Frauen zwischen Befreiung und Knast

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Offenes Haus
Frauen zwischen Befreiung und Knast
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Offenes Haus
 
gesendet am :
Dienstag, 15. Juli 1997, 17.00-17.55 Uhr
 
wiederholt am :
Mittwoch, 16. Juli 1997, 08.00-08.55 Uhr
Mittwoch, 11. November 1998, 20.00-21.00 Uhr
Donnerstag, 12. November 1998, 11.00-12.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Oliver Tolmein : »RAF – Das war für uns Befreiung«, Ein Gespräch mit Irmgard Möller über bewaffneten Kampf, Knast und die Linke, Konkret Literatur Verlag
  • Inge Viett : Einsprüche! Briefe aus dem Gefängnis, Edition Nautilus
  • Inge Viett : Nie war ich furchtloser, Autobiographie, Edition Nautilus
  • Birgit Hogefeld : Ein ganz normales Verfahren …, Edition ID–Archiv
  • Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld, Psychosozial–Verlag
 
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Kurzbiographien
Kapitel 3 : Irmgard Möller - Befreiung
Kapitel 4 : Inge Viett - Romantik
Kapitel 5 : Birgit Hogefeld - Suche
Kapitel 6 : Irmgard Möller - Perspektiven
Kapitel 7 : Inge Viett - Indoktrination
Kapitel 8 : Birgit Hogefeld - Lernprozeß
Kapitel 9 : Schluß

 

Einleitung

Hier ist Radio Darmstadt mit dem Offenen Haus.
Heutiges Thema sind Frauen zwischen Befreiung und Knast. Ich werde im Verlauf der nächsten Stunde drei Frauen vorstellen, die zu unterschiedlichen Zeiten in der Roten Armee Fraktion gewesen sind. Von Irmgard Möller, Inge Viett und Birgit Hogefeld sind kürzlich einige Bücher erschienen, die ich zur sommerlichen Lektüre empfehlen möchte.

Am Mikrofon ist Walter Kuhl. Antje Trukenmüller liest Auszüge aus dem Buch von Irmgard Möller, Susanne Schuckmann aus der Biographie von Inge Viett und Cynthia Hofmann aus dem Buch von Birgit Hogefeld.

Doch zuvor einige einleitende Anmerkungen.
Es sind die Sieger, die die Geschichte schreiben. Ist der Feind geschlagen, wird er anschließend verhöhnt oder totgeschwiegen. Auf jeden Fall wird die Geschichte dieser Auseinandersetzung umgeschrieben, verzerrt, einseitig. Das war immer so und das ist auch im Deutschland der 90er Jahre nicht anders.

1967 erschoß ein berliner Polizeibeamter den Studenten Benno Ohnesorg. Danach wurde aus einer kleinen radikalen Minderheit eine Massenbewegung, die Studentenbewegung. Der Muff von tausend Jahren wurde gelüftet. 10 Jahre später, 1977, eskalierte der Krieg zwischen RAF und Staat. Buback, Ponto, Schleyer, Mogadischu, Stammheim stehen dafür. Danach war dieses Land ein anderes, militarisiert nach innen - und die Linke geschlagen.

Jetzt, 30 bzw. 20 Jahre danach, erscheinen Artikel, Bücher und filmische Rückblicke. Geschichte wird festgeschrieben. So soll es damals gewesen sein. Umsonst, vergeblich. Inszeniert wird in der ARD von Heinrich Breloer das Todesspiel, das die offizielle Version von 1977 ein wenig aufpeppt und deshalb auch durchweg gelobt wird. Widersprüche werden gar nicht erst zugelassen. Der Staat hat gesiegt und deshalb soll er Recht haben. Ein Rechtsstaat eben.

Aber 1977 wurden alle rechtsstaatlichen Register gezogen und Gesetze mißachtet. Der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sagte nachher, es sei gut, daß niemand im September und Oktober 1977 die staatlichen Maßnahmen verfassungsrechtlich überprüft habe. Dazu hat er allen Grund. Großdemonstrationen wie vor dem dann doch nicht gebauten Schnellen Brüter in Kalkar wurden polizeilich zerschlagen; damals waren mehr Polizisten unterwegs als dieses Jahr beim Castor-Transport. Gefangene wurden in deutschen Knästen einer Kontaktsperre ausgesetzt, für die es keine gesetzliche Grundlage gab; diese wurde darum innerhalb weniger Tage durchgepeitscht. Kontaktsperre - das heißt, kein Radio, keine Zeitung, keine Besuche, keine Anwälte, keine Rechtsmittel, nichts. Wie in einer Drittweltdiktatur. Und nachher gab es in Stammheim drei tote Gefangene. Selbstmord heißt es, bevor die Untersuchungen begannen. Wer etwas anderes behauptet, wird seither strafrechtlich verfolgt. Siegerjustiz.

Ich werde nicht von Terroristinnen sprechen, denn Terrorrismus ist ein politischer Kampfbegriff. Er soll dem politischen Gegner jede moralische Legitimation entziehen. Terrorismus ist selbstredend nicht Hunger, Armut, Folter, Krieg oder Völkermord, wenn er von befreundeten Staaten ausgeht oder den Kräften des Marktes. Es war nicht die RAF, die Krankenhäuser und Kindergärten bombardieren ließ, aber es war die RAF, die 1972 den Computer zerstörte, mit dem Bombenangriffe der US-Armee auf genau solche Ziele in Nordvietnam koordiniert wurden. Dieser Computer stand in Heidelberg.

