Kapital – Verbrechen

Die große Expansion

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
In der Sendung vom 9. Januar 2006 sprach ich über die Entstehungsgeschichte des bluttriefenden Kapitalismus.
 
Sendung :
Kapital – Verbrechen
Die große Expansion
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 9. Januar 2006, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Montag, 9. Januar 2006, 23.10–00.10 Uhr
Dienstag, 10. Januar 2006, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 10. Januar 2006, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Immanuel Wallerstein : Der historische Kapitalismus, Argument Verlag
  • Immanuel Wallerstein : Die große Expansion, Promedia Verlag
  • Dorothee Frings, Peter Knösel (Hg.) : Das neue Ausländerrecht, Fachhochschulverlag
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/kv/kv_expan.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Regressiver Fortschritt
Kapitel 3 : Es war einmal …
Kapitel 4 : Feudaler Kapitalismus
Kapitel 5 : Zwischen Indus und Industrieller Revolution
Kapitel 6 : Fakten und Interpretation
Kapitel 7 : Zuwanderung à la carte
Kapitel 8 : Schluß
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

Ein gutes neues Jahr wünsche ich allen meinen Hörerinnen und Hörern …

… doch was rede ich da für einen Unsinn?! Wird doch auch das Jahr 2006 halten, was es verspricht, nämlich eine Menge an Zumutungen für eine Menge Menschen in diesem Land – und weltweit sowieso. Die so richtig große Koalition aus Bundesregierung und Opposition, Arbeitgeberlager, Medien, Universitäten und Intellektuellen wird uns auch dieses Jahr erklären, warum wir für den Standort Deutschland unsere Ärmel hochkrempeln sollen, das Böse und Unangenehme im Kapitalismus positiv und als Chance zu begreifen haben, und uns ansonsten daran erfreuen sollen, daß wir mitten im Wohlstandsparadies leben. Denn der größte Teil der Menschheit darf als Hungerleider, Kriegsopfer oder Verhandlungsmasse des Internationalen Währungsfonds sehen, wo er bleibt.

Unser Bundespräsident Horst Köhler war vier Jahre lang von 2000 bis 2004 Geschäftsführender Direktor dieses Internationalen Währungsfonds – und in dieses Amt wird man nur dann berufen, wenn man die sichere Gewähr dafür bieten kann, die globale Ausbeutung zum Nutzen des internationalen Kapitals effektiv zu betreiben. Wenn Horst Köhler in seinen biederen Weihnachtsansprachen versucht, sich bei uns anzubiedern, dann weiß er ganz genau, wovon er spricht. Er spricht nicht mit gespaltener Zunge, nein, er spricht mit der Zunge des überzeugten Predigers der weltweiten Ausbeutung. Das macht ihn so glaubwürdig. Wahrscheinlich wurde er genau deshalb von der CDU/CSU in den Sattel des Bundespräsidenten gehievt.

Und um diese globale Ausbeutung geht es in meiner heutigen Sendung mit dem Titel Die große Expansion. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt ist Walter Kuhl.

 

Regressiver Fortschritt

Besprechung von : Immanuel Wallerstein – Die große Expansion, Promedia Verlag 2004, 463 Seiten, € 34,90

Immanuel Wallerstein, einer der großen Sozialwissenschaftler der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts, hat vor rund 20 Jahren in seinem Essay Der historische Kapitalismus [1] die provokante These ausgestellt, daß es den Menschen im Kapitalismus womöglich schlechter gehe als in den angeblich so rückständigen feudalen und bäuerlichen Gesellschaften der Jahrhunderte zuvor. Er geht darin sogar noch weiter und stellt fest, daß die marxistische Verelendungstheorie sehr wohl ihre Gültigkeit behaupten kann, und zwar nicht als relative Verelendung, sondern sogar – im Weltmaßstab betrachtet – als absolute Verelendung. Er schrieb hierzu:

Es ist einfach nicht wahr, daß der Kapitalismus als historisches System einen Fortschritt gegenüber Systemen darstellt, die er zerstört oder transformiert. […] Ein Problem bei der Analyse von Fortschritt ist die Einseitigkeit aller vorgeschlagenen Maßstäbe. Es wird davon ausgegangen, daß wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt unbestreitbar und atemberaubend ist, was sicher vor allem insofern wahr ist, als das meiste technische Wissen kumulativen Charakter hat. Wir diskutieren jedoch nie ernsthaft darüber, wieviel Wissen uns durch den weltweiten Sieg der Ideologie des Universalismus verlorengegangen ist. Wenn wir es doch tun, ordnen wir verlorenes Wissen als bloße Weisheit ein. […]

Man sagt, daß der Kapitalismus in seiner Geschichte die technische Leistungsfähigkeit […] der Menschheit verwandelt hat. Jeder input menschlicher Energie sei mit einem ständig wachsenden output von Produkten vergolten worden – was sicherlich auch richtig ist. Was wir nicht in Rechnung stellen, ist die Frage, in welchem Maße die geforderten gesamten inputs an Energie – sei es für jeden einzelnen Menschen oder für alle Personen, die im Rahmen der kapitalistischen Weltwirtschaft leben – gesunken oder gestiegen sind – ob nun pro Zeiteinheit oder pro Lebenszeit. Ist es denn so sicher, daß die Welt im historischen Kapitalismus weniger beschwerlich ist als in vorangegangenen Systemen? Allein unsere Verinnerlichung eines Arbeitszwangs ist schon Grund genug, dies zu bezweifeln. […]

