Kapital – Verbrechen

Befreit und doch nicht befreit

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Kapital – Verbrechen
Befreit und doch nicht befreit
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 9. Mai 2005, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Montag, 9. Mai 2005, 23.10–00.10 Uhr
Dienstag, 10. Mai 2005, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 10. Mai 2005, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Henry W.F. Saggs : Völker im Lande Babylon, Konrad Theiss Verlag
  • Dan Bar–On : Erzähl dein Leben!, edition Körber–Stiftung
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/kv/kv_befre.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Mythen über ein Gewerbe
Kapitel 3 : Sumer, Akkad, Babylon
Kapitel 4 : Befreiung als Praxis
Kapitel 5 : Schweigen und ein deutscher Diskurs
Kapitel 6 : Erzählte Geschichte
Kapitel 7 : Illusionen
Kapitel 8 : Schluß
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

Am 8. und 9. Mai wird international der Befreiung vom Faschismus gedacht. In den offiziellen Reden wird die Versöhnung der ehemaligen Kriegsgegner betont, und man wird nicht müde, sich gegenseitig zu versichern, daß man aus der Geschichte gelernt habe. Man ist richtig lieb zueinander. Imperialisten tun einander derzeit nicht weh.

Die Kapitulation Nazideutschlands vor 60 Jahren markierte das Ende des zweiten Versuchs des deutschen Kapitals, die vorherrschende Weltmacht zu werden. Es hat daraus gelernt. Am 9. Mai 1945 hätte sich wohl kaum eine oder jemand vorstellen können, daß deutsche Soldaten in Afghanistan, im Sudan und auch wieder auf dem Boden des ehemaligen Jugoslawien stationiert sein würden. Im dritten Anlauf war das deutsche Kapital klüger und geduldiger. Keine und niemand scheint ein Problem damit zu haben, daß deutsche Waffen und deutsches Geld überall vorzufinden sind.

Clevere Strategie – erst verbrannte Erde zu hinterlassen, dann den Krieg zu verlieren, anschließend kräftig abzusahnen, und schließlich auch noch über Brandnächte und Vertreibungen zu lamentieren!

Die Zeiten haben sich jedenfalls geändert. Nach 1945 begann eine lange Prosperitätsphase des globalen Kapitalismus unter Führung der USA. Doch Mitte der 70er Jahre bewahrheitete es sich, daß auf jeden Boom die Krise folgt. Seither gibt es Krisenmanagement pur. Vor allem die Länder der Dritten Welt wurden durch das Instrument der Schuldensklaverei systematisch ausgeplündert. Doch wie schon vor dem Ersten Weltkrieg schlägt die organisierte Barbarei auf die Metropolen zurück. Die Kolonialkriege Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gaben einen kleinen Vorgeschmack auf die entgrenzten Greuel der beiden Weltkriege.

Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist aus der neoliberalen Konterrevolution eine zivilisatorische Errungenschaft geworden. Sozialdemokratinnen und Gewerkschafter finden nichts dabei, ihre eigene Klientel dem Kapital zum Fraß vorzuwerfen. Mit der Agenda 2010 und den sogenannten Hartz IVReformen wird der Maßlosigkeit des globalen Kapitalismus gehuldigt. Wir werden uns daran gewöhnen müssen, daß die Praktiken der Dritten Welt zum Standard der Ersten werden. Dies ist die Freiheit des Kapitals – und sie ist grenzenlos.

Ich habe meine heutige Sendung aus der Reihe Kapital – Verbrechen Befreit und doch nicht befreit genannt. Das Ende des 2. Weltkrieges mit der Niederlage Deutschlands und Japans war sicherlich befreiend, aber wohl weniger für Deutsche und Japaner. Sie knabbern bis heute an dieser Niederlage herum. Das hindert sie nicht daran, den ganz normalen Wahnsinn mit zu verwalten.

Ich werde heute auf einen sexistischen Aspekt der Hartz IVGesetzgebung eingehen und dies mit einer kleinen Kulturgeschichte der Prostitution verbinden. Anschließend lasse ich den israelischen Psychologen Dan Bar–On zu Wort kommen, dessen therapeutische Strategie darin besteht, die Menschen ihre Geschichte in eigenen Worten selbst erzählen zu lassen. Er sprach hierbei mit Kindern von Nazi–Tätern und jüdischen Nazi–Opfern, aber auch mit israelischen und palästinensischen Jugendlichen, die in der Gewaltkultur ihrer Region verhaftet sind. Für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt ist am Mikrofon Walter Kuhl.

 

Mythen über ein Gewerbe

Besprechung von : Henry W.F. Saggs – Völker im Lande Babylon, Theiss Verlag 2005, 224 Seiten, € 24,90 [ab 1.1.2006: € 29,90]

Am 18. Dezember letzten Jahres [2004] schrieb Kai von Appen in der Hamburger Lokalausgabe der taz, daß die neuen Sozialstandards seit Januar 2005 es zumutbar machen, arbeitslose Frauen ins Rotlichtmilieu zu vermitteln. Rechtlich gebe es hier keine Untergrenze der Zumutbarkeit. Gemäß den Zumutbarkeitsregeln für das Arbeitslosengeld II können langzeitarbeitslose Frauen im Prinzip in seriöse Bordelle vermittelt werden – als Bedienung, aber auch als Prostituierte. Denn seit 2002 ist der Beruf der Prostituierten legalisiert; die Tätigkeit einer Sexarbeiterin gilt als Job wie jeder andere. Und natürlich sind im Zweifelsfall alle kapitalistischen Bordelle seriös, wie das Kapital überhaupt seriös daherkommt; die Schwarzen Schafe sind immer die anderen.

Zwar soll es eine Selbstverpflichtungserklärung der Arbeitsämter geben, nicht in den Bereich Prostitution zu vermitteln. Doch es existiert eine große Grauzone. Aurel Jahn, unser Verfechter von Dienstarbeitskleidung, hätte sicher nichts dagegen einzuwenden, daß langzeitarbeitslose Frauen als Dienstkleidung ein knappes Röckchen tragen müssen [1]. Knut Börnsen, Sprecher des Hamburger Arbeitsamtes, erklärte zwar, daß man akzeptieren würde, wenn eine Frau da nicht arbeiten wolle. Aber, so fuhr er fort, im Einzelfall müssen die Folgen dieser Arbeitsverweigerung geprüft werden. [2]

Eben. Jede Frau hat das Recht, sich sexistischen Arbeitsbedingungen zu verweigern. Aber sie bekommt dann auch kein Geld mehr vom Arbeitsamt. Dies ist die Freiheit des Kapitals. Der soziale Erosionsprozeß hat schon längst dazu geführt, daß Frauen sich wieder mehr gefallen lassen müssen als beispielsweise in den 80er Jahren. Die Frage nach der Schwangerschaft bei arbeitslosen Frauen in der ehemaligen DDR war hier nur ein kleiner Vorgeschmack.

Die angesprochene Selbstverpflichtungserklärung der Arbeitsämter steht nur auf dem Papier. Am 30. Januar schrieb die britische Tageszeitung Daily Telegraph über eine 25–jährige Informatikerin, die von ihrer Arbeitsagentur an ein Bordell vermittelt wurde. Sie hatte den Fehler gemacht, im Vermittlungsgespräch zu erklären, nachts auch als Kellnerin arbeiten zu wollen. Darauf erhielt sie von ihrer Vermittlungsagentur einen Brief, worin ihr mitgeteilt wurde, ein Unternehmer sei an ihrem Profil interessiert. Andere Arbeitsangebote trafen ehemalige Call Center–Agentinnen, die sich bei Sex–Hotlines zu bewerben hatten, oder eine Frau, die sich zu einem Bewerbungsgespräch als Nacktmodell einzufinden hatte. Alles zumutbar, alles normal. [3]

Prostitution gehört zu jeder Klassengesellschaft, die etwas auf sich hält, dazu. Die männliche Verfügungsgewalt über Frauen ist eine gesellschaftliche Norm, seit es eine gesellschaftliche Arbeitsteilung gibt. Es ist jedoch falsch, hier vom ältesten Gewerbe der Welt zu sprechen. Die gesellschaftliche Verfügbarkeit von Frauen ist eine zivilisatorische Errungenschaft, die nach den handwerkschaftlichen Tätigkeiten aufkam. Zudem handelte es sich von Anfang an nicht einfach um ein Gewerbe, sondern um patriarchale Unterdrückung. Prostitution war keine Erfindung von Frauen, sondern von Männern. Sie entstand nicht freiwillig, sondern mit Gewalt.

 

Sumer, Akkad, Babylon

Der Übergang von den Jägern und Sammlerinnen am Ende der letzten Eiszeit zur Schriftkultur des 3. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung war ein langer und nicht gradliniger Prozeß. Da uns keine schriftlichen Dokumente zur Verfügung stehen, sind wir auf (begründete) Vermutungen angewiesen. Die sogenannte Neolithische Revolution vor etwa 10.000 Jahren an den Bergrändern vom Mittelmeer bis zum Persischen Golf schuf neue Bedingungen für die Aneignung von landwirtschaftlichen Produkten. Regenfeldbau und künstliche Bewässerung waren Ausdruck einer technologischen Entwicklung, die fast zwangsläufig zu Bevölkerungswachstum und Siedlungskonzentrationen führen mußten. Neu war hierbei auch der Gedanke von Besitz und Eigentum.

Es ist ja nicht so, daß die Menschen in ihrer langen Evolutionsgeschichte von Anfang an habgierige, gewalttätige oder konsumfreudige Wesen waren. All dies entwickelte sich erst unter bestimmten Voraussetzungen; und diese Voraussetzungen waren erst gegeben, als das Lebensnotwendige durch harte Arbeit in ausreichender Menge zur Verfügung stand. Das nomadische Herumstreunen hatte dann ein Ende.

Buchcover Völker im Lande BabylonHenry W.F. Saggs, emeritierter Professor für Semitische Sprachen an der walisischen Universität von Cardiff, benennt in seinem jüngst bei Theiss erschienenen Buch Völker im Lande Babylon zwei wesentliche Prinzipien früher Staatsbildung. Das eine ist die Sklaverei, das andere die Rechtsprechung nach dem Prinzip des Auge um Auge. Es besteht ein Zusammenhang zwischen der Entwicklung vielleicht nicht egalitärer, aber sicherlich auch nicht hierarchischer Nomaden hin zu städtischen Klassengesellschaften und den für unsere Vorstellung barbarisch anmutenden Rechtsvorstellungen.

Der Kodex des babylonischen Königs Hammurabi aus dem 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung vermittelt ein genaues Bild von der Notwendigkeit einer strengen Gesetzgebung. Zwar gibt es zu Hammurabis Zeiten schon seit einigen tausend Jahren städtische Siedlungen, aber offensichtlich waren die Menschen zur damaligen Zeit noch nicht bereit, sich den Notwendigkeiten der Klassengesellschaft freiwillig zu unterwerfen. Als notwendig wurden hierbei erachtet: Eigentum und Besitz, Religion und Herrschaft, Militär und Sklaverei. Wer hiergegen verstieß, machte sich eines schwerwiegenden Verbrechens schuldig.

Die Todesstrafe wurde für eine große Anzahl von Vergehen festgeschrieben. Falsche Anschuldigungen gehören hierzu wie Beihilfe zur Flucht eines Sklaven. Neben der Todesstrafe kamen auch andere körperliche Bestrafungen zur Anwendung: das Blenden, das Brechen von Körperteilen, das Ausbrechen eines Zahnes, das Abschneiden von Hand, Zunge oder Ohr. Foltern, Verbrennen und Ertränken waren weitere Kennzeichen des frühbabylonischen Rechtssystems. Hammurabi war jedoch nicht der erste Gesetzgeber. Schon im dritten Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung wurde die Notwendigkeit einer gnadenlosen Rechtspraxis gesehen. Die Menschen mußten zu ihrem Glück gezwungen werden. Und da man sie nicht mit Konsum ködern konnte, mußten sie mit Gewalt dazu gezwungen werden. Gewisse Parallelen zur Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise im 17. bis 19. Jahrhundert, mit Arbeitshäusern, Strafkolonien und Massenmord, sind nicht zufällig. Sie gehören zu jeder ordentlichen Zivilisation dazu.

Wahrscheinlich müssen wir bis ins 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückgehen, um den Entstehungsprozeß städtischer Strukturen zu beobachten. Zwar gab es schon im 8. und 7. Jahrtausend erste städtische Siedlungen, doch sie scheinen sich nicht gehalten zu haben. Wo wir auf deren Überreste stoßen, gibt es einen Zeitpunkt, an dem sie geradezu implosionsartig verschwanden. Nun gibt es mehrere Möglichkeiten, dieses Phänomen zu erklären. Es könnte zum Beispiel sein, daß die Bewohnerinnen und Bewohner der ersten Ballungszentren mit einem Phänomen konfrontiert wurden, das sie noch nicht gelernt hatten zu beherrschen: Den sozialen Streß, der entsteht, wenn Menschen eng aufeinanderhocken. [4]

So bedurfte es langer Jahrhunderte, bis die Menschen gelernt hatten, so miteinander umzugehen, daß nicht gleich Mord und Totschlag herrschten, wenn sie ihre Ansprüche gegeneinander durchzusetzen versuchten. Diese Ansprüche waren gleichzeitig neu und nie ganz gesichert. Die Verfügungsgewalt über Boden, Vieh und Wasser führte immer zu Streitigkeiten und Legitimationsproblemen. Eigentum und Besitz galten lange als nicht normal; sie mußten mit Gewalt gesichert werden. Im vierten, vielleicht auch erst im 3. Jahrtausend führte diese Entwicklung zu einem qualitativen Sprung. Die gesellschaftliche Macht wurde in den Händen einer Person konzentriert – einem König oder einem Priester.

Es handelte sich hierbei noch um kleinere Siedlungen oder um etwas größere Städte. Wobei diese Kleinstädte von etwa 30.000 BewohnerInnen für die damalige Zeit riesige Metropolen gewesen sein müssen. Erst Mitte des 3. Jahrtausends führte die Dynamik der bestehenden Klassengesellschaften dazu, sich andere Städte und deren Ressourcen einzuverleiben. Wahrscheinlich war der Punkt dann erreicht, wenn zwei Siedlungsgebiete mit ihren Kanälen und Feldern aneinanderstießen. Die Gewalt, welcher jeder Klassengesellschaft innewohnt, wurde nach außen getragen. Und die ersten Kriege, von denen wir hören, waren eine gnadenlose Metzelei. Was auch logisch ist: es galt zu verhindern, daß sich die Unterlegenen neu organisieren konnten, um zurückzuschlagen. Deshalb wurden alle Männer besiegter Städte getötet und die Frauen versklavt. Der akkadische König Rimusch aus dem späten 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung brüstete sich damit, mehr als 100.000 Menschen umgebracht zu haben.

Henry W.F. Saggs zeigt, daß die Sklaverei bereits im frühen 3. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung existierte, möglicherweise auch schon vorher.

Ursprünglich beschaffte man sich Sklaven bei Kriegszügen in andere Länder. Das Ideogramm [= Deutezeichen] für »Sklavin« verdeutlicht diesen Zusammenhang, denn es besteht aus zwei eigenständigen Symbolen, von denen das eine für »Frau« und das andere für »Berge« steht, also ursprünglich »Frau aus den Bergen« bedeutete. Männliche Kriegsgefangene wurden zu dieser Zeit häufig gleich getötet. Wenn man sie dennoch am Leben ließ, hielt man sie in Halsfesseln gefangen, bis ihr Wille gebrochen war, oder blendete sie, um sie gefügig zu machen. In vielen Fällen wurden männliche Gefangene dem Tempel geweiht, weibliche Kriegsbeute hingegen vermutlich an Privatpersonen verkauft. [5]

Angesichts der zu Anfang des 3. Jahrtausends noch bestehenden Stadtstaatenstruktur ist es schon bemerkenswert, daß einzelne Fürsten mehrere hundert Kilometer weit in die Berge zogen, um Frauen zu erbeuten. Wir wissen mangels schriftlicher Quellen nicht, ob sich die jeweiligen Stadtstaaten zunächst in Frieden gelassen haben und ob sie gar bereitwillig miteinander kooperierten, um den begehrten Rohstoff Frau zu erbeuten. Jedenfalls sind Berichte über kriegerische Auseinandersetzungen zwischen den Stadtstaaten des sumerischen Mesopotamien erst später entstanden.

Aus den verschiedenen juristischen Texten geht klar hervor, daß eine Sklavin selbstverständlich zu sexuellen Dienstleistungen zur Verfügung stand. Wenn Henry W.F. Saggs schreibt, daß der männliche Wille erst gebrochen werden mußte und es deshalb sinnvoller schien, Männer gleich zu töten, dann zeigt dies auch, daß der Wille der Frauen schon lange vorher gebrochen worden war. Nach der Unterordnung kam die Sklaverei hinzu. Von Frauen ging keine Gefahr mehr aus. Das angeblich älteste Gewerbe konnte nur auf dieser Grundlage reibungslos geschehen.

Heute kommen die Frauen nicht aus den Bergen, sondern aus den Elendsregionen dieser Erde. Manchen bleibt freiwillig nichts anderes übrig, als ihrem Elend mit einem deutschen Sklavenhalter ehelicherseits zu entfliehen. Manche werden unter den wachsamen Augen der Bundeswehr zwangsweise aus Mazedonien und dem Kosovo importiert. Trotz Legalisierung der Prostitution zocken Zuhälter und Bordelle weiterhin den von Prostituierten geschaffenen Mehrwert ab und verdienen fleißig an der Unterwürfigkeit von Frauen. Je jünger, desto besser. Der allgemeine Fleischmarkt der Gesellschaft wird hier in seiner Verlogenheit, Gewalttätigkeit und Konsumierbarkeit fokussiert. Sollten wir nicht fragen, wie viele dieser Frauen diesen Job freiwillig machen würden, wenn sie eine tragfähige Alternative hätten? Vergessen wir zudem nicht den Gesellschaftsvertrag der Ehe mit seinen prostitutiven Elementen. Gewalt gegen Frauen, auch in der Ehe, sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts aufgeklärter zivilisatorischer Standard.

Buchcover Rechtsanwälte LinksanwälteEs ist zuweilen nützlich, sich den Entstehungsprozeß zivilisierter Gesellschaften genauer anzuschauen. Die Schrift entstand aus der Buchhaltung. Die Schrift ermöglichte es jedoch auch, Gedanken festzuhalten, die für uns mitunter so skurril sind wie die Werbung im Fernsehen. Richtig gelesen und verstanden, zeigen diese verschriftlichten Gedanken jedoch auch, wie die Menschen damals ihre Welt gesehen haben und wie sie sich mehr schlecht als recht darin wiedergefunden haben mögen. Kodifiziertes Recht, religiöse Liturgien, aber auch Keilschrifttafeln mit Übersetzungslisten geben Zeugnis von den Schwierigkeiten, die Menschen an Unterordnung, Herrschaft, Eigentum und Gewalt zu gewöhnen.

Das Buch Völker im Lande Babylon von Henry W.F. Saggs führt uns in einem geographisch begrenzten Raum ein – die südliche Hälfte des heutigen Irak, das damalige Babylonien. Könige und Dynastien kamen und gingen, aber die geschichtliche Entwicklung ging weiter. Die Königreiche wurden größer und überschritten bald den geographischen Horizont Babyloniens. Die Herrscher nannten sich Könige der Vier Weltgegenden und waren in ihren Ansprüchen ähnlich maßlos wie heute das Kapital. Allerdings hatten diese Könige auch die Versorgung ihrer Untertanen mit Lebensmitteln und Rohstoffen sicherzustellen. Die Geschichte Babyloniens endete 539 mit der Eroberung Babylons durch die Perser. Der Mythos Babylon wurde jedoch weiterhin überliefert. Herodots Historien, sowie die Schilderung der Hängenden Gärten durch antike Autoren wie Diodorus Siculus und Strabon, aber auch durch die Bibel sind unterschiedliche Zeugnisse von der Überheblichkeit der Macht. [6]

Das einzige, was ich in diesem Buch wirklich vermißt habe – aber das ist ohnehin ein Problem der Geschichtsschreibung über die Antike und nicht auf diesen Autor beschränkt –, ist eine Antwort auf die Frage, wie diese Gesellschaft funktioniert hat, welches ihre Triebkräfte waren, wie sich die herrschende Klasse organisiert hat. Wir kennen die Namen der Könige; aber wie absolut ihre Herrschaft war, wissen wir nicht.

Mit dem Buch Völker im Lande Babylon von Henry W.F. Saggs erhalten wir auf 224 Seiten eine solide Einführung in die Wirtschafts– und Rechtsverhältnisse des Landes. Das Kapitel über die gesellschaftliche Schichtung ist vielleicht etwas zu knapp ausgefallen und hätte gerade hinsichtlich der Stellung der Frauen ausführlicher ausfallen müssen. Ich empfehle hierzu als ergänzende Lektüre Gerda Lerners Studie Die Entstehung des Patriarchats[7] – Das von mir für die Entstehungsgeschichte der Prostitution herangezogene Buch von Henry W.F. Saggs über die Völker im Lande Babylon aus dem Theiss Verlag kostet 24 Euro 90.

 

Befreiung als Praxis

Besprechung von : Dan Bar–on – Erzähl dein Leben!, edition Körber–Stiftung 2004, 268 Seiten, € 14,00

Der israelische Psychologe Dan Bar–On ist in mehreren Studien und Büchern der Frage nachgegangen, warum sich Befreiung für die Betroffenen gar nicht so befreiend ausgewirkt hat. In Israel traf er eine Generation an, welche ihr Überleben in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern nicht thematisierten. In den 80er Jahren sprach er mit den Nachkommen der Nazi–Täter in Deutschland und traf auch dort auf eine Mauer des Schweigens. Eine weitere Station seiner Forschungen ist der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern – und die Möglichkeiten, hier etwas in den Köpfen zu verändern.

Die Körber–Stiftung in Hamburg hat dankenswerterweise mehrere Studien des Autors veröffentlicht. Insbesondere seine Interviews mit den Kindern der NS–Täter vermittelt so gar nicht das Bild einer Generation, die ihre Geschichte umzudeuten versucht. Dieses Buch über Die Last des Schweigens beschreibt sehr schön die Methode von Dan Bar–On, Menschen durch empathisches und behutsames Befragen dabei zu helfen, zu sich selbst zu finden.

Sein Buch über Die »Anderen« in uns beschreibt den Dialog als ein Modell interkultureller Konfliktbewältigung anhand der israelisch–palästinensischen Geschichte. Seine Fragestellung ist eindringlich: Lassen sich Wege zur politischen Versöhnung finden, wenn Einzelne sich auf die Lebensgeschichte ihrer früheren Feinde einlassen? Hiervon handelt ein drittes Buch mit dem Titel Den Abgrund überbrücken. Alle drei Bücher habe ich in den letzten Jahren vorgestellt; aber ich erwarte selbstverständlich nicht, daß meine heutigen Zuhörerinnen und Zuhörer sich daran erinnern werden. [7a]

Im vergangenen Jahrveröffentlichte die Körber–Stiftung einen eher autobiographischen Text von Dan Bar–On, in welchen die Erlebnisse und die Ergebnisse im Zusammenhang mit den anderen drei Büchern eingeflossen sind. Seine Wege zu Dialogarbeit und zu politischer Verständigung werden im Titel des Buches treffend zusammengefaßt: Erzähl dein Leben!

Buchcover Erzähl dein Leben!Was ist er für ein Mensch? Kurz vor seinem 65. Lebensjahr habe er so gar nichts von einem Ruheständler an sich, der womöglich zufrieden auf sein Leben zurückblicken könne. Dan Bar–On bezeichnet sich als einen rastlosen Menschen, der inmitten der Wirbelstürme dieser Welt, gegen die er anzukämpfen versucht, seinen eigenen Weg finden möchte. Seine Eltern verließen Deutschland 1933; er selbst wurde 1938 in Haifa geboren:

Ich fürchte, als Nachkomme von Auswanderern und Überlebenden des Holocaust hängt meine Rastlosigkeit damit zusammen, dass ich die Illusion eines friedlichen und unantastbaren Zufluchtortes aufgeben muss. Ich habe nie diese andere Welt, die wir verloren haben, kennen gelernt – die Welt, die unsere Eltern noch als berechenbar und sicher erlebt hatten. Für uns war die Shoah bereits eine historische Tatsache, und die Welt danach schien ein chaotischer und unberechenbarer Ort, ebenso wie die Menschen, die sie bewohnen. [8]

Als Einwandererkind aus deutsch–jüdischem Elternhaus hatte er es nicht leicht. Irgendwann beschloß er, ein echter Israeli zu werden: er besuchte eine Fachhochschule für Landwirtschaft, änderte seinen Familiennamen in einen hebräischen und trat einem Kibbuz in der Wüste bei. Ganz der israelische Pionier. Er wurde Fallschirmjäger und Pfadfinder in der Armee. Das schuf eine psychische Sicherheit, die jedoch in den Kriegen 1967 und 1973 erschüttert wurde. Im Zuge einer Therapie begann er, seine früheren monolithischen israelischen Selbstentwürfe zu hinterfragen. Und er begann, noch einmal zu studieren – Psychologie und Soziologie. In seiner praktischen familientherapeutischen Ausbildung arbeitete er in einem Kibbuz–Krankenhaus. Dort traf er auf Überlebende des Holocaust und ihrer Familien. Und auf Schweigen.

Nach seiner Doktorarbeit beschloß Dan Bar–On, nicht mehr in seinen Kibbuz zurückzugehen. Andererseits war er jetzt 45 Jahre alt, zu alt also für eine ganz normale akademische Karriere. Ein Stipendium führte ihn in die USA und dort bemerkte er, daß er zwischen der Theorie und der Praxis wählen mußte. Oder genauer:

Wiederholt bewegte ich mich also zwischen Praxis und Theorie hin und her. Ich lernte, dass Theorien in der Praxis immer an den Zusammenhang angepasst werden mussten – eine Verfahrensweise, die die Hauptströmungen der Psychologie nicht gerne sahen, da sie auf der Suche nach verallgemeinerten »Grundprozessen« waren, die generelle menschliche Verhaltensmuster erklären sollten. Ich war nicht bereit, bei meinen empirischen Studien zugunsten der Erfüllung abstrakter wissenschaftlicher Standards Kompromisse einzugehen, indem ich versuchte, die Naturwissenschaften mit ihren Ansprüchen zu imitieren. [9]
Es wäre berechtigt zu fragen, ob man meine Arbeit überhaupt als Forschung und nicht als Poesie oder Fiktion bezeichnen kann. [10]

Dan Bar–On verlegte sich von quantitativen statistischen Untersuchungen auf qualitative Methoden. Er kam zu dem Schluß, daß die erzählte Geschichte eines einzelnen Menschen wichtiger war als die Theorie, die nur an Diagnosen interessiert war. Menschen können sich und ihre Ansichten verändern; seine Aufgabe war es, ihnen dabei zu helfen. Dabei ist nicht immer klar, ob die Geschichten wahr sind.

Wenn wir die Menschen, denen wir zuhören, ernst nehmen wollen, dann müssen wir sie auch ausreden lassen, ihnen den Raum geben, sich dabei auch sicher zu fühlen. Interpretierende theoretische Konzepte, die auf jede Aussage eine Diagnose bereit stellen, können hier hinderlich sein. Das bedeutet nicht, alles für wahr zu halten. Wie Dan Bar–On noch bemerken wird, kann es sein, daß es für bestimmte Ereignisse mehrere Wahrheiten gibt. Gerade innerhalb von Machtstrukturen kann es sehr unterschiedliche Formen der Wahrnehmung und der Verarbeitung geben. Das zu wählende Verfahren ist daher als intuitiv zu bezeichnen. Natürlich ist es sinnvoll, eine bestimmte wissenschaftliche Theorie im Kopf zu haben.

Aber die Methode erfordert, dass man diese mindestens bis zum Abschluss seiner Datenauswertung zurückstellt, um zu sehen, ob sie nicht andere, unerwartete theoretische Erklärungen für die erhaltenen Ergebnisse zutage fördert. [11]

So gibt es Theorien zu den traumatischen Nachwirkungen des Holocaust auf Überlebende und ihre Nachkommen. Aber wie integrieren diese ihre Erfahrungen in ihre jeweiligen Lebensgeschichten? Bei den Kindern von NS–Tätern lag hierzu jedoch keinerlei systematische Forschungsarbeit vor, weshalb hierzu auch keine theoretischen Annahmen gemacht werden konnten.

 

Schweigen und ein deutscher Diskurs

Warum schweigen Menschen über ihre eigene Geschichte? Hier ist sicher nicht das Schweigen einer ganzen Generation nach dem verloren gegangenen Zweiten Weltkrieg gemeint. Sie schwiegen, weil sie wußten, daß sie besser nicht erzählten, was sie getan oder gesehen hatten, wovon sie wußten und was sie gut geheißen hatten. Nein, ganze normale Deutsche hatten allen Grund zum Schweigen. Doch dieses Schweigen war nicht das, wofür sich Dan Bar–On interessierte:

Die Gründe für das Schweigen können sich bei Überlebenden und Tätern unterscheiden. Die Ersteren leiden am häufigsten unter einer »Schuld des Überlebenden«, da viele ihrer Familienmitglieder ermordet wurden. Die Täter versuchen meist, die von ihnen verübten Gräuel vor ihren Familien zu verbergen, um das positive Bild aufrechtzuerhalten, das ihre Nachkommen von ihnen haben. Das Ergebnis des Schweigens kann jedoch das gleiche sein: Es führt im Allgemeinen dazu, dass das Trauma auf die nachfolgenden Generationen übertragen wird. [12]

In der jüdisch–israelischen Geschichte mußten mindestens 40 Jahre vergehen, um zu erkennen, daß Shoah–Überlebende dazu gezwungen waren, über ihre Erlebnisse während des Holocaust zu schweigen. Die zugrunde liegende Metapher war: sie hatten für ihr Überleben nicht gekämpft. Warum nahmen die Juden nach dem Krieg eigentlich nie Rache an den Deutschen? Dan Bar–On sieht in dieser Hemmung

eine kollektiv verdrängte Aggression. Seit Generationen – wahrscheinlich schon in früheren Pogromen, besonders aber seit der Shoah – wurde diese Aggression verinnerlicht, nie völlig eingestanden, geschweige denn ausgeübt oder verarbeitet. Sie fand nun ein Ventil im israelisch–palästinensischen Konflikt. [13]

Vielleicht ist es sinnvoll, diese verdrängte und dann ausgelebte Aggression im Rahmen einer mit dem Holocaust nicht unbedingt zusammenhängenden Siedlungsgeschichte zu begreifen. Wenn Kolonisatoren aus anderen Ländern mit Vertreibung und Mord ganze Landstriche eroberten und deren Ressourcen ausplünderten, dann geschah dies sicher nicht aus der verdrängten Aggression früherer erfahrener Gewalt. Es gibt genügend Schilderungen des Verhaltens jüdischer bzw. zionistischer Kolonisatoren, welche die als Naturressource vorgefundenen Araberinnen und Araber nicht anders behandelt haben, als dies anderswo in Afrika, Asien oder Lateinamerika geschah.

Nur – in diesem konkreten Fall mag es durchaus sein, daß eine Gewalt, die man und frau gegen deutsche Täter nicht ausleben konnte, später an unerwarteter Stelle zum Durchbruch kommt. Dies führt mich jedoch zu einer anderen Fragestellung. Mit welchem Recht maßen sich Deutsche an, Israelis für ihre Methoden der Kriegsführung zu kritisieren? Der Vorwurf erhält oftmals eine pikante Note. Haben die Jüdinnen und Juden Israels aus der Geschichte nichts gelernt? Müßten sie aufgrund ihrer Erfahrungen nicht die besseren Menschen sein? Warum eigentlich? Sind Opfer die besseren Menschen? Oder soll es uns nur sagen: ihr wart das Opfer nicht wert? [14]

Spätestens im Mai 1945 wurden zwar die Überlebenden der deutschen Lager befreit – aber die psychische Befreiung von unvorstellbarem Leid ist damit doch nicht verbunden gewesen. Schon gar nicht in Verhältnissen, welche Menschen abverlangen, mit den eigenen Problemen möglichst selbst fertig zu werden.

Hinzu kommt: ein deutscher Diskurs, der das eigene Leid in den Mittelpunkt stellt, ein Diskurs, der ausblendet, daß es eine deutsche Gewaltgeschichte gewesen ist, die sich jetzt gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser wendet, ist einfach unehrlich und widerlich. Es besteht ja wohl ein Unterschied zwischen Bombennächten und Auschwitz, zwischen Tätern und Opfern.

 

Erzählte Geschichte

Mitte der 80er Jahre kam Dan Bar–On nach Deutschland, um in einer Studie herauszufinden, wie Kinder von NS–Tätern mit dem Erbe ihrer Väter fertig werden würden. Was bringt einen jüdischen Israeli dazu, die Nachfahren deutscher Täter aufsuchen und mit ihnen über ihr Leben zu reden? Daß daraus nicht nur eine Selbsthilfegruppe entstehen würde, sondern auch eine Initiative, welche die Kinder deutscher und jüdischer Überlebenden zusammenbringen würde, konnte er ja nicht ahnen. Daß diese jüdisch–deutsche Gruppe auf die Idee kommen würde, ihre Erfahrung der Suche nach Verständigung auch für andere Konfliktregionen nutzbar zu machen, lag erst recht nicht in der Luft. Genau das aber geschah 1998. Menschen aus dem nordirischen, dem südafrikanischen und dem israelisch–palästinensischen Konflikt trafen mit den TeilnehmerInnen der ursprünglichen Gruppe zusammen. Auch hier galt es, andere Geschichten anzuhören und auszuhalten. Zuhören wurde wichtiger als Reden. Allerdings zeigte sich auch, daß das Muster nicht beliebig übertragbar war. Aktuelle Konflikte bergen ein gänzlich anderes Gewaltpotential in sich als die Aufarbeitung einer lange zurückliegenden Kindheit.

Eine weitere wichtige Erkenntnis ist, daß ein solcher Prozeß im Mikrokosmos nur dann ausstrahlen kann, wenn die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen dies zu lassen. Gerade im israelisch–palästinensischen Fall zeigt sich, daß es wenig Sinn macht, um Vertrauen zu werben, wenn parallel dazu die mörderische Gewalt auf beiden Seiten weitergeht. Hinzu kommt, daß eine Ungleichverteilung von Macht und Ressourcen vorliegt. Das betrifft nicht nur die Frage, wer politisch, wirtschaftlich und militärisch stärker ist. Es geht auch darum, wer die Definitionsmacht hat, wessen Sprache benutzt wird, wer sich auf heimischerem Terrain bewegt. Eine Erfahrung, die Dan Bar–On immer wieder in seinen Seminaren machen mußte.

Mitte der 90er Jahre dachte er über einen Perspektivwechsel nach. Er wollte seine Arbeit nicht auf den Holocaust und die Beschäftigung mit den Narben der Täterkinder reduziert sehen. Da er annahm, daß seine Forschungen auch für Konflikte der Gegenwart nutzbar gemacht werden könnten, wollte er seine Erfahrungen auf den israelisch–palästinensischen Friedensprozeß anwenden:

Den ehemaligen Feind in den Köpfen der Israelis in einen echten Partner zu verwandeln, erforderte viel Vertrauen und Hoffnung, und ich wusste aus meinen Holocaust–Studien, dass dies keine sonderlich weit verbreitete Geisteshaltung innerhalb der jüdischen Gesellschaft war. Es gab Gründe, anzunehmen, dass man das gleiche auch über die Palästinenser sagen könnte, insbesondere, da sich die Situation nicht dramatisch verändert hatte und die Besatzung weiterhin ihr Leben bestimmte. [15]

Die Darstellung der israelisch–palästinensischen Projekte macht den größten Teil des Buches Erzähl dein Leben! aus. In diesem Teil findet sich die Hoffnung wieder, daß Vertrauen von unten wachsen muß und auch wachsen kann; und es findet sich die Frustration wieder, wenn ein solcher Prozeß an seine objektiven Schranken stößt. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit der Palästinenserinnen und Palästinenser in den besetzten Gebieten ist da noch das geringere Problem. Das Problem ist eigentlich eher die eingeschränkte Bewegungsfreiheit in den Köpfen der Menschen. Die Befreiung der einen war nicht gerade die Freiheit der anderen.

Die Geschichte Israels ist ohne die Kriege gegen seine Nachbarn nicht zu verstehen. Die Bunkermentalität schlägt sich nicht zuletzt in den Köpfen wieder – auf beiden Seiten. Das Projekt eines gemeinsamen israelisch–palästinensischen Schulbuchs ist sicher gut gemeint. Ein Schulbuch, in dem die Geschichte Israels und Palästinas in zwei Fassungen nebeneinander steht, um die andere Seite besser kennen zu lernen. Aber wird die Geschichte nicht immer noch auf der Straße gelernt, auf der Straße der Gewalt?

Ein anderes Projekt führte Dan Bar–On in seine Heimatstadt Haifa zurück. Er wuchs mit der zionistischen Erzählung der Staatsgründung auf – und hierin spielte Haifa und die Flucht seiner arabischen Bevölkerung eine wichtige Rolle. Im Jahr 2000 begann er, etwa 40 Juden und Araber, Moslems und Christen, Männer und Frauen, zu befragen. Dabei kam eine wesentlich vielschichtigere Darstellung der Ereignisse heraus, als sie in jedem Geschichtsbuch zu finden ist.

 

Illusionen

Dan Bar–On warnt davor, sich Illusionen über die Möglichkeit rascher Veränderungen zu machen. Seine Projekte waren begrenzt und bewegten sich nicht im gesellschaftlichen mainstream. Der Prozeß, der Bewußtsein von unten nach oben fördern will (bottom up), bedarf der Begleitung durch den politischen Willen, der von oben nach unten durchgesetzt wird (top down):

Sicherlich kann unsere Arbeit auch eine positive Wirkung haben, wenn sie zeitlich mit top down verlaufenden gesellschaftlichen und politischen Prozessen übereinstimmt. Man könnte sagen: Wenn der politische Prozess ohnehin zu dieser Zeit stattfand und die erwartete gesellschaftliche Veränderung bewirkte, wozu braucht man dann überhaupt noch Projekte an der Basis, die bottom up wirken sollen? Die politischen oder wirtschaftlichen Prozesse werden den gesellschaftlichen Wandel mit sich bringen […]. Diese Kritik ist nicht so leicht von der Hand zu weisen. [16]

Doch woher sollen die politischen Veränderungen kommen? Es gibt eine Schwachstelle in Dan Bar–Ons Ausführungen – und sie betreffen das Wesen der Politik. Es geht ja nicht darum, ob politische Führer oder gesellschaftliche Multiplikatorinnen mit ihrer Definitionsmacht die Lösung für ein Problem initiieren oder gar durchsetzen. Es geht nicht um guten Willen, sondern um Realpolitik, also um Macht. Israel braucht Palästina, und zwar ein Palästina, das billige Arbeitskräfte und landwirtschaftliche Produkte liefert. Mitunter fällt hier der Begriff der Apartheid. Israel bewegt sich wie Palästina im globalen Kapitalismus. Und es gelten dessen Gesetze.

Die Erwartung oder die Illusion einer neuen Ära nach dem Ende des Kalten Krieges beruhte auf der Annahme, dass die westliche Welt nun endlich in der Lage wäre, sich zu entspannen und sich auf einige globale Probleme zu konzentrieren, die viele Jahre lang vernachlässigt worden waren: Hunger, Gesundheit, Umwelt und Bildung. Es bestand die Illusion, dass der Wohlstand der westlichen Welt und der Prozess der Globalisierung große Teile der weniger Privilegierten positiv beeinflussen würden. Aber als Psychologen mit unserem Wissen über unterdrückte soziale Prozesse hätten wir wissen können, dass die Erwartungen keine soliden Fundamente besaßen: Während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs waren so viele negative Emotionen von so vielen Individuen und so viele gesellschaftliche Agenden der Vergangenheit unterdrückt, verschwiegen und nicht verarbeitet worden, dass ihr chaotischer Ausbruch nach dem Ende der deterministischen und scheinbar stabilen Polarisierung zwischen zwei großen Weltmächten durchaus vorhersehbar gewesen wäre.
Als Psychologen hätten wir es wissen sollen. Aber wir wollten zu sehr an die Illusion einer neuen Ära glauben. Wir selbst sind ja ein Teil der Gesellschaft und ihrer Wünsche. [17]

Die Psychologinnen und Psychologen sind genauso in den Lebenslügen des Kapitalismus gefangen wie ganz normale Sterbliche auch. Dennoch zeigt das Buch von Dan Bar–On Möglichkeiten auf, die damit verbunden sind, wenn wir uns in begrenzten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einfach nur einmal genauer zuhören. Wer ein Interesse an emanzipatorischen Fortschritten hat, kommt an derartigen Erfahrungen (und somit auch an den Büchern Dan Bar–Ons) nicht vorbei.

Dan Bar–On beschreibt in seinem autobiographischem Buch Erzähl dein Leben! seine eigenen Wege zur Dialogarbeit und politischen Verständigung. Der Band ist letztes Jahr in der edition Körber–Stiftung erschienen und kostet 14 Euro.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte –

heute zum Thema Befreit und doch nicht befreit. Ein sexistisches Arbeitsangebot einer Arbeitsagentur führte mich zur Entstehungsgeschichte der Prostitution. Im zweiten Teil ließ ich den israelischen Psychologen Dan Bar–On sein Leben erzählen. Die beiden dabei vorgestellten Bücher waren:

Die nicht befreiten Deutschen des Mai 1945 bauten eine neue Republik auf und entsorgten ihre Vergangenheit. Sie verdrängten sie nicht; denn sie wußten genau, was sie getan haben. Aber sie bemühten sich jahrzehntelang, das Offensichtliche umzudeuten. Die Brandkatastrophenbücher von Jörg Friedrich sind ein gutes Beispiel für die nachträgliche Umschreibung der eigenen Geschichte.

Der Historiker Hannes Heer, Leiter der ersten Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, sprach am 26. April [2005] in Darmstadt über das Verschwinden der Täter. Einen Mitschnitt seines anregenden und ziemlich klaren Vortrags werde ich in meiner nächsten Sendung in zwei Wochen, also am Montag, den 23. Mai, senden. Zu hören auch in der Wiederholung am Dienstag, den 24. Mai, morgens um 8 und nachmittags um 14 Uhr.

Nächste Woche könnt ihr auf diesem Sendeplatz Katharina Mann und Niko Martin mit ihrem Blick hinter die Spiegel hören; jetzt folgt nickelodeon mit Gerhard Schönberger. Für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt verabschiedet sich Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Siehe seinen von mir als rassistisch und in der Wahl seiner Beispiel auch als sexistisch beanstandeten Sendebeitrag "Gesellschaftlicher Konsens für alle", in dem er die kapitalistische Kleiderordnung als selbstverständlich bezeichnet hat. Dokumentiert als Anmerkung 3 meiner Sendung Zensur vom 20. April 2005.
[2]   Kai Appen : Ein Job wie jeder andere, in: taz (Hamburg) vom 18. Dezember 2004. Siehe auch seinen Artikel Prostitution im Prinzip zumutbar in der taz vom 18. April 2005.
[3]   Siehe hierzu die Dokumentation Hartz IV: Vermittlung ins Bordell.
[4]   Siehe hierzu auch meine Besprechung des Ausstellungskatalogs Gesichter des Orients – 10.000 Jahre Kunst und Kultur aus Jordanien in meiner Sendung Von Jordanien nach Byzanz am 22. November 2004.
[5]   Henry W.F. Saggs : Völker im Lande Babylon, Seite 64. Das Töten männlicher Kriegsgefangener war und ist nicht auf Babylonien beschränkt. Solange männliche Sklaven nicht beherrschbar waren, wurden sie für wertlos erachtet und einfach getötet. Frauen wurden in der Regel durch Vergewaltigung unterworfen und fügsam gemacht. Prostitution bedarf fügsamer Frauen.
[6]   Unsinnig ist es jedoch, Babylon als Musterbeispiel für Dekadenz zu bezeichnen. Der Untergang großer Reiche liegt nicht in Luxus, Ausschweifung oder Dekadenz begründet. Frühe Reiche (und das gilt bis ins Mittelalter hinein) können sich nur solange behaupten, wie es ihnen gelingt, die hierfür notwendigen Ressourcen aufzubringen – entweder durch Expansion nach Außen oder durch intensivierte Ausbeutung nach Innen.
[7]   Gerda Lerner : Die Entstehung des Patriarchats, Campus Verlag, Studienausgabe 1995. Gerda Lerner untersucht die Entstehungsgeschichte des Patriarchats vorzugsweise anhand vorderasiatischer Quellen aus den letzten drei Jahrtausenden vor unserer Zeitrechnung.
[7a]  Meine Besprechungen der drei Bücher von Dan Bar–On:
[8]   Dan Bar–On : Erzähl dein Leben!, Seite 12
[9]   Dan Bar–On, Seite 27–28
[10]  Dan Bar–On, Seite 32
[11]  Dan Bar–On, Seite 37
[12]  Dan Bar–On, Seite 48. Geradezu typisch ist die nach außen getragene Darstellung guter und liebevoller Familienväter, die in ihrem wirklichen Leben knallharte Banker, Politiker, Wirtschaftsbosse oder KZ–Aufseher waren und sind. Der sich darin aufzeigende Widerspruch ist keiner. Es wäre eher danach zu fragen, wie sich beides innerhalb einer Familienstruktur vereinbart und welche Traumata und Macken dies bei den Kindern derartiger Väter hinterläßt.
[13]  Dan Bar–On, Seite 87–88

[14]  Der Verschwörungstheoretker Gerhard Wisnewski hat diesen Sachverhalt auf seinen antisemitischen Punkt gebracht, als er auf seiner Homepage schrieb:

Die Verbrechen an den Juden haben ein Recht auf einen angemessenen Platz in der Geschichte. Sie haben ein Recht darauf, daß man an sie denkt und sich ihrer als Warnung erinnert – auch als Warnung vor Verbrechen der Juden. Denn sonst wäre das Opfer Millionen jüdischer Menschen völlig umsonst gewesen.

Dies war zumindest noch im August 2003 nachzulesen. Soll heißen: die Verbrechen an den Juden haben ein Recht auf einen angemessen Platz in der Geschichte. Vor allem haben die von uns begangenen Verbrechen das Recht, euch Juden daran zu erinnern, euch gefälligst nicht so aufzuführen, weil … ihr erinnert euch ja, was mit euch passiert ist. Weil: wenn ihr so weiter macht, war das Opfer von Millionen Menschen völlig umsonst. Natürlich hat Wisnewski das ganz gewiß nicht antisemitisch gemeint, schon gar nicht die daraus unausgesprochene Konsequenz, aber er hat es so geschrieben. Siehe ausführlich hierzu auch das Sendemanuskript zu meiner Sendung Antisemitismus vom 11. August 2003.

[15]  Dan Bar–On, Seite 93
[16]  Dan Bar–On, Seite 222
[17]  Dan Bar–On, Seite 230. Selbstverständlich ist es eine weitere Illusion, auch nur daran zu denken, der globale Kapitalismus und seine Manager könnten auf die absurde Idee kommen, Hunger und Kriege für überflüssig halten. Der Sinn einer kapitalistischen Gesellschaft liegt nun einmal nicht darin, lebenswerte Verhältnisse für alle Menschen zu schaffen. Auch wenn Dan Bar–On sich in den 70er Jahren der Linken zugehörig fühlte und es womöglich auch heute noch tut – ein bißchen mehr und radikalere Kapitalismuskritik könnte seinen Illusionen nur gut bekommen.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 17. Dezember 2005 aktualisiert.
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