Beiträge Januar bis März 1998 |
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Goldhagens Wirkung |
Besprechung von :
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I. Obwohl schon unzählige Bücher über den Holocaust verfaßt worden sind, hat Goldhagens Untersuchung über Hitlers willige Vollstrecker weltweites Aufsehen erregt. Hierfür hat nicht der Gegenstand seiner Untersuchung den Ausschlag gegeben, sondern neben den Ergebnissen die Art und Weise, mit der Goldhagen sich seinem Thema genähert hat. [Goldhagen ..., Seite 13] In ihrem Buch Goldhagen und die deutsche Linke gehen insgesamt acht Autorinnen und Autoren gemeinsam daran zu untersuchen, was an Goldhagens Buch so provokativ gewesen ist. Wie der Titel schon verrät, geht es hier um eine Auseinandersetzung mit Faschismustheorien oder -interpretationen aus linker Sicht. Die Autorinnen und Autoren räumen hierbei mit einigen linken Mythen auf. Einer dieser Mythen ist, daß die Arbeiterbewegung bis in die Nazizeit hinein immun gegen Antisemitismus gewesen sei. Einige der kritisierten Autoren waren sogar so weit gegangen, die Verfolgung kommunistischer und anderer linker Organisationen und Einzelpersonen zum tragenden Motiv nationalsozialistischer Repression zu erklären. Jüdinnen und Juden als Verfolgte wurden dabei fast vollständig ausgeblendet. Es sei jedoch festzustellen, daß die im weitesten Sinne als traditionsmarxistisch orientierte Forschung über den Nationalsozialismus sich durch eine ganz außergewöhnliche Menge an Fehlern, Auslassungen und Defiziten ausgezeichnet habe. Trotz der Kenntnisse über die einzigartigen Verbrechen der Nazis wurde der Nationalsozialismus im Grunde nur als faschistische Diktatur über die Arbeiterklasse und der Holocaust als bloße Steigerung des für den Imperialismus typischen Rassismus interpretiert. Zentral darin war die Behauptung, die Mehrheit der Deutschen seien unschuldig und die Arbeiterbewegung das eigentliche Opfer gewesen. Goldhagens Studie jedoch habe gezeigt, daß ganz normale Deutsche Täter waren - und das schließt auch die Arbeiterbewegung mit ein. Und wer die Vorgeschichte der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik betrachtet, findet durchaus weitere Hinweise für Goldhagens Behauptung, eines tief verwurzelten und - wie er sagt - eliminatorischen Antisemitismus. Selbst die Parteien der Linken, die sich eigentlich die Emanzipation der Menschheit auf ihre Fahnen geschrieben hätten, waren nicht frei davon. Als Folge des Antisemitismus in ihrer eigenen Wählerklientel habe zum Beispiel die KPD in der Weimarer Republik Wert darauf gelegt, ihre jüdischen Mitglieder aus repräsentativen Positionen zu entfernen. Waren 1924 noch 6 von 62 Reichstagsabgeordneten Juden, so war es in der letzten Legislaturperiode von 100 Abgeordneten kein einziger mehr gewesen. Ruth Fischer, Mitglied des Zentralkomitees der KPD, äußerte sich 1923 in einer Rede gegenüber einer kommunistischen Studentenversammlung, zu der auch völkisch orientierte Studenten eingeladen waren, direkt an diese völkisch gesinnten Studenten gewandt so: Sie rufen auf gegen das Judenkapital, meine Herren? Wer gegen das Judenkapital aufruft, meine Herren, ist schon Klassenkämpfer, auch wenn er es nicht weiß. Sie sind gegen das Judenkapital und wollen die Börsenjobber niederkämpfen. Recht so. Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie. [Goldhagen ..., Seite 51] Ich will hier nicht mißverstanden werden. Die KPD war im Ganzen sicher keine antisemitische Partei. Sie fügte sich damit eher in eine antisemitisch geprägte Alltagskultur der Arbeiterbewegung ein, die August Bebel einmal als Sozialismus der dummen Kerls bezeichnet hatte. Das ist natürlich haarsträubend und nur dadurch zu erklären, daß Bebel wie die gesamte SPD der Jahrhundertwende keine genaue Vorstellung über diesen Antisemitismus hatte. Mit Sozialismus hat er jedenfalls nichts zu tun. Leider wirken derartige unterschwelligen Mechanismen bis heute fort. Zu sehen waren sie dann teilweise in der Argumentation gegen Goldhagens Thesen. Ein Autor der auch in der Linken verbreiteten Wochenzeitung Freitag schrieb dazu: Wie immer, wenn in den USA der Holocaust zur Sprache gebracht wird, geht es ... um die Opferrolle der Juden. Und da trifft es sich gut, daß gerade zu einer Zeit, wenn der moderne Staat Israel wegen seiner militärischen Aktionen verstärkt internationaler Kritik ausgesetzt ist, ein Buch auf den Markt kommt, was an die historischen Opfer der Juden erinnert. [Goldhagen ..., Seite 47] Hier wird an die Vorstellung der Existenz eines hinter den Kulissen wirkenden Weltjudentums appelliert, welches ja wie Pech und Schwefel zusammenhalte. Der Jude Goldhagen habe eine neue Debatte über den Holocaust ausgelöst, die US-Medien haben dies aufgegriffen und der Nutznießer ist wieder einmal Israel. Würden derartige Verschwörungstheorien nicht weit verbreitet sein und sich selbst in anarchistischen Büchern wie dem über die sogenannte Panokratie wiederfinden, könnte ich derartigen Schwachsinn übergehen. Aber ganz offensichtlich wird diese Position gebraucht, um sich gegen die Wahrheit abzuschotten. Und die stellt Goldhagen heraus: es waren ganz normale Deutsche, auch aus der für einige Linke liebgewonnenen Arbeiterklasse, die an der Judenverfolgung und -vernichtung freiwillig und überzeugt teilgenommen haben. Auch die deutsche Linke braucht offensichtlich ihre Mythen und ihre Abgrenzungen. Darin unterscheidet sie sich in keinster Weise vom Rest der Welt. II. Wolfgang Wippermann fragt in seiner Untersuchung zur Goldhagen-Debatte nach den Gründen und Hintergründen der ablehnenden Haltung von deutschen Historikern und Feuilletonisten gegenüber Goldhagens Buch von Hitlers willigen Vollstreckern. Er stellt dabei vier Komplexe vor, die sich in den zehn Jahren nach dem sogenannten Historikerstreit Mitte der 80er Jahre herausgebildet haben. Er stellt dabei zudem fest, daß Positionen, die in diesem Streit in der Minderheit waren, inzwischen auf dem Weg zur kulturellen Hegemonie sind. Aber daß rechte Ideologien in einer rechtslastigen Gesellschaft an Übergewicht gewinnen, muß ja auch nicht überraschen. Allerdings ist es erschreckend. Zum einen erlebt die schon totgeglaubte Totalitarismustheorie ein Revival. Die Totalitarismustheorie besagt, daß es neben der Nazidiktatur auch andere totalitäre Regimes gebe oder gegeben habe. Die Intention dieser Theorie ist offensichtlich und es ist auch kein Zufall, daß sie mit Beginn des Kalten Krieges Ende der 40er Jahre verbreitet wurde. Die Theorie ist antikommunistisch angelegt. Die kommunistischen Regimes sollen in eine Reihe mit faschistischen Diktaturen gestellt werden. Dies hat zwei Effekte. Zum einen wird der Kommunismus als Ideologie und als angebliche Umsetzung einer emanzipatorisch gedachten Theorie diskreditiert. Zum anderen werden aber auch die Verbrechen des Nationalsozialismus inclusive seiner deutschen Täter relativiert. Sie sind nicht einzigartig, sondern stehen angeblich in einer Reihe mit Massenmorden in aller Welt. Nun ist es nicht von der Hand zu weisen, daß unter Stalin in der Sowjetunion Millionen Menschen umgebracht worden oder an den Folgen der Stalinschen Politik gestorben sind, etwa infolge von Hungersnöten. Und es gibt ja auch eine neue Debatte, die in Deutschland vor allem durch den Spiegel gepuscht wird, wonach kommunistische Regimes sich einzigartiger Verbrechen schuldig gemacht hätten. Nur - was hat das alles mit der gezielten Ermordung von Millionen Jüdinnen und Juden zu tun? Ändert dies irgendetwas daran, daß ganz normalen Deutschen die Gelegenheit gegeben wurde, ihr Innerstes nach außen zu kehren und sich freiwillig an diesem Massenmord zu beteiligen? Geradezu absurd jedenfalls wird es dann, wenn neuerdings auch die Nazidiktatur und das DDR-Regime auf eine Stufe totalitärer Herrschaft gestellt werden. Das scheint sich ernsthaft zum Stand der Forschung, wie es dann heißt, zu entwickeln. Der zweite Komplex greift geopolitische Konzepte der Jahrhundertwende auf. Demnach sei Deutschland durch seine angeblich tragische Mittellage dazu verurteilt, im Kampf ums Dasein sich neuen Lebensraum zu verschaffen. Natürlich handelt es sich auch hierbei nicht um wissenschaftliche Erkenntnis, sondern um Ideologie. Umso erstaunlicher, daß derartiges heute wieder ausgegraben wird. Obwohl, so erstaunlich ist es nun doch wieder nicht. Wie Wippermann richtig herausarbeitet, soll der Hinweis auf die geographische