Tinderbox

24. Folge

Peep Show

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Tinderbox
24. Folge
Peep Show
Nicht nur der Kapitalismus und seine männlichen Agenten sind obszön, sondern auch seine machtbesessene Verlogenheit
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 18. Februar 2002, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 19. Februar 2002, 00.00–01.00 Uhr
Dienstag, 19. Februar 2002, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 19. Februar 2002, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Playlist :
  • Siouxsie and the Banshees : Peek-A-Boo
  • Siouxsie and the Banshees : The Killing Jar
  • Siouxsie and the Banshees : Scarecrow
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/tinderbx/tinder24.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Der Kapitalismus ist obszön
Kapitel 3 : Prozeß gegen Slobodan Milošević
Kapitel 4 : Wer also sind die Kriegsverbrecher?
Kapitel 5 : Interview mit Hans–Jürgen Wirth
Kapitel 6 : Joschka Fischer – Gewalttäter?
Kapitel 7 : Schluß
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte / Tinderbox

Tinderbox
Vierundzwanzigster Teil
Peep Show
Nicht nur der Kapitalismus und seine männlichen Agenten sind obszön, sondern auch seine machtbesessene Verlogenheit

Siouxsie and the Banshees : Peek–A–Boo

Peek-A-Boo, das erste Stück auf dem elften Album von Siouxsie and the Banshees – Peep Show. Der Bassist der Band, Steve Severin, zur Entstehungsgeschichte des Albums:

Als Siouxsie und ich mit unseren Textentwürfen zusammenkamen, hatten wir eine Art Grundgefühl. Wir redeten darüber und so entwickelte sich ein gemeinsames Thema, das die Songs durchziehen sollte. Es gibt eine Menge Möglichkeiten, einen Song zu schreiben: Du kannst über deine eigenen Gefühle reden, dich als jemand anderes ausgeben, oder du kannst einen Schritt zurückgehen und einen Blick auf die Beziehung anderer werfen oder überhaupt, wie das Leben so ist. Wir machen das letztere öfter in diesem Album als je zuvor. Das Album wurde zum Trichter unseres eigenen emotionalen Inputs, aber wir schauten es uns auch von außen an – wie bei einer Peep Show. Es gibt auf jeden Fall ein heftiges voyeuristisches Element in diesem Album. [1]

Peek–A–Boo sollte der erste US–Single–Hit der Band werden, was für dieses bigotte Land schon erstaunlich ist, vor allem, wenn man und frau berücksichtigt, daß es sich um einen hypnotisch–impressionistischen Song über Pornographie und die Entwürdigung von Frauen darin handelt. Aber vielleicht liegt es daran, daß gerade die Bigotten besonders voyeuristisch sind und die honorigsten Biedermänner und Biederfrauen im Verborgenen gerne mehr als nur einen Blick riskieren.

Sie schleichen sich über die Hintertür an und verkriechen sich in dunkle Ecken.
Gestaltlos und in Rollstühle gestürzt fallen verstohlene Blicke aus verborgenen Löchern.
Sie hat viele Erscheinungen und tut, was du von ihr willst.
Sie stellt sich tot und unterwirft sich lächelnd,
knallt dabei die Peitsche ausdruckslos auf Befehl.
Peek–A–Boo [2]

Die heutige vierundzwanzigste Folge von Tinderbox wird drei Elemente miteinander verknüpfen: Das Album Peep Show aus dem Jahr 1988, den Prozeß gegen Slobodan Milošević vor dem Haager Kriegsverbrechertribunal und ein Interview über Gewalt, Gewalterfahrung und Joschka Fischer, das ich letztes Jahr auf der Frankfurter Buchmesse mit dem Psychoanalytiker Hans–Jürgen Wirth geführt habe.

 

Der Kapitalismus ist obszön

Und ich denke, diese drei Elemente gehören zusammen. Pornographie ist Gewalt, und sie ist eine gesellschaftlich erwünschte Gewalt, eine Gewalt gegen Frauen. Diejenigen, die sich über den Hintereingang einschleichen, sind gar nicht mal die Schlimmsten. Sie sind nur die Spitze eines alltäglichen männlichen Eisberges. Voyeurismus und die Darstellung von Obszönitäten gehören zu unserem Alltag und werden in den Medien verschiedenster Art zelebriert. Und mit Obszönität meine ich nicht – oder nur am Rande – die voyeuristische Darstellung von angeblicher Sexualität.

Inge Viett, in der 68er Bewegung politisch bewußt geworden und später Mitglied der Stadtguerilla–Organisationen Bewegung 2. Juni und Rote Armee Fraktion, hat dazu einige passende Worte in ihrer Autobiographie Nie war ich furchtloser gefunden. Im Januar 1998 las sie in der Bessunger Knabenschule aus ihrem Buch.

Ich war zurück von einer mehrmonatigen Reise nach Nordafrika. Als Individual–Touristinnen mit Hippie–Allüren waren wir mit unserem alten VW–Bus losgefahren. Zurück kam ich völlig verwandelt. Erbittert, empört und nicht mehr bereit, auch nur ein Jota auf die verlogenen Rechtfertigungen der Eliteländer zu ihrem fortdauernden Parasitentum an den armgehaltenen Ländern zu geben. Die Reise hatte ein fundamentales Ergebnis. Sie drängte mich entschieden zum politisch–sozialen Engagement. Arm und reich waren für mich keine neue Erfahrung, auch nicht Erniedrigung und Ausbeutung, aber wir werden im Westen groß mit der Vorstellung, daß dies ein individuelles Schicksal der Tüchtigen oder eben der Untüchtigen ist. Alle offiziellen Informationen verstellen den Blick auf die furchtbare, verbrecherische Systematik in der Abhängigkeit der Armen von den Reichen. Was ich auf dieser und späteren Reisen in die benachteiligten, vom Kolonialismus ausgeplünderten Regionen der Welt sah, waren keine Menschen- und Völkerschicksale von göttlicher Vorsehung, das waren Ergebnisse einer jahrhundertealten räuberischen Besitz– und Machtgier der "zivilisierten" westlichen Welt. Von hier stammt die Grundlage, der Rohstoff unseres Luxus.
Als ich später Fanon las, habe ich sofort verstanden. Unsere Zuneigung und Solidarität zur "Dritten Welt" war damals gewiß auch sehr romantisch, aber sie war gerecht, notwendig, beispielgebend und hoffnungsvoll. Wir gaben den Befreiungsbewegungen jedes moralische Recht, die weißen Okkupanten und Kolonisatoren aus ihren Ländern zu werfen und deren einheimische Satrapen zum Teufel zu jagen. Immer wieder zog ich blank, wenn ich zurückkam nach Europa. In diesen gierigen Schlund, diesen Moloch, der nicht aufhören kann, andere Länder und Völker auszusaugen und sich ihre Kräfte einzuverleiben, um ihnen anschließend seine Ausdünstungen zu verkaufen.
Zurück von meiner ersten Reise, warf ich den ganzen Kreuzberger Mummenschanz aus meiner Wohnung. Die Schnörkel– und Trödlermöbel, den überflüssigen Szene–Konsum–Kitsch. Er belästigte mich jetzt, ich wollte Klarheit, Eindeutigkeit, Einfachheit. Ich mied die Kaufhäuser, die Luxusstraßen. Sie ekelten mich. Der Überfluß ist obszön. [3]

