Kapital Verbrechen |
Grenzen |
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Inhaltsverzeichnis |
Kapitel 1 : Einleitung |
Kapitel 2 : Felicia Langer Brandherd Nahost |
Kapitel 3 : Alain Gresh Hintergründe eines unendlichen Konflikts |
Kapitel 4 : Amira Hass Bericht aus Ramallah |
Kapitel 5 : Michael Warschawski An der Grenze |
Kapitel 6 : Schluß |
Anmerkungen zum Sendemanuskript |
EinleitungJingle Alltag und Geschichte Als die israelische Armee am vergangenen Montag in Rafah einrückte, um mit der systematischen Zerstörung ganzer Häuserzeilen zu beginnen, begann das übliche Prozedere. Die Weltöffentlichkeit zeigte sich empört, die Palästinenserinnen und Palästinenser warfen Steine und demonstrierten und die israelische Armee tötete gezielt und wahllos zugleich. So wie immer. Zur gleichen Zeit richtete die USamerikanische Besatzungsarmee im Irak ein weiteres Blutbad an es wird nicht das letzte gewesen sein. Töten gehört halt zum Geschäft; hier geht es um Öl als kapitalistisches Menschenrecht. Wenn es nicht so tragisch wäre, dann müßte man über Zeitungsmeldungen wie diese herzhaft lachen: Trotz massiver internationaler Kritik hat die israelische Armee die Zerstörung hunderter Häuser im südlichen Gazastreifen fortgesetzt. Kritik ist wohlfeil, aber nicht dramatisch. USSicherheitsberaterin Condoleezza Rice zeigte sich in Berlin "besorgt" über das israelische Vorgehen. Besorgt vielleicht, aber letztlich einvernehmlich. Die EUAußenminister forderten Israel auf, die "unverhältnismäßigen" Zerstörungen im Gazastreifen sofort zu beenden. Und was wäre verhältnismäßig? Wieviel Gewalt und Tote erlauben denn die europäischen Gutmenschen ihren israelischen Partnern? Rice erinnerte Israel [...] daran, dass es Seite an Seite mit den Palästinensern leben müsse. Nun ja, freundliche Erinnerungen haben in diesem Fall ja wohl eher den Charakter eines freundschaftlichen Klapses. Die Zerstörung von Häusern sei nicht "förderlich" für einen friedlichen Palästinenserstaat. Und wenn dieser Palästinenserstaat gar nicht gewollt wird? In ihrem Bericht zur weltweiten Lage der Menschenrechte warfen die USA ausgerechnet die USA! Israel schwere Menschenrechtsverletzungen in den Palästinensergebieten vor. Die es ohne Zweifel dort gibt. Und wer liefert Israel die Waffen für diese
Menschenrechtsverletzungen? Doch nicht etwa UNO Wessen Sicherheit? Die der Regierung oder die Israels? Also nochmal: Kofi Annan habe die israelische Regierung mehrmals ermahnt, sich bei der Verteidigung ihrer Sicherheit "innerhalb der Grenzen des Völkerrechts zu bewegen". Das mit dem Völkerrecht ist eine ziemlich vertrackte Sache. Wer klagt an, wer schiedsrichtert und wer verfolgt hierbei ganz eigene Interessen? Und wieso ist Kofi Annan, der durch sein Nichtstun den ruandischen Genozid von 1994 mit ermöglicht hat, eigentlich immer noch im Amt und gibt anderen gute Ratschläge? Allerdings wo er Recht hat, hat er Recht: Die Maßnahmen im Gazastreifen kämen einer kollektiven Bestrafung gleich und seien ein klarer Verstoß gegen internationales Recht. [1] Nur wer wird schon so kleinlich sein, das bißchen Rechtsverletzung zu ahnden? Gibt es überhaupt einen Schurken auf der internationalen Bühne, der genügend guten Leumund besitzt, um sich als Richter aufspielen zu können? Zweifel sind mehr als erlaubt. Felicia Langer,
ehemalige Rechtsanwältin aus Israel, die heute in Tübingen lebt,
könnte eine ganze Menge zu dieser Kollektivbestrafung sagen und vor allem
dazu, warum das israelische Vorgehen in Rafah zum normalen
palästinensischen Alltag gehört. Die israelische Journalistin Amira Hass
würde eine Reportage aus Rafah beisteuern, die belegt, daß das brutale
israelische Vorgehen Methode hat. Der jüdisch Wie praktisch, daß von allen vieren Felicia Langer, Amira Hass, Michael Warschawski und Alain Gresh vor kurzem diesbezügliche Bücher erschienen sind. Diese Bücher sagen uns mehr als eine alberne Meldung der Nachrichtenagenturen afp und dpa, welche vom Darmstädter Echo auf seiner Titelseite bedenken und gedankenlos abgedruckt werden. Daher will ich sie in meiner heutigen Sendung vorstellen und, so hoffe ich, zu einem bißchen mehr Klarheit und Genauigkeit beitragen. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt ist Walter Kuhl; und das Sendemanuskript zu dieser Sendung wird in den nächsten Tagen auf meiner Homepage verfügbar sein: www.waltpolitik.de. |
Felicia Langer Brandherd NahostBesprechung von : Felicia Langer Brandherd Nahost, Lamuv Verlag 2004, € 9,90. Ich habe Felicia Langer das erste Mal im November 1985 in Tübingen auf einer Veranstaltung gesehen und gehört. Ihr damaliges Thema war dasselbe wie heute: »Menschenrechtsverletzungen Israels in den besetzten Gebieten« [2]. Als Rechtsanwältin hatte sie sich Ende der 60er Jahre auf die Verteidigung palästinensischer Männer und Frauen spezialisiert und damit eine Grenze überschritten. Sie wurde von ihren Nachbarinnen und Nachbarn geschnitten, bespuckt, verhöhnt, von Taxifahrern stehen gelassen, oder von Richtern bedroht, nur weil sie es gewagt hatte, am israelischen Konsens zu rütteln, nach dem Israel das Recht hatte, sich Land zu nehmen und die darauf lebenden Menschen zu vertreiben. Felicia Langer hat Israel 1990 verlassen, weil sie es als sinnlos betrachten mußte, mit juristischen Mitteln Recht einzuklagen und zu erhalten. In ihrem neuen, im Lamuv Verlag erschienenen Buch Brandherd Nahost macht sie die geduldete Heuchelei zu ihrem Thema. Vor fast zwanzig Jahren erlebte ich eine engagierte Frau, die sehr klar und eindringlich von der Notwendigkeit sprach, daß sich die israelische Armee aus den besetzten Gebieten zurückzieht, weil es andernfalls keinen Frieden geben könne. Jedes Wort davon ist wahr geblieben und dennoch hat sich viel verändert. Die Repression ist brutaler geworden, aber auch der Widerstand ist ungebrochen, wenn auch zielloser als damals. Mit Selbstmordattentaten kann man kein hochgerüstetes Land in die Knie zwingen. Schon damals waren Felicia Langers Auftritte nicht nur in Deutschland Gegenstand heftigster Kritik. Gezielt wurden (und sie werden es bis heute) ihre Vorträge gestört, um die Diskussion zu verwirren, wenn man und frau sie schon nicht verhindern kann. Felicia Langer beschreibt diesen Versuch der Meinungsunterdrückung als Methode: Immer waren es Gruppen des jüdischen Establishments, die die Stimme des anderen Israel zum Verstummen bringen wollten. Morddrohungen waren an der Tagesordnung, und obwohl ich sie nie allzu ernst genommen habe, erschreckte mich immer der Hass, der dahinter steckte. [3] Felicia Langer kritisiert die israelische Politik hart und kompromißlos. Sie befürchtet, daß eine Fortsetzung der brutalen Besatzungspolitik sich gegen die Israelis (also die jüdischen Israelis) selbst wenden könnte. Ihr Engagement für die palästinensische Seite und ihre Solidarität mit den von Israels Politik Verfolgten hat also durchaus ein gewisses Eigeninteresse, nämlich eines, was sehr sympathisch und notwendig ist: zu verhindern, daß noch einmal Jüdinnen und Juden vertrieben oder ermordet werden. Und sie schreibt über richtige und falsche Freundinnen und Freunde Israels: Jamal Karsli sprach über die Existenz der jüdisch Sie darf das so sagen. Ich nicht. Und ich will hier auch gar nicht falsch verstanden
werden. Ich verstecke mich nicht mit meinen Argumenten hinter dem Namen Felicia
Langers. Ich halte ihre Position für fragwürdig, wenn nicht gar für
falsch. Sie mag einem Jürgen Möllemann Recht geben, wenn er
Hinrichtungen verdächtiger Israelis als Staatsterror bezeichnet [5]. Sie mag es auch Jamal Karsli nachsehen, wenn er von