Es ist, so würde ich sagen, zu allermindest alles andere als selbstverständlich, daß die Welt heutzutage freier, gleicher und brüderlicher ist als vor eintausend Jahren. Man könnte sogar mit guten Gründen sagen, das Gegenteil sei der Fall. Ich möchte hier kein idyllisches Bild von den vorkapitalistischen Welten zeichnen. Auch in diesen Welten gab es wenig Freiheit, wenig Gleichheit und wenig Brüderlichkeit. Die einzige Frage ist, ob der historische Kapitalismus in dieser Hinsicht einen Fortschritt oder aber einen Rückschritt darstellt. […]

Ich möchte,

so fährt Immanuel Wallerstein fort,

jene marxistische Behauptung verteidigen, die selbst orthodoxe Marxisten oft schamvoll verschweigen, die These von der absoluten (nicht der relativen) Verelendung des Proletariats.

Ich höre schon das wohlmeinende Flüstern: Das kannst Du nicht ernst meinen; sicher meinst Du die relative Verelendung. Geht es den Industriearbeitern heute nicht deutlich besser als 1800? Den Industriearbeitern ja, oder wenigstens vielen Industriearbeitern. Aber Industriearbeiter machen immer noch einen relativ kleinen Teil der Weltbevölkerung aus. Dem überwiegenden Teil der weltweiten Arbeitskraft, der in ländlichen Gebieten lebt oder zwischen diesen und städtischen Slums pendelt, geht es schlechter als ihren Vorfahren vor 500 Jahren. Sie essen weniger gut und sicherlich weniger ausgewogen. […] Ohne Zweifel arbeitet die Weltbevölkerung heute härter – mehr Stunden pro Tag, pro Jahr, pro Lebenszeit. Und da sie dies für einen geringeren Gesamtlohn tut, ist die Ausbeutungsrate sehr stark gestiegen. [2]

Als Immanuel Wallerstein dies vor etwas mehr als zwanzig Jahren schrieb, konnte er noch nicht ahnen, wie sehr sich die Ausbeutung im neoliberal–globalen Kapitalismus verändern würde. So wie in den Metropolen Überstunden mit Massenarbeitslosigkeit einhergehen können, so ist es auch in der sogenannten Dritten Welt, zu der seither auch die Länder des ehemals von der Sowjetunion beherrschten Realen Sozialismus gestoßen sind, sehr ähnlich. Ganze Landstriche – vor allem in Afrika – sind sich selbst überlassen worden und fristen ein Dasein weit unterhalb des Randes des Existenzminimums, während gleichzeitig die Ausbeutung der Arbeitskraft in den Freien Produktionszonen und anderen auf Export getrimmten Regionen drastisch zugenommen hat.

Doch wie ist es historisch gesehen dazu gekommen? Immanuel Wallerstein hat seit den 70er Jahren in mehreren Büchern und vielen Aufsätzen die Entstehungsgeschichte des kapitalistischen Weltsystems aufgearbeitet. Sein auf vier Bände konzipiertes Monumentalwerk The Modern World–System zeichnet die Geschichte der kapitalistischen Erfolgsstory mitsamt Mord und Totschlag seit dem 15. Jahrhundert nach. Erschienen sind bislang drei dieser vier Bände, die auch auf Deutsch verfügbar sind. Ich möchte heute den dritten Band vorstellen, der den Zeitraum von etwa 1750 bis etwa 1850 umfaßt. Dieser Band heißt Die große Expansion und ist 2004 im österreichischen Promedia Verlag erschienen.

 

Es war einmal …

Wie jede historische Gesellschaftsformation hat auch der globale Kapitalismus einen Anfang und (hoffentlich) ein Ende. Den Anfang können wir mit der Auflösung der feudalen Herrschaft im Europa des 15. Jahrhunderts festlegen; am sichtbarsten wird dies durch die Expansion der europäischen Wirtschaft und Politik seit 1492. Das Ende des Kapitalismus ist noch nicht abzusehen, obwohl so manche Autoren – wie etwa Robert Kurz – schon die Totenglocken läuten möchten. Es wäre zu schön, um wahr zu sein, obwohl: es ist ja noch nicht ausgemacht, was danach kommt. Auch Robert Kurz ist da pessimistisch:

Kapitalismus ist nicht nur ein schleichendes Weltvernichtungsprogramm, sondern läuft auf eine finale Vernichtung und Selbstvernichtung durch seine eigenen Institutionen zu. [3]

Karl Marx schrieb im seinem Lebenswerk, dem Kapital, ein Kapitel über die sogenannte ursprüngliche Akkumulation des Kapitals. Wenn wir den Propheten der weltweiten Ausbeutung Glauben schenken dürfen, dann fiel der Kapitalismus gleichsam vom Himmel [4]. Die Realität, so Marx, war jedoch eine andere. Doch hören wir es in seinen eigenen Worten:

Diese ursprüngliche Akkumulation spielt in der politischen Ökonomie ungefähr dieselbe Rolle wie der Sündenfall in der Theologie. Adam biß in den Apfel, und damit kam über das Menschengeschlecht die Sünde. Ihr Ursprung wird erklärt, indem er als Anekdote der Vergangenheit erzählt wird. In einer längst verfloßnen Zeit gab es auf der einen Seite eine fleißige, intelligente und vor allem sparsame Elite und auf der andren faulenzende, ihr alles und mehr verjubelnde Lumpen. Die Legende vom theologischen Sündenfall erzählt uns allerdings, wie der Mensch dazu verdammt worden ist, sein Brot im Schweiß seines Angesichts zu essen; die Historie vom ökonomischen Sündenfall aber enthüllt uns, wieso es Leute gibt, die das keineswegs nötig haben. Einerlei. So kam es, daß die ersten Reichtum akkumulierten und die letztren schließlich nichts zu verkaufen hatten als ihre eigne Haut. Und von diesem Sündenfall datiert die Armut der großen Masse, die immer noch, aller Arbeit zum Trotz, nichts zu verkaufen hat als sich selbst, und der Reichtum der wenigen, der fortwährend wächst, obgleich sie längst aufgehört haben zu arbeiten. [S]obald die Eigentumsfrage ins Spiel kommt, wird es heilige Pflicht, den Standpunkt der Kinderfibel als den allen Altersklassen und Entwicklungsstufen allein gerechten festzuhalten. In der wirklichen Geschichte spielen bekanntlich Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle. In der sanften politischen Ökonomie herrschte von jeher die Idylle. Recht und "Arbeit" waren von jeher die einzigen Bereicherungsmittel, natürlich mit jedesmaliger Ausnahme von "diesem Jahr". In der Tat sind die Methoden der ursprünglichen Akkumulation alles andre, nur nicht idyllisch. [5]

Dieses 51 Seiten lange Kapitel faßt den Entstehungsprozeß der kapitalistischen Produktionsweise insoweit zusammen, wie es darum geht, aus Geld und Waren Kapital entstehen zu lassen, und aus bäuerlichen Produzentinnen und Produzenten freie Lohnarbeiterinnen und Lohnarbeiter. Und so ist für Marx die

sog[enannte] ursprüngliche Akkumulation […] also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als "ursprünglich", weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet. [6]

Marx betrachtet die Entstehung der kapitalistischen Produktion aus der Struktur der feudalen Produktion heraus, findet ihre ersten Anfänge im 14. und 15. Jahrhundert in einzelnen mittelalterlichen Städten und

datiert die kapitalistische Ära erst vom 16. Jahrhundert. [7]

Das Ganze beruhte nicht nur auf dem sich entwickelnden Reichtum einzelner Städte, etwa in Norditalien, Flandern oder der Hanse. Vielmehr bedurfte dieser Prozeß einer ordnenden Hand, denn der Markt alleine hätte diese notwendigen Voraussetzungen für das heitere Profitejagen nicht hervorgebracht. Noch einmal Karl Marx:

Historisch epochemachend in der Geschichte der ursprünglichen Akkumulation sind alle Umwälzungen, die der sich bildenden Kapitalistenklasse als Hebel dienen; vor allem aber die Momente, worin große Menschenmassen plötzlich und gewaltsam von ihren Subsistenzmitteln losgerissen und als vogelfreie Proletarier auf den Arbeitsmarkt geschleudert werden. Die Expropriation des ländlichen Produzenten, des Bauern, von Grund und Boden bildet die Grundlage des ganzen Prozesses. Ihre Geschichte nimmt in verschiedenen Ländern verschiedene Färbung an und durchläuft die verschiedenen Phasen in verschiedener Reihenfolge und in verschiedenen Geschichtsepochen. Nur in England, das wir daher als Beispiel nehmen, besitzt sie klassische Form. [8]

Wahrhaft bluttriefend kam das Kapital auf die Erde und hinterließ bis heute seine klassische Blutspur. Natürlich, so sagt man und frau uns in den Reihen der anfangs erwähnten ganz großen Koalition, ist das heute alles ganz anders, und selbstverständlich ist Marx längst überholt und widerlegt. Doch diese Behauptungen haben in etwa denselben Wahrheitsgehalt wie die alljährlich neu verschriebenen Wunderkuren der Herren Hartz, Rürup, Eichel oder Glos. Denn die im Kapital des Herrn Marx aufgestellten Thesen lassen sich durchaus historisch nachweisen oder widerlegen, Allerdings handelt es sich hierbei um eine Gedankenarbeit, die sich die Herren Professoren der Wirtschaftstheologie [9] dann doch lieber nicht machen wollen, denn es könnte ja dabei das fundamentale Lebensprinzip des Marktes wiederentdeckt werden – Gewalt und Mord.

Karl Marx hatte seinerzeit jedoch nicht nur mit einer beschränkten Quellenlage zu kämpfen, obwohl er mit dem Britischen Museum in London eine geradezu universalische Forschungsbibliothek zur Verfügung stehen hatte. Sein Problem betraf auch die Art der Darstellung des von ihm behandelten Themas. Denn zum einen ging es ihm darum, die Entstehung und die Reproduktion des Kapitals in seiner Reinform zu entwickeln, zu analysieren und zu beschreiben. Zum anderen hat es diesen von ihm analysierten Kapitalismus nirgendwo in Reinform gegeben, auch nicht in der klassischen Form Englands. Deshalb sind die ins Kapital eingestreuten historischen Exkurse für die Lektüre seines Mammutwerkes auch so wichtig, denn hierbei verbinden sich Analyse mit konkreter Geschichtsschreibung.