Der Überfluß ist obszön – zumindest dann, wenn hier in den Metropolen Macht und Reichtum präsentiert werden, während Jahr für Jahr rund zehn Millionen Kinder verhungern oder an leicht heilbaren Krankheiten sterben müssen, weil sie nicht nützlich für den Profit sind. Aber obszön ist auch die Zurschaustellung von Macht und Herrschaft, vor allem dann, wenn sie mit verlogenen humanitären oder zivilisatorischen Argumenten daherkommen. Im Namen der Menschenrechte sind unzählige Menschen ermordet worden. Freiheit, Markt und Menschenrechte. Das tödliche Triumvirat. Dies alles ist Thema meiner heutigen Sendung, wie immer bei Tinderbox mit freundlicher musikalischer Unterstützung von Siouxsie and the Banshees. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt begrüßt euch Walter Kuhl.

 

Prozeß gegen Slobodan Milošević

Doch kommen wir zum Prozeß gegen Slobodan Milošević. Er steht seit einigen Tagen vor dem UN–Kriegsverbrechertribunal in Den Haag. Die westlichen Medien werden nicht müde dabei darzulegen, daß hier völlig zurecht die zivilisierte Welt einem Kriegsverbrecher den Prozeß macht. Die Äußerungen Slobodan Miloševićs vor dem Tribunal hingegen werden entweder ignoriert oder als Propaganda abgetan. Doch wer die Dokumente sorgfältig studiert und Miloševićs Argumente prüft, kommt nicht umhin, ihnen ein gewisses Maß an Plausibilität zuzugestehen.

So titelt das Darmstädter Echo am vergangenen Freitag: Milošević sieht sich als Opfer. Am Tag zuvor schrieb dieselbe Tageszeitung:

Der wegen Kriegsverbrechen angeklagte ehemalige jugoslawische Staatschef Slobodan Milošević hat in seiner ersten Erklärung nach Prozessbeginn erneut die Rechtmäßigkeit des Haager UNO–Tribunals bestritten. Der Vorsitzende Richter Richard May wies die Beschuldigungen zurück und vertagte den Prozess. [...] Nach Miloševićs Kritik an der angeblichen Illegalität des Tribunals und seiner Auslieferung aus Belgrad im Juni wies May ihn zurecht. "Ihre Ansichten über das Tribunal sind völlig irrelevant", sagte der Richter. [...] Als der Angeklagte behauptete, Chefanklägerin Carla del Ponte habe längst das Urteil über ihn gefällt, und noch weitere Vorwürfe erhob, schaltete ihm May das Mikrofon ab. [...] Milošević werden Völkermord, Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. [4]

Soweit das Darmstädter Echo, das sich dann am Freitag darüber ereiferte, daß Milošević zu seiner Verteidigung eine illegal mitgeschnittene Dokumentation des Westdeutschen Rundfunks über die Lügen, die zum Krieg gegen Jugoslawien beigetragen hatten, als Beweismittel einbrachte. In dieser Dokumentation wurde nachgewiesen, daß Rudolf Scharping und seine NATO–Kollegen ein Massaker erfunden hatten, das sie nun Milošević anlasten. Das angebliche Massaker von Racak ist übrigens auch Prozeßgegenstand – gegen Milošević.

Was diesen Prozeß in seinem Kern ausmacht, hat Richter Richard May sehr deutlich gemacht. Was Milošević denkt und sagt, ist irrelevant, und wenn er mit seinen Äußerungen fortfährt, wird ihm einfach das Mikrofon abgedreht.

Doch was hat Slobodan Milošević dem Tribunal vorzuwerfen? Erstens habe die Charta der Vereinten Nationen den UN–Sicherheitsrat nicht dazu ermächtigt, ein Strafgericht einzusetzen. Milošević sagte hierzu bei einer sogenannten Anhörung vor dem Haager Tribunal am 30. August 2001:

Die Staatenvertreter im Sicherheitsrat und in der Generalversammlung sowie die Wissenschaftler, Juristen und Experten, die seit über dreißig Jahren daran gearbeitet haben, einen internationalen Strafgerichtshof ins Leben zu rufen, haben anerkannt: Der einzig rechtsförmige und rechtsverbindliche Weg der Schaffung eines solchen Gerichtshofs besteht in der Übereinkunft zwischen Nationalstaaten durch einen zu diesem Zweck geschlossenen Vertrag oder durch Änderung der Charta der Vereinten Nationen [...]. Als schließlich ein Internationaler Strafgerichtshof im Juli 1998 von 120 Staaten in Rom vereinbart wurde, geschah dies durch einen Vertrag [...]. Die Vereinigten Staaten [...] suchten [...], den Vertrag abzuschwächen, um führende Mitglieder und Militärs der USA von der strafrechtlichen Verantwortung vor dem Gerichtshof auszunehmen. Damit erlitten die USA einen Fehlschlag, waren aber weiterhin der prominenteste und mächtigste der Handvoll Staaten, die sich weigerten zu unterzeichnen. [5]

Daher – so Milošević – haben die USA über den Sicherheitsrat ein Internationales Straftribunal etabliert, das keiner Kontrolle (außer der der NATO–Staaten) unterliegt. Es handelt sich hierbei um einen gesetzlosen Akt politischer Zweckdienlichkeit. Ein solches Tribunal ist daher illegal. Völkerrechtlich gesehen, hat Milošević zweifellos recht. Doch er vergißt dabei, daß das Völkerrecht ohnehin nur durch eine Weltpolizei durchsetzbar ist. Und wer der Weltpolizist ist, ist uns ja allen klar; und Milošević ist von dieser Weltpolizei ja auch aus Belgrad entführt worden.