israelischen Nazi Doch es macht einen Unterschied, wer etwas sagt und wo er oder sie derartiges sagt. Dies ist etwas, was Felicia Langer grundsätzlich anders sieht als ich. Ich glaube nicht, daß ich sie vom Gegenteil überzeugen kann; aber ich denke, das ist auch nicht nötig. Denn ihre Stimme ist auch ohne diese Differenz überzeugend genug. Wir leben nun einmal im Land der Täter. Natürlich ist es so, daß Schuld weder vererbt noch weitergegeben wird. Das ist keine Gnade einer späten Geburt, sondern der Lauf der Dinge. Andererseits gibt es so etwas wie eine antisemitische Struktur, die in ihrer modernen Ausprägung bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Der Nationalsozialismus war kein Betriebsunfall der Geschichte, sondern fand in Deutschland statt, weil es in Deutschland den passenden Bodensatz dafür gab [7]. Dieser Bodensatz ist nicht verschwunden. Das scheinbar antikapitalistische Ressentiment findet sich in seinem antisemitischen Zwilling nur allzuschnell wieder. Wenn dieses Ressentiment auf aussterbende alte Nazis oder deutschtümelnde Eliten beschränkt wäre, könnten wir vielleicht anders darüber reden. Leider ist dieses Ressentiment weit verbreitet, und auch linke Positionen sind nicht frei davon. Damit will ich nicht sagen, daß die Linke besonders anfällig hierfür wäre. Anfällig ist vor allem eine Linke mit einem verkürzten Kapitalismusbegriff, welcher der Zirkulationssphäre des vagabundierenden Spekulationsgewinns verhaftet ist. So etwas findet sich gerne bei attac, in anarchistischen Kreisen oder bei den Sympathisantinnen und Gefolgsleuten unserer Menschenrechtsregierung. Wenn israelische Juden von Nazimethoden oder Staatsterrorismus sprechen, dann haben sie wenigstens das moralische Recht der Empörung auf ihrer Seite. Doch was trieb einen Jürgen Möllemann? Möllemanns Interesse an der arabischen Welt war ganz banal geschäftsmäßig motiviert und das heißt, für seine guten Geschäftsbeziehungen ließ er auch einmal einen passenden Spruch gegen Israel ab. Und das ist in der Tat verwerflich. Gerade Menschen mit deutschem Paß und einer deutschen Geschichte im Gepäck müssen wissen, daß Antisemitismus und Judenfeindlichkeit hierzulande immer noch auf fruchtbaren Boden fallen. Und damit verbietet sich so manches Argument, das anderen Menschen in anderen Ländern mit anderer Geschichte und anderem Resonanzboden womöglich gestattet ist. Ich halte das Naziargument allerdings auch sachlich für falsch. Wenn israelische Soldaten ihre palästinensischen Gefangenen mit Nummern versehen, so verallgemeinern sie eine barbarische entwürdigende Methode, welche auch die Nazis benutzt haben, um ihren Vernichtungswahn umzusetzen. Es kommt also immer darauf an, wer mit welcher Motivation und mit welchem Verantwortungsbewußtsein argumentiert und handelt. Wenn Felicia Langer als Schirmfrau eines Aufrufs aus Tübingen es unterstützt, keine Waren aus den besetzten israelischen Gebieten zu importieren, dann ist das folgerichtig und aus ihrer Sicht heraus auch sinnvoll, nämlich Druck auf den Kriegsverbrecher Scharon und seine Regierung auszuüben. Aber mit welcher Motivation fordern wir dies? Haben wir uns selbst darüber genügend Gedanken gemacht? Wenn ich manche Texte lese oder Argumente höre, wo dann doch die Juden zum Vorschein kommen, dann habe ich meine Zweifel. [8] Sie fordert uns auf, nicht in die Antisemitismusfalle zu tappen, und meint all die
Vorwürfe, die erhoben werden, wenn in Deutschland die israelische
Besatzungspolitik kritisiert wird. Ich denke, diese Aufforderung muß erweitert
werden. Wir sollten auch nicht in die Antisemitismus Der ewige Brandherd Nahost könnte zu einem Flächenbrand werden. Er stellt eine nicht zu unterschätzende Gefahr für den Weltfrieden dar. [...] Wir alle tragen dafür die Verantwortung wenn wir nicht laut genug unsere Stimme erheben. [9] Nur wer soll unsere Stimme erhören? Joschka Fischer, der 1999 schon einmal Bomben regnen ließ? Felicia Langer schreibt in ihrem Buch Brandherd Nahost also hauptsächlich von der wie sie es nennt geduldeten Heuchelei. Und sie schreibt davon, was in Palästina geschieht, während wir hier mehr oder weniger sinnvolle Antisemitismusdebatten führen, die jedoch kaum zu emanzipatorischer Orientierung beitragen. Ich kann mich durchaus mit dem Standpunkt anfreunden, der besagt, daß wer zu Deutschland schweigt, am besten auch zu Israel und Palästina schweigen sollte. Aber mein Standpunkt hierzu ist wahrscheinlich nicht der ihre. Doch ihre Argumente und persönlichen Einsichten lassen sich am besten in dem kleinen Büchlein Brandherd Nahost aus dem Lamuv Verlag nachlesen. Es hat 170 Seiten und kostet 9 Euro 90. |
Alain Gresh Hintergründe eines unendlichen KonfliktsBesprechung von : Alain Gresh
Israel Informationen zur Geschichte Israels, zur Besiedlung Palästinas und zu den Ursprüngen des schier unendlichen Konfliktes zwischen Israel und Palästina lassen sich nicht schwer finden. Im Zeitalter des Internets sind die passenden Texte nicht rar; und mit den Sendemanuskripten auf meiner Homepage trage ich ja auch meinen Teil zur allgemeinen Reizüberflutung bei. Insofern ist es sinnvoll, eine Art Reiseführer durch Gegenwart und Vergangenheit in die Hand zu bekommen, zumal im Internet auch ziemlich viel Unsinn steht. Alain Gresh, Chefredakteur der Monatszeitung Le Monde diplomatique hat im Herbst vergangenen Jahres im schweizer Rotpunktverlag sein Buch hierzu herausgebracht. Er geht das Thema auf mehreren miteinander verwobenenen Ebenen an, schon allein deshalb, um einem eindimensionalen Blickwinkel zu entgehen. Für mich so schreibt er gibt es in Palästina kein Wie soll man sich also orientieren, wenn gegensätzliche Gebietsansprüche aufeinander prallen? Am internationalen Recht. Was sagen die UN Und damit handeln wir uns mehr Probleme ein, als uns lieb sein kann. Den
erstens: was macht ein Volk aus, und zweitens: wer ist das handelnde Subjekt des
internationalen Rechts und verfolgt damit welche Interessen? Diese zweite Frage
behandelt Alain Gresh überhaupt nicht, weshalb er UNO und die
europäische Politik mit stillschweigendem Wohlwollen übergeht. Die
andere Frage berührt die Frage, wer Jude ist und womit sich der
laizistisch Denn was ist schon ein Volk? Wieviel Eigen- und Fremddefinition gehört dazu? Von Palästinensern als Volk zu reden, macht dann schon fast noch weniger Sinn, es sei denn wir meinen damit eine nationale Eigendefinition als Konsequenz der Staatsgründung Israels und der nachfolgenden Vertreibung und/oder Besatzung. Vorher sprach man und frau von denselben Menschen (bzw. ja wohl eher: ihren Vorfahren) als Araberinnen und Araber. Alain Gresh, Sohn einer russischen Jüdin und eines ägyptischen
Kopten, bemüht sich, den Knoten der Verwirrung möglichst zu lösen,
ohne neue Verwirrung zu schaffen. Im allgemeinen gelingt ihm das auch ganz gut,
allerdings manchmal auf Kosten der historischen Genauigkeit bzw. einer
differenzierteren Sichtweise. Doch er liefert einen Leitfaden, dem man und frau sich
anvertrauen kann. Dazu trägt auch eine, wenn auch eher randständige,
Anmerkung zu den seltsamen Verquickungen der Palästinafreunde und
Holocaust So ist der Schritt nicht weit, in den Schikanen der heutigen Zeit keine falsche Politik zu sehen, sondern wohlbedachte Schritte hin zu voneinander isolierten Bantustans. Ariel Scharon ist dann so gesehen das ausführende Organ eines in sich stimmigen Planes. Aber wie das mit den Plänen in einer chaotischen Marktwirtschaft nun einmal ist hier sträuben sich die Betroffenen mit passenden und unpassenden Mitteln, sich in ihr vorbestimmtes Schicksal zu ergeben. Dieser Konflikt könnte eigentlich als ganz normaler Kolonialkonflikt behandelt werden und Alain Gresh zieht hierzu auch immer wieder den algerischen Kolonialkrieg und den Befreiungskrieg der algerischen FLN heran , wenn nicht, ja wenn nicht, zwei wesentliche Faktoren hinzukommen würden: erstens ist Israel das einzige Kolonialgebiet, in dem ein eigener Kolonialstaat ohne vorherige Bindung zu einem Mutterland errichtet worden ist; und zweitens ist Israel, wie ideologisch das seither auch immer ausgeschlachtet worden sein mag, das Land, welches den Überlebenden des Holocaust und den davor Geflüchteten Zuflucht geben konnte. Israel ist also kein normaler Staat in vielerlei Hinsicht. Der Autor beendet sein Buch mit einer wenig verheißungsvollen Vision. Solange es keine Änderung der israelischen Politik gibt, ist es nicht auszuschließen, wie er schreibt, daß als Alternative nur ein Albtraum [bliebe], die Apokalypse, die in diesem dreifach heiligen Land schon so oft angekündigt wurde, eine Apokalypse, die unterschiedslos die einen wie die anderen träfe, die Sieger wie die Besiegten. [12] Alain Greshs Buch Israel Palästina behandelt Die Hintergründe eines unendlichen Konflikts. Das Buch ist im Rotpunktverlag erschienen, hat 192 Seiten und kostet 19 Euro 80. |
Amira Hass Bericht aus RamallahBesprechung von : Amira Hass Bericht aus Ramallah, Diederichs Verlag 2004, € 19,95. Den Alltag in den von Israel besetzten Palästinensergebieten dokumentiert seit Jahren die israelische Journalistin Amira Hass für die Tageszeitung Ha'aretz. Von ihr ist vor wenigen Wochen eine Sammlung ihrer Berichte und Reportagen auf Deutsch im Diederichs Verlag erschienen. Das Buch heißt schlicht Bericht aus Ramallah und fast genauso schlicht ist das, was die Autorin uns zu erzählen hat. Die nackte Wahrheit ist brutal und wenig schön. Amira Hass nimmt kein Blatt vor den Mund. Sie denunziert das brutale israelische Okkupationsregime als das, was es ist, und ist in ihrer Kritik gleichermaßen unerbittlich gegenüber Arafats Palästinensischer Autonomiebehörde und deren Repression gegen ihre Kritikerinnen und Kritiker. Amira Hass ist auf ihre Weise uneingeschränkt solidarisch mit denen, welche von Gewalt und Verfolgung, Zerstörung und Haß betroffen sind. Entlarvend ihr Interview mit einem israelischen Soldaten, der bereitwillig ausplaudert, daß von Scharfschützen gezielt auf unbewaffnete Kinder geschossen wird. Da gibt es kein Versehen. Schneidend ihre hinter Zahlen versteckte Anklage, wenn sie vorrechnet, welchen Verlust an Land, Bäumen und blühenden Landschaften jede neuerbaute Siedlung bedeutet. Und immer wieder ihre Auseinandersetzung mit der antiarabischen Propaganda: Die Palästinenser sind blutrünstig und rachsüchtig. Das zeigen Demonstrationen und Meinungsumfragen, aus denen hervorgeht, dass die Palästinenser die Selbstmordattentate billigen. Die Israelis, die laut Meinungsumfragen den Anschlag auf Saleh Shehadeh befürworteten obwohl dabei auch vierzehn Zivilisten ums Leben kamen sind weder blutrünstig noch rachsüchtig. Der Palästinenser stört die öffentliche Ordnung, wenn er gegen eine von den Kämpfern in ihren Panzern und gepanzerten Jeeps verhängte Ausgangssperre verstößt. Ein solcher Palästinenser ist zu bestrafen: im besten Fall mit Tränengas, im schlimmsten mit Schüssen. Die israelischen Kämpfer und die Armee halten die öffentliche Ordnung und Sicherheit aufrecht, wenn sie viele hunderttausend Kinder davon abhalten, zur Schule zu gehen, Lehrer davon abhalten, zur Arbeit zu gehen, Patienten davon abhalten, ins Krankenhaus zu gelangen, Landwirte davon abhalten, auf ihre Felder zu fahren, und Großmütter daran hindern, ihre Enkel zu sehen. [13] Amira Hass nutzt jede ihrer Reportagen dazu, denjenigen, die sie lesen sollen, also Israelis, klarzumachen, wie dumm es ist, die palästinensische Realität zu verleugnen. Gewalt, meint sie, fällt ja nicht vom Himmel. Selbstmordattentate haben Ursachen; und dies gilt erst recht für die breite Zustimmung hierzu. Das politische Bewusstsein Israels weigerte und weigert sich zu