Allerdings könnte hier sehr wohl entgegengehalten werden, daß die historische Darstellung bei Marx sich sehr einseitig an den Quellen orientiert und womöglich nicht den heutigen Forschungsstand widergibt. Nun ist dies ein Phänomen jeder Geschichtsschreibung. Geschichte ist nicht als solche, also an sich, vorhanden, sondern unterliegt der Rezeption der jeweiligen konkreten Epoche und Gesellschaft. Die Geschichte des antiken Rom beispielsweise wird zu Beginn des 21. Jahrhunderts in anderen Begriffen und mit anderen Wertungen geschrieben als etwa im ausgehenden 19. Jahrhundert. Dies ist nicht alleine eine Frage neu gewonnener Erkenntnisse, sondern auch eine der damit verbundenen Ideologiebildung. Geschichtsschreibung hat immer ein Erkenntnisinteresse – und dies kann durchaus damit verbunden sein, wie die Autorinnen und Autoren die heutige Welt sehen und gesehen wissen wollen.

Das Erkenntnisinteresse von Marx hatte einen emanzipatorischen [10] Anspruch. Ihm ging es bei der Darstellung vergangener historischer Epochen immer darum herauszufinden, wie sich konkrete Klassengesellschaften entwickelt haben, die dann letztlich im Kapitalismus mündeten. Lassen wir das damit verbundene problematische Fortschrittsmodell einmal beiseite, so müssen wir festhalten, daß die Wahrheit in der Tat moralisch bestimmt wird. Wenn die Befreiung der Menschheit von Ausbeutung, Entfremdung und Herrschaft das Ziel ist, dann wird die bisherige Geschichte folgerichtig als eine Geschichte von Klassenkämpfen begriffen.

Die historische Forschung seit den Zeiten von Marx und Engels folgte in gewisser Weise der mit den Klasseninteressen verbundenen Polarität. Entweder wird die Geschichte aus der Sicht der herrschenden Klasse beschrieben, der Bourgeoisie, und damit wird sie auch an den bürgerlichen Universitäten erforscht und gelehrt. Oder sie begreift sich als Ausdruck der Klassenkämpfe von unten, soll also dabei helfen, eine als ungerecht empfundene Klassengesellschaft zu überwinden. Eine solche Geschichtsschreibung taugt in der Regel nicht für den Hörsaal, weil der Sinn der Hochschulausbildung ja nicht darin besteht, das zukünftige Humankapital mit der Infragestellung des Ausbildungsziels zu verwirren.

In dieser letzteren Tradition sieht sich der US-amerikanische Sozialwissenschaftler Immanuel Wallerstein. Der heute 75–jährige Autor hat sich nach mehreren Untersuchungen über das Erbe der Kolonialzeit in Afrika der Analyse des kapitalistischen Weltsystems verschrieben. Mit seinem 1974 erschienenen ersten Band The Modern World–System I: Capitalist Agriculture and the Orgins of the European World-Economy in the Sixteenth Century setzte er Maßstäbe an Analyse und Tiefenschärfe, die bis heute Geltung besitzen. Das einzige Werk zum selben Thema, das als annähernd vergleichbar anzusehen ist, ist Andre Gunder Franks 1978 veröffentlichtes Buch World Accumulation 1492–1789.

Immanuel Wallerstein betrachtet den Kapitalismus historisch betrachtet von Anfang an als ein Weltsystem. Der Begriff ist insofern erklärungsbedürftig, weil er durchaus die [geografische] Existenz mehrerer Weltsysteme im selben Zeitraum zuläßt. Das kapitalistische Weltsystem ist nun das erste, das einer gesetzmäßigen Dynamik folgt, die zwangsläufig in der Errichtung eines einzigen weltumspannenden Weltsystems mündet. Deshalb schreibt der Autor im ersten Band seines Modern World–System auch von der europäischen Weltwirtschaft des 16. Jahrhunderts. Zu jenem Zeitpunkt war noch nicht ausgemacht, daß sich dieses Weltsystem global durchsetzen würde. Wie sich zeigen sollte, konnten sich die europäischen Handelsschiffe in der Regel auch nur mit der Gewalt ihrer Kanonen Rohstoffe, Arbeitskräfte und Absatzmärkte sichern.

Der dritte Band, der auf Deutsch mit dem Titel Die große Expansion – Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert vorliegt, befaßt sich in weiten Teilen mit der historischen Epoche, die Marx seiner Geschichte der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zugrunde legt. Wallerstein zeigt dabei durchaus, daß die von Marx entwickelten Thesen auch heute noch Gültigkeit besitzen, selbst wenn sie im konkreten Einzelfall modifiziert werden müssen. Sein Monumentalwerk gibt ihm hierbei genügend Raum, den historischen Prozeß, der zur Entwicklung des industriellen Kapitals führt, auf globaler Grundlage ausgiebig zu betrachten.

 

Feudaler Kapitalismus

Der dritte Band zur Geschichte des modernen Weltsystems mit dem Titel Die große Expansion umfaßt etwa ein Jahrhundert, vier Kapitel und zwei provokative Thesen. Die beiden Thesen betreffen den Charakter der bürgerlichen Revolution in Frankreich 1789 und die Bedeutung der industriellen Revolution in England im ausgehenden 18. Jahrhundert. Vielleicht ist es sinnvoll, hierzu noch einmal auf Wallersteins Essay Der historische Kapitalismus zurückzugreifen:

Will man einer Analyse des Übergangs von einem historischen System zu einem anderen mit Verstand nahekommen, ist es der zentrale Punkt, sich mit den Realitäten auseinanderzusetzen, die mit der Fortschrittsideologie einhergehen. Die Theorie einer evolutionären Entwicklung beinhaltet nicht nur die Annahme, daß das nachfolgende System besser war als das vorhergehende, sondern auch, daß eine neue herrschende Gruppe eine alte ablöste. Danach war der Kapitalismus nicht nur der Sieg über den Feudalismus, sondern auch der Sieg der »Bourgeoisie« über den »landbesitzenden Adel« (oder die »feudalen Elemente«). Wenn aber der Kapitalismus gar nicht fortschrittlich war, was bedeutet dann die bürgerliche Revolution? Gab es überhaupt eine bürgerliche Revolution, eine oder mehrere?