Die RAF war in den 70er Jahren Staatsfeind Nummer 1. Namen wie Ulrike Meinhof, Andreas Baader, Gudrun Ensslin waren bekannter als die von Prominenten aus Showbusiness und Politik. Heute - vergessen; oder - Geschichte. Hier soll daher die andere Seite zu Wort kommen. Drei Frauen, die zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich lange in der RAF waren, haben Bücher geschrieben. Ein Streitgespräch, eine Biographie, eine politische Auseinandersetzung. Dies ist die Geschichte dieser drei Frauen.

Weiteres zu 1977 und dem deutschen Herbst werden wir in unregelmäßiger Folge in den nächsten Monaten senden.

 

Kurzbiographien

Irmgard Möller, geboren 1947 in Westfalen, ging Anfang der 70er Jahre in die RAF. 1972 wurde sie in Offenbach verhaftet, 1979 u.a. wegen des Bombenanschlags in Heidelberg zu lebenslanger Haft verurteilt. 1994 wurde sie als weltweit letzte Gefangene, die gegen den verbrecherischen Krieg der USA in Vietnam gekämpft hatte, aus der Haft entlassen. Irmgard Möller lebt heute in Hamburg. Der Journalist Oliver Tolmein führte mit ihr mehrere längere Gespräche, die als Buch veröffentlicht wurden.

Inge Viett, geboren 1944 in Schleswig-Holstein, ging Anfang der 70er Jahre zur Bewegung 2. Juni. Der 2. Juni agierte hauptsächlich in Berlin und gab sich den Namen um auszudrücken, daß es die Polizei war, die zuerst geschossen hatte: am 2. Juni 1967 wurde der unbewaffnete Student Benno Ohnesorg während des Schah-Besuchs in Berlin aus nächster Nähe erschossen. Der Täter, ein berliner Polizist, ging straffrei aus. 1975 startete die Bewegung 2. Juni ihre spektakulärste Aktion. Sie entführte den Spitzenkandidaten der berliner CDU Peter Lorenz und tauschte ihn gegen 7 Gefangene aus. Inge Viett wurde zweimal verhaftet und konnte beide Male aus berliner Gefängnissen fliehen. Als sich der 2. Juni Ende der 70er Jahre auflöste, ging Inge Viett zur RAF und war daran beteiligt, mehrere RAF-Mitglieder ins Exil in die DDR zu bringen. 1982 übersiedelte sie selbst dorthin. Nach dem Fall der Mauer wurde sie im Juni 1990 verhaftet und 1992 zu 13 Jahren Haft verurteilt. Seit Anfang des Jahres lebt sie in Magdeburg in Freiheit. Von ihr erschienen Briefe aus dem Gefängnis und vor kurzem ihre Autobiographie.

Birgit Hogefeld wurde 1956 in Wiesbaden geboren. In den 70er Jahren engagierte sie sich für die politischen Gefangenen in deutschen Gefängnissen, 1984 tauchte sie ab und ging später in die RAF. 1993 wurde sie in Bad Kleinen verhaftet, ihr Begleiter Wolfgang Grams erschossen. Nach einem zwei Jahre dauernden skandalösen Gerichtsprozeß wurde sie im November letzten Jahres zu lebenslanger Haft verurteilt. Aufgrund der Beweislage müßte sie heute in Freiheit leben, statt dessen sitzt sie zur Zeit in Frankfurt-Preungesheim im Knast. Birgit Hogefeld hat nach ihrer Verhaftung begonnen, sich öffentlich mit der Geschichte der RAF selbstkritisch auseinanderzusetzen. In mehreren Prozeßerklärungen ist sie der Frage nachgegangen, wie Menschen, die aufgestanden waren, um für eine gerechte und menschliche Welt zu kämpfen, sich so weit von ihren ursprünglichen Idealen entfernen konnten. Ihre Texte seit 1993 sind als Buch erschienen.

 

Irmgard Möller - Befreiung

Namen, die heute, wo eine Medieninszenierung die andere jagt, in Vergessenheit geraten sind. Ich will daher der Frage nachgehen, wie diese Frauen ihre eigene Geschichte sehen und wie sie heute leben. Wie kamen diese Frauen zur RAF? Was zog sie an, welche Motive hatten sie? Irmgard Möller antwortet auf die Frage, wann die Entscheidung gefallen sei, als Gruppe den bewaffneten Kampf zu führen und Anschläge zu machen, so:

Das war keine Entscheidung, die an einem bestimmten Datum gefallen ist. Schon auf dem Vietnamkongreß des SDS im Februar 1968 in West-Berlin wurde laut über die Möglichkeit bewaffneter Politik hier nachgedacht. Diese Diskussionen sind in den verschiedenen Städten, in unterschiedlichen Zusammenhängen über Jahre gelaufen. Zum großen Teil wußten wir voneinander, und es gab auch eine Menge Gemeinsamkeiten unter uns: das Verhältnis zum Staat, den wir alle als Nachfolgestaat des Nazifaschismus bekämpften, und der Bezug auf die Befreiungsbewegungen im Trikont. Von allen wurden auch die Texte von Marighella, der Stadtguerilla, die in Brasilien kämpfte, gelesen. Und es gab darüber hinaus noch die gemeinsame Einschätzung der Rolle der SPD als Regierungspartei.
Aber ansonsten waren unsere Vorstellungen sehr unterschiedlich. Es gab zu dem Zeitpunkt ja auch noch gar keine Erfahrung mit bewaffneter Opposition in der BRD. Entsprechend diffus waren auch unsere ersten Überlegungen in München. Wir wußten zwar, daß wir angreifen wollten, und wir waren auch bereit, illegal zu leben; aber wir hatten untereinander noch keine richtige Vorstellung, wie so etwas langfristig funktionieren kann. Schließlich kamen die Leute vom Blues in Berlin, die bereits illegalisiert waren, zu uns.