Mittellage Deutschlands nicht nur dazu dienen, die Verbrechen der Vergangenheit zu entschuldigen, sondern er wird auch gebraucht, um die gegenwärtige und zukünftige deutsche Machtpolitik im Sinne einer Großmachtpolitik zu legitimieren. Ich erinnere dabei nur daran, wie innerhalb weniger Jahre eine Akzeptanz dafür geschaffen wurde, daß Bundeswehrsoldaten in aller Welt tätig werden dürfen. Selbst ehemals pazifistische Grüne waren an vorderster Front mit dabei. Und dann ausgerechnet auch noch im ehemaligen Jugoslawien, wo ja schon der Vorgänger der Bundeswehr, die Wehrmacht nämlich, verbrannte Erde hinterlassen hat. Kurioserweise ist es der Verleger von Goldhagens Buch, der schon 1991 folgendes sagte: Wenn die Schwierigkeiten der Vereinigung überwunden sein werden - in fünf, zehn oder fünfundzwanzig Jahren - wird Deutschland gar nicht herumkommen, Osteuropa ökonomisch zu druchdringen. Und wahrscheinlich wird ihm auf diesem Wege zufallen, was das Dritte Reich mit ein paar hundert Divisionen nicht erreichte - die Vorherrschaft in jenen unabsehbaren Räumen zwischen Weichsel, Bug, Dnjepr und Don. [Wippermann, Seite 45-46] Beim dritten Komplex geht es doch tatsächlich um die Frage, wer für den Zweiten Weltkrieg verantwortlich sei. Ich hatte ja in der letzten VVN-Sendung im Dezember ein Buch vorgestellt, in dem behauptet wird, Hitler sei einem geplanten Krieg Stalins gegen Deutschland zuvorgekommen. Und ich bin damals noch davon ausgegangen, daß sich hier nur der rechte Rand wieder einmal austobt. Leider habe ich nun feststellen müssen, daß diese These vom sogenannten Präventivkrieg auf dem Weg ist, wieder salonfähig zu werden. Sie wird zwar dadurch nicht wahrer, ist aber bestens dazu geeignet, deutsche Kriegsverbrechen herunterzuspielen. Der Mythos von der reinen Wehrmacht soll weiter gepflegt werden. Letztes Jahr wurde ja im Luisencenter die Ausstellung Aufstand des Gewissens gezeigt. Mit ihr sollte auch der Wehrmacht ein widerständiges Potential untergeschoben werden. Das ist zwar gelogen, aber wirkungsvoll. Die Ausstellung wurde vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt in Potsdam zusammengestellt. Einer der Mitarbeiter dieses Amtes ist Jürgen Hoffmann. Und Hoffmann vertritt im vierten Band der von dieser staatlichen Insitution herausgegebenen Geschichte des Zweiten Weltkriegs ebenfalls die Behauptung, Stalin habe eine Offensive geplant und vorbereitet, der Hitler nur zuvorgekommen sei. In einem vierten Komplex wird die These aufgestellt, daß die Nazis eine geradezu moderne Politik, insbesondere auch eine moderne Sozialpolitik praktiziert hätten. Hier geht es darum, der Nazidiktatur einen rationalen und positiven Kern unterzujubeln. Viel ist dazu allerdings nicht zu sagen. Wer immer noch Autobahnen anführt und die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Nazis, muß schon reichlich zynisch sein. Die angeblich so moderne Sozialpolitik der Nazis bestand in der systematischen Ausschaltung von Jüdinnen und Juden aus dem öffentlichen Leben und danach in deren Vernichtung. Goldhagen steht auch dieser Relativierung der Naziverbrechen im Weg, weil er darauf insistiert, daß es sich hierbei um ein einzigartiges Verbrechen handelt. Darum wird er auch weiterhin angefeindet. Das ändert jedoch nichts daran, daß sein Buch Hitlers willige Vollstrecker immer noch lesenswert ist. Daran ändern auch kleinere Mängel seiner Studie nichts, die Wippermann aufzeigt, ohne sich von Goldhagens Werk zu distanzieren. III. Die beiden besprochenen Bücher sind im Elefanten Press Verlag erschienen. Und zwar:
Zusammen genommen bieten beide Bücher einen guten Überblick über den Stand der Diskussion und der gegenwärtigen deutschen Geschichtsschreibung über den Nationalsozialismus und den Holocaust. |
Veranstaltungshinweis Inge Viett |
Inge Viett ist eine der bekannteren Frauen aus der Roten Armee Fraktion gewesen. Anfang der 70er Jahre wurde sie Mitglied der hauptsächlich in Berlin arbeitenden bewaffneten illegalen Bewegung 2. Juni. Die Bewegung 2. Juni war für ihre Kombination von illegaler Aktion und Happening bekannt. So überfiel sie einmal eine Bank und verteilte an die verdutzten Bankkundinnen und Bankkunden Schokoküsse. Auch die Entführung des CDU-Politikers Peter Lorenz war das Werk dieser Gruppe. Inge Viett wurde zweimal festgenommen und konnte beide Male aus dem Knast ausbrechen. Sie ging später zur Roten Armee Fraktion und 1982, als sie im bewaffneten Kampf keine Perspektive mehr sah, ins selbstgewählte Exil in die DDR. Die Jahre dort hat sie einmal als die schönsten ihres Lebens beschrieben. 1990 wurde sie im Zuge der Annektion der DDR aufgespürt und ohne Rechtsgrundlage an die Bundesrepublik ausgeliefert. Vom Oberlandesgericht Koblenz wurde sie zu 13 Jahren Haft verurteilt, seit Anfang 1997 lebt sie in Freiheit. Inge Viett hat während ihrer Haftzeit eine Autobiographie geschrieben, die in der Edition Nautilus als Buch erschienen ist. Dort schildert sie ausführlich ihre Jugendzeit, dann ihr Leben im Berlin der endsechziger Aufbruchsjahre, zuletzt episodenhaft ihre Zeit im Untergrund und in der DDR. Inge Viett wird Auszüge aus ihrem Buch am 26. Januar in der Bessunger Knabenschule vortragen. Als Anregung, sich Inge Viett selbst anzuhören, bringen wir im folgenden einige Auszüge aus der im Juli 1997 ausgestrahlten Sendung Frauen zwischen Befreiung und Knast. Susanne Schuckmann hat damals Passagen aus ihrer Autobiographie vorgelesen. Es folgen einige Passagen aus dieser Sendung. Die Lesung mit Inge Viett findet am Montag, dem 26. Januar, um 20 Uhr in der Bessunger Knabenschule statt. Veranstalter ist die Deutsche Kommunistische Partei Darmstadt. Wer Inge Viett im Fernsehen gesehen hat; wie sie mit dummbaseligen und zum Teil auch unverschämten Fragen und Unterstellungen souverän umgegangen ist, kann sich auf einen interessanten und unterhaltsamen Abend freuen. |
Virtuelle Zitrone Januar 1998 |
Zeitungsleser wissen mehr, behauptet eine große südhessische Zeitung. Als Leserservice Aktuell deklariert werden dort die Geheimnisse des Tarot angepriesen. Tarot, heißt es dort, das sind 78 Karten, in denen die Geheimnisse von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verborgen sein können, wenn man sie zu deuten weiß. Jetzt wundert mich nichts mehr. Endlich erschließt sich mir, wie im Darmstädter Echo so manche Artikel und Kommentare entstehen. Diesen Monat habe ich schon fast die Qual der Wahl, welchen Beitrag des Darmstädter Echo über die Geheimnisse der Gegenwart ich als preiswürdig für meine Virtuelle Zitrone herausstellen soll. Ich habe mich für den Kommentar eines gewissen Klaus Staat entschieden, der am Samstag die Zeilen der Lokalseiten zierte. Keine Chance für Aphrodite schrieb er da zur Verteidigung der Kunst gegen die darmstädter Frauenbeauftragte Edeltraud Baur. Er verteidigte die männliche Kunst, über Frauen und deren Körper in Bild und Plastik frei verfügen zu können. Er verteidigte Männer und ihr Frauenbild. Als Kunst getarnt. Aber an öffentlich zugänglichen Plätzen ausgestellt, um zweifelsfrei kundzutun, wie Männer Frauen sehen und wie Frauen sich selbst sehen sollen. Edeltraud Baur hat es gewagt, ihrer Funktion als Frauenbeauftragte wahrzunehmen. Sie monierte, daß ein Kunstwerk - zwei nackte Frauen - vor einer Kranichsteiner Schule aufgestellt wurde. Das hätte sie besser nicht getan. Frauen, die sich dagegen wehren, als Objekt männlicher Phantasien öffentlich ausgestellt zu werden, werden als prüde hingestellt. Klaus Staat nimmt diesen vornehmen Begriff, andere Männer sind da weniger feinfühlig - sie sagen zickig oder frigide; aber sie meinen alle dasselbe. Nämlich, daß es ihnen nicht paßt, daß sich Frauen ihrem Zugriff entziehen. Der Mann Klaus Staat weiß jedenfalls, wozu mann (mit 2 n!) kluge Frauenbeauftragte braucht, wobei er definiert, wer klug ist. Und zwar brauche mann sie, solange die Benachteiligung von Frauen in Beruf und Gesellschaft besteht. Daß diese Benachteiligung kennzeichnend für eine Männergesellschaft ist, blendet er bewußt aus. Er müßte dann nämlich sehen, daß auch das, was hierzulande als Kunst gilt, meist von Männern definiert worden ist und in dieser Männergesellschaft mit bestimmten - nämlich männlichen - Werten belegt ist. Und daß Frauen selbstverständlich das Recht haben, diese als Kunst bezeichnete Darstellung eines männlichen Frauenbildes zu kritisieren. Aber nein, schreit der getroffene Mann auf, das ist Zensur! Zensur ist natürlich