Sein zweites Argument zielt darauf, daß dieses Sondergericht nur für einen bestimmten Zeitraum und eine begrenzte Region eingerichtet worden ist – also für das Jugoslawien der 90er Jahre. Dazu noch einmal Slobodan Milošević:

Ermittler, Ankläger und Verwaltungspersonal, die in ein zeitlich befristetes Tribunal eintreten, um Anschuldigungen wegen größter Menschheitsverbrechen nachzugehen, und zwar gegen ein Volk und führende Politiker, die bereits dämonisiert sind, werden das Gefühl haben zu versagen, wenn es nicht zu Verurteilungen kommt. Schon die Psychologie des Unternehmens ist verfolgungsbesessen. Wenige Richter, die in ein unter diesen Umständen geschaffenes Tribunal berufen worden sind, werden die innere Freiheit besitzen – außer bei unbedeutenden oder offensichtlich irrtümlich beschuldigten Angeklagten oder um den Anschein der Objektivität zu erwecken –, bei irgend jemand auf Freispruch zu erkennen. [6]

Auch hier ist Milošević Recht zu geben; doch auch hier vergißt er etwas. Richterinnen und Richter, die für dieses Sondergericht ernannt worden sind, sind sozusagen handverlesen. Wer nicht die Gewähr bietet, mindestens einhundertprozentig den Kurs der Neuen Weltordnung bzw. die damit verbundene Menschenrechtsideologie mitzutragen, wird erst gar nicht berufen werden. Ist doch klar.

Logischerweise verfolgt das Tribunal nicht die Kriegsverbrechen der NATO – die systematische und gewollte Zerstörung von Brücken, der Wasserversorgung, von Kraftwerken, Fabriken, Bürogebäuden, Schulen und Krankenhäusern (übrigens: genauso wie beim Vietnam–Krieg). Von der Chinesischen Botschaft und gezielt bombardierten Flüchtlingstrecks einmal ganz zu schweigen.

Und welch ein Zufall – wo Richter Richard May dem Angeklagten das Mikrofon abschalten läßt, hat die NATO während ihres Krieges gegen Jugoslawien gezielt Fernseh– und Rundfunksender zerstört und die zentrale Fernsehstation in Belgrad bombardiert. Beides wegen angeblicher Propaganda. Oder – weil dort die Wahrheit ans Licht kommen könnte? Jedenfalls kein Fall für irgendein Kriegsverbrechertribunal. Die Sieger begehen qua definitionem keine Kriegsverbrechen.

Und abschließend Miloševićs drittes Argument – dieses Gericht kann gar nicht unparteiisch sein, weil es von den Siegern eingesetzt worden ist. Es ist Teil der NATO–Kriegsführung gegen das ehemalige Jugoslawien mit dem Ziel, jedes solidarische Handeln der Balkan–Staaten zu verhindern. Für dieses Ziel war es notwendig, Jugoslawien zu destabilisieren und interne Konflikte so auszunutzen, daß der Bürgerkrieg zwangsläufig war. Auch dieses Argument ist nicht von der Hand zu weisen.

Stellt sich dann nur noch die Frage, ob die möglichen Verbrechen Miloševićs trotz all dieser rechtsstaatlichen Bedenken nicht doch ein Sondergericht rechtfertigen – wie etwa bei den Nürnberger Prozessen. Diese Frage ist ja letztlich auch die Verteidigungslinie all derjenigen, die es für notwenig halten, schwerste Menschenrechtsverletzungen anzuklagen und abzuurteilen, auch ohne gesetzliche Grundlage.

Das ist eine schwierig zu beantwortende Frage. Denn ein solches Gericht verletzt auf jeden Fall den Gleichheitsgrundsatz, weil hier eben nur gezielt ein Übeltäter abgeurteilt werden soll. Völkerrechtsexperten weisen in diesem Zusammenhang zurecht darauf hin, daß Anklagen und Urteile gegen bosnische oder kroatische Kriegsverbrecher nur Kosmetik sind. Die Zielrichtung richtet sich gegen Serbien und speziell gegen Milošević.

Der jugoslawische Bürgerkrieg hat mehrere hunderttausend Tote gekostet. Zu verantworten sind sie von den kriegsführenden Parteien genauso wie von denen, die den Krieg überhaupt erst ermöglicht haben, indem sie Slowenien, Kroatien und Bosnien grünes Licht zur Abspaltung gegeben haben. Kroatien und Bosnien waren jedoch multiethnisch [7]. Konsequenterweise gab es in beiden Ländern ethnische Säuberungen – wie nach dem Krieg auch im Kosovo. Im Gegensatz dazu konnte sich Mazedonien ohne Krieg abtrennen. Dieser ethnische Vertreibungskrieg mit Hilfe der UÇK wurde erst letztes Jahr durch US–amerikanische Berater und den Druck der Europäischen Union ins Land getragen.

 

Wer also sind die Kriegsverbrecher?

Der ehemalige US–amerikanische Außenminister Henry Kissinger gibt uns die Antwort:

Die Schlüsse, die viele unter den amerikanischen Liberalen aus dem Vietnamkrieg gezogen haben, behandeln den Kalten Krieg als ein Mißverständnis. Sie schrecken zurück vor dem Konzept der nationalen Interessen und mißtrauen dem Einsatz von Gewalt, es sei denn, er läßt sich im Dienste eines uneigennützigen Zwecks darstellen – also nicht im Dienst eines amerikanischen nationalen Interesses. [8]

Woraus wir lernen, was wir eigentlich alle wissen und womit wir in halbwegs ehrlichen Polit–Thrillern oder Kriegsfilmen auch medial versorgt werden: Finde eine passende ideologische Begründung, eine Rechtfertigung oder Legitimation für die Gewalt, die du ohnehin ausüben willst. Doch Joschka Fischer und die deutschen Liberalen – sprich: Grünen – sprechen die Wahrheit lieber nicht aus und erzählen uns statt dessen etwas von humanitären Einsätzen und Menschenrechten.