sehen, welches Gesamtbild sich aus den Details und Charakteristika, dem Handeln und den Konsequenzen der andauernden israelischen Herrschaft über ein anderes Volk ergibt. [14] Wenn wir heute Bilder aus Rafah sehen, dann können wir genauer verstehen, worüber die Autorin schreibt, wenn sie am 20. August 2001 notiert, wie mit den Menschen aus dieser Großstadt umgesprungen wird. Bewohnte Häuser wurden schon damals einfach zerstört. Zuvor wurden sie gezielt beschossen, natürlich nur, weil aus ihnen geschossen worden sein soll. Und obwohl oder vielleicht weil Kinder im Haus waren, wurde geschossen. Wer taub ist und nicht hört, wenn geschossen wird, hat halt Pech gehabt. Rafah hat einen besonders hohen Anteil von Gehörlosen: Die Mitglieder der alteingesessenen Familien heiraten gern untereinander, damit das Land in der Familie bleibt. Aus diesen Ehen gehen oft Kinder mit Hörbehinderungen hervor. Vor zehn Jahren beschloss die Gemeinde Rafah, eine eigene Schule für sie zu bauen. Niemand hätte gedacht, dass sie einmal eine Sonderausbildung benötigen würden, um zu lernen, was zu tun ist, wenn eine Zivilbevölkerung unter ständigem Beschuss lebt. [15] Amira Hass' Bericht aus Ramallah ist subjektiv gefärbte Reportage und objektiv soziologische Studie in einem. (Sie würde sagen, ich bin nicht objektiv, sondern fair.) Als Einwohnerin von Ramallah beobachtet sie die Besatzung nicht nur, sie lebt mit ihr. Ein israelischer Minister soll einmal geäußert haben, zu seiner großen Verärgerung natürlich, daß sich die von Amira Hass in Ha'aretz veröffentlichten Informationen als zuverlässiger herausgestellt hätten als das, was er von der israelischen Armee erfahren habe. Das Buch ist im Diederichs Verlag erschienen, hat 231 Seiten und kostet 19 Euro 95. |
Michael Warschawski An der GrenzeBesprechung von : Michael Warschawski An der Grenze, Edition Nautilus 2004, € 19,90. Ein ganz eigenes Buch hat der jüdisch Warschawski sieht sich als Grenzgänger, vielleicht genauer: als Grenzbewohner. Als jemand, der an der Grenze lebt und deshalb auch offen ist, aber auch als jemand, der Grenzen respektiert. Die Grenze beschreibt ein Jenseits, das zugleich erschreckt und fasziniert. Sie ist zunächst ein Ort der Trennung zwischen Staaten und Gemeinschaften, Demarkationslinie zwischen uns und ihnen, und von daher ist sie ein [grundlegender] Bestandteil von Identitäten und Gruppen. [...]. Grenzkonflikte brechen aus, wenn es um die Bewahrung von Identitäten und die Verteidigung des Rechts auf Selbstbestimmung geht. Auf der anderen Seite steht der Wille zur Expansion und die Negation der Selbstbestimmung der Menschen jenseits der Grenze. [...] Der Doppelcharakter der Grenze als trennende, schützende Mauer und als Aufruf zu neuen Eroberungen erleben Israel und seine Einwohner seit mehr als einem halben Jahrhundert. [16] Aber die Grenze kann auch ein Ort des Austauschs und nicht der Trennung sein,
so Michael Warschawski. Der Autor verbindet in seinem Buch mehrere Stränge,
denn seine eigene politische Geschichte ist eng mit der Entwicklung Israels und
seiner Besatzungspolitik verbunden. 1987 wurde er wegen der Unterstützung
illegaler palästinensischer Organisationen verhaftet und zwei Jahre später
zu 30 Monaten Haft verurteilt; das Urteil wurde später auf acht Monate reduziert.
Michael Warschawski erzählt seine politische Geschichte auf eine derart
feinsinnige Art, daß die Leserin oder der Leser eine ganze Menge über das
Land erfahren kann. Insbesondere die Unterstützung Scharons und seiner
Politik wird verständlich. Denn der Autor ist nicht nur genauer Beobachter,
sondern auch politisch geschult, er kann also einem diffusen Treiben Sinn
abgewinnen. Und damit stößt er immer wieder an das
Selbstverständnis des jüdischen Staates Israel selbst und
den Widerspruch zwischen weltlichem Zionismus und religiöser Eigendefinition.