Der Blues, das war mehr eine antiautoritäre Lebensweise als eine politische Organisation. Die Aktivitäten reichten vom Haschischrauchen über Flugblätter Schreiben bis zu militanten Aktionen. Aus Teilen des Blues ging später die Bewegung 2. Juni hervor.

Die Leute vom Blues hatten kleinere Aktionen durchgeführt: mal einen Wagen von Bullen angezündet oder einen Molli geworfen. Einige waren schon mehrmals im Knast gewesen und waren jetzt mit neuen Haftbefehlen konfrontiert. Deswegen sind sie erstmal raus aus West-Berlin. Für uns hieß das: Wir mußten uns verstärkt mit Fragen der Logistik beschäftigen, mußten klären, was man braucht, um sich in der Illegalität halten zu können, und mit welcher Perspektive man das macht. Und im Verlauf der und im Zusammenhang mit diesen Auseinandersetzungen haben wir uns dann zusammen entschlossen, zur RAF zu gehen.
Diejenigen vom Blues, die damals nach München gekommen sind, sind dann auch erst mal in die RAF gegangen. In der RAF sind Leute zusammengekommen, die ganz unterschiedliche Geschichten hatten, auch politisch unterschiedliche Erfahrungen.
Im Mai 1970 war Andreas Baader aus dem Knast befreit worden - das war die erste Aktion der RAF. danach hatte es ein paar Banküberfälle gegeben, mehr noch nicht. Die RAF befand sich also gerade in der Aufbauphase. Es waren aber auch schon grundlegende strategische Vorstellungen diskutiert worden. Der Entschluß, in die RAF zu gehen, hatte in München ziemliche Konsequenzen, weil einige Leute, mit denen wir bis dahin viel zu tun hatten, auf gar keinen Fall mit wollten und wir uns also trennen mußten.
Ein ganz wichtiger Punkt war, wie wir in die Situation eingreifen können. Unsere Vorstellung war, durch offensive strategische Aktionen die Konfrontation zwischen herrschender Macht, Imperialismus, Staat und uns, dem Widerstand, den Leuten, die Subjekt sein wollen, offen sichtbar und veränderbar zu machen. Dagegen haben diejenigen, die in ihren Projekten in den Städten bleiben wollten, sich eine revolutionäre Aufbauarbeit praktisch »vor Ort« vorgestellt. Natürlich läßt sich das gar nicht so alternativ definieren. Aber es gab schon solche Debatten damals wie, na vereinfacht gesagt, wollt ihr gegen die Zentren der Macht vorgehen oder lieber für einen Kinderladen kämpfen.
Ein anderer Streitpunkt war die Frage der Illegalität: Ist es richtig, wenn eine ganze Gruppe in die Illegalität geht, oder sollen nur die abtauchen, die müssen, weil sie gesucht werden? Einige meinten auch, die RAF sei zu ML-mäßig und zuwenig anarchistisch.

ML, das meint: marxistisch-leninistisch, und bezieht sich auf die sogenannten K-Gruppen, die maoistisch orientierten kleinen kommunistischen Parteien.

Uns ging es darum, den Menschen eine Vorstellung davon zu vermitteln, was in Vietnam passiert - und da schien es uns richtig, an deren eigene Erfahrungen anzuknüpfen: Wie ist das, wenn Bomben auf einen fallen. Wir haben gedacht, so einen anderen Blick auf das zu eröffnen, was in Vietnam passiert, und zu zeigen, daß das nicht einfach weit weg ist. Außerdem wollten wir damit das Wesen imperialistischer Herrschaftsausübung auf den Punkt bringen, deutlich machen, daß es einen Zusammenhang von Kapitalismus und Faschismus gibt.
In der offiziellen Geschichtsrezeption galt der Faschismus als eine Art unerklärlicher, ganz sicher einmaliger Betriebsunfall der deutschen Geschichte - und genau dagegen wollten wir angehen. Du mußt auch sehen, daß wir am eigenen Leib mitbekommen haben, wie die Amerikaner hier als Befreier auftauchten und daß es diese Überzeugung gab, daß sie so schwerer Verbrechen gar nicht fähig sind. Und wir haben uns gefragt: Wie vermitteln wir das am besten, was sie in Vietnam tun? Dort wurden nicht nur Menschen getötet und ganze Landstriche bombardiert, dort wurde eine Taktik der verbrannten Erde angewandt, die auch auf lange Sicht hin vielen Menschen dort die Lebensgrundlage entzogen hat. Die Deiche wurden bombardiert, das Land wurde vergiftet, es gab keine Grenze für die militärischen Einsätze, die wurden total geführt.
Wir hatten die Bilder von den napalmverbrannten Dörfern und Menschen, von den Erschießungen, Folterungen, Vergewaltigungen durch die GIs im Kopf.