Frage an Joschka Fischer: warum sitzen die US–Präsidenten Johnson, Nixon, Reagan, Clinton und die beiden Bushs nicht vor einem Kriegsverbrechertribunal?

Frage an Kerstin Müller: warum sitzen nicht auch Hans–Dietrich Genscher, Helmut Kohl und Klaus Kinkel in Isolationshaft wie Slobodan Milošević und warten auf ihren Prozeß?

Frage an Gerhard Schröder: welches imperialistische Interesse bewog die USA, schon vor dem 11. September den Krieg gegen Afghanistan zu planen?

Frage an Carla del Ponte: warum müssen sich weder Madeleine Albright, noch Tony Blair und schon gar nicht Rudolf Scharping und Joschka Fischer verantworten?

Die Antwort ist doch klar – die Sieger stehen nie vor Gericht.

Fakt ist: die Kriegsverbrechen in Vietnam (drei Millionen Tote) sind bis heute ungesühnt. Fakt ist: die ethnischen Säuberungen der türkischen Militärs in Kurdistan, die massenhaften politischen Morde der chilenischen und kolumbianischen Militärs – beides mit Hilfe, Wissen oder Billigung der jeweiligen US–amerikanischen oder bundesdeutschen Regierung – sie alle sind bis heute ungesühnt. Und dabei rede ich noch nicht von Indonesien und Osttimor, von Ruanda und vom Kongo, von Angola und Mosambik. Und so weiter und so fort. Fakt ist jedenfalls auch: das Regime Slobodan Miloševićs war garantiert kein Rechtsstaat. Die albanische Opposition im Kosovo wurde verfolgt. Doch wenn das tatsächliche Ausmaß dieser Verfolgung zum Maßstab des Völkerrechts werden würde, dann müßte das Kriegsverbrechertribunal derzeit aus etwa einhundert Kammern bestehen und Prozesse am Fließband durchziehen. Ginge es um Gleichbehandlung, dann müßten alle angeklagt und verurteilt werden oder Slobodan Milošević umgehend freigelassen werden, wie er dies auch fordert. So absurd ist seine Forderung nämlich nicht, wie sie die willfährigen Medien der Neuen Weltordnung gerne darstellen. Also – hier geht es nicht um Menschenrechte. Hier geht es nicht um das Völkerrecht. Allenfalls in dem Sinn, daß hiermit ganz reale Machtinteressen verschleiert und legitimiert werden. Was macht die Bundeswehr in Kabul, was machen deutsche Schiffe vor Somalia?

Verschließt die Augen und träumt weiter von euren humanitären Idealen. Denn anderswo sterben für eure Träume unschuldige Menschen. Und eine Bitte noch: von mir aus lügt euch etwas vor, aber sülzt bitte nicht uns voll.

Woraus wir jedenfalls sehen können – nicht nur die Sexindustrie und die pornographische Medienkultur sind obszön. Besonders obszön ist die fast durchgängig männlich besetzte machtbesessene Verlogenheit. Eine Peepshow eben. Hören wir daher aus dem Album Peep Show von Siouxsie and the Banshees das Stück The Killing Jar – der für ziemlich viele Menschen dieser Erde tödliche Mißton.

Siouxsie and the Banshees : The Killing Jar

 

Interview mit Hans–Jürgen Wirth

Auf der letzten Frankfurter Buchmesse, genau einen Monat nach den Ereignissen des 11. September, sprach ich mit dem Psychoanalytiker Hans–Jürgen Wirth über Gewalt und Gewaltverarbeitung. Hans–Jürgen Wirth ist zudem Verleger des in Gießen ansässigen Psychosozial–Verlages, dessen Bücher ich hin und wieder im Rahmen meiner Sendungen [gerne] vorstelle.

Doch während wir am 11. September und in den Tagen danach tausendfach mit immer denselben Bildern eingeschworen und gleichzeitig betroffen gemacht wurden – und immer wieder Voyeur derselben Katastrophe waren –, führte dies auch zu emotionalem Streß. Hans–Jürgen Wirth richtete hierfür auf seiner Homepage eine Möglichkeit ein, mit diesem Streß umgehen zu können. Ich fragte ihn nach den Hintergründen.

Hans–Jürgen Wirth
Ich bin in einem Beruf Verleger, mit der anderen Hälfte meiner Arbeitszeit bin ich Psychoanalytiker und Psychotherapeut; und ich war schon an dem 11. September abends in den Therapien, die ich gemacht habe, damit konfrontiert, daß die Patienten ankamen und sagten, sie zittern am ganzen Körper, sie haben Magenschmerzen, sie sind von diesem Anschlag und von dieser Katastrophe psychisch und körperlich so mitgenommen, daß sie das sehr beeinträchtigt. Das war also sozusagen der Ausgangspunkt, das war auch für mich die Motivation, sich gleich darüber zu unterhalten und auch gleich doch relativ schnell an die Öffentlichkeit damit zu gehen. Und ich habe eben die Möglichkeiten, die der Verlag bietet – nämlich eine Homepage zu haben, und auch Autoren zu haben, die ohnehin sich mit diesem Thema beschäftigen und die dann auch sehr schnell reagiert haben – die habe ich genutzt und habe an meine Autoren auch eine Einladung verschickt, sie könnten da eben ihre Gedanken zu dem 11. September publizieren. Das hat eine große Resonanz gefunden.
Der Begriff Betroffenheit ist so ein bißchen abgedroschen, aber er beschreibt schon ganz gut, wie es eigentlich allen ging, also daß es ein Ereignis war, das man nicht so einfach beiseite schieben kann und sagen kann, also ok, es passieren in der Welt viele Unglücke. Das war schon eine herausragende Katastrophe, die die Menschen verunsichert gemacht hat, Depressionen verstärkt hat, Ängste verstärkt hat. Vielleicht ist es auch so, daß Menschen, die ohnehin mit psychischen Problemen zu kämpfen haben, daß die auf solche Dinge vielleicht auch noch einmal sensibler reagieren. [9]

Der praktische Nutzen der Psychoanalyse zeigt sich auch darin, ob und wie Menschen darin unterstützt werden können, ihre Konflikte zu verstehen und zu bewältigen. Bücher sind dabei nicht der schlechteste Weg. Hans–Jürgen Wirth daher zum Herbstprogramm des Psychosozial–Verlages.

