Kapital – Verbrechen

Ästhetische Fragen

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
In der Sendung vom 29. November 2005 stellte ich potentielle Weihnachtsgeschenke vor: ein zeitgemäßes Lexikon, ein Fußballbuch und einen Band über versunkene Kulturen Südamerikas.
 
Sendung :
Kapital – Verbrechen
Ästhetische Fragen
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 28. November 2005, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Montag, 28. November 2005, 23.10–00.10 Uhr
Dienstag, 29. November 2005, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 29. November 2005, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Gerd Fischer / Jürgen Roth : Ballhunger. Vom Mythos des brasilianischen Fußballs, Verlag Die Werkstatt
  • Lexikon des frühen 21. Jahrhunderts, Süddeutsche Zeitung Edition
  • René Oth : Völker der Sonne. Versunkene Kulturen Südamerikas, Theiss Verlag
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/kv/kv_aesth.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Das Alphabet des Zungenkusses
Kapitel 3 : Der Hunger nach der Delikatesse
Kapitel 4 : Ein Huhn und sein Schlachter
Kapitel 5 : Goldenes Sonnenbad
Kapitel 6 : Schluß
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

Es weihnachtet. Nun gut, das tut es jedes Jahr. Und immer mit der gleichen inbrünstigen Penetranz des Geschäftemachens. Nun will ich mich nicht darüber beschweren, daß aus dem Fest der Liebe das Fest der käuflichen Liebe geworden ist. Das wäre so albern wie: als wenn ich darüber lamentieren würde, daß deutsche Soldaten töten. Das ist schließlich ihr Job, derzeit zumindest wenn sie am Hindukusch unser Vaterland verteidigen. Aber wie heißt es so schrecklich: heute am Hindukusch – und morgen die ganze Welt.

Nein, das Fest der käuflichen Liebe hätte erfunden werden müssen, wenn es im kapitalistischen Kirchenkalender nicht schon das passende Ereignis gegeben hätte. Es ist schon alles in Ordnung so. Und doch stellt sich die Frage: in was für einer bescheuerten Welt leben wir eigentlich, in der wir uns Wärme, Zuneigung und Liebe mit immer ausgefalleneren Geschenken erkaufen müssen? Die neoliberale Individualisierung setzt den Trend der kapitalistischen Atomisierung fort, entfremdet begegnen wir uns, benutzen wir uns, kaufen wir uns gegenseitig … irgendetwas ab.

Zwar kaufen wir uns zuweilen auch selbst etwas, um unsere geschundene Seele in einer komplett durchgedrehten entfremdeten Welt ein wenig zu laben. Doch meist werfen wir möglichst viel Geld zum Fenster heraus, um unsere Lieben und Nächsten davon zu überzeugen, daß sie uns auch im kommenden Jahr wohlgewogen sind. Man und frau weiß ja nie, wozu das gut ist. Der Vermieterin ein kleines Präsent, damit sie beim Hausputz ein Auge zudrückt, dem Arbeitgeber ein kleines Geschenk, damit er andere rausschmeißt (und nicht mich), dem Geschäftskunden einen Pornokalender, weil man sich ja einig darin ist, daß Frauen nur zum Benutzen da sind.

Von Geschenken handelt auch meine heutige Sendung. Denn was passiert, wenn wir uns auf Geschenkejagd begeben? Nun, meist fällt uns ja doch immer wieder dasselbe ein. Manche Männer könnten inzwischen einen Krawattenladen aufmachen, manche Frauen eine eigene Haushaltswarenabteilung im Luisencenter. Und wem nun wirklich nicht einmal hierzu etwas einfällt, geht in die nächste Buchhandlung oder die Plattenabteilung eines Großmarktes und deckt sich mit Büchern und Platten ein, die man oder frau selbst weder lesen noch hören würde. Aber anderen tut man und frau so etwas gerne an.

Der Buchhandel erwartet natürlich einen immensen Umsatz, ungeachtet der Tatsache, daß die Lesekompetenz in diesem Land nicht gerade zu den intellektuellen Errungenschaften des neoliberalen Zeitalters gehört. Während dessen sind CDs oder DVDs schon deshalb der Renner, weil Kids und Erwachsene dabei nichts denken müssen und sie diese auch im Hintergrund mit voll aufgedrehten Lautsprechern abdudeln lassen können. Wenn ich mir bei Radio Darmstadt die Stellung des Lautstärkereglers für den angeschlossenen Kopfhörer hier am Mischpult betrachte, dann muß ich davon ausgehen, daß die Hälfte der in diesem Land lebenden Menschen längst taub ist.

Stille ertragen offensichtlich inzwischen die wenigsten. Ohne die gewohnte Unruhe, die permanente Mobilisierung für den Ausnahmezustand Kapitalismus, werden wir unruhig und sehnen uns nach der nächsten zudröhnenden Ablenkung. Übertreibe ich? Nun, dann wartet auf das frohe Fest und überlegt euch, was denn die anderen sich dabei gedacht haben mögen, euch die Ladenhüter des ablaufenden Jahres 2005 anzudrehen.

Ich hingegen denke: erstens schadet es nichts, sich selbst etwas Gutes zu tun, und sei es, einmal ein gutes Buch zu lesen. Und zweitens schadet es nichts, auch Bücher zu verschenken, die nach einmaligem Gebrauch nicht gleich im Bücherschrank verstauben – oder die auf dem nächsten Flohmarkt auf dem Karolinenplatz vertickt werden müssen. Vor vielen vielen Jahren gab es in meiner Familie väterlicherseits ein Geschenk, das so begehrt war, daß es zu jedem passenden und unpassenden Anlaß weiter verschenkt wurde, bis es nach einigen Jahren zum Ausgangspunkt zurückkehrte. Ihr mögt euch denken, wie peinlich berührt die hiervon Beschenkten gewesen sind. Aber so ist das eben im Kapitalismus: nichts ist peinlich genug, als daß es nicht doch geschieht.

Willkommen im Leben!
Beziehungsweise: willkommen in einem Leben, an dem nur teilhat, wer genügend Kohle aufbringen kann, um sich seinen oder ihren Anteilsschein am Leben einzukaufen. Das kapitalistische Leben ist so betrachtet eine Börse: nur wer den Schein des Seins am besten verkaufen kann, wird an dieser Börse hoch notiert. Wer ausgemustert wird, die Leistungsanforderungen oder das Schönheitsideal nicht erfüllt, wer nicht kuscht und schleimt, wer in einer behindertenfeindlichen Welt sich durchschlagen muß oder ins Altenheim abgeschoben wird, hat geloost: der Börsenkurs des Lebens fällt tief in den Keller.

Und auch dieses Jahr sind wieder einmal zehn Millionen Kinder nur deshalb krepiert, weil ihre Aktien weder für Brot noch für sauberes Wasser oder gar für einfachste Medikamente eingetauscht werden konnten. Von Kleidung, Bildung, gar Respekt und Zukunftschancen reden wird hier besser erst gar nicht.

Der Markt ist alles und du bist nichts. Nicht mal Deutschland.
Apropos: Du bist Deutschland. Nicht nur, daß das Logo der Kampagne dem Olympiaemblem von 1992 täuschend ähnlich sieht, nein, auch Adolf Hitler wußte schon um die Propagandawirkung dieses Wahlspruchs. 
[1]

Na denn – fröhliche Weihnachten!

 

Das Alphabet des Zungenkusses

Besprechung von : Lexikon des frühen 21. Jahrhunderts, Süddeutsche Zeitung 2005, 233 Seiten, € 18,00

Angeblich leben wir ja in einer Wissensgesellschaft. Unser Bildungshunger ist so groß, daß wir unsere Kids schon mit Informationen vollstopfen, ehe sie ihr erstes Förmchen im Sandkasten eingegraben haben. Kein Wunder, daß die Kids von heute schon früh verhaltensauffällig werden, daß sie – von ihrer Umgebung zu permanenter Mobilität gezwungen – hyperaktiv durch die Gegend gurken oder auch umgekehrt apathisch in der Ecke hocken. Wir werden noch sehen, was für Monster der neoliberale Bildungsdrill hervorbringt.

Müssen wir alles wissen? Nun – ein gewisser Herr Küstenmacher beglückt uns damit, wir könnten unser Leben radikal vereinfachen – simplify your life –, und er erzählt dabei einen so blühenden Unsinn, daß selbst die Gebildetesten darauf hineinfallen. Ein Beispiel gefällig? Nun – so meint der Meister – man könne komplette Bibliotheken entsorgen, weil das notwendige Wissen im Internet jederzeit zur Verfügung stehe. Ist dem so? Also – meine Bibliothek finde ich im Internet nicht wieder, und wenn ich einmal ernsthaft nach einer in sich stimmigen Darstellung zu einem bestimmten Thema suche, dann bin ich aufgeschmissen. Wenn man und frau bedenkt, daß die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes keinen permanenten Internetzugang haben, dann müssen wir diesen Ratschlag als einen schlechten, um nicht zu sagen: simplen, Scherz begreifen.

Und dabei habe ich noch nicht davon gesprochen, daß selbst die Lexikonseiten der Wikipedia von haarsträubenden Fehlern x–beliebiger Möchtegernredakteure gefüllt sind, und für die Zukunft des Internets ist nicht abzusehen, ob nicht irgendwann doch jede Information teuer erkauft werden muß – im Ansatz ist das Phänomen schon heute eine Plage.

So sind wir doch wieder auf die klassischen Lexika angewiesen, um bestimmte Sachverhalte nachzuschlagen. Doch deren Halbwertszeit schrumpft rapide. Wer von uns kann es sich schon leisten, sich jedes Jahr zu Weihnachten sozusagen ein Lexikon-Update zu schenken oder schenken zu lassen? Doch es gibt Abhilfe. Mit seinem Lexikon des frühen 21. Jahrhunderts verhilft uns der Verlag der Süddeutschen Zeitung zu einem aktuellen Nachschlagewerk, das in einzelnen Passagen schon fast wieder unaktuell ist. Die drei Herausgeber schreiben:

Einige Begriffe, im Jahr 2001 und 2002 noch in aller Munde, haben jetzt schon einen leicht befremdlichen Klang und werden in einigen Jahren vermutlich nur noch mit Mühe zuzuordnen sein. [2]

Unter A finden wir nicht nur mit dem A380 das derzeit größte Passagierflugzeug – also eine der größten Lärm– und Dreckschleudern (was im Lexikon wiederum nicht steht) –, sondern auch den abgetrennten Jeansbund oder die Achse des Bösen. Die magische Zahl 18 spielte nur im Jahr 2002 eine Rolle, die desaströsen Auswirkungen der Agenda 2010 werden uns hingegen noch länger beschäftigen. Alcopops waren der Renner des Jahres 2004, bis eine Steuererhöhung auf diese Jugendgetränke zu einem drastischen Konsumrückgang führte. Schließlich soll ein guter jugendlicher deutscher Spießbürger zu deutschem Bier, deutschem Wein und den nicht ganz so deutschen Rauchwaren zurückkehren, wenn er sich an Ankes Late Night ergötzt oder in die neudeutsch Arena genannten Fußballstadien auf Schalke, in Hamburg oder München pilgert.

Ohne jetzt das ganze Alphabet des frühen 21. Jahrhunderts durchwandern zu wollen, sei auf die Aktualität hingewiesen. Unter B finden wir Bachelor wie auch Banda Aceh, Benedikt XVI. und die Besenkammern, in denen Sex durchaus finanzträchtige Folgen haben kann. In Beslan besetzten am 1. September 2004 wahrscheinlich tschetschenische Geiselnehmer eine ganze Schule; beim Sturmangriff der russischen Truppen wurden 330 Menschen getötet. Betont vorsichtig, wie ein solches Lexikon einer gutbürgerlichen Zeitung nun einmal ist, heißt es:

Zeugen geben den russischen Sondereinheiten erhebliche Mitschuld am Ausgang der Geiselnahme. [3]

Dabei ist es doch so, daß ohne die terroristische Besetzung Tschetscheniens durch die Truppen des Schröder–Freundes Putin es keine Geiselnahme gegeben hätte. Und was den Sturmangriff betrifft: Putins Truppen scheren sich grundsätzlich einen Dreck um Zivilistinnen und Zivilisten, wie die Erstürmung eines Theaters in Moskau im Oktober 2002 gezeigt hat:

Der russische Präsident Wladimir Putin brachte lieber 20% der Geiseln durch den Einsatz von Giftgas um, als den berechtigten Forderungen der Geiselnehmer nach Beendigung eines der barbarischsten Kriege der letzten Jahrzehnte und dem Abzug der russischen Truppen aus Tschetschenien zuzustimmen. [4]

Dies sagte ich als Fazit der Geiselnahme vor drei Jahren auf diesem Sender. Womit ich sagen will: auch ein Lexikon des frühen 21. Jahrhunderts hält sich an die Gepflogenheiten seiner Branche, sich lieber nicht aus dem Fenster zu lehnen oder gar Position zu beziehen. Nun mag dies nicht die Aufgabe eines Lexikons sein, aber dann bleibt auch der Wert der darin vermittelten Information unvollständig.

Und wir sind immer noch bei B. Da gibt es betriebsbedingte Kündigungen, die Ausdruck einer asozialen Realität sind, Bierdeckel, auf denen für die Ausführenden selbiger Kündigungen niedrige Steuersätze ausbaldowert werden, wobei dies absolut wirklichkeitsfremd ist: Ein guter Kapitalist zahlt keine Steuern. Sonst wäre er ja plem–plem; aber dieses Wort fehlt dann auch.

Buchcover Lexikon des frühen 21. JahrhundertsWeiter geht's mit Big Brother, den Billigfliegern, bin Laden und der Biometrie – und ohne, daß unsere Lexikonredakteure dies bemerkt hätten, passen diese vier hintereinander folgenden Stichworte perfekt zusammen. Noch einmal: Big Brother, Billigflieger, bin Laden und Biometrie. Mit dem richtigen Lesegefühl erschließen sich bei der Lektüre gleich ganz neue Erkenntnisse. Nehmen wir Harry Potter. Im Lexikon heißt es:

Die Kritiker bewerten den Erfolg der Bücher unterschiedlich. So wird bemängelt, die Romane seien lediglich aus Versatzstücken von »Star Wars«, »Herr der Ringe« und der König–Artus–Sage zusammengebastelt. Eher progressive Rezensenten lesen hingegen klassische Popmotive wie Weltverdrossenheit, Sinnsuche und jugendlichen Freiheitsdrang heraus. Für den subversiven Charakter von P. spricht auch der Umstand, dass die Bücher wegen ihrer vermeintlichen Nähe zum Okkulten in mehreren Bundesstaaten der USA aus den öffentlichen Bibliotheken verbannt wurden. Auch Papst Benedikt XVI. riet von der Lektüre ab. [5]

Genau betrachtet, ist das alles Geschwätz, obwohl es eine hilfreiche Einschätzung sein soll. Wie Kritikerinnen und Kritiker irgendetwas bewerten, ist ihre subjektive Einschätzung, die rein zufällig dadurch Gewicht erhält, daß sie über Zeitung X oder Magazin Y ein größeres Publikum mit ihrer Meinung berieseln dürfen. Was das Progressive an Rezensenten sein mag, die Sinnsuche und jugendlichen Freiheitsdrang aus diesen Büchern herauslesen, erschließt sich mir nicht. Auch reaktionäre Autorinnen und Autoren besangen und besingen das Motiv ungebändigten Freiheitsdranges. Die Freiheit der einen ist der Massenmord an den anderen – siehe Sklaverei und Ausrottungskriege in den USA. Daß deren freiheitsliebende Bewohnerinnen und Bewohner zuweilen nur noch gaga sind, hat sich auf diesem Erdball so langsam herumgesprochen – ein Beleg für einen subversiven Charakter von Harry Potter ist eine Verbannung aus dem Lesesaal in den USA jedoch nicht. Und der Papst empfiehlt ohnehin nur ein Buch und kann die Konkurrenz eines erfolgreichen Rivalen um okkulte Mächte nicht ertragen.

Dabei ist Harry Potter genau das, was den Bildungsnotstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts ausmacht. Früher haben die Erwachsenen natürlich auch immer vor Schundliteratur gewarnt und für ihre Kinder nur die echte wahre deutsche Bildung für gut befunden. Vergessen wir dabei nicht, daß zwischen dem Land der Dichter und Denker und dem der Richter und Henker kein Unterschied besteht. Es ist dieselbe Denkungsart. Das läßt die Kids von heute jedoch kalt – selbstverständlich gehen sie lieber ins Kino, als sich durch einen Wälzer hindurchzulesen.

Ihr seht, so ein Lexikon des frühen 21. Jahrhunderts kann sehr anregend sein und vielfältige Assoziation hervorrufen, selbst solche, an welche die Autoren nie und nimmer gedacht haben mögen. Der mit einem Zungenkuss endende Band hat 233 Seiten, ist im Verlag der Süddeutschen Zeitung herausgekommen und kostet 18 Euro. Solltet ihr noch Schlafmünzen finden – es gibt sicher auch Buchhandlungen, die euch das Geld des 20. Jahrhunderts abnehmen.

 

Der Hunger nach der Delikatesse

Besprechung von : Gerd Fischer / Jürgen Roth – Ballhunger. Vom Mythos des brasilianischen Fußballs, Verlag Die Werkstatt 2005, 286 Seiten, € 18,00

Die Fußball–Weltmeisterschaft steht vor der Tür; und ihr werdet in den kommenden Monaten erschlagen mit Weisheiten, die aus Fernsehgeräten, Rundfunkempfängern, Zeitungen und natürlich auch aus allerlei Büchern herausquillen. Daß der Ball rund ist, ist so banal, daß in den USA der football dann doch lieber ein Ei ist. Und selbstverständlich wissen wir alle, daß in Brasilien der schönste und erfolgreichste Fußball gespielt wird, wenn auch die Erklärungsansätze zwischen dumpfer rassistischer Attitüde und modernem Kulturalismus changieren.

Buchcover BallhungerGerd Fischer und Jürgen Roth haben sich in ihrem Buch Ballhunger aufgemacht, diesen Mythos etwas näher zu untersuchen; und in ihrem einleitenden Kapitel wollen sie schier endlos nicht zu Potte kommen, ob denn jetzt etwas dran ist oder nicht. Eines ist sicher: in diesem 286 Seiten umfassenden Band wird es einem oder einer nie langweilig, so sich er oder sie überhaupt für Fußball interessiert. Zwar zitieren sie häufiger aus Alex Bellos' Futebol; und wer das Buch gelesen hat [6], mag hie und da ein wenig ungeduldig werden. Aber das wäre ein Fehler, denn die beiden Autoren nutzen auch Bellos' grandioses Werk dazu, sich ein eigenes Bild von der Wirklichkeit zu verschaffen.

Machen wir's kurz: die brasilianische Meisterschaft wