verflüchtigung. Spitz dich zu, Krise, dann wirst du gelöst! Dein Los, du allein. Sonnenblume – Sonnenanbeter und Sonnenherr. Dringe auf den Grund vor, Sonnenschein, immer tiefer. Das Meer lebt in der Tiefe. Schwing die Hacke. Feuer stiebt empor, geschmolzene Minerale und Vulkane. Schlag und flieh. [8]

Obwohl seit seinem Erscheinen mehr als 20 Jahre vergangen sind, kann gerade der Roman Die Sonnenblume wie kaum ein anderer den Verfall erklären. Er ist dieses Frühjahr im Unionsverlag neu aufgelegt worden und kostet 12 Euro 90.

Siouxsie and the Banshees : Got To Get Up

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte

Vierzig Folgen Tinderbox, vierzig Folgen musikalische Begleitung durch Siouxsie and the Banshees oder ihr Seiten– und Nachfolgeprojekt The Creatures, Zeit für eine Bilanz. Ich muß zugeben, es hatte eine vollkommen andere Sendereihe werden sollen. Eigentlich hatte ich tatsächlich vor, daraus eine politische Musiksendung zu machen. Doch wie es mitunter so ist – aus guten Vorsätzen kommt etwas vollkommen anderes heraus. Ich hatte viel mehr auf die Musik, auf Hintergründe, auf damit verbundene Assoziationen eingehen wollen.

Denn das Spannende an dieser Musik und den damit verbundenen Texten ist, daß sie uns eine ganze Menge über unsere Gesellschaft und ihre Verlogenheit sagen können. Das Schizophrene durchzieht nicht nur uns, sondern das gesamte Gesellschaftsgefüge. Wenn arabische Männer um ihre Ehre besorgt sind und zu diesem Zweck ihre Frauen oder Töchter umbringen, dann drückt sich darin der alltägliche Wahnsinn nur ein wenig anders aus bei uns, wo Reformgrüne Sozialpatrioten die freie Marktwirtschaft am Hindukusch verteidigen und zur Finanzierung Arbeitslose, Sozialhilfeempfängerinnen und Rentenbezieher schikanieren und abkassieren.

Warum das keine falsche Politik ist, sondern aufgrund der herrschenden Profitlogik notwendig und sinnvoll, werde ich am kommenden Montag in meiner Sendung Verteidigung der Weltordnung darlegen.

Von den subtilen psychischen Folgen dieses allseitigen Wahnsystems einmal ganz zu schweigen. Wer mehr darüber erfahren will, sollte in die Sendungen von Alexander Pollack hineinhören – SoFA, also Soziales, Familie und Arbeit. Zu hören an jedem 3. Sonntag im Monat ab 13.00 Uhr oder in der Wiederholung am 1. Sonntag eines Monats ab 15.00 Uhr hier auf Radio Darmstadt[9]

Siouxsie and the Banshees haben den Widerspruch, den sie in ihren eigenen Liedern besingen, in gewisser Weise auch selbst gelebt. Sie wollten keine Pop–Ikonen werden, mußten sich aber dem kapitalistischen Verwertungsinteresse unterwerfen. Sie wollten keine Handlungsanleitungen geben, aber wurden zu einer Kultband der GothicSzene. Und während sie über die Abgründe der Welt philosophierten, haben es sich zumindest Siouxsie und Budgie in Südfrankreich bequem gemacht. Kein Vorwurf! Aber warum sollte der Wahnsinn an ihnen vorbeigehen?

Der Irrationalismus ist ein Grundpfeiler der globalen Marktwirtschaft. Wobei der Irrationalismus nicht einfach ein Medienprodukt ist oder aus Unwissenheit entsteht. Irrational ist die kapitalistische Wirtschaftsweise an sich, weil sie jedes solidarische Prinzip zerstört und auf die Konkurrenz aller gegen alle setzt, obwohl sie selbst monopolistisch organisiert ist. Planung ist unmöglich, Verschwendung gewiß. Und wo alle nach Geld, Profit und Anerkennung hecheln, ist Gewalt als Mittel der Durchsetzung irrationaler Motive nicht weit. Daß hierbei Männerphantasien benötigt und gepflegt werden, versteht sich von selbst.

Menschen, die damit nicht klarkommen oder sich dagegen zur Wehr setzen, müssen nach der Logik dieses Systems Verrückte oder Kriminelle sein. Auf jeden Fall stören sie. Und wer stört, wird ausgegrenzt, im Großen wie im Kleinen. Und in der Tat macht Kapitalismus krank – und deshalb durchziehen auch düstere Töne die Melodien von Siouxsie and the Banshees. Aber es gibt Momente, in denen ich nur diese und keine andere Musik ertrage.

Aber ich will es zunächst einmal dabei bewenden lassen. Vierzig Folgen Tinderbox neigen sich dem Ende zu. Ab Juli werde ich daher mit Ausnahme des ersten Montags eines Monats nur noch mit meiner Sendereihe Kapital – Verbrechen zu hören sein, vielleicht manchmal unterbrochen durch die eine oder andere Geschichtssendung. Wer aber noch einmal nachlesen will, was in den vergangenen dreieinhalb Jahren Tinderbox zu hören war, kann einen Blick auf meine Homepage werfen: www.waltpolitik.de.

Anmerkungen oder Fragen zu dieser Sendung oder Sendereihe könnt ihr entweder meiner Voice–Mailbox anvertrauen: die Rufnummer lautet (06151) 87 00 – 192. Oder ihr schickt mir eine Email an tinderbox <at> alltagundgeschichte.de.

Im Anschluß an mein ganz persönliches kitschiges Lieblingslied der Band Siouxsie and the Banshees könnt ihr wie gewohnt eine Sendung der Kulturredaktion von Radio Darmstadt hören. Rhapsody besingt ein Liebespaar beim Sonnenuntergang in der Stalinzeit. Stalin ist tot, die Sowjetunion zerfallen, die DDR einkassiert. Und – ist jetzt alles besser geworden? Für die Redaktion Alltag und Geschichte bezweifelt dies Walter Kuhl.

Siouxsie and the Banshees : Rhapsody

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Freitag 19/2002
[2]   Die Zeit, 10/2002
[3]   Sahar Khalifa : Die Sonnenblume, Seite 7–12
[4]   Sahar Khalifa : Das Tor, Seite 150–151
[5]   Sahar Khalifa : Die Sonnenblume, Seite 153
[6]   Sahar Khalifa : Die Sonnenblume, Seite 228
[7]   Nein – sie fängt jetzt erst richtig an zu schreiben.
[8]   Sahar Khalifa : Die Sonnenblume, Seite 364–365
[9]   Kein Provisorium dauert ewig. SoFA ist derzeit [Anfang 2006] an jedem 2. Mittwoch eines Monats von 19.00 bis 21.00 Uhr zu hören.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 21. September 2009 aktualisiert.
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