Zu den Strukturen innerhalb der RAF befragt, sagt sie:

Die RAF war für uns Befreiung - im umfassenden Sinn - und keine Pflichtveranstaltung, in der wir verbittert agiert hätten, weil es eben sein mußte.
Das hat auch mit unserer Geschichte zu tun. Wir kamen ja überwiegend aus der antiautoritären Bewegung und hatten mit dem äußerlichen Pflichtbegriff, dem entfremdeten Politikverständnis gebrochen. Wir hatten große Lust auf ein freies Leben und wußten, daß es individuelle Befreiung nicht geben kann, sondern Befreiung nur kollektiv im Angriff auf die Ursachen der Zerstörung überhaupt zu denken ist.
Wir waren also nicht von der Mission getrieben, uns jetzt für andere abzurackern, sondern es war unser Leben. Allerdings erfordert es auch ein hohes Maß an Disziplin, Verbindlichkeit und Vorsicht, illegal zu arbeiten. Weil wir freiwillig den Kampf aufgenommen haben, waren ganz bestimmte Einschränkungen, zum Beispiel nicht mal eben eine Freundin zu besuchen, auch einfach zu begreifen und zu akzeptieren.
Umgekehrt hat das Leben in der Illegalität auch ganz viel möglich gemacht: Wir haben uns untereinander ganz intensiv kennengelernt und hatten viel Freude und Spaß zusammen. Die ganzen Energien, die sonst eine braucht, um dem entfremdeten Druck, der Konkurrenz standzuhalten, die wurden in diesem Prozeß freigesetzt für neue Erfahrungen und Entdeckungen.

 

Inge Viett - Romantik

Inge Viett's Weg war ein anderer. Sie war mehrere Jahre Mitglied der vor allem in Westberlin agierenden Bewegung 2. Juni gewesen, ehe sie in die RAF ging.

Es schellt an der Wohnungstür. Verena tritt lachend in den Korridor. Sie hat zwei fremde Typen mitgebracht und sagt schlicht: "Das sind Bommi und Knolle von der Bewegung 2. Juni. Sie wollen mal mit dir reden." Ich bin überrascht, aber keineswegs überrumpelt oder erschrocken. Interessiert und mit etwas Respekt betrachte ich die beiden Jungs. Sie sehen aus wie zwei freakige Studenten. Das also sind die Untergrundkämpfer, die Stadtguerilleros, die "rücksichtslosen Killer" aus der Bildzeitung. Bisher habe ich nur Flugblätter, die aus konspirativen Wegen zu mir gelangt waren, für die Bewegung verteilt. Das ist nicht ohne Risiko, darum haben wir sie mit Vorliebe bei Massenveranstaltungen von oben heruntergeworfen, um dann gleich in der Menge zu verschwinden.
Bommi und Knolle ziehen ihre langen Ledermäntel aus und legen ohne Scheu ihre Waffen ab, um es sich bequem zu machen.
"Wir haben dich schon länger im Auge", sagt Bommi. "Du bist sehr aktiv und radikal engagiert. Hast du dir schon mal überlegt, näher mit uns zusammenzuarbeiten?"
Nein, habe ich nicht. Die legale Arbeit und die situative Militanz hat mich bis jetzt völlig ausgefüllt. Ich unterstütze den bewaffneten Kampf ganz selbstverständlich, zweifle überhaupt nicht an seiner Legitimität und Notwendigkeit, aber, meine Güte, ich selbst bewaffnet kämpfen? Bis zu dieser Konsequenz bin ich noch nicht gekommen.
Die Sache ist ganz einfach für mich: Wie viele Male hab ich gerufen: "Nieder mit dem Imperialismus"? Wie viele Flugblätter geschrieben zur Unterstützung des Vietcong, der afrikanischen und lateinamerikanischen Befreiungsbewegungen? Wie begeistert verschlinge ich Bücher und das Wissen über die Siege und Niederlagen in der historischen Befreiungsgeschichte? ... Jetzt will ich mich auch einreihen, jetzt will ich auch alles geben.
Meine Entscheidung ist ganz und gar moralisch und romantisch.

Aber Ende 1979 sind die Mitglieder des 2. Juni weitestgehend im Knast, Perspektivlosigkeit macht sich breit.

Jeden Tag waren wir unterwegs in Sachen Revolution, aber niemand sah noch irgendwelche Chancen und niemand sprach die Zweifel aus. Wir müssen kämpfen, einfach weiterkämpfen, war die verinnerlichte Parole.
Manchmal fühlte ich mich tief in der Wüste. Nicht verirrt, aber ohne Wasser, aufgezehrt und in unverhohlener Furcht, meine Kräfte könnten schon vor der nächsten Oase verbraucht sein.
Ich wünschte mir kein anderes Leben als das, welches ich führte. Oder besser: ich wünschte mir keine Alternative, die mit Versöhnung und Akzeptanz des alten Lebens zusammenging. Ich war zu Hause in meiner Zugehörigkeit zu den weltweit kämpfenden antiimperialistischen Kräften. Ich war auch zu Hause im Untergrund mit allen seinen Beschränkungen und allen seinen Freiheiten. Ich wollte nirgendwohin zurück, aber ich konnte kaum noch vorwärts, weil die Machtlosigkeit, die Zersplitterung, die Isoliertheit unserer Aktivitäten mich überfiel.
Das war die Situation, als wir die Gespräche mit der RAF begannen. Und, hol's der Teufel, sie haben es sofort gemerkt. Sie hatten gerade eine lange Diskussionsphase hinter sich, in der es genau um dieselben Probleme für fast die Hälfte ihrer Mitglieder gegangen war. Mit der Trennung von dieser Hälfte hatten sie die Diskussionen beendet. Erfahren und entschlossen, den Schnitt noch tiefer anzusetzen, begannen sie nun den Prozeß mit uns. Mit einer entschiedenen, vom Verfall und Zweifel gereinigten Gruppe wollte die RAF eine neue Anti-NATO-Eskalation entwickeln. Wer dazu nicht in der Lage war, mußte den aktiven Untergrund verlassen.