nicht die Ausblendung kritischer Positionen im Darmstädter Echo. Nein - schlimm ist der inquisitorische Feminismus, wie ihn Klaus Staat nennt. Und der, so fährt er fort, steht in einer Linie mit der ideologischen Versklavung der Kunst im Faschismus und Kommunismus. Die Gleichsetzung von Faschismus und Kommunismus ist zwar immer noch hoffähig, dient aber genauso immer noch der Verharmlosung des Faschismus, genauer gesagt, des deutschen Nationalsozialismus. Feminismus mit Faschismus in Zusammenhang zu bringen, ist derart übel, daß dieser Zusammenhang nur Männern einfällt, denen selbstbewußte und vor allem an Männerbastionen rüttelnde Frauen ein Dorn im Auge sind. Wobei die Frauenbeauftragte nur ihre Arbeit gemacht hat, nicht einmal besonders heftig gerüttelt hat. Allein, das reicht schon für einen derartigen Aufschrei. Wenn Klaus Staat also dafür plädiert, ein derartig männliches Kunstwerk vor einer Schule aufzustellen, will er Schülerinnen und Schüler auf eine bestimmte Weise indoktrinieren. Auch Kunst kann nämlich diese Funktion der Indoktrination erfüllen. Vor allem dann, wenn die dargestellten Frauen nackt - warum eigentlich nackt? - und zudem mit rassistischem Rollenklischee dargestellt werden: die eine als selbstbewußte Eingesessene, die andere als verschüchterte Fremde. Was will er den Schülerinnen und Schülern damit eigentlich vermitteln? Pornographie für Fünftklässler als Vorbereitung fürs Leben? Ja, ich nenne dies Pornographie. Und zwar nicht, weil ich prüde wäre. Prüderie ist zudem ein in diesem Zusammenhang sinnloser Kampfbegriff. Es ist völlig unerheblich für die Frage, ob Männer das Recht haben, Frauen als Objekt ihrer Phantasien zu benutzen. Pornographie ist für mich die bewußte Darstellung von zum Objekt gemachten Frauen. Solange Sexualität und das zugehörige Frauenbild von Männern und zum Konsum von Männern angeboten und dargestellt wird, sehe ich keinen Grund, dies auch noch zu unterstützen. Mit welcher angeblich fortschrittlichen Begründung auch immer dies gefordert werden mag. Auch derartige Bilder, die als Kunst deklariert werden, dienen der Aufrechterhaltung männlicher Besitzansprüche. Ob es eine nichtpornographische Darstellung weiblicher Körper geben kann, vermag ich nicht zu sagen. Wenn überhaupt, kann sie nur von Frauen entwickelt werden, die sich bewußt dem männlich vorgegebenen Ideal von Kunst entzogen haben. Jedenfalls, jene von mir als pornographisch bezeichnete Freiheit der Kunst zu verteidigen, paßt zum Darmstädter Echo. Und dafür hat sich Klaus Staat die Virtuelle Zitrone für Höhenflüge im geistigen Niemandsland des Monats Januar redlich verdient. Sein Kommentar erhält den Wert minus 8 Komma 7 auf der nach unten hin offenen Echo-Skala. Geoutet hat sich aber auch der darmstädter Oberbürgermeister Peter Benz. Er meinte dazu, daß die weiblichen Merkmale dieser Figuren Ausdruck der Natürlichkeit seien. Wahrscheinlich gehört es auch für ihn zur Natur der Frau, sich von Männern einfühlsam darstellen zu lassen. Wer statt dessen vom Patriarchat in der Kunst redet, verfällt demnach wohl seinem Verdikt von der ideologischen Intoleranz. Ich frage mich dann allerdings, ob Männer im Namen der Kunst ganz tolerant alles dürfen können sollen. |
Es folgt ein Interview mit der damaligen darmstädter Frauenbeauftragten Edeltraud Baur. Eine Mitschrift ist nicht vorhanden. |
Dumont Weltatlas |
Wer wie ich mit den Schulatlanten der siebziger Jahre groß geworden ist, muß sich umgewöhnen. Heute ist ein Atlas mehr als eine Ansammlung von Landkarten mit roten Kreisen und Quadraten zur Darstellung von Städten. Der DuMont Weltatlas stellt sich als Atlas für das 21. Jahrhundert vor. Mit klarer Struktur bei gleichzeitiger Darstellung von Details. Die Karte als solche wird von charakteristischen Photographien ergänzt. Ein Gebirgszug ist dann nicht mehr einfach eine braune Fläche auf der Karte, sondern bildlich veranschaulicht. Wie sieht es dort eben tatsächlich aus? Politische und wirtschaftliche Informationen runden das Ganze ab. Allerdings darf frau und man gerade von den Wirtschaftsinformationen nicht die große Erleuchtung erwarten. Kritik an Wirtschafts- und Handelsstrukturen wird nicht geleistet, nicht einmal angedeutet. Aber derartiges von einem Atlas zu erwarten, wäre auch zuviel verlangt. So heißt es beispielsweise [auf Seite XXVII] unter dem Stichwort REICHE ÖKONOMIEN: Die Großstädte vieler Industrieländer sind wahre Schaukästen der Konsumgüterindustrie. Sie verdeutlichen die wachsende Bedeutung des Dienstleistungssektors innerhalb der Weltwirtschaft. Einkaufen als Freizeitbeschäftigung ist ein nur in der westlichen Welt verbreitetes Phänomen. Luxusgüter und Dienstleistungen ziehen Besucher an, die ihrerseits eine Einnahmequelle für die Fremdenverkehrsindustrie darstellen. Nun ja, plattes Wirtschaftsgeblubber. Mein Einkaufen ist wahrlich kein Freizeitvergnügen; und ins Carree gehe ich deshalb auch nicht. Andererseits wird vieles gerade dadurch deutlicher, daß die Informationen nicht überall verstreut sind. Eine politische Landkarte wird zum Beispiel auf derselben Seite durch Texte, Bilder und Graphiken zu Sprachen oder der Bevölkerungsdichte ergänzt. Eigenwillig ist jedoch, daß zwischen einzelnen Karten keine klare Linie gezogen wird. Das kann, muß aber nicht verwirren. Geographische Karten werden so durch Erklärungen zur Entstehungsgeschichte der einzelnen geologischen Formationen ergänzt. Das lädt zum Blättern ein. Ein durchaus lehrreiches Werk, dieser Atlas. Wenn da nicht so viele kleine ärgerliche Fehler oder Unterlassungen wären. Was ich eine nette Idee finde, ist die Veranschaulichung von staatlichen Grenzziehungen mitsamt ihrer Begründungen. Eine Karte über umstrittene Grenzen wird mitgeliefert; die Konfliktgründe werden allerdings nur ansatzweise erklärt. Seltsamerweise wird die umstrittene Grenze zwischen Libyen und dem Tschad nicht aufgeführt. Aber vielleicht bin ich da nicht auf dem neuesten Stand. Vielleicht hat Libyen inzwischen seine Ansprüche aufgegeben. Ahnliches gilt für die Grenze zwischen Marokko und Algerien [Seite XXXII]. Obwohl bei vielen Ländern auch die Grenzen der Verwaltungsgebiete dargestellt werden, fehlt eine solche Darstellung seltsamerweise bei Algerien [Seite 76]. Nicht, daß das jetzt wichtig wäre. Aber bei einem Werk, das beansprucht, viele Detailinformationen in Datenbanken gesammelt zu haben, ein Kuriosum. Auf einer Lateinamerikakarte steht zwar mehrfach der Vermerk von Ecuador beansprucht, leider fehlt die Zuordnung zur entsprechenden peruanischen Grenzregion. Hier ist Raten angesagt [Seite 58]. Und um einen Lokalbezug herzustellen, will ich eine weitere Merkwürdigkeit erwähnen. Pfungstadt liegt nach den neusten Erkenntnissen offensichtlich östlich der Rhein-Neckar-Eisenbahn. Hat die Deutsche Bahn AG unbemerkt eine neue Hochgeschwindigkeitstrasse gebaut? [Seite 103] Ich will die Auflistung hier beenden, sonst könnte frau oder man meinen, dieser Atlas wäre eine Ansammlung von Fehlern und daher unbrauchbar. Das wiederum finde ich nicht. Manchmal ist es halt nur notwendig mitzudenken. Die kleinen Ungereimtheiten spiegeln vielleicht auch nur die Überforderung der rund 50 daran arbeitenden Geographen, Kartographen und Redakteure angesichts der überwältigenden Datenflut wider. Eine Orientierungshilfe ist dieser Atlas dennoch allemal. Der DuMont Weltatlas ist im DuMont Buchverlag erschienen. Er hat mehr als 450 computergenerierte Karten und 200 Reliefansichten, 150 Diagramme und Schaubilder, sowie über 750 Farbfotos. Länderübersichten und ein über hundertseitiges Register runden das Werk ab, das 98 Mark kostet. |
Jan Karski stößt auf Unglauben |
Besprechung von : E. Thomas Wood und Stanisław M. Jankowski : Jan Karski - Einer gegen den Holocaust. Als Kurier in geheimer Mission. Vorwort von Elie Wiesel, Bleicher Verlag 1997 |