Es wurde schon ausgeführt,

so fährt Wallerstein fort,

daß das Bild der Entstehung des historischen Kapitalismus als Sturz eines rückschrittlichen Adels durch eine fortschrittliche Bourgeoisie unzutreffend ist. Das grundlegend richtige Bild ist, daß der historische Kapitalismus vom landbesitzenden Adel ins Leben gerufen wurde, der sich aber in eine Bourgeoisie verwandelte, weil die alten Strukturen in Auflösung begriffen waren. Statt das ungewisse Ende dieser Auflösung abzuwarten, unterwarfen sich die alten Eliten einem radikalen Strukturwandel, um ihre Fähigkeit, die direkten Produzenten auszubeuten, zu erhalten und bedeutend zu erweitern[11]

Diese Betrachtungsweise ist sicherlich gewöhnungsbedürftig. Sie eröffnet jedoch ein radikal neues Verständnis für Vorgänge, die ansonsten unerklärlich bleiben. Wenn wir das Ergebnis der Französischen Revolution betrachten, so stellen wir fest, daß hierbei eine Form der Monarchie durch eine andere ersetzt worden ist, erst durch die Napoleons, dann 1815 durch die Rückkehr der Bourbonen. Tatsächlich jedoch hat etwas wesentliches stattgefunden, was der französischen Bourgeoisie nützlich war.

Bei Marx gibt es einen Gedanken, den Wallerstein ein wenig anders benutzt. Marx schriebt1859 in seinem Vorwort Zur Kritik der Politischen Ökonomie – dem Vorgängerwerk des Kapital:

Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um. [12]

Wallerstein radikalisiert diesen Gedanken und macht etwas völlig anderes daraus. Er stellt fest, daß die feudalen Herrscher des ausgehenden Mittelalters einer politischen wie ökonomischen Krise ihrer Herrschaft dadurch begegnet sind, daß sie die Grundlagen ihrer Herrschaft von Leibeigenschaft und Naturalabgaben auf Waren und Geld umstellten. Hiermit beginnt der tatsächliche von Marx beschriebene Scheidungsprozeß von Produzenten und Produktionsmitteln, da die ehemals feudalen Grundbesitzer sich die Verfügungsgewalt über immer mehr Land aneigneten, indem sie die Bäuerinnen und Bauern davon vertrieben.

Buchcover Die große ExpansionDas darauf produzierte Produkt wurde nun von auf verschiedenste Weise hierzu gezwungenen Landarbeiterinnen und Landarbeitern als Ware auf den Markt geworfen und monetarisiert. Ein, anfangs bescheidener, Akkumulationsprozeß wurde in Gang gesetzt. Wobei anzumerken ist, daß dieser Prozeß vor allem in England und Frankreich stattfand.

Die Engländer paßten ihre politische Struktur während der Bürgerkriege des 17. Jahrhunderts an die sich ändernden ökonomischen Grundlagen an. Der dadurch entstandene auch nach außen politische handlungsfähige Staat eröffnete dem englischen Kapital so etwas wie einen Standortvorteil. In Frankreich gab es einen vergleichbaren Prozeß, ohne daß jedoch die politische Struktur des Staates mitsamt seiner Finanzierung angepaßt wurde. Der oberflächlich betrachtet feudale Absolutismus war zwar keiner, aber auch keiner, der die entstehende französische Bourgeoisie entscheidend unterstützen konnte.

Im siebenjährigen Krieg von 1756 bis 1763 verlor Frankreich fast sein gesamtes Kolonialreich. Die mit diesem Krieg zusammenhängende Staatsverschuldung konnte nicht abgebaut werden, so daß dem französischen Staat die Mittel fehlten, sich gegen die Briten durchzusetzen, deren zu Kriegsende etwa gleich hohe Staatsverschuldung über den erweiterten Kolonialbesitz beglichen werden konnte.

Inwieweit der herrschenden Klasse Frankreichs, die – um es zu wiederholen – längst eine bourgeoisie war, bewußt war, daß der absolutistische Staat das zu beseitigende Hindernis war, ist schwer auszumachen. Manchmal habe ich bei Wallerstein den Eindruck, daß er Prozesse, die erst im Nachhinein als gegeben zu betrachten sind, schon im voraus als fast zwangsläufig darstellt, so als sei der Prozeß folgerichtig und logisch abgelaufen. So heißt es bei ihm im Essay Der historische Kapitalismus:

Warum […] ist so ein System [wie der Kapitalismus] entstanden? Vielleicht genau, um das zu erreichen. Was könnte plausibler sein als eine Begründungslinie, die argumentiert, daß es die Erklärung des Ursprungs eines Systems war, das zu erreichen, was tatsächlich erreicht wurde. [13]

Nun entwickelt sich der Kapitalismus in der Tat nicht evolutionär, nicht einmal unbedingt voraussehbar. Es gibt jedoch Gesetzmäßigkeiten, die sich insbesondere in Verwertungskrisen deutlich bemerkbar machen. Dennoch waren im 15. Jahrhundert weder die Erfolgsstory des Kapitals noch seine konkrete Ausgestaltung vorauszusehen. Nur durch permanente Expansion im 16., 17., 18. und 19. Jahrhundert konnte das europäisch dominierte Kapital überleben. Als es keine zu unterwerfenden Gebiete mehr gab, brach Ende des 19. Jahrhunderts das Zeitalter des Imperialismus an. Seither geht es darum, welche globale Fraktion welchen Anteil am globalen Mehrwert abkassieren darf. Das ist einer der Gründe dafür, warum Autoren wie Robert Kurz den Kapitalismus vor dem Systemkollaps sehen. [14]

Kommen wir zur französischen Bourgeoisie zurück. Nach dem verlorenen Krieg gegen England befand sich das Land ökonomisch im Rückstand und lief Gefahr, zur – wie Wallerstein das nennt – Semiperipherie herabzusinken, also im weltweiten Maßstab die zweite Geige zu spielen, so wie etwa Spanien oder Griechenland heute. Die Revolution von 1789 ermöglichte es zum einen, die verkrusteten Staatstrukturen radikal aufzubrechen, und zum anderen, einen einheitlichen Binnenmarkt mit strikten Regeln (Gesetzen, Code Napoleon) aufzubauen. Der Versuch Napoleons, halb Europa hier mit einzubeziehen, scheiterte.

Hierbei ist es durchaus kein Widerspruch, wenn sich die Ideologie der Revolution als antifeudale ausgab. Was es nämlich noch nicht gab, war eine klare klassenbewußte kapitalistische Sprachregelung. Deshalb wurde das feudale Regime als Popanz aufgebaut, obwohl es – als Produktionsweise – schon seit Jahrhunderten tot war.

Ein großer Teil der beiden ersten Kapiel des Bandes Die große Expansion dreht sich deshalb um die Frage, was die Französische Revolution in ihrem Innersten ausgemacht hat und warum sie nicht das verwirklichen konnte, was in den Jahren nach 1789 eingefordert wurde. Wallerstein merkt nämlich an, daß die Revolution der Bourgeoisie mit einem gewichtigen Problem konfrontiert war: wie erklärt man dem Vierten Stand, daß die Revolution deswegen stattfinden muß, um die Ausbeutungs– und Verwertungsbedingungen radikal zu verbessern, was im Zweifelsfall negative Folgen für die Mehrheit der Bevölkerung haben mußte? Der Terror der Französischen Revolution war so betrachtet auch eine Gewaltmaßnahme, um eine entstehende antisystemische Bewegung eines sich seiner selbst noch nicht bewußten Proletariats zu zerschlagen.

 

Zwischen Indus und Industrieller Revolution

Die zweite provokative These des Bandes Die große Expansion bezieht sich auf den Charakter der Industriellen Revolution in England. Immanuel Wallerstein verweist darauf, daß die industrielle Produktion Großbritanniens im Vergleich zu nichtindustriellen Produktionsformen relativ bescheiden war und somit den vielzitierten take-off des endenden 18. Jahrhunderts nicht ausreichend begründen kann. Auch hier wendet er sich zur Erklärung den globalen Gegegebenheiten zu, um festzustellen, daß England aufgrund seines durch den siebenjährigen Krieg gewonnenen leichten Wettbewerbsvorteils gegenüber Frankreich in der Lage war, sich materielle Bedingungen zu verschaffen, um dann zu Beginn des 19. Jahrhunderts als unangefochtene Hegemonialmacht dazustehen. Die Ausplünderung weiter Teile Indiens war hierbei von entscheidender Bedeutung.

Während das erste Kapitel des Buchs die industrielle Entwcklung des 18. Jahrhunderts behandelt, das zweite die Auseinandersetzung um die Vorherrschaft zwischen England und Frankreich zwischen 1756 und 1815, verfolgt das dritte die Einbindung neuer Gebiete in die Weltwirtschaft und das vierte die Entkolonisierung Nord- und Südamerikas.

Ein Ergebnis des siebenjährigen Krieges war für Frankreich die Abtretung Kanadas an England und Louisianas an Spanien. Nach Ende dieses Krieges begann jedoch in den Gebieten zwischen Kanada und Louisiana der erste Entkolonisierungsprozeß, der in der Gründung der Vereinigten Staaten gipfeln sollte. Wallerstein interpretiert den englischen Verlust der nordamerikanischen Gebiete durchaus nicht als Nachteil. Im Gegenteil – langfristig betrachtet stellte sich heraus, daß die ehemaligen Siedlerkolonien weiterhin exklusive Handelspartner des britischen Empires sein sollten, ohne daß für das Empire selbst die Kosten der direkten Herrschaft, also Verwaltung und Militär, anfielen. [15]

Die Industrielle Revolution, so sie sich überhaupt in konkreten Daten materiellen Outputs belegen läßt, beruhte daher auf globalen Wettbewerbsvorteilen des englischen Kapitals gegenüber dem französischen, von den entwickelteren Gebieten Nordwesteuropas einmal ganz zu schweigen. Die fast schon exklusive Verfügungsgewalt über Kolonien (mit Ausnahme Lateinamerikas), deren Rohstoffe, Arbeitskräfte und Absatzmärkte, sowie ein starker Staat mit einer ausreichend mächtigen Militärmaschine ermöglichte es den englischen Industriellen, Ende des 18. Jahrhunderts die Produktion so auszudehnen, daß sich der Einsatz mechanischer bzw. maschineller Hilfsmittel auch finanziell lohnte.

Der verfügbare Markt expandierte in der von Wallerstein untersuchten Periode, und die Briten waren aufgrund einiger kleiner Standortvorteile in der Lage, sich den Großteil des entstehenden Kuchens zu sichern. Dies ist, in einfachen Worten, das Geheimnis der Industriellen Revolution. Dieser Prozeß, einmal angestoßen, führte zu einer forcierten Akkumulation von Kapital. Karl Marx wiederum beschreibt im Kapital eindringlich, was diese Akkumulation, die glorreiche Industrielle Revolution, für die Männer, Frauen und Kinder des englischen Mutterlandes bedeutete: die Hölle auf Erden. Soviel zur fortschrittlichen und zivilisatorischen Mission des Kapitals.

 

Fakten und Interpretation

Ich habe in der vergangenen Dreiviertelstunde versucht, einige der zentralen Gedankengänge der vor anderthalb Jahren im österreichischen ProMedia Verlages erschienenen Übersetzung von Immanuel Wallersteins drittem Band über das moderne Weltsystem vorzustellen. Wenn ich hierbei einige Male bei Karl Marx hängen geblieben bin, dann nur, um zu zeigen, daß Immanuel Wallersteins Werk durchaus in der Tradition kritischer marxistischer Geschichtsschreibung steht. Dennoch wäre es wahrscheinlich ungenau, Wallerstein als Marxisten zu bezeichnen.

In seine Werke gehen genauso Analysen und Konzepte nichtmarxistischer Autoren und seltener Autorinnen ein. Sein Monumentalwerk hat jedoch im Grunde genommen mit denselben Problemen zu kämpfen wie jeder große Wurf. Manchmal läßt sich der Eindruck nicht vertreiben, daß der Autor im Bestreben, uns die Welt zu erklären, manches doch zu sehr durch sein Interpretationsraster preßt.

Zwar paßt alles irgendwie zusammen und wahrscheinlich ist seine Geschichtslektion nicht einmal fundamental falsch. Im Gegenteil – es läßt sich viel hieran lernen, wie scheinbare Fakten in einer vollkommen anderen Perspektive ihre Bedeutung verlieren, und scheinbare Nebensächlichkeiten auf einmal Gewicht erhalten. Der Ansatz, Kapitalismus als globales System zu begreifen und zu betrachten, ist ohnehin richtig. Das Kapital war nie auf den einzelnen Nationalstaat beschränkt, es ist seiner sozialen Natur nach universell.

Vielleicht liegt manches Problem seines Werkes auch einfach nur daran, daß es uns der Autor nicht leicht machen will. Die deutsche Übersetzung des im Original schon 1989 veröffentlichten Bandes erschlägt uns auf 372 Textseiten plus 91 Seiten Literaturverzeichnis und Register mit einer Fülle von Fakten, die wir mühevoll in einen gedanklichen Zusammenhang zu bringen haben. Bei manchen der zusätzlichen 379 Anmerkungen habe ich mich schon gefragt, warum deren Inhalt nicht in den laufenden Text integriert werden konnte. So ergibt sich mitunter die schwierige Situation, Text und Anmerkungen parallel lesen zu müssen, weil einer oder einem sonst vielleicht etwas Wichtiges entgehen könnte.

Hinzu kommt, daß der Autor im Band seinen theoretischen Rahmen nicht entwickelt, sondern sozusagen en passant mitteilt. Eine Kenntnis anderer Schriften des Autors ist hier durchaus hilfreich. Deshalb habe ich mich in dieser Sendung auch auf den 1984 im Argument Verlag erschienenen Essay Der historische Kapitalismus berufen.

Es ist folglich keine Lektüre für Erstsemester – oder vielleicht sollte ich sagen: man und frau muß schon ein gewisses Interesse mitbringen, verstehen zu wollen, wie denn das globale Ungeheuer namens Kapitalismus entstanden ist, sich entwickelt hat und bis heute funktioniert. Was den Band wie überhaupt viele der Schriften Wallersteins auszeichnet, ist jedoch die Inspiration, sich mit der Geschichte des Kapitalismus einmal anders auseinandersetzen zu müssen. Ich gebe gerne zu, daß ich ohne The Modern World–System das Funktionieren des Kapitalismus anders und sicher unvollständiger begreifen würde. Allein dies lohnt schon die Lektüre. Der dritte Band – Die große Expansion über Die Konsolidierung der Weltwirtschaft im langen 18. Jahrhundert – ist bei Promedia zum Preis von 34 Euro 90 erhältlich.

 

Zuwanderung à la carte

Besprechung von : Dorothee Frings, Peter Knösel (Hg.) – Das neue Ausländerrecht, Fachhochschulverlag 2005, 513 Seiten, € 15,00

Buchcover Das neue AusländerrechtMigration ist ein wesentlicher Bestandteil der kapitalistischen Weltwirtschaft, eine Migration, die das Kapital im ureigensten Interesse gesteuert wissen will. Die Festung Europa erleben wir häufiger auf den Bildschirmen, wenn Flüchtlingsschiffe aus der Türkei oder aus Nordafrika gen Spanien oder Italien schwimmen und dabei hoffnungslos überfüllt sind. Doch es sind nicht nur die Verheißungen des vermeintlichen kapitalistischen Pardieses, die anlocken, sondern oftmals nichts anderes als die blanke Not, die der weltweite Kapitalismus an den Hungerleidern dieser Welt exekutiert.