Inge Viett zögert lange, geht dann aber in die RAF und hilft dieser dabei, die gerade angesprochene Hälfte der Gruppe in der DDR als neuem Exil unterzubringen. 1990 werden diese festgenommen und von der Bundesanwaltschaft mit einem zu erwartenden Lebenslänglich-Urteil konfrontiert. Daraufhin werden sie zu Kronzeuginnen und Kronzeugen gegen ihre früheren Genossinnen und Genossen. Sie erzählen alles, was die Bundesanwaltschaft hören will, und kommen nach wenigen Jahren Haft frei.

Der Weggang von neun Leuten, nahezu der Hälfte der Gruppe, war zu keinem Zeitpunkt Anlaß, grundsätzlich über den bewaffneten Kampf nachzudenken. Ein Aussteigen war persönlich, aber nicht politisch legitim. Und es war verbunden mit der Aberkennung des revolutionären Willens überhaupt.
In dieser Klammer zappelte ich zwei Jahre herum: Nicht aussteigen zu wollen, aber auch nicht fähig zu sein, der harten intellektuellen Dominanz der RAF eine innovative politische Kritik entgegenzusetzen. Daran mußte ich meine Persönlichkeit zugrunde richten. Erst als ich ganz unten war, bin ich gegangen.

Inge Viett bezeichnet die anschließenden Jahre in der DDR als die besten ihres Lebens.

 

Birgit Hogefeld - Suche

In mehreren Prozeßerklärungen hat sich Birgit Hogefeld mit ihrer eigenen Geschichte und mit der Geschichte der RAF auseinandergesetzt.

Ich denke, zur RAF sind zu jeder Zeit nur Menschen mit ganz bestimmten Erfahrungen, Weltbildern, Vorstellungen usw. gestoßen. Für mich, genauso wie für alle anderen, hätten objektiv unzählige andere Lebenswege offengestanden. Daß wir uns für diesen entschieden haben, hat Gründe, die ganz sicher auch mit unseren persönlichen Lebensgeschichten zusammenhängen, die - obwohl sie sehr unterschiedlich sind - für jede und jeden von uns zu im Kern ähnlichen Erfahrungen und dann Konsequenzen geführt haben.
Daß das so ist, hat seine Gründe in der gesellschaftlichen Situation, aber auch in der Geschichte dieses Landes, in deren Schatten wir aufgewachsen sind.
Deshalb war die RAF trotz unserer relativen Isolierung immer auch Ausdruck und Antwort auf diese Realität - anders hätte es die mehr als zwei Jahrzehnte fortwährende Kontinuität, also die Tatsache, daß sich immer wieder Menschen für diesen Weg entschieden haben, nicht gegeben. Wir haben nicht einfach im luftleeren Raum agiert, es gab immer Menschen, die eine Verbindung zwischen ihren eigenen Kämpfen und unserem Kampf sahen, und immer auch welche, die sich in unserem Kampf - und sei es allein als Antwort auf ihre permanente Entwürdigung und Unterwerfung - wiederfinden konnten.
Für viele hat sich bei den Bildern aus Vietnam, dem Einsatz von Napalmbomben und chemischen Waffen wie Agent Orange, der Bombardierung von Staudämmen, eben dem offensichtlichen Willen, dieses Volk auszulöschen, die Parallele zu Auschwitz aufgedrängt - für Jugendliche in Deutschland, die die Augen nicht vor den Verbrechen der Vergangenheit verschlossen, konnte das nicht anders sein. Für viele ergab sich daraus zwingend die Notwendigkeit - als moralische Verpflichtung gegenüber der Geschichte -, sich auf die Seite dieses Volkes zu stellen und zu überlegen, was man selber machen kann gegen seine Vernichtung, eben nicht zuzuschauen, sondern zu handeln und Verantwortung zu übernehmen. Natürlich gab es gleichzeitig die Identifizierung mit den Befreiungszielen, die sich mit unseren eigenen Utopien deckten - es war beides.
Selbst für mich, die ich zu dieser Zeit noch Schülerin war und mich nur an den letzten Vietnam-Demos beteiligte, entstand daraus eine Verpflichtung, die sich bis heute durch mein Leben zieht. Vietnam, dieser Krieg ist für mich zum Synonym für Verbrechen und Unterdrückung geworden. Das Bild des napalm-verbrannten nackten Kindes, das damals tausendfach um die Welt ging, dieses Bild war für mich einzige Aufforderung und Verpflichtung zu handeln und den Verbrechen nicht zuzuschauen.
Wenn ich mich an die Zeit meiner eigenen Politisierung zurückerinnere - anfangs war ich an ganz unterschiedlichen Fragen und in vielen sehr verschiedenen Bewegungen aktiv. Das ging von Arbeit in einem sozialen Brennpunkt mit überwiegend türkischen Kids über Initiativen für selbstverwaltete Jugendzentren oder für die Durchsetzung von mehr Selbstbestimmung in der Schule, über Fahrpreiskämpfe bis zu Demos gegen den Vietnamkrieg oder das Folterregime in Spanien.
Diese Vielfältigkeit meiner Aktivitäten hat sich fast schlagartig mit der Ermordung von Holger Meins geändert. An diesem Hungerstreik, in dessen Verlauf ich angefangen habe, mich mit Isolationsfolter, toten Trakts, der systematischen Vernichtung von politischen Gefangenen auseinanderzusetzen, und an dessen Ende der Tod von Holger Meins stand, lief eine der zentralen Weichenstellungen für mein Leben.
Aber es war natürlich nicht allein die Situation der Gefangenen, die dazu geführt hat, daß alle aus unserem damaligen politischen Zusammenhang sich von anderen Initiativen, die vorher zu ihrem Leben gehörten, zurückgezogen und ausschließlich auf die Haftbedingungen konzentriert haben. Von allen oder fast allen, die in diesen Jahren zu den Anti-Folter-Komitees oder ähnlichen Gruppen gestoßen sind, gab es von Anfang an eine weitgehende Zustimmung zur Politik der RAF.
Bei den meisten war es in erster Linie die Zustimmung zu der Radikalität des Bruchs und der Negation. Das hat meinem Lebensgefühl entsprochen - ich konnte hier nicht leben. Das war das Lebensgefühl eines nicht kleinen Teils einer ganzen Generation. Für jedes Ausbrechen aus dieser dumpfen Enge gab es innerhalb dieser Gesellschaft keinen Platz.
Antiautoritäre Bewegung, der 68er Aufbruch, also eine Jugend, die das Leben, das ihr vorgegeben und aufgezwungen werden soll, radikal ablehnt und nach neuen Orientierungen sucht, die anfängt, Lebensvorstellungen zu leben, bei denen die Menschen und ihre Bedürfnisse im Mittelpunkt stehen anstatt Geld, Konsum, Karriere und Konkurrenz, eine solche Jugend sollte es hier nicht geben.
Wir waren schon als Jugendliche mit diesem System, aber auch mit dieser Gesellschaft fertig.