Die von Hitlers Armeen überfallenen Länder und Menschen haben die Besetzung und Besatzung nicht einfach stillschweigend erduldet. Sie haben sich nach ihren Möglichkeiten, aber auch gefangen in ihren politischen Vorstellungen, dagegen zur Wehr gesetzt. Einer davon war Jan Kozielewski, der sich später unter dem Namen Jan Karski einen Namen machte. Jan Kozielewski war Leutnant der polnischen Armee, als Hitlers Wehrmacht am 1. September 1939 Polen überfällt. Obwohl sich die polnische Armee darauf vorbereitet fühlt, wird sie vernichtend geschlagen. Kozielewski flieht zusammen mit Zivilisten und den Resten der Armee in den von Sowjetrußland besetzten Teil Polens. Bekanntlich hatten Hitler und Stalin kurz zuvor Polen unter sich aufgeteilt. Im russisch besetzten Teil Polens wird Kozielewski interniert und als polnischer Offizier nicht gerade freundlich behandelt. Offiziere gelten als Teil der Ausbeuterklasse. Kozielewski, gläubiger Katholik und Anhänger des kurz zuvor gestorbenen polnischen Diktators Pilsudski, kann aus dem Lager fliehen und nach Warschau zurückkehren. Seine Erfahrungen mit dem Sowjetregime werden ihn jedoch später seltsame Dinge tun lassen. Er tritt dem polnischen Untergrund bei. Dieser hat ein gravierendes Problem. Es existiert kein direkter Kontakt zur polnischen Exilregierung in Frankreich. Kozielewski, der in der Vorkriegszeit eine diplomatische Karriere angestrebt hatte, wird für vertrauenswürdig gehalten und nach Angers in Frankreich geschickt. Über verschneite Grenzen hinweg gelangt er über Budapest und Norditalien nach Frankreich. Dort gerät er in die Intrigen des polnischen Exils. Jede politische Richtung fühlt sich als wahre Repräsentantin Polens und die verfeindeten Parteien müssen mühsam zusammengehalten werden, um die zumindest ideelle Unterstützung und Anerkennung der Alliierten zu erhalten. Mit Instruktionen der Exilregierung kehrt Kozielewski, der jetzt unter dem Tarnnamen Jan Karski firmiert, nach Warschau zurück. Auch der polnische Untergrund ist nicht politisch homogen. Karski kann sich jedoch weitestgehend aus den Intrigen heraushalten. Deshalb gilt er als idealer Kurier, zumal er die ihm anvertrauten Informationen nehezu wörtlich in seinem Gedächtnis speichern kann. Er wird von den verschiedenen Fraktionen des Untergrunds für vertrauenswürdig gehalten, den entsprechenden Adressaten im Exil Bericht zu erstatten. Karski tritt erneut die Reise an, fällt aber an der slowakischen Grenze in die Hände der Gestapo. Um nicht zum Verräter zu werden, versucht er, sich umzubringen, was aber scheitert. Er wird von polnischen Partisanen befreit, aber auf Eis gelegt, um Spuren zu ihm zu verwischen. Sieben Monate lang sitzt er untätig herum, bis er einen neuen Auftrag bekommt. Wieder soll er als Kurier tätig werden, diesmal Richtung London. Da die Deutschen Frankreich besetzt haben, ist die polnische Exilregierung nach London emigriert. Karski wird kurz vor seiner Abreise von Vertretern des jüdischen Untergrunds in Polen angesprochen. Es ist August 1942. Seit einem Monat deportieren die deutschen Besatzer die Jüdinnen und Juden des Warschauer Ghettos nach Treblinka. Bis September werden es 450.000 Menschen gewesen sein. Jan Karski, der im Gegensatz zu vielen Polinnen und Polen kein Antisemit ist, wird ins Ghetto geschleust, um sich ein eigenes Bild zu machen. Was er dort sieht, erschüttert ihn. Er willigt ein, freiwillig in ein Todeslager der Nazis zu gehen. Verkleidet als ukrainischer Bewacher, sieht er dort Dinge, die ihn zeitlebens nicht mehr loslassen. Hinter der Menschenmenge stand auf einem Abstellgleis eine lange Reihe Güterwaggons. Jan sah, wie einige seiner ukrainischen »Kollegen« eine dicke Schicht weißen Pulvers in die Wagen streuten. Es handelte sich dabei um Chlorkalk, ein Desinfektionsmittel. [...] Auf ein Zeichen eines deutschen Offiziers hin bildeten ukrainische Wachposten eine Kette um die Juden auf den Platz und begannen, die Masse Richtung Güterwaggons zu treiben. [...] Die Wärter bewegten sich stetig auf die chaotische Menge Fleisch zu und drängten die Opfer unter Einsatz von Knüppeln und Gewehrkolben auf die Rampe, die zu den Waggontüren führte. Wer zu schwach oder zu benommen war, um sich zu bewegen, wurde erschossen oder erstochen. Das leise Stöhnen, das von der Menge auf dem Boden ausging, wich purem Panikgeschrei, als die Juden die Rampe hinaufstolperten, und verwandelte sich in ein widerhallendes Wehklagen unter Todesqualen, als sie in die Waggons gepreßt wurden und spürten, wie der Kalk ihre Haut und ihre Lungen verbrannte. Die Wachposten feuerten willkürlich in die Menge auf der Rampe und schleuderten die Toten und Verwundeten in die Waggons, wo sie auf den Köpfen der dort Eingepferchten landeten. Wenn ein Waggon vollgestopft war, schlug ein Ukrainer die Eisentüren zu, wobei alle noch heraushängenden Körperteile zerquetscht wurden. Jan [...] schätzte, daß Tausende menschlicher Wesen in die Wagen gepfercht wurden. [Er] wußte nicht genau, auf welche Weise die Opfer schließlich umgebracht wurden; er hatte verschiedene Berichte gehört. Einer besagte, daß vollgeladene Güterzüge, wie dieser hier, die Juden direkt in ein nahegelegenes Lager transportieren würden. Dort, so wurde behauptet, würden die Nazis ihre menschliche Fracht zu den Klängen eines Häftlingsorchesters entladen und die Juden von Wachen zu den Gaskammern treiben lassen, während noch die Töne von Beethoven oder Wagner in den Ohren der Verdammten nachhallten. Vielleicht würde der Zug aber auch einfach auf ein entlegenes Abstellgleis geleitet und dort stehen gelassen werden. Nach ein paar Tagen würden die letzten Lebensreste aus seiner menschlichen Ladung gewichen sein. Wenn Körperflüssigkeit mit dem Chlorkalk auf dem Boden in Berührung kam, würde sich Chlorgas bilden. Der Chlorkalk selbst würde das Fleisch der Lebenden wie der Toten fressen und schließlich in Kombination mit Wunden, Krankheit, Verhungern und Verdursten den leidenden Kreaturen drinnen den »Gnadentod« bringen. [Karski, Seite 162-164] Auf abenteuerlichem Weg gelangt Karski nach London. Er ist in doppelter Mission dort. Zum einen als Kurier des polnischen Untergrunds, zum anderen, um die Alliierten dazu zu bringen, die Vernichtung der Juden zur Kenntnis zu nehmen und darauf zu reagieren. Der jüdische Untergrund in Polen forderte die Alliierten zu Vergeltungsmaßnahmen auf. Doch Karski stößt auf taube Ohren. Ungläubigkeit steht neben politischem Taktieren. Denn auch die Alliierten sind nicht frei von antijüdischen Ressentiments, was sich unter anderem darin zeigt, daß sie nicht bereit sind, ihre Grenzen für flüchtende Jüdinnen und Juden zu öffnen. Auch ist Karski wieder mittendrin mit innerpolnischen Intrigantentum. Die polnische Exilregierung ist ein Spielball alliierter Interessen. Längst haben sich Churchill und Roosevelt mit Stalin über die neuen polnischen Ostgrenzen verständigt. Stalin darf seinen Teil der Beute aus dem Hitler-Stalin-Pakt behalten. Nur bei der antikommunistischen Rechten in den USA findet Karski offene Ohren. Seine Untergrundtätigkeit wird als Buch veröffentlicht und zum Bestseller. Aber erst in den letzten Kriegstagen ist auch die amerikanische Öffentlichkeit bereit, die Vernichtung der europäischen Juden als Tatsache anzunehmen. Karski ist verzweifelt. All seine Bemühungen, die Öffentlichkeit hier aufzurütteln, waren umsonst. In den Nachkriegsjahren ist er aufgrund seines Antikommunismus der geeignete Mann, um für die CIA Lageberichte und Analysen über die Länder hinter dem Eisernen Vorhang zu verfassen. Was Karski nicht wahrhaben will und was seine Biographen nicht problematisieren, ist, daß der US-amerikanische Geheimdienst eigene Interessen verfolgt, ganz sicher nicht die der Menschen in den Ländern des real existierenden Sozialismus. Karski wurde erst spät in den 80er Jahren für seine Verdienste ausgezeichnet, nämlich den Versuch, Jüdinnen und Juden vor der Vernichtung zu bewahren. E. Thomas Wood und Stanisław M. Jankowski haben sein Leben in dem Buch Jan Karski - Einer gegen den Holocaust nachgezeichnet. Es ist im Bleicher Verlag erschienen und kostet 44 Mark. Der Titel wurde 2003 vom Verlag Haland & Wirth übernommen; Preis: 22 Euro. |
Im Kibbuz 1938 bis 1948 |
Besprechung von : Giorgio Voghera : Meine Heimat ist die ganze Welt. Überleben im Kibbuz 1938-1948, Bleicher Verlag 1997 |