Hans–Jürgen Wirth
Das eine wäre, wie man Dinge bewältigen kann. Da würde ich empfehlen ein Buch von Vamik Volkan und Elisabeth Zintl, das heißt Wege der Trauer – Leben mit Tod und Verlust. Volkan ist ein amerikanischer Psychoanalytiker, der zusammen mit einer Journalistin dieses Buch geschrieben hat. Die Idee war, daß es eben fachlich eine sehr hohe Qualität hat, und die Zusammenarbeit mit der Journalistin sollte dafür sorgen, daß es aber doch in einer Sprache geschrieben ist, die allgemein verständlich ist. Das kann man von diesem Buch sagen. Aber das eine ist ja, sagen wir mal, Ratschläge ganz praktisch zu geben. Was im Grunde noch ein Stück davor kommt (oder vielleicht auch unabhängig davon ist), ist Analyse von Situationen, also daß man sozusagen auch die größeren Zusammenhänge sieht. Da könnte ich auch noch auf ein Buch verweisen von dem gleichen Autor, von Herrn Volkan, der hat nämlich ein Buch geschrieben, das heißt Das Versagen der Diplomatie – zur Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte. Da geht es darum, daß er als Psychoanalytiker und Konfliktforscher schon seit vielen Jahren arbeitet mit ethnischen und religiösen Gruppen in der ganzen Welt. Er hat also ein eigenes Institut mit etwa 20 Mitarbeitern, die sich also nur mit diesem Thema beschäftigen und in verschiedene Regionen der Welt fahren, um dort mit größeren und kleineren Gruppen zu arbeiten. Also zum Beispiel in Bosnien hat er versucht, mit unterschiedlichen Gruppierungen zu arbeiten, oder auch in Israel mit Palästinensern und Israelis versucht, die an einen Tisch zu bringen. Also, Konfliktverarbeitung mit Hilfe psychologischer, speziell psychoanalytischer Konzepte. [10]

Welche Bedeutung kann Psychoanalyse angesichts dessen heute haben?

Hans–Jürgen Wirth
Ein Schwerpunkt, den wir uns auch besonders zur Aufgabe gemacht haben, ist die Anwendung der Psychoanalyse im sozialen Feld und auch im politischen Feld. Da war die Psychoanalyse bisher auch im Grunde viel zu zurückhaltend. Man könnte eigentlich sehr viele Erkenntnisse, die man aus der Kleingruppenforschung und aus der Psychotherapie sowohl mit Einzelnen als auch mit Paaren und Familien, als auch mit kleinen Therapiegruppen, also die Erfahrungen, die man dort gewonnen hat, die müßte man eigentlich anwenden auf größere Zusammenhänge. Und da sehe ich eine große und auch gesellschaftspolitisch sehr relevante Aufgabe der Psychoanalyse.
Ich glaube, sie wird viel zu wenig wahrgenommen. Man sieht das auch daran, wie in der öffentlichen Diskussion – nehmen wir Diskussionsveranstaltungen jetzt zu dem Terroranschlag – es ist doch die große Ausnahme, daß da Psychologen oder Psychoanalytiker dabei sind. Also, da werden Islamwissenschaftler eingeladen und Politologen und Soziologen, natürlich Politiker und Journalisten, Afghanistanspezialisten, auch Terrorspezialisten – das ist ja alles gut –, aber im Grunde fehlen sehr oft, fehlt eigentlich die sozialpsychologische Komponente. Und ich denke, daß das im Grunde ein großer Mangel ist.

Die Bilder vom 11. September, die ich wegen ihrer massenhaften, fast zwanghaften Wiederholung bisweilen auch als Körperverletzung bezeichne, haben wenig Raum gelassen, um sie zu verarbeiten. Andererseits werden wir ja auch täglich in Film und Fernsehen mit Gewalt als appetizer versorgt. Gewalt in den Medien also. Oft motivlos oder ziemlich haarsträubend legitimiert. Nicht nur in Actionstreifen, sondern auch im Gewalt–animierenden Kinderprogramm bei Ash und seinen Pokémons, bei den Digimons, Dragonballs oder ähnlichen Gewalttätern. Führt diese Gewaltdarstellung auch dazu, daß wir Bilder wie die vom 11. September nicht mehr verarbeiten können, daß sie uns nur noch fassungslos machen?

Hans–Jürgen Wirth
Naja, zum einen zeigt die Tatsache, daß es eben diesen Terrorangriff, daß es den im virtuellen Bereich schon seit vielen Jahren vielfach gibt, in Filmen etwa, das zeigt, daß also sozusagen in der Phantasie steckt das nicht nur in den Terroristen. Also insofern, so ganz uneinfühlbar und unmenschlich sind die Terroristen auch nicht. Sie haben etwas in die Tat umgesetzt, was potentiell in uns allen steckt. Allerdings muß man auch festhalten, es ist natürlich schon eine bedeutsame Differenz, die zwischen der Phantasie und der Realität. Und insofern ist auch die Wirkung der realen Katastrophe eben auch auf Kinder eine andere als, wenn sie das im Fernsehen sehen. Sicher haben auch Gewaltfilme einen bestimmten Einfluß auf Kinder, aber er ist nicht ganz so schädlich, wie vielfach angenommen wird, sondern die Kinder können eben auch ... auch kleine Kinder können schon differenzieren zwischen Phantasie und Realität. Und insofern hat jetzt also die reale Katastrophe eine enorme Auswirkung, gerade auch auf Kinder und die kindliche Psyche.

Unsere Kultur ist eine Kultur der Gewalt. Dennoch gibt es auch Versuche, Konflikte und Gewalt zu vermeiden. Inwiefern ein Verlag wie der Psychosozial–Verlag hier hilfreich sein kann, fragte ich Hans–Jürgen Wirth.