Mit dem Zuwanderungsgesetz haben Bundesregierung und Bundesländer 2004 ein Instrumentarium geschaffen, das am 1. Januar letzten Jahres in Kraft trat und für einige Verwirrung gesorgt hat. Weit entfernt davon, Migrantinnen und Migranten in diesem Land eine sicherere Existenz anbieten zu könne, ist es voller Fallstricke, die sich erst im behördlichen Umgang erweisen.

Im Frankfurter Fachhochschulverlag ist hierzu ein 513 Seiten starker Band erschienen, der versucht, alle hiermit verbundenen Gesetze und Verordnungen so zu präsentieren, daß das neue Zuwanderungsgesetz sich in seiner vollen Dimension erschließt. Kein leichtes Unterfangen, vor allem dann wenn Dorothee Frings und Peter Knösel als Herausgeberin und Herausgeber darauf hinweisen, daß die vielen offenen Fragen des Gesetzes wohl erst in langwierigen Verwaltungsgerichtsverfahren geklärt werden können. Solange werden die rund 700 Ausländerbehörden dieses Regelwerk wahrscheinlich nicht gerade einheitlich umsetzen, zumal die entsprechenden Verwaltungsvorschriften noch etwas auf sich warten lassen dürften.

Der Band untergliedert sich in zwei Teile – einen rund 100–seitigen Teil zum Zuwanderungsgesetz und rund 400 Seiten Gesetzestexte, die vom Aufenthaltsgesetz über das Sozialgesetzbuch bis zur Verordnung über die Durchführung von Integrationskursen reichen. Der erste Teil über das Zuwanderungsgesetz behandelt Fragen der Einreise, die verschiedenen Aufenthaltstitel, die Förderung der Integration, die Aufenthaltsbeendigung und einige sich daran anschließende Regelungen.

Für Migrantinnen und Migranten, für binationale Partnerschaften und für diejenigen, die beruflich oder persönlich betroffen sich mit dem neuen Ausländerrecht befassen müssen, ist dieses Kompendium ein Muß. Nicht nur, daß hier das Wesentliche in einem Band zusammengefaßt ist, sondern auch deshalb, weil erst durch Kenntnis aller Zusammenhänge die Struktur erkennbar wird, wie das Zuwanderungsgesetz in Zukunft die Steuerung unliebsamer wie erwünschter Migration gewährleisten soll. Und da es immer gut zu wissen ist, welche Rechte man und frau hat, ist der Erwerb dieses Buchs nur zu empfehlen.

Das neue Ausländerrecht, herausgegeben von Dorothee Frings und Peter Knösel, ist im Fachhochschulverlag zum Preis von 15 Euro erschienen, am besten direkt zu beziehen über den Verlag in der Kleiststraße 18 in 60318 Frankfurt.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte

Mein heutiges Thema war die große Expansion des Kapitals im 18. Jahrhundert, erläutert anhand des gleichnamigen Bandes von Immanuel Wallerstein, erschienen 2004 im österreichischen Promedia Verlag.

Diese Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte wird wiederholt, und zwar in der Nacht von Montag auf Dienstag um 23.00 Uhr, sowie am Dienstagmorgen nach dem Radiowecker um 8.00 Uhr und noch einmal am Dienstagnachmittag um 14.00 Uhr. Nächste Woche könnt ihr auf diesem Sendeplatz Katharina Mann oder Niko Martin mit ihrer Sendereihe Hinter den Spiegeln hören. Es folgt nun nickelodeon, eine Sendung der Kulturredaktion mit Rüdiger Gieselmann, der den im Urlaub weilenden Gerhard Schönberger vertreten wird. Am Mikrofon verabschiedet sich Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Immanuel Wallerstein : Der historische Kapitalismus, Argument Verlag 1984; Originalausgabe: Historical Capitalism, Verso 1983; im Folgenden: Wallerstein 1984
[2]   Wallerstein 1984, Seite 86–89
[3]   Robert Kurz : Weltordnungskrieg, Seite 428
[4]   Und wer wird schon göttliche Geschenke in Frage stellen wollen?
[5]   Karl Marx : Das Kapital, Band I, in: MEW 23, Seite 741–742. Statt der Ausrede, dieses Jahr sei es ausnahmsweise einmal anders, belieben es die Herren Kapitalisten und ihre intellektuellen Claqueure, uns zu erzählen, daß die von ihnen geforderten wirtschaftlichen Rezepte nur nicht richtig angewandt worden seien. Da können wir ja glatt von Glück reden …
[6]   Marx Seite 742
[7]   Marx Seite 743
[8]   Marx Seite 744
[9]   Die universitäre Vermittlung bürgerlicher Wirtschaftsweisheiten ist halt eine reine Glaubensfrage. Und wie in den anderen theologischen Fakultäten wird auch bei den WirtschaftswissenschaftlerInnen eine Menge Aberglauben verbreitet (und vorausgesetzt).
[10]  Da den IdeologInnen des Kapitals nichts heilig ist, feiern sie ihren entfesselten Markt inzwischen auch als emanzipatorisch.
[11]  Wallerstein 1984, Seite 92–93
[12]  Karl Marx : Vorwort [zu: Zur Kritik der Politischen Ökonomie], in: MEW 13, Seite 9
[13]  Wallerstein 1984, Seite 35
[14]  Was ich jedoch bezweifle.
[15]  Die Ironie dieser Geschichte ist jedoch, daß die ehemaligen Kolonien Großbritannien als Hegemonialmacht beerben sollten.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 11. Januar 2006 aktualisiert.
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