Dieser sich daraus ergebende scheinbar
religiös Der Zionismus hat sich von Anfang an als radikalen, modernen Kontrapunkt zur Religion verstanden. Sie wurde nicht nur als Anachronismus empfunden, der in der modernen Welt, auf die sich die zionistischen Ideologen und Pioniere beriefen, keinen Platz mehr hatte, sondern auch als Hauptgrund für das moralische und materielle Elend der Juden, ihre zweitausendjährige Unterdrückung betrachtet. [17] In den Augen der Gründerväter Israels mußten [die] ethnischen oder kulturellen Besonderheiten innerhalb von einer oder zwei Generationen im Schmelztiegel einer aggressiven Sozialisation verschwinden, die die Integration oder eher Assimilation an das westliche und säkulare Modell forcieren sollte. Am Ende dieses Assimilationsprozesses sollten alle ihren Platz im Zentrum der israelischen Gesellschaft finden, auch die Kinder derer, die an den Rand, in die geographische und soziale Peripherie gestoßen worden waren. Dann ist eine Generation vergangen, aber die Peripherie ist in der Peripherie geblieben. [...] Dennoch allerdings hatten sich die Dinge weiter entwickelt: ist die Peripherie in den fünfziger bis achtziger Jahren vom nationalen Kollektiv ausgeschlossen worden, so hat sie sich seit 1980 [...] selbst ausgeschlossen und den offiziellen Diskurs und die herrschende Kultur bewußt abgelehnt. [18] Diese politisch Der Haß auf die Frommen ist nur eine der Formen der Intoleranz und der Abneigung gegen kulturellen Pluralismus, die für die israelische Gesellschaft kennzeichnend sind. Durch den israelischen Pseudo Entsprechendes findet Michael Warschawski im Verhältnis Israels zu seinen
palästinensischen Nachbarinnen und Nachbarn wieder. Mit der Radikalisierung
der israelischen Gesellschaft wird nun die Peripherie zum Zentrum. Der Autor, der
Anfang der 70er Jahre in der politischen Wüste lebte, mit dem Libanonkrieg
1982 plötzlich anerkannt wurde, weil auch andere erkannt hatten, daß eine
Grenze überschritten worden sei, findet sich plötzlich, nach der Euphorie
des Oslo Und so kritisiert er nicht nur die Besatzung, sondern auch eine Mentalität, welche er in der politischen Linken Israels vorfindet den Typ des linken Kolonisators, der besser als die Palästinenserinnen und Palästinenser weiß, wie diese ihren Kampf zu führen haben. Ob dies an der privilegierten Existenz als Mitglied der herrschenden Gesellschaft liegt? Michael Warschawski findet dieses Verhalten ziemlich grenzwertig, um nicht zu sagen: übergriffig. Er ist hier eindeutig solidarisch mit den Unterdrückten. Sein Buch An der Grenze ist in der Edition Nautilus erschienen; es hat 256 Seiten und kostet 19 Euro 90. [20] |
SchlußJingle Alltag und Geschichte heute mit der Vorstellung von vier Büchern zu Israel und Palästina. Die (ehemalige) israelische Rechtsanwältin Felicia Langer kennt das israelische Besatzungsregime aus eigener anwaltlicher Erfahrung nur zu genau. Sie fordert uns, gerade auch als Menschen mit deutschem Paß, dazu auf, unsere Stimme zu erheben und nicht das Unrecht nur deshalb zuzulassen, um uns nicht selbst dem Vorwurf des Antisemitismus auszusetzen. Auch wenn ich ihre Argumentation problematisch finde, so ist es richtig, daß Schweigen den bestehenden Zustand legitimiert. Ihr Buch Brandherd Nahost geduldete Heuchelei ist im Lamuv Verlag erschienen und kostet 9 Euro 90. Von Alain Gresh, dem Chefredakteur der Monatszeitschrift Le Monde
diplomatique stammt das Buch Israel Die israelische Journalistin Amira Hass berichtet seit Jahren für die Tageszeitung Ha'aretz aus den Palästinensergebieten. Ihre parteiische und gleichermaßen objektive Darstellung solidarisiert sich mit den Betroffenen der israelischen Besatzung und der palästinensischen Scheinautonomie. Ihr Buch heißt Bericht aus Ramallah, es ist im Diederichs Verlag zum Preis von 19 Euro 95 erschienen. An der Grenze so lautet der Titel des Buchs des
jüdisch Hinweisen möchte ich noch auf ein weiteres Buch. Der israelische Historiker Moshe Zuckermann schrieb das Vorwort zum Buch von Michael Warschawski. Von Moshe Zuckermann sind mehrere Bücher auch auf Deutsch erschienen unter anderem ein Interviewband mit dem Titel Zweierlei Israel? Darin spricht Moshe Zuckermann offenherzig über sein Verhältnis zu Israel und sagt gleichzeitig, daß er mit Deutschen nicht über die Legitimation des Staates Israel diskutiert. Diese Auskünfte eines marxistischen Juden sind letztes Jahr im Konkret Literatur Verlag erschienen; Preis: 12 Euro.
Zum Schluß möchte ich noch auf folgende Termine hinweisen: Am kommenden Mittwoch (26. Mai 2004) zeigt das Kommunale Kino der
Stadt Darmstadt den Dokumentarfilm Die Rollbahn von Malte Rauch, Bernhard
Türcke und Eva Voosen aus dem Jahr 2003. Es ist die Geschichte von 1700
jüdischen Zwangsarbeiterinnen, die im Sommer 1944 von Auschwitz nach
Walldorf transportiert wurden, um die Rollbahn des Frankfurter Flughafens zu bauen.
Dieser Film ist wirklich sehenswert. Zu sehen am Mittwochabend um 20 Uhr 15 im
Kommunalen Kino in der Helia Am Freitag (28. Mai 2004) spricht Professor Freerk Huisken aus Bremen
über den Sozialstaatsabbau zwecks Standortaufbau und legt dar, warum
es sich um ein durch und durch imperialistisches Programm handelt. Während
die kapitalistische Regierung Schröder Die Ausstellung Hornhaut auf der Seele über die Geschichte der Verfolgung
der Sinti und Roma in Hessen wird bis Dienstag im Foyer des Staatstheaters gezeigt,
anschließend in mehreren darmstädter Schulen ausgestellt. Am Mittwoch,
den 2. Juni, führt Dr. Udo Engbring Ich mache jetzt drei Wochen Pause und bin wieder am Montag, den 14. Juni 2004, um 17 Uhr zu hören; voraussichtliches Thema: Hirnforschung. Nächsten Montag zur gleichen Zeit stellt sich DIDF vor die Föderation der Demokratischen Arbeitervereine. Diese Sendung wird auf Türkisch zu hören sein. Fragen, Anregungen und Kritik zur Sendung könnt ihr entweder meiner
Voice |
ANMERKUNGEN |
[1] Leicht gekürzte Meldung des Darmstädter Echo vom 18. Mai 2004 (Seite 1) auf der Grundlage von Meldungen der Nachrichtenagenturen afp und dpa vom Vortag. Zur Rolle von Kofi Annan siehe das Sendemanuskript meiner Sendung Anklagen vom 17. Mai 2004 auf Radio Darmstadt. |
[2] In meinem Archiv habe ich den Einladungstext zu dieser Veranstaltung am 4. November 1985 wiedergefunden. Auch wenn ich heute manche der damaligen Formulierungen mehr als nur merkwürdig finde, sei es hier dokumentiert. |
[3] Felicia Langer : Brandherd Nahost, Seite 102. |
[4] Langer Seite 91. |
[5] Langer Seite 103. |
[6] Langer Seite 90. |
[7] Nachzulesen bei Daniel Jonah Goldhagen. |
[8] Es ist schon erstaunlich,
wie schnell Gespräche zum israelisch |
[9] Langer Seite 170. |
[10] Alain Gresh : Israel Palästina, Seite 14. |
[11] Gresh Seite 15. |
[12] Gresh, Seite 167168. |
[13] Amira Hass : Bericht aus Ramallah, Seite 212. |
[14] Hass Seite 183184. |
[15] Hass Seite 129. |
[16] Michael Warschawski : An der Grenze, Seite 18. |
[17] Warschawski Seite 193194. |
[18] Warschawski Seite 183. |
[19] Warschawski Seite 206. |
[20] Markus Kilp hat auf Radio
Palmares in Paderborn das Buch von Michael Warschawski mit anderer
Akzentuierung besprochen. Seine Besprechung ist als
Audio |
[21] Mein Geheimtip in dieser Sendung. |
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