Hans–Jürgen Wirth
Ja, also, ich könnte auf ein Buch verweisen, von Horst–Eberhard Richter herausgegeben, das heißt Kultur des Friedens. Es basiert auf einem Kongreß, der vor wenigen Monaten in Berlin stattfand unter internationaler Beteiligung. Und da wurde eben gerade etwas probiert, was sich zeigt, das im Grunde für die ganze Welt von zentraler Bedeutung ist, nämlich daß man nicht nur versucht, Krieg zu verhindern, sondern daß man eine Kultur des Friedens entwickeln muß. Das heißt, sich überlegen muß, wie kann man in der Politik und in der Kultur und im Zusammenleben der Menschen Bedingungen schaffen, daß ein friedlicher Umgang miteinander möglich ist und gefördert wird, und nicht Strukturen schaffen, die sozusagen notwendig irgendwo Gewalt produzieren müssen.
Übrigens sind da auch Erfahrungsberichte drin von Südafrika, also was man dort mit den Wahrheitskommissionen gemacht hat, und auch, wie es in Südafrika eben gelungen ist, daß ein unmenschliches politisches System, das sehr viel Gewalt produziert hat – und im Land ist ja auch jetzt immer noch genug Gewalt. Aber trotzdem haben die da einen Weg gefunden, mit diesem jahrhundertealten Konflikt doch in erstaunlich konstruktiver Weise umzugehen. Also, wenn man nach Beispielen sucht, wie das denn möglich ist, dann ist das wichtig, sich eben auch solche positiven Beispiele anzugucken.
Ich denke, die Israelis und Palästinenser könnten davon einiges lernen. Herr Dan Bar–On, ein Psychologe aus Israel hat auch einen Beitrag in diesem Buch und plädiert eben auch für eine Versöhnung zwischen diesen beiden Konfliktparteien. Im Grunde müßte die ganze Welt sozusagen auch einmal da auf den Tisch hauen und sagen, daß das so eigentlich nicht weitergehen kann. Aber gut, das ist jetzt ein weiteres Thema.

Frage: Die ganze Welt auf der Couch?

Hans–Jürgen Wirth
Das ist sicher ein bißchen zu vereinfacht. Und die Analogien zwischen Eltern–Kind–Beziehungen oder Partnerbeziehungen und Kleingruppenbeziehungen (und damit hat die Psychoanalyse zunächst einmal zu tun und das ist ihr eigentliches Feld) – wenn man das überträgt auf größere Zusammenhänge, erscheint es manchmal an den Haaren herbeigezogen oder grotesk und überzogen. Ich sehe auch die Gefahr, daß man das macht, wenn man das zu plump überträgt. Auf der anderen Seite glaube ich schon, daß es in vielen Bereichen da Parallelen gibt. Man muß sich halt bewußt sein, daß es Analogien sind und daß man die Parallelen und Analogien nicht überziehen darf.

Dennoch bleibt ein schaler Beigeschmack bei einer solchen Veranstaltung. Denn wie soll das möglich sein, eine Kultur des Friedens zu etablieren in einer Welt, in der Gewalt zum Kapitalismus gehört wie die Luft zum Atmen? Luftschlösser bauen, das hilft uns ja auch nicht weiter. Mir scheint, daß Konzepte wie das von Hans–Jürgen Wirth gleich vorgestellte in die Irre führen. Die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit führt letztlich dazu, doch wieder nach dem Großen Bruder zu rufen, selbst wenn man und frau weiß, daß er ein Gewalttäter ist.

Und gerade dann erschreckt es mich, wenn ein Psychoanalytiker, der sich intensiv mit Gewalt und Gewalterfahrungen auseinander gesetzt hat, sagt, die Welt solle mal kräftig auf den Tisch hauen, um Scharon und Arafat an einen Tisch zu bekommen. Die dahinter stehende Gewaltphantasie erscheint mir dann doch ziemlich unreflektiert – das ist, ohne Hans–Jürgen Wirth damit beleidigen zu wollen – Stammtischniveau. Das sind typisch deutsche Gewaltphantasien.

Hans–Jürgen Wirth
Naja, wenn man mal bleibt bei dem Konflikt in Nahost: Ich denke schon, daß auch durch den Schock durch den Anschlag in Amerika, daß manche zumindest auch ein bißchen schockiert waren und einen Moment innehalten und sich überlegen, daß es so nicht weitergehen kann und daß etwa auch die Amerikaner jetzt doch verstärkten Druck ausüben auf Israel, sich kooperationsbereiter zu zeigen. Also Amerika – Sie sagten das vorhin – hat eine Weltpolizistenfunktion, hat psychoanalytisch gesprochen in gewisser Weise auch schon eine Eltern–Funktion. Es ist die einzig verbliebene Weltmacht, und das Machtgefälle zwischen Amerika und den anderen Staaten ist also so enorm, daß die eine herausragende Position haben. Und die müßten sie eben auch manchmal nutzen, um Frieden zu stiften.

Nun, an die USA als Friedensstifter glaube ich nicht. Nicht umsonst hießen die Colts Peacemaker. Doch die Frage bleibt: warum wird Gewalt so häufig zur Lösung sozialer Probleme verwendet? Ist das eine typisch männliche Konfliktstrategie?

Hans–Jürgen Wirth
Gewalt ist häufig dann ... wird als Lösung von sozialen Konflikten angesehen, wenn man keinen anderen Ausweg mehr weiß. Also in der Regel wird Gewalt nicht sofort eingesetzt, sondern erst dann, wenn die Beteiligten das Gefühl haben, sie kommen mit ihren sonst üblicherweise ihnen zur Verfügung stehenden Konfliktlösungsmechanismen nicht mehr zurecht und ihnen bleibt dann letztlich nichts mehr anderes übrig, als aus der Haut zu fahren oder als eben zur Gewalt zu greifen. Also im Grunde ist es eine Erfahrung, die jeder von uns selber auch schon gemacht hat. Das ist, denke ich, in gesellschaftlichen und politischen Zusammenhängen nicht so sehr viel anders. Auch da versucht man es erst mal mit anderen Möglichkeiten. Wenn man sich überfordert fühlt ... Also insofern, wenn man an Gewaltprävention jetzt denkt, dann muß man sich überlegen, wie kann man sozusagen andere Mechanismen der Konfliktlösung, wie kann man da das Repertoire erweitern und wie kann man sich da selber als Individuum, als Gruppe oder eben auch als Gesellschaft kompetenter machen, mit Konflikten umzugehen.

 

Joschka Fischer – Gewalttäter?

Meine nächste Frage hat einen Hintergrund. Hans–Jürgen Wirth vertritt in dem von ihm herausgegebenen Buch Hitlers Enkel – oder Kinder der Demokratie? die These, daß Joschka Fischers Karriere vom Taxifahrer und Streetfighter zum Außenminister dafür steht, daß die Bundesrepublik in der Lage war, sich mit ihrer NS–Vergangenheit auseinanderzusetzen und sich zu öffnen. Er schreibt:

Unter politikwissenschaftlichen Aspekten kann diese Karriere aber auch als ein Kompliment an die Durchlässigkeit, Offenheit und Wandlungsfähigkeit des demokratischen Systems der Bundesrepublik Deutschland angesehen werden. Es stellt eine der größten historischen Leistungen der noch jungen Demokratie dar, daß es ihr gelang, die Spirale der Gewalt wieder zurückzudrehen, die Spaltung der Gesellschaft zu überwinden und die radikalisierten Minderheiten wieder in das demokratische System zu integrieren. [11]

Meine These dagegen ist: Joschka Fischer, der Straßenkämpfer der 70er Jahre, hat seine Gewalt–Vergangenheit nicht aufgearbeitet. Seine erfolglosen Allmachtsphantasien der 70er Jahre kann er als Außenminister ungehindert ausleben. Wobei dies auch nur dadurch möglich ist, daß seit dem Fall der Mauer von allen Bundesregierungen konsequent daran gearbeitet wird, die Bundeswehr in aller Welt einsetzen zu dürfen – natürlich aus rein humanitären Gründen. Meine Frage an Hans–Jürgen Wirth ist daher, ob er als Psychoanalytiker das auch so sieht.

Hans–Jürgen Wirth
Also ich würde es schon anders sehen. Ich glaube, daß ... – aber das ist eine Interpretation, das kann man auch anders sehen. Ich meine, daß er eigentlich da schon ganz repräsentativ ist für die 68er–Generation. Er hat in den 70er Jahren eine gewisse Sympathie auch für den Einsatz von Gewalt gehabt. Und ich glaube, das war in den 70er Jahren in dieser Generation doch sehr verbreitet. Und er hat dann aber auch schon in den 70er Jahren, als er gesehen hat, daß das eigentlich eine Fehlentwicklung ist – und zwar am Beispiel der RAF hat er das gesehen –, hat er ja doch sehr stark dagegen argumentiert. Er hat versucht, sozusagen auch immer noch eine Brücke zu halten, also den Kontakt zu den Terroristen zu halten, und ihnen aber gleichzeitig ins Gewissen zu reden und auch allen Sympathisanten klarzumachen, daß das ein Irrweg ist. Also er hat in gewisser Weise aus seinen Fehlern, die aber nicht nur seine eigenen individuellen sind, sondern sozusagen auch die Fehler einer ganzen Generation, gelernt und er hat im Grunde auch das Gewaltproblem zu einem zentralen Angelpunkt seiner weiteren politischen Tätigkeit innerhalb der Grünen gemacht. Denn die Auseinandersetzung zwischen Realos und Fundis, da ging es um viele Probleme, aber es ging immer auch ganz zentral um die Frage der Gewalt. Und insofern meine ich schon, daß er da einmal eine Entwicklung genommen hat, die ganz repräsentativ ist für die 68er, und auch eine, die dahin ging, sozusagen die selbst ausgeübte Gewalt zu problematisieren. Und ich denke, er hat da einen Reifungsprozeß durchgemacht. Jetzt müßte man natürlich noch weiterkommen, wie ist das mit der Beteiligung Deutschlands an kriegerischen Aktionen. Die er mit gerechtfertigt und mit initiiert und mit unterstützt hat. Ein weites Feld jetzt.

Frage: Kommt da nicht doch was durch? Also doch Gewalt nicht aufgearbeitet und jetzt nur in anderer Form ausagiert?

Hans–Jürgen Wirth
Hm... – Das ist doch also jetzt eine Frage, wie man zu dem Einsatz der NATO im Kosovo–Krieg steht oder auch jetzt zum Einsatz der Bundeswehr in Mazedonien. Ich würde ja denken, also wenn man sich ... Das müßte man jetzt sicher eingehender diskutieren. Ich habe den Eindruck, daß der Einsatz etwa in Mazedonien ja doch ... – ob der erfolgreich sein wird auf lange Sicht, kann man noch nicht so sagen, aber im Moment sieht es eigentlich so aus, als wäre das doch eine recht sinnvolle Sache gewesen. Wenn man sich den Kosovo–Krieg anguckt, muß man ja eigentlich auch feststellen, daß politisch da jetzt zumindest eine Situation eingetreten ist, die begrüßenswert ist. Was man ja sehr oft eben gerade nicht hat. Also, was man den Amerikanern etwa vorwirft, daß sie heute die Leute bekämpfen müssen, die sie vor ein paar Jahren noch mit Geld und Waffen unterstützt und aufgebaut haben. Das ist also zumindest im Kosovo vermieden worden.

Ich hingegen denke, hier wird eines deutlich: Die Auseinandersetzung mit Gewalt erfordert ganz besonders, sich nicht nur mit den individuellen psychischen Motiven auseinanderzusetzen, sondern sich ein radikal illusionsloses Bild von der Realität zu verschaffen. Im Kosovo herrschen heute Terroristen, die unter den Augen der NATO mehr als 100.000 Menschen (nämlich Serbinnen, Roma und Juden) vertrieben haben. Auch dieses Kriegsverbrechen wird nicht in Den Haag verhandelt. Warum auch?

Die Grenzen einer sich als politisch verstehenden Psychologie und Psychoanalyse werden dort deutlich, wo sich politische Illusionen auswirken. Mein Gespräch mit Hans–Jürgen Wirth endete nämlich genau dort – an der unterschiedlichen Sicht der Dinge im Kosovo und den Motiven für den NATO–Krieg. Wo ich Imperialismus sehe, sieht Hans–Jürgen Wirth den Versuch, Frieden zu schaffen. Wo ich einen Gewalttäter erkenne, verklärt er das Bild von Joschka Fischer, also auch das Bild seiner Generation. Ich denke, das ist deutlich geworden.

Und gerade das finde ich bedauerlich. Weil ich denke, daß eine politische Psychoanalyse (und das ist ja auch der Anspruch von Hans–Jürgen Wirth) uns tatsächlich helfen kann, mit der Realität und unseren damit verbundenen unbearbeiteten Konflikten besser klarzukommen. Ich halte Psychoanalyse nicht für eine nutzlose bürgerliche Wissenschaft. Aber sie macht sich selbst stumpf, wenn sie die Realitäten der materiellen Welt nicht sehen will.

Da ich einmal davon ausgehe, daß ich keinen paranoiden Wahngebilden nachhänge, denke ich, ich habe vielleicht nicht so viel Ahnung von Psychoanalyse, aber ich erkenne einen Gewalttäter aufgrund einer politischen Analyse. Ansonsten gilt auch hier das Wort von Henry Kissinger:

Sie mißtrauen dem Einsatz von Gewalt, es sei denn, er läßt sich im Dienste eines uneigennützigen Zwecks darstellen. [12]

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte

Ich hoffe, ich habe euch nicht gelangweilt, weder mit Siouxsie and the Banshees noch mit meinen Ausführungen über imperialistische Gewalt. Das Buch Hitlers Enkel – oder Kinder der Demokratie? ist im Psychosozial–Verlag erschienen und insbesondere der Teil des Buches, in dem es um den skandalösen Staatschutzprozeß gegen das ehemalige RAF–Mitglied Birgit Hogefeld geht, ist unbedingt lesenswert. Preis: 14 Euro 90. [13]

Das von Hans–Jürgen Wirth erwähnte Buch von Vamik Volkan über das Versagen der Diplomatie ist durchaus anregend, ersetzt aber eigenes Nachdenken nicht. Aber dafür sind gute Bücher ja da. Es geht hierin um die Psychoanalyse nationaler, ethnischer und religiöser Konflikte. Auch dieses Buch ist im Psychosozial–Verlag erschienen; es kostet 24 Euro 90. [14]

Natürlich gibt es noch das eine oder andere von dem hier Gesagten, bei dem nachgehakt, genauer nachgefragt, mehr reflektiert werden müßte. Doch leider ist auch meine Sendezeit begrenzt – gleich folgt ja Heinerkult. Solltet ihr daher Fragen, Anregungen oder Kritik haben, dann ruft mich entweder auf meiner Voice–Mailbox an: Darmstadt 8700 192. Oder ihr schickt mir eine Email an: tinderbox@alltagundgeschichte.de.

Zum Schluß der heutigen Sendung hätte ich noch Scarecrow (zu deutsch: Vogelscheuche) von Siouxsie and the Banshees.

Meine sogenannten Freunde sagen, du lebst nicht wirklich.
Ich brate ihre Knochen für ihre Lügen.
Dann ziehe ich den Teig von der Pastete und schütte die Bratensoße in ihre Augen.
Hör auf seinen Körper, er stöhnt.
Wünsch dir was und schick uns heim.
Um Gold zu spinnen und Silberfäden.
Wir können seine Lumpen in Reichtümer verwandeln. [15]

Oder weniger lyrisch: glaube nicht das, was du sehen willst, sondern an das, was wirklich geschieht. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt war Walter Kuhl.

Siouxsie and the Banshees : Scarecrow

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Peepshow Press Kit Bio (1988), eigene Übersetzung. Gefunden im Frühjahr 2000 auf http://siouxsie.simplenet.com/kit.html. Diese Seite ist derzeit im Internet nicht (mehr?) verfügbar.
[2]   Auszug aus Peek–A–Boo, eigene Übersetzung.
[3]   Inge Viett : Nie war ich furchtloser, Edition Nautilus, Auszug aus den Seiten 78–79. Gesendet als O–Ton Inge Viett. Siehe auch meine Sendung vom 16. Februar 1998 zu einer Lesung mit Inge Viett in Darmstadt und meine Sendung zu Frauen zwischen Befreiung und Knast vom 15. Juli 1997.
[4]   Darmstädter Echo, 14.2.2002, Seite 2.
[5]   Slobodan Milošević am 30. August 2001, zitiert nach http://www.free-slobo.de/notes/010830d2.htm.
[6]   ebd.
[7]   Dabei ist zu berücksichtigen, daß ethnische Zuordnungen künstlich und damit willkürlich sind.
[8]   Henry Kissinger : Der lange Schatten von Vietnam, in: Welt am Sonntag, 30.4.2000, zitiert nach: Sozialistische Zeitung 13/2000, Seite I.
[9]   Diese wie die nachfolgenden Passagen entstammen dem Interview mit Hans–Jürgen Wirth am 11.10.2001; gesendet im O–Ton. Auch wenn ich die Aussagen Wirths teilweise sehr kritisch bewerte, möchte ich mich ausdrücklich für seine Geduld und Diskussionsbereitschaft bedanken.
[10]  Das Buch Das Versagen der Diplomatie von Vamik Volkan habe ich am 19. Juli 1999 besprochen. Das Sendemanuskript wird verfügbar gemacht; fragt sich bloß, wann ich dazu komme.
[11]  Hans–Jürgen Wirth : Versuch, den Umbruch von 68 und das Problem der Gewalt zu verstehen, in: Hans–Jürgen Wirth (Hg.): Hitlers Enkel – oder Kinder der Demokratie? Psychosozial–Verlag, Seite 18.
[12]  Siehe Anmerkung 8.
[13]  Zum Staatsschutzprozeß gegen Birgit Hogefeld siehe auch meine Extraseite.
[14]  Siehe Anmerkung 10.
[15]  Auszug aus The Killing Jar, eigene Übersetzung.

 

Diese Seite wurde zuletzt am 26. Januar 2005 aktualisiert.
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