Birgit Hogefeld war angeklagt, der RAF seit 1984 angehört zu haben. Ohne daß der Fahndungsapparat die leiseste Ahnung hat, wer zur RAF gehört, wurden und werden Menschen willkürlich dazu gerechnet und entsprechend verfolgt.

Das stimmt nicht und das ist auch den zuständigen Behörden seit damals bekannt. Es ging um ein geklautes Auto, das aufgeflogen war, ein Schwachsinnsprojekt, und es hatte mit der RAF nicht das geringste zu tun. Für Leute wie uns, aus unseren politischen Zusammenhängen, hätte eine solche Geschichte natürlich sofort zu einer hohen Knaststrafe geführt - wie das eben gegen Linke hier in diesem Land üblich ist, und um uns dem zu entziehen, sind wir damals in die Illegalität gegangen.
Das war also unsere Situation im Februar 84 - Illegalität, ohne genaue Vorstellungen und ohne zu wissen, wie man ein solches Leben organisiert. In dieser Situation trifft man nicht von einem auf den anderen Tag eine Lebensentscheidung wie die, zur RAF zu gehen. Wann ich diese Entscheidung für mich getroffen habe, also ab wann ich RAF-Mitglied gewesen bin, das weiß von allen, die hier im Saal sitzen, nur ich - im Februar 84 war es jedenfalls nicht.

 

Irmgard Möller - Perspektiven

Irmgard Möller beschreibt in ihren Gesprächen mit Oliver Tolmein nicht nur ihre Zeit in der RAF und später im Knast. Zu ihrer heutigen Perspektive befragt sagt sie:

Langfristig werde ich nicht hierbleiben. Da bin ich mir recht sicher. Ich kann mir schwer vorstellen, hier etwas neues aufzubauen. Die Bedingungen hier sind für jemanden wie mich nicht gerade gut. Ich kann mir zum Beispiel nicht vorstellen, irgendwo in eine Antifa-Gruppe zu gehen und Flugblätter zu verteilen oder immerzu auf Demos zu gehen. Andererseits kann ich mich auch nicht hinsetzen und sagen, daß der Rassismus hier mich nicht interessiert.
Mich hat letztes Jahr vor dem Abschiebeknast Glasmoor bei einer Demonstration ein ganz junger Mensch gefragt: "Wie ist das für dich, hier zu demonstrieren, ist das nicht komisch?" Und ich habe ihm geantwortet: "Doch, es ist schon komisch, aber ich mach es trotzdem."
Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß ich das bis zum Ende meines Lebens mache. Ich will auch nicht in den Strudel von Terminen und Geschäftigkeiten geraten, der einen nur aufreibt, sonst nichts.

Und war es das dann alles wert?

Du kannst nicht sagen, der Preis war hoch. Das läßt sich nicht berechnen. Entweder man findet eine Entscheidung richtig, oder man findet sie falsch. Ich fand es richtig, in die Illegalität zu gehen und zu kämpfen. Und ich denke auch heute, obwohl ich weiß, daß wir nicht durchgekommen sind, nicht, daß es falsch war, es zu versuchen. Das heißt nicht, daß wir keine Fehler gemacht hätten, aber es war eben nicht von Grund auf falsch, es versucht zu haben.

Ende Juni [1997] lief an zwei Abenden in der ARD das Todesspiel. Der Film vermittelt eine Sicht über die Verhältnisse in Stammheim und der Nacht des Todes von Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan Carl Raspe, eine Sicht, der Irmgard Möller entschieden widerspricht. Wer mehr als die staatsoffizielle Wahrheit lesen will, wer die Darstellung der Todesnacht durch die einzige Überlebende erfahren will, der oder dem sei das Buch RAF - das war für uns Befreiung empfohlen.

 

Inge Viett - Indoktrination

Inge Viett lebte acht Jahre in der DDR, zunächst in Dresden, dann in Magdeburg. Sie empfand den Alltag in der DDR als wohltuend, frei von den Zwängen des Marktes, und entwickelte ein eigenes Verhältnis zu den Losungen der SED.

Nein, ich fand sie nicht lächerlich, pathetisch manchmal, ja. Auch altmodisch. Aber sie konnten niemals so falsch und zynisch sein wie der Kitekat-Werbeslogan in einer Welt, in der jährlich 14 Millionen Kinder an Hunger und Seuchen sterben: "Das Beste für unsere Katze." Niemals entleerter als der tägliche Radiospruch: "Bildzeitung - was braucht man mehr?" Und auch niemals dümmer und hohler als "Alles Müller oder was?" Ich kann heute nur noch müde lächeln, wenn ich die beliebte Formel westlicher Ansichten und Markierungen höre oder lese: "Die allgegenwärtige ideologische Propaganda und Indoktrination in der DDR". Welch eine Abstumpfung und Verblödung ihrer Wahrnehmungsfähigkeit gegenüber der eigenen Umwelt! Sie sind aufgegangen in der Warengesellschaft und spüren nicht mehr, wie sie 24 Stunden am Tag von ihr bestimmt und belästigt werden. Wohin du in der kapitalistischen Gesellschaft den Blick auch wendest, die Schritte lenkst, die Sinne richtest, stößt du an ihre Propaganda. Sie verfolgt dich überall hin, vom Erwachen bis zum Schlafengehen. Die Straßen, die Häuser, die Lüfte, alle Körper, alle Flächen, die offenen und geheimen Wünsche und Träume der Kinder, Frauen und Männer, ihre Haut, ihre Haare, ihre Kleidung, ihre Zähne, die Kunst, die Bildung, Wissenschaft und Kultur, alles, alles ist Werbefläche, Werbeobjekt, Werbeträger für das kapitalistische Gesellschaftssystem. Das nenne ich allgegenwärtig und die Freiheit davon war für mich ein wohltuender Gewinn an Lebensqualität.
Die Propaganda in der DDR war ungeheuer simpel, klar und durchschaubar, von allen Menschen als solche zu erkennen. Damit hat sie jedem die Freiheit gelassen, sich vor ihr zu verschließen, sich zu distanzieren. Die psychologisch und ästhetisch ausgeklügelte, differenzierte Propaganda des Kapitals erlaubt dies nicht mehr, sie hat alle inneren und äußeren Lebensbereiche durchdrungen, sie steuert die Bedürfnisse und Lebensentwürfe, ohne mehr wahrgenommen zu werden. Sie ist gefährlich und dort, wo sie deutlich sichtbar ist, eine impertinente Plage.

Inge Viett beschreibt in ihrer Biographie ausführlich ihre Kindheit, aber auch, wie sie den Alltag in der DDR empfunden hat. Das Buch ist trotz aller stilistisch mitunter harten Brüche wunderbar zu lesen. Von Inge Viett erschien letztes Jahr ein weiteres Buch mit Briefen, die sie während ihrer Knastzeit geschrieben hat.

In einem Brief an die Schriftstellerin Christa Wolf schreibt sie:

Sie fragen sich, wie weit ich mich von der "inneren Bindung an den Terrorismus gelöst und zu anderen Werten gefunden habe" und gehen davon aus, daß meine Ablehnung der Kronzeugenregelung mit dem Grad dieser inneren Ablösung zu tun hat. Der Terrorismus ist ja kein Wert an sich, sondern ein politisches Mittel, zu dem man kommt durch eine falsche Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen und zu dem man greift, weil man glaubt, daß es keine andere Chance gibt, den Lauf der Politik aufzuhalten, die in der Konsequenz zerstörerisch für Mensch und Umwelt ist. Die Frage nach der Legitimität revolutionärer Gewalt kann ja nie grundsätzlich beantwortet werden, weder in der Bejahung, noch in ihrer Verneinung. Ihre grundsätzliche Bejahung, der ich verfallen war, kann eben zu individuellem Terrorismus führen, zu ungerechtfertigten Opfern und zu persönlicher Schuld. Ihre grundsätzliche Verneinung führt zur ewigen Herrschaft des marodierenden Egoismus des Starken.

 

Birgit Hogefeld - Lernprozeß

Birgit Hogefeld bezeichnet heute die Geschichte der RAF als Irrweg. Ob sie damit eine gegensätzliche Haltung zu Irmgard Möller einnimmt, also die RAF von Anfang an für einen Fehler hält, kann ich nicht beantworten. Möglich wäre es schon. Ich hätte sie fragen können. Bis vor kurzem jedoch benötigte ein Brief, ja eine Postkarte mit wenigen Sätzen bis zu drei Monate, um zu ihr zu gelangen. Ihre Post wird zensiert; aber kein Kontrollrichter benötigt drei Monate zum Lesen weniger Sätze. Das ist Absicht, soll Kommunikation und Auseinandersetzung verhindern und wirft ein Schlaglicht auf die staatliche Propaganda, daß die Gefangenen aus der RAF genauso behandelt werden wie andere Gefangene auch. Aber auch Mitarbeitern anderer Presseorgane erging es nicht anders. Ein Interview wurde mit der Begründung verweigert, Birgit Hogefeld würde an ihren Zielen festhalten. Gemeint war nicht etwa die Mitgliedschaft in der RAF oder das Propagieren des bewaffneten Kampfes. Das ist offensichtlich, daß sie das nicht tut. Nein - ihre Ziele einer menschlichen, lebenswerten Gesellschaft erfüllen den Tatbestand des §129a des Strafgesetzbuchs "terroristische Vereinigung".

Jedenfalls sagt sie in ihrer Schlußerklärung zu Ende des Prozesses gegen sie im Oktober 1996:

Der Kampf, wie ihn die RAF Anfang der 70er Jahre begonnen hat, gehört einer vergangenen Epoche an. Heute denke ich, daß eine Selbstreflektion allerspätestens 77 hätte einsetzen müssen, anstatt in eine Auseinandersetzung RAF - Staat zu treiben, bei der die Gesellschaft, aber auch der Großteil der Linken, außen vor stand.
Deshalb finde ich die Aufforderung von Helmut Pohl an die Illegalen, ihre Auflösung als RAF zu erklären, richtig - dieser Schritt ist lange überfällig.

In mehreren Beiträgen analysiert sie Fehler und deren Ursachen. Jedoch geht es ihr nicht darum, mit dieser Kritik alles Gewesene zu verdammen. Zum moralischen Tiefpunkt der RAF, einen amerikanischen GI nur deswegen zu erschießen, weil sein Ausweis für den Anschlag auf die Air Base in Frankfurt 1985 benötigt wurde, fragt sie:

Wie konnte es dazu kommen, daß Menschen, die aufgestanden waren, um für eine gerechte und menschliche Welt zu kämpfen, sich so weit von ihren ursprünglichen Idealen entfernt haben, und außerdem, wie konnte ein Gruppe wie die RAF sich derart von der sozialen Realität im eigenen Land entfernen?
Auch wenn ich heute denke, daß wir viele Fehler gemacht haben - unser Aufbruch und Kampf für eine andere Welt war zu jeder Zeit begründet und gerechtfertigt und ein solcher Kampf muß konfrontativ geführt werden. Jetzt geht es darum, daß wir Erkenntnisse aus diesen Erfahrungen ziehen, weil die für die Bestimmung zukünftiger Kämpfe wichtig sind und weil es auch nicht darum gehen kann, daß andere unsere Fehler wiederholen, weil wir nicht darüber reden.

Wer sich mit der Geschichte der letzten 25 Jahre auseinandersetzt, wird in ihren Beiträgen immer wieder auf Fragestellungen stoßen, die für emanzipatorische Bewegungen auch in Zukunft von Bedeutung sein werden. Ich kann das Buch Ein ganz normales Verfahren ... mit den Texten Birgit Hogefelds nur empfehlen. Dabei insbesondere ihre Überlegungen zu Gewalt und revolutionärer Moral.

Aufmerksam machen möchte ich in diesem Zusammenhang auf das letztes Jahr im Psychosozial-Verlag erschienene Buch Versuche die Geschichte der RAF zu verstehen. Horst-Eberhard Richter und Carlchristian von Braunmühl, ein Bruder des 1986 von der RAF erschossenen Gerold von Braunmühl, nähern sich hier dem Phänomen RAF. Hubertus Janssen, der für das Komitee für Grundrechte und Demokratie den Prozeß gegen Birgit Hogefeld beobachtet hat, beschreibt sehr eindringlich, wie auch in den 90er Jahren noch Justiz als Krieg mit anderen Mitteln gegen ein ehemaliges RAF-Mitglied geführt wird. Dieses Buch ist inzwischen in der 3. Auflage erschienen.

Nach der nun folgenden Musik werde ich die in dieser Sendung erwähnten Bücher noch einmal zum Mitschreiben nennen.

 

Schluß

Zum Schluß also jetzt noch einmal die in dieser Sendung erwähnten Bücher:

  • Oliver Tolmein, »RAF - Das war für uns Befreiung«, Ein Gespräch mit Irmgard Möller über bewaffneten Kampf, Knast und die Linke, erschienen im Konkret Literatur Verlag, für 32 DM.
  • Inge Viett, Einsprüche! Briefe aus dem Gefängnis, erschienen in der Edition Nautilus, für 26 DM.
  • Ebenfalls von Inge Viett, Nie war ich furchtloser, Autobiographie, erschienen in der Edition Nautilus, für 39 Mark 80.
  • Birgit Hogefeld, Ein ganz normales Verfahren ..., erschienen in der Edition ID-Archiv, für 20 DM.
  • Und schließlich: Versuche, die Geschichte der RAF zu verstehen. Das Beispiel Birgit Hogefeld, erschienen im Psychosozial Verlag, für 19 Mark 80.

Das waren also Frauen zwischen Befreiung und Knast.

Hierzu noch eine Anmerkung: Derzeit sind noch 10 Männer und Frauen, die den bewaffneten Kampf in der RAF geführt haben, in Haft, 8 davon seit 1982 oder länger. Alle haben mehr oder weniger schwere psychische und vor allem auch körperliche Schäden durch die lange Haft davon getragen. Alle saßen in Isolationshaft, einige über viele Jahre hinweg. Isolationshaft - und dazu gibt es medizinische Gutachten seit den 70er Jahren - zerstört die geistige und körperliche Widerstandskraft. Dafür ist sie gedacht. Im Knast ist eine medizinische Versorgung nur unzureichend möglich, selbst wenn sie gewollt wird. Das betrifft alle Gefangene in allen Knästen der Welt; aber das besondere Haftregime für die Gefangenen aus der RAF trägt besonders dazu bei.

Eine politische Lösung ist überfällig.

Am Mikrofon war Walter Kuhl. Die Texte aus den Büchern von Irmgard Möller, Inge Viett und Birgit Hogefeld wurden gelesen von Antje Trukenmüller, Susanne Schuckmann und Cynthia Hofmann. An den Reglern sitzt Günter Mergel. In Kürze die Lokalnachrichten im Originalton Darmstadt. Diese Sendung wird morgen nach dem Frühstücksradio um 8 Uhr wiederholt.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 29. März 2005 aktualisiert.
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