Giorgio Vogheras Lebensweg war ein gänzlich anderer. 1908 in Triest geboren, emigriert er 1938 nach Palästina. Mussolini hatte gerade erst Rassegesetze gegen in Italien lebende Jüdinnen und Juden erlassen und Voghera fühlte sich seines Lebens nicht mehr sicher. Zehn Jahre lang lebte und arbeitete er in Palästina. Voghera, italienischer Intellektueller, wird mit der harten landwirtschaftlichen Arbeit im Kibbuz konfrontiert. Eine Arbeit, die ihn geistig nicht fordert und die er auf Dauer auch nicht erträgt. Hier liegt der Grund, warum er 1948 nach Italien zurückkehrt. Voghera gibt keinen systematischen Überblick über diese Zeit. Anekdotenhaft erzählt er in seinem biographischen Werk Meine Heimat ist die ganze Welt einzelne Episoden seiner Kibbuzzeit. Jedoch sind hinter den Anekdoten Lebensbedingungen und die problematischen Beziehungen zwischen jüdischen Siedlern und den arabischen Bewohnerinnen und Bewohnern des Landes sichtbar. Hinzu kommt, daß Palästina bis 1947 unter britischer Mandatsverwaltung stand. Die daraus resultierenden unterschiedlichen Interessen werden jedoch nur in seinem Jahrzehnte später verfaßten Nachwort beleuchtet. Allerdings sehr naiv. Es ist halt kein politisches Sachbuch, sondern ein eher literarisches Werk. In diesem kann er ungehemmt über Frauen und die Charakteristika von Juden aus den verschiedensten Ländern schwadronieren. Es ist ein Zeitzeugnis, aber einen besonderen Erkenntniswert kann ich dem nicht abgewinnen. Allenfalls sein Bekenntnis gegen jeden Nationalismus, auch einen jüdischen Nationalismus, ist von Interesse. Daher auch der Titel des Buches Meine Heimat ist die ganze Welt. Der Untertitel Überleben im Kibbuz deutet die Schwierigkeiten der jüdischen Siedlerinnen und Siedler an, in einem ihnen doch fremden Land eine neue Existenzgrundlage aufzubauen. Es muß ein teilweise sehr entbehrungsreiches Leben gewesen sein. Giorgio Vogheras biographisches Werk ist ebenfalls im Bleicher Verlag erschienen und kostet 39 Mark 80. Der Titel wurde 2003 vom Verlag Haland & Wirth übernommen; Preis: 20 Euro. |
Veranstaltungshinweis Mumia Abu-Jamal |
Ich hätte da noch zwei Veranstaltungshinweise. Am Mittwochabend um 18 Uhr findet das wöchentliche Antifa-Café in der Oetinger Villa statt. Das Café wird wie immer vom Antifaschistischen Jugendbündnis Darmstadt organisiert. Unter dem Motto Freiheit für Mumia Abu-Jamal findet am Freitag um 20 Uhr in der Oetinger Villa eine Lesung statt. Die wiesbadener Performerin Leila Haas liest aus den Büchern von Mumia Abu-Jamal Texte gegen die Todesstrafe. Im Begleittext zur Lesung heißt es dazu: Mumia Abu-Jamal, als afroamerikanischer Jugendlicher vom FBI wegen seiner Mitgliedschaft in der Black Panther Party verfolgt, später als engagierter Journalist zum Staatsfeind erkläert, weil er es wagte, das weiße Establishment von Philadelphia in seinen Radiosendungen des Rassismus zu bezichtigen. 1982 schließlich unter falscher Anschuldigung zum Tode verurteilt, wurde er in der Todeszelle zum international beachteten Schriftsteller. Mumia Abu-Jamal spricht und schreibt von rassistischer Gewalt im Alltag, von den Lebensbedingungen der people of color und von Polizeiübergriffen gegen sie. Er schreibt aber auch von der Solidarität, der Kraft der Liebe und der Gemeinschaft und von der Schönheit des Lebens. Eine internationale Kampagne konnte 1995 erreichen, daß seine angesetzte Hinrichtung aufgeschoben wurde. In den nächsten Monaten wird es eine erneute Entscheidung über sein Leben geben. Soweit der Begleittext zur Lesung. Die Lesung selbst findet am Freitag um 20 Uhr in der Oetinger Villa in der Kranichsteiner Straße 81 statt. |
Virtuelle Zitrone Februar 1998 |
Heute werden wir uns gleich zweimal mit dem Darmstädter Echo beschäftigen müssen. Denn leider ist unsere Lokalzeitung öfter ein Ärgernis. Dennoch will ich nicht mißverstanden werden. Obwohl ich in meinen Sendungen immer wieder auf das Echo zu sprechen komme, ist es nicht so, daß ich hier eine Feindschaft pflege. Vielmehr erwarte ich von einer großen Südhessischen Zeitung, daß sie seriös berichtet und kommentiert. Selbstverständlich hat auch das Echo das Recht, seine konservative Gesinnung zu Markte zu tragen. Dies ist nicht mein Kritikpunkt. Aber eine konservative Gesinnung verpflichtet sehr wohl zu einer Argumentation, die der Wirklichkeit gerecht wird und nicht versucht, die Wirklichkeit zu manipulieren. Da die Ärgernisse, von denen ich sprach, häufiger aufzutreten pflegen, habe ich mir angewöhnt, einmal im Monat das größte dieser Ärgernisse mit einer Virtuellen Zitrone auszuzeichnen. Eine Zitrone schmeckt zugegebenermaßen bitter; und eine virtuelle Zitrone deutet darauf hin, daß der ausgezeichnete Beitrag eine virtuelle Form des Journalismus darstellt. Anders ausgedrückt: überflüssig, sinnlos, unseriös, ärgerlich. Doch bevor ich die Zitrone im Monat Februar verleihe, bitte ich Günter [Mergel], uns musikalisch ein wenig einzustimmen. Tat er dann auch; und dann ging es so weiter: Am 22. Januar vertrat der Auslandskorrespondent für Lateinamerika die Meinung des Darmstädter Echo. Carl Goerdeler kommentierte den Besuch des Papstes auf Kuba. Es gibt Namen, die bleiben einfach hängen; seiner gehört dazu. Vielleicht ist es so, daß jede Zeitung ihre Korrespondenten hat, die sie verdient. Aber Goerdeler ist einfach unerträglich, seine Position ist mit konservativ noch freundlich umschrieben. Wenn Goerdeler Fidel Castro einen Diktator und Tyrannen nennt, hat dies mit kritischem Journalismus nichts mehr zu tun. Kuba - und dies sei zugegeben - ist sicher kein Paradies. Es gibt keinen Parteienpluralismus, es gibt keine im westlichen Sinn freie Presse, es gibt keine Reisefreiheit und es gibt auch sonst so einiges nicht, worauf wir im reichen Deutschland nicht verzichten mögen. Aber macht dies eine Diktatur aus? Macht die Abwesenheit von Hunger, von krasser Armut, ein halbweges funktionierendes Gesundheitswesen und ein Dach über dem Kopf eine Diktatur aus? Oder anders herum gefragt: gibt es ein anderes lateinamerikanisches Land, in dem Menschen nicht verhungern müssen? In dem Gesundheitsversorgung kein Fremdwort ist? Das, was Goerdeler bemängelt, ist nämlich dies: es gibt auf Kuba keine funktionierende Marktwirtschaft, sondern das, was er für Kommunismus hält. Seltsamerweise ist es nur so, daß in den Marktwirtschaften Lateinamerikas zigtausende Menschen jedes Jahr verhungern müssen. Daß das Elend unbeschreiblich ist. Daß dort Menschen dagegen revoltieren und zusammengeschossen werden. Mit Unterstützung der Demokratien USA, Deutschland und Japan. Was Goerdeler nicht bemängelt, ist der paternalistische Regierungsstil Fidel Castros. Kuba muß Devisen erwirtschaften, um Energie- und Nahrungsmittelversorgung sicherzustellen. Und Castro setzt einseitig auf Exportwirtschaft und Devisentourismus. Daß dies fatale Folgen für eine egalitär orientierte Gesellschaft haben muß, wird auch deutlich. Es tun sich langsam Gegensätze zwischen Arm und Reich auf. Eine volle Durchsetzung der Marktwirtschaft würde diesen Erosionsprozeß beschleunigen. Aber Goerdeler setzt lieber auf den Papst. Habe er doch bei seiner Pilgerreise 1979 in Polen eine Demokratiebewegung losgetreten. 1986 stürzte nach seinem Besuch "Baby Doc" Duvalier auf Haiti; drei Jahre zuvor führte sein Besuch zum Sturz der Sandinisten in Nicaragua. Und 1987 redete er sogar dem General Pinochet ins Gewissen, was, wie sogar Goerdeler zugeben muß, wirkungslos blieb. Der Rest seiner Ausführungen ist Geschichtsklitterung. 1980/81 gab es in Polen in der Tat eine Bewegung, die die Parteiherrschaft infrage stellte. Allerdings hätte Goerdeler uns auch verraten sollen, daß der Gewerkschaftskongreß von Solidarnosc ein Programm verabschiedet hat, das sozialistischer als die damalige polnische Wirklichkeit war. Die Arbeiterinnen und Arbeiter in Polen wollten damals mehrheitlich nämlich einen besseren, menschlicheren Sozialismus. Erst die Verhängung des Kriegsrechts und die Unterdrückung der sozialistischen Tendenzen in der polnischen Arbeiterbewegung verhalf den Marktwirtschaftlern zum Erfolg. 1983 wurde der Papst in Nicaragua gnadenlos ausgepfiffen, als er sich weigerte, den Toten des Befreiungskampfes gegen Somoza und die Contra seine Reverenz zu erweisen. Die Wahlniederlage der Sandinisten hatte andere Gründe; und viele Nicaraguanerinnen und Nicaraguaner haben ihre damalige Wahlentscheidung gegen die Sandinisten inzwischen bedauert. Und daß Pinochet nicht demokratischer wurde, nachdem ihm Johannes Paul II. ins Gebet nahm, darf nicht verwundern. Es wäre eine durchaus interessante Frage, wer von beiden der autoritärere ist. Wie gesagt, Goerdeler setzt auf den Papst. Er hofft auf eine Demokratiebewegung, die sich im Schatten des Papstbesuchs auf Kuba durchsetzen kann. Sollte diese Bewegung im goerdelerschen Sinn siegen, kann ich das Ergebnis voraussagen: Armut, Hunger, Obdachlosigkeit, wie in den anderen Ländern Lateinamerikas. Und dafür haben die Kubanerinnen und Kubaner 1959 nicht ihren Dikator Batista zum Teufel gejagt und seine US-amerikanischen Geldgeber hinterher. Kuba hat trotz fast 40-jähriger Blockadepolitik der USA, trotz versuchter Invasion und biologischer Kriegsführung einen Lebensstandard aufrecht erhalten können, von dem die meisten Menschen Lateinamerikas nur träumen. Der mag nicht unseren Vorstellungen genügen, aber besser, als das, was davor war und danach kommen wird, ist dies allemal. Und genau deshalb auch zu verteidigen. Goerdeler zum Schluß: Die römisch-katholische Kirche kann auf 2000 Jahre Geschichte zurückblicken. Nach Fidel Castro wird es auf Kuba keinen Kommunismus mehr geben. Soviel zumindest ist sicher. Angesichts der Verbrechen im Namen oder mit Billigung dieser Kirche im Verlauf der letzten 2000 Jahre erlaube ich mir die Feststellung, daß ich dann doch für die Auflösung dieser Kirche plädieren würde. Das zusammengeraubte milliardenschwere Vermögen könnte dann den Armen und Bedürftigen dieser Welt zugute kommen. Und so erhält Carl Goerdeler meine Virtuelle Zitrone für diesen Monat. Die nächste Zitrone werde ich, so fürchte ich, am 10. März verleihen müssen. Dabei habe ich wirklich Besseres zu tun. |
Noch mehr Männer mit Kunstverstand |
Vor gut einem Monat veröffentlichte der Chef der Lokalredaktion des Darmstädter Echo, Klaus Staat, einen Kommentar über die Darmstädter Frauenbeauftragte Edeltraud Baur und ihr Kunstverständnis. Die Frauenbeauftragte nahm ihre Arbeit ernst und fragte, warum vor einer Kranichsteiner Schule zwei nackte Frauen dargestellt sein müßten. Zudem gab es ein internes Papier, in dem sie die Berücksichtigung von Frauen im städtischen Kulturbetrieb bemängelte. Wenn nur 1/10 aller Büchnerpreisträgerinnen und -preisträger Frauen sind oder Frauen als Autorinnen im Theaterbetrieb gar nicht erst vorkommen, dann müsse daran etwas geändert werden. Dies nahm Klaus Staat zum Anlaß, den Vorwurf der Zensur zu erheben. Er zog eine Linie von Kommunismus über Faschismus zum Feminismus und gab der Frauenbeauftragten wohlmeinende Ratschläge, was denn ihre Aufgabe sei. Ganz offensichtlich erreichten das Darmstädter Echo unzählige erboste Leserinnenbriefe. Wohl zum Zeichen, daß Klaus Staat die Rückendeckung der Redaktion hat, kartete Michael Horn am 15. Januar nach. Er leitete seine Glosse mit folgenden Worten ein: Wie gut, daß es Edeltraud Baur gibt. Dank der Darmstädter Frauenbeauftragten weiß mann nun endlich, was die Darmstädterinnen wirklich stört: nicht etwa Diskriminierung oder sexuelle Belästigung, sondern blanke Bronzebusen in der Öffentlichkeit sorgen für Auf- und Erregung. Igitt! Männer wissen eben immer noch am besten, was für Frauen gut ist. Das ist, wie zu lesen war, nicht nur die Meinung eines Klaus Staat oder eines Michael Horn, sondern auch die des Chefredakteurs Roland Hof. Die GRÜNE Stadtverordnete Doris Fröhlich wandte sich nämlich an ihn, weil sie Klaus Staats Kommentar als ehrverletzend und infam empfand. Außerdem sei er in seiner Einseitigkeit eine Absage an freien, sorgfältig recherchierenden Journalismus. Roland Hofs Antwort dokumentiere ich in Auszügen. Sie spricht eigentlich für sich selbst, für die Überheblichkeit eines Mannes, der - wie ich schon sagte - eben besser weiß, was gut für Frauen ist. [...] Die städtische Frauenbeauftragte ist mit einschlägigen Bestrebungen vielfach öffentlich aufgetreten. Sie versucht ihre Mission aber auch auf private Institutionen und Firmen auszudehnen. Im vorliegenden Falle hatte sie in einem eindeutigen Brief ihre Forderungen erhoben. Dieser Brief wurde zusammen mit dem von ihnen kritisierten Kommentar in seinem Wesensgehalt dargestellt. Klaus Staat damals in seinem Kommentar im Darmstädter Echo: Unter Bezugnahme auf die Barbusigkeit der beiden Statuen protestiert Edeltraud Baur bei Oberbürgermeister Peter Benz gegen das Brockhaus-Werk, stuft es zudem völlig unzutreffend als rassistisch ein und fordert, sie als Frauenbeauftragte künftig an der Auswahl von Kunstobjekten zu beteiligen. Da haben wir ihn: Den Zugriff des Feminismus auf die Freiheit der Kunst. Damit ist Edeltraud Baur nicht zum ersten Mal hervorgetreten. In einem Grundsatzpapier forderte sie frauenpolitischen Einfluß auf den Spielplan des Staatstheaters und die Auswahl der Büchnerpreisträger. Sie ist damit glücklicherweise genauso gescheitert wie mit ihrem Angriff auf Brockhaus. Wie ich schon sagte, Edeltraud Baur hat nur die mangelnde Repräsentanz von Frauen im Kulturbetrieb bemängelt. Sie hat nicht einmal die Frage in den Raum geworfen, ob hier vielleicht männliche Kunst dargestellt und verteidigt werden soll. Also die Freiheit von Männern, sich und Frauen so darzustellen, wie es ihrem, nämlich dem männlichen Weltbild zusagt. Ganz offensichtlich geht dies einigen Herren schon zu weit. Die psychoanalytische Deutung ihrer schriftlichen Äußerungen überlasse ich anderen. Statt dessen fahre ich mit Roland Hofs Antwort an Doris Fröhlich fort. Der städtischen Frauenbeauftragten stehen im übrigen alle Wege in die Öffentlichkeit offen und sie versteht es, diese Wege expansiv zu nutzen. Öffentliche Informationsdefizite über ihre einschlägigen Absichten sehe ich nicht. Defizite, die ich sehe, sind im vorliegenden Falle nicht öffentlich zu beheben. Da müßte die städtische Frauenbeauftragte vielleicht mit sich selbst zu Rate gehen - oder mit klugen, wohlmeinenden Menschen. Habe ich das so zu verstehen, daß nach Roland Hofs Meinung die städtische Frauenbeauftragte nicht ganz richtig im Kopf ist? Daß sie immer noch nicht weiß, daß sie gefälligst männliche Domänen in Ruhe zu lassen hat? Und daß mann ihr dazu vielleicht ein paar ernste, oder eben wohlmeinende Worte zukommen lassen sollte? Das Ganze wäre vielleicht nur eine der vielen Lokalpossen, die das Darmstädter Echo mit Vorliebe produziert, um entweder der rotgrünen Koalition eins auszuwischen oder sich selbst zum Mittelpunkt des Universums zu erklären. Aber Frauen zurechtzuweisen, die sich dem männlichen Allmachtsanspruch nicht unterwerfen wollen, ist keine Posse, sondern ein Ärgernis. Und so, wie ich die städtische Frauenbeauftragte kenne, weiß ich, daß Darmstadt noch mehr derartiger Frauen braucht. Was ich allerdings von einer Zeitung halten soll, die nicht einmal den Mut hat, alle Leserinnenbriefe, und zwar ohne sinnentstellende Eingriffe, abzudrucken, möchte ich lieber nicht zum Ausdruck bringen. |
Gruppendynamik |
Horst-Eberhard Richter : Die Gruppe. Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien. Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen, edition psychosozial im Psychosozial-Verlag, Gießen, 2.Auflage 1995 |
Horst Eberhard Richter hat 1972 ein Buch veröffentlicht, das auch heute noch aktuell und lesenswert ist. Es heißt Die Gruppe und beschreibt die Hoffnung auf einen neuen Weg, sich selbst und andere zu befreien. Es handelt sich aber nicht um Esoterik, wie ein solcher Titel heute suggerieren können. Nein, vor etwa 25 Jahren war sein Ansatz, Psychoanalyse in Kooperation mit Gruppeninitiativen zu betreiben, ein höchst fortschrittlicher. Das eigentlich Interessante daran ist, daß Richter sieht, daß eine Psychoanalyse, die versucht, nur das einzelne Individuum zu therapieren, scheitern muß. Und zwar dann, wenn die Therapie die gesellschaftlichen Verhältnisse außer Betracht läßt, die erst zu psychischen Störungen geführt haben. Die Studenten- und Jugendbewegung der 60er und 70er Jahre hatte einiges in Bewegung gebracht. Sie hatte erkannt, daß das eigene subjektive Leiden in direktem Zusammenhang mit einer feindlichen äußeren - und zwar der kapitalistischen - Lebenswelt steht. Und daß eine positive Veränderung der eigenen Persönlichkeit nur dann möglich ist, wenn das Individuum seine Lebensbedingungen positiv verändern kann. Damals hieß dies, die herrschenden Verhältnisse zu be- und Freiräume zu erkämpfen. Und somit auch, daß eine Therapie ein gemeinsamer und ein politischer Prozeß sein muß. Und ich denke, heute sieht die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht viel anders aus. Der einzige Unterschied ist der: damals gab es noch Hoffnung auf Veränderung, damals war Revolution, die Umwälzung aller Lebensverhältnisse kein Fremdwort, keine Utopie. Sondern eine als erreichbar gedachte Möglichkeit. Heute, nach dem Siegeszug des Kapitalismus und dem Zusammenbruch der Staaten, die vorgaben, sozialistisch zu sein, ist keine Alternative zum Bestehenden mehr sichtbar. Und wer keine Alternative mehr sehen kann, hat auch keine Perspektive mehr, jedenfalls keine befreiende. Allenfalls noch eine zerstörende oder selbstzerstörerische. Die zunehmende Gewaltbereitschaft und Brutalisierung der Lebensverhältnisse hat hierin auch eine Ursache. Aber ich will damit nicht der herrschenden Gewalt- und Kriminalitätshysterie das Wort reden. Die größten Verbrechen werden immer noch nicht auf dem Luisenplatz begangen. Wenn Banken und Konzerne und Regierungen darüber entscheiden, wieviele Millionen Menschen im Jahr verhungern müssen, ist das Verbrechen ja wohl eher dort zu suchen. Aber zurück zu Horst Eberhard Richter. Er wird von zwei neuentstandenen Gruppen aus der Kinderladenbewegung angesprochen. Die Eltern in diesen Kinderläden wollen ihren Kindern nicht dasselbe antun, was ihnen selbst angetan worden ist. Sie lesen daher pädagogische und psychoanalytische Literatur. Sie organisieren sich und gründen Kinderläden. Sie wollen nicht autoritär sein. Aber sie sehen auch, daß es hilfreich sein kann, einen Psychoanalytiker mit Sicht von außen in ihren Gruppenprozeß miteinzubeziehen. Die erste Hälfte des Buches handelt von den Erfahrungen, die Richter macht, aber auch von den schwierigen wie auch befreienden Momenten innerhalb des Gruppenprozesses. Heute ist Supervision eine Selbstverständlichkeit. Damals war sie es nicht. Und gerade das Stück Naivität, das den damaligen Prozeß ausmacht, der Erkenntnisgewinn, der über den eigentlichen Gruppenrahmen hinausgeht, macht die Stärke dieses Buches aus. Was für gruppendynamische Prozesse laufen ab? Welches sind die Ursachen? Mit welchen Motiven wird argumentiert, abgeblockt, versucht, Macht auszuüben, oder versucht, Machtansprüchen egalitär zu begegnen? Spannende Fragen, die sich für jede Gruppe stellen, die mehr sein will, als bloße Verwalterin kapitalistischer Mängel oder Sachzwänge. Ich habe jedenfalls darin viel wiedergefunden, was ich in vielen politischen Gruppen selbst erlebt habe. Gerade deshalb leuchtet mir Richters Analyse, sein Vorgehen und seine Forderung nach permanenter kritischer Reflektion des gerade ablaufenden Gruppenprozesses ein. Das Schwierige, denke ich, liegt aber darin, daß das Moment der Befreiung von diesen Verhältnissen immer mehr verloren geht. Und somit auch ein Stück Motivation, die eigenen egoistischen Kalküle hinter sich und sich auf etwas Neues einzulassen. In der zweiten Hälfte des Buches wird von den Erfahrungen einer Obdachloseninitiative berichtet. Die Neuauflage des Buchs von Horst Eberhard Richter Die Gruppe ist im Psychosozial Verlag erschienen und kostet 36 Mark. Ein wirklich empfehlenswertes Buch. |
UNSinn Legasthenie |
Alltag und Geschichte - die sozialwissenschaftliche Redaktion von RadaR - heute mit einer teilweisen Wiederholung einer Sendung der SoFa-Redaktion, der Redaktion Soziales, Familie und Arbeit. Diese hatte sich am 15. Februar mit dem UN-Sinn Legasthenie beschäftigt. Da diese Sendung am frühen Sonntag Nachmittag lief, habe ich mir gedacht, die wichtigsten Aussagen noch einmal zu anderer Stunde zu bringen. Am Mikrofon heute Walter Kuhl; die Sendung zu Legasthenie moderierten Alexander Pollack und Romano Hausen von der SoFa-Redaktion. Es folgten Auszüge aus der SoFA-Sendung. Ich möchte an dieser Stelle einen kleinen Einschub machen. Wie widersprüchlich der Umgang mit der Legasthenie ist, soll folgendes Beispiel verdeutlichen. Eine darmstädter Schule auf der Marienhöhe stellt als eine besondere Fördermaßnahme ihrer Schülerinnen und Schüler einen Legasthenieförderkurs vor. Leider ergibt sich aus diesem Begriff, den ich der Vorstellung der Schule im Darmstädter Echo entnommen habe, nicht, ob damit die Legasthenie gefördert oder abgebaut werden soll. Eine mir bekannte Schülerin dieser Schule ist allerdings in der Oberstufe damit konfrontiert, ganz besonders gefördert zu werden. Da sie immer noch Probleme mit der Rechtschreibung hat, wird sie grundsätzlich - und zwar in allen Fächern - in den Klausuren um mehrere Punkte abgewertet. Hier wird sehr deutlich, daß Noten letztendlich doch nur die Funktion haben, eine bestimmte Norm abzufragen und ihre Einhaltung zu überwachen. Dies trägt dann allerdings zur Förderung von dem, was dann Legasthenie genannt wird, bei. Erstaunlich finde ich ohnehin die Behauptung, Rechtschreibschwäche sei genetisch bedingt. Da Rechtschreibung eine soziale Erfindung zur Erleichterung der Kommunikation ist und sie sich zudem auch noch im Laufe der Zeit ändert, frage ich mich, welches Gen denn nun für die veränderte Rechtschreibung der Rechtschreibreform zuständig ist. Überhaupt, die Gene - gibt es dann auch welche für's Autofahren oder Fußballspielen? Wenn - nicht von der BILD-Zeitung, sondern von großen bürgerlichen deutschen Tageszeitungen -, wenn also darin von Genen für Alkoholismus, Obdachlosigkeit oder Armut zu lesen ist, dann macht dies doch nur deutlich, daß Sozialpolitik zum genetisch bedingten individuellen Einzelfall umgestrickt wird. Es waren die Nazis, die Alkoholismus und Asozialität als genetische Erbschwäche bezeichnet und bis hin zur Ausmerzung verfolgt haben. Das sollte zu denken geben. Und wer sich da nur ein bißchen reindenkt, merkt doch sofort, daß hier etwas konstruiert wird, was real überhaupt nicht existiert. Und dann stellt sich schon die Frage, welche Interessen hinter einer solchen Gen-Orientierung stehen. Jedenfalls - wer Kinder wirklich fördern und ihr Selbstwertgefühl steigern will, sollte als Sofortmaßnahme die Noten und als zweiten Schritt die leistungsorientierte Schule abschaffen. Fortsetzung der SoFA-Sendung. Dies waren Auszüge aus einer Sendung der Redaktion Soziales, Familie und Arbeit zum UN-Sinn Legasthenie. Moderiert wurde diese Sendung von Alexander Pollack und Romano Hausen. Am kommenden Mittwoch werden Norbert Büchner und ich Studiogäste zum Thema Osteoporose befragen. Osteoporose ist eine Erkrankung, bei der die Knochensubstanz mit zunehmendem Alter langsam zerbröselt. Was es damit auf sich hat, erfahren wir am Mittwoch um 17 Uhr. Am Mikrofon heute war Walter Kuhl. |
Aktion Zündfunke |
Das Arbeitsamt Darmstadt stellte heute auf einer Pressekonferenz ein Programm vor, mit welchem im April gezielt offene Stellen gesucht und besetzt werden sollen. Mit seiner Aktion Zündfunke, das zunächst auf April beschränkt ist, sollen Arbeitgeber und Langzeitarbeitslose für erfolgreiche Bemühungen um ein Arbeitsverhältnis direkt belohnt werden. Langzeitarbeitslose, Schwerbehinderte und RehabilitandInnen, die eine dem Arbeitsamt unbekannte sozialversicherungspflichtige Stelle finden und antreten, erhalten dafür ein Handgeld von 1500 Mark. Arbeitgeber, die diesen Personenkreis im April gezielt einstellen und deren Stellen bislang nicht gemeldet waren, erhalten 2000 Mark, im Einzelfall auch mehr. Die erste Hälfte wird bei Antritt der Stelle ausgezahlt, der Rest, wenn das Beschäftigungsverhältnis mehr als 6 Monate besteht. Der Leiter des Arbeitsamts, Dr. Gert Mittmann, betonte, daß hierbei ein besonderes Interesse daran besteht, 620-Mark-Jobs in sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse umzuwandeln. Er hofft, daß mit der Aktion Zündfunke ein Anstoß gegeben wird, gezielt Langzeitarbeitslose einzustellen. |
Unterlagen darüber, ob die Lokalnachrichtenredaktion "Aktuelles" diesen Beitrag als Lokalnachricht gesendet hat, existieren nicht. |
Gefahrenabwehrverordnung |
Darmstadt ist nicht nur die Stadt der Wissenschaft und der Künste, Darmstadt ist auch eine Stadt voller Gefahren. Die vom Darmstädter Echo und der darmstädter Polizei immer wieder als besonders kriminell herausgestellten Handtaschenräuber treiben alle 9 Tage ihr Unwesen, also Achtung - heute könnte statistisch gesehen wieder eine Handtasche ihren Besitzer wechseln. Horst Knechtel, unser Bürgermeister, sieht den Standort Darmstadt in Gefahr. Hier besteht Handlungsbedarf! Allerdings hat der Mann ein Problem. Er kann ja nicht den Damen ihre Handtaschen verbieten. Denn schließlich sichern diese dem darmstädter Einzelhandel sein Einkommen und dies muß - ja, im Gegenteil - gefördert werden. Überhaupt ist Darmstadt in der Konkurrenz der Standorte in einem Bereich schwer ins Hintertreffen geraten. Darmstadt, so hat unserer wackerer Kämpfer für Recht und Ordnung bemerkt, hat keine vernünftige Gefahrenabwehrverordnung. Und Gefahren lauern schließlich überall. Da Horst Knechtel zuständiger Dezernent für das Ordnungswesen ist, schritt er zur Tat. Besondere Gefahren, so hat er herausgefunden, gehen von wild geklebten Plakaten aus. Vergangenen Freitag nun verkündete er öffentlich, hiergegen vorgehen zu wollen. Viele Bürger hätten sich über das durch diese Plakate verschandelte Stadtbild beklagt. Deswegen würde es Zeit für eine Gefahrenabwehrverordnung. Darin würden das unerlaubte Aufstellen von Plakatständern, das willkürliche Bekleben von Hauswänden oder Stromkästen untersagt. Und, und das ist wirklich neu, da die Plakatiererinnen und Plakatierer in den seltensten Fällen auf frischer Tat erwischt werden, sollen nun die Veranstalter, deren Plakate geklebt würden, regreßpflichtig gemacht werden. Gespräche mit den anderen Fraktionen seien bereits im Gange, sagte Knechtel. Als ich am Montag die Fraktionsvorsitzende der darmstädter CDU, Karin Wolff, danach fragte, mußte sie verneinen. Mit ihrer Fraktion war offensichtlich noch nicht gesprochen worden, so daß davon auszugehen ist, daß es sich um ein Geheimpapier handelt, das im Moment nur der SPD und den GRÜNEN bekannt ist. Plakate als eine Gefahr darzustellen, scheint auf den ersten Blick absurd. Aber Horst Knechtel hat ein passendes Argument zur Hand. Es könnte ja ein Windstoß einen Plakatständer umwerfen und auf die Straße fegen. Nun ja, es könnte. Es handelt sich um eine Gefahr, mit der des Autofahrens mächtige Bürgerinnen und Bürger fertig werden sollten. Und sie tritt wahrscheinlich ähnlich gehäuft auf wie die von mir schon zitierten Handtaschendiebstähle. Deshalb vermute ich, daß es hier um etwas ganz anderes geht. Es geht um ein sauberes, um ein aufgeräumtes Stadtbild, das zahlungskräftige - und das betone ich hier - Kundschaft zum Kaufen einlädt. Der Verdacht wird zur Gewißheit, wenn ich Gefahrenabwehrverordnungen anderer benachbarter Städte betrachte. In Offenbach zum Beispiel enthält eine solche Vorlage neben dem Plaktierverbot auch das Verbot, Alkohol an bestimmten Orten zu sich zu nehmen. Abfall, also auch Sperrmüll, darf nicht mehr durchsucht oder daraus Gegenstände entnommen werden. Wohnwagen und wahrscheinlich auch Bauwagen dürfen nicht mehr zum Wohnen benutzt werden, zumindest nicht auf öffentlichem Gelände. Verboten ist danach auch aggressives Betteln, das Lagern und Nächtigen oder ein rauschbedingtes Verhalten in der Öffentlichkeit. Lustig ist gerade an der offenbacher Vorlage, wie die Behörden bei der Frage der Werbung herumeiern. Einerseits argumentieren sie, Werbung und Plakate störten das Stadtbild, andererseits müssen sie ja bestimmte Werbung als erwünscht ansehen, nämlich die, die dem offenbacher Einzelhandel oder Stadt insgesamt dienlich ist. Es wird deutlich, daß sich diese Verordnung gegen bestimmte Personengruppen richtet. Auch wenn die geplanten Verbote auf den ersten Blick als vernünftig erscheinen mögen, geht es ja nicht um konkrete Gefahren, sondern darum, die Armut nicht sichtbar zu machen. Eine Gefahr stellen demnach die Armen, Obdachlosen oder sonstwie aus dieser Gesellschaft Ausgegrenzten dar. Nicht nur, daß sie nicht zahlungsfähig sind, nein, sie stören andere beim - wie es dann so schön heißt - Erlebnis Einkaufen. Die geplante Gefahrenabwehrverordnung für Mannheim ist ähnlich beschaffen. Es ist ein allgemeiner Trend, der in vielen Städten zu beobachten ist. Nicht die Armut, sondern die Armen sollen bekämpft werden. Horst Knechtel hat seine Visionen hierzu schon mehrfach kundgetan. Ihm wäre es am liebsten, den Luisenplatz von diesem verkaufshemmenden Gesindel zu säubern. Der Bürger, und damit ist der zahlungskräftige und kaufwillige Bürger gemeint, darf in seinem Vergnügen nicht durch abstoßende Äußerlichkeiten gestört werden. Das ist im übrigen auch der Grund, weshalb der Luisenplatz zum Eldorado der Drogenfahnder wurde. Bestimmte Ausländergruppen wurden zu Kriminellen gemacht, weil man ja weiß, daß sie, ja fast schon von Natur aus, kriminell sind. Kriminell ist allerdings in dieser Gesellschaft nicht der rassistische Umgang von Ausländerbehörden, Polizei und Justiz mit Flüchtlingen und Migrantinnen aus aller Welt. Also liegt der Schluß nahe, daß auch in der darmstädter Variante der Gefahrenabwehrverordnung mehr als nur das wilde Plakatieren verboten werden wird. Wobei dazu zu sagen ist, daß hiermit eine ganze Reihe von Initiativen und Gruppen ausgegrenzt werden, die eben nicht dem offiziell unterstützten Kulturbetrieb angehören. Und dies ist ein Angriff auf Jugendliche und ihre Jugendkultur. Jugendliche mögen laut sein, ihr Verhalten provozierend und nicht den Normen entsprechend. Eine Gefahr stellen sie nicht dar. Oder doch? In den USA gibt es Städte, in denen abends und nachts ein gezieltes Ausgangsverbot für Jugendliche vorherrscht. Die Plakate mögen oftmals wild geklebt sein. Aber die offiziellen Plakatiermöglichkeiten sind für Jugendliche, die nur feiern oder ihre Meinung kundtun wollen, unerschwinglich. Hier den Riegel vorzuschieben, heißt, ganz bewußt, eine bstimmte Jugendkultur zu bekämpfen. Millionen fließen ins Staatstheater oder auch in die Kulturhalle im Carree. Diese Kultur soll erlaubt sein, weil sie erwünscht ist, weil sie eben nicht kreativ oder subversiv, also eben provokativ ist. Aber kommen wir zur Gefahrenabwehrverordnung, wie sie als Geheimpapier zwischen SPD und GRÜNEN diskutiert wird. Darin steht noch mehr:
Jedenfalls, wer tut, was ihr oder ihm verboten wurde, darf sich darauf einstellen, zwischen 10 und 2.000 Mark abzudrücken. Diese Gefahrenabwehrverordnung ist ein Skandal. Sie ist sozialpolitisch eine Katastrophe und ein Armutszeugnis für zwei Parteien, die immerhin so etwas wie ein soziales Gewissen vor sich her schieben. Aber sie ist auch konsequent. In Hamburg führte die SPD vor einem Jahr Wahlkampf unter dem Motto law and order is a labour issue, also zu deutsch: es ist die Aufgabe der Sozialdemokratie, für Ruhe und Ordnung zu sorgen, damit der Laden läuft. Daß die GRÜNEN pro Liter Benzin 5 Mark kassieren wollen, anstatt den öffentlichen Nahverkehr zum Nulltarif anzubieten, und daß sie in den Koalitionsvereinbarungen mit der SPD völlig überflüssige Straßen und Gewerbegebiete planen und bauen, paßt ins Bild. Arme und Obdachlose und ihr Verhalten als eine Gefahr zu begreifen - das ist typisch für eine Gesellschaft, deren einzige Logik Leistung, Profit und Konsum ist. Wer da nicht mithalten kann, muß sehen, wo sie oder er bleibt. Ich könnte Horst Knechtel und anderen Ordnungsfanatikern einen Blick über den eigenen begrenzten Horizont empfehlen. Peter Friedl schreibt in der Hessischen Polizeirundschau [Ausgabe 10/96, Seite 21] dazu nämlich folgendes: Die rechtliche Zulässigkeit solcher Maßnahmen ist umstritten. So kommt ein Gutachten [...] zu der Auffassung, daß weder das Polizeirecht noch das Straßenrecht zulässige Mittel sind, gegen Obdachlose einzuschreiten. Auch der Regierungspräsident in Kassel weist in bezug auf die Fuldaer Gefahrenabwehrverordnung darauf hin, daß das polizeiliche Schutzgut der öffentlichen Sicherheit durch das Lagern oder nächtigen auf öffentlichen Straßen oder Wegen nicht beeinträchtigt wird. Ebensowenig werde auch die öffentliche Ordnung durch das Lagern oder Nächtigen auf öffentlichen Straßen oder in öffentlichen Anlagen beeinträchtigt. Selbst durch aggressives Betteln liege eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts nach der vorzunehmenden Güterabwägung unter dem Grundsatz der Subsidiarität des Polizeirechts nicht vor. Auf einer Tagung an der Hessischen Polizeischule wurde dann auch Klartext geredet: "Die Leute wollen nicht mit dem Anblick von Armut konfrontiert werden." Gerade Darmstadt wurde hierbei als negatives Beispiel genannt. Aber das wollen die Knechtels nicht hören. Hingegen halten selbst Polizeiexperten Gefahrenabwehrverordnungen schlicht für überflüssig. Wenn diese für Darmstadt geplante Gefahrenabwehrverordnung nicht im trockenen Behördendeutsch abgefaßt wäre, dann würde ich sie jetzt vorlesen. Die Geheimhaltung dieser Verordnung zeigt nur, daß eine öffentliche Diskussion unter Beteiligung der davon Betroffenen nicht erwünscht ist. Ich hätte Bürgermeister Horst Knechtel jetzt gerne für ein Interview zugeschaltet, aber leider ist er zur Zeit in einer Magistratssitzung unabkömmlich. Radio Darmstadt ist der Entwurf für die Gefahrenabwehrverordnung zugegangen. Als zuständiges Redaktionsmitglied der Redaktion Alltag und Geschichte stelle ich sie hiermit zur Diskussion. Radio Darmstadt wird für alle Interessierten ein kopierfähiges Exemplar im Studio Bismarckstraße 3 bereitliegen haben. Wir faxen den Text auch gerne zu. Rufen Sie uns an unter 29 11 11 oder schicken Sie uns ein Fax unter 29 11 55. [Seit Mitte 2000: 8700-100 bzw. 8700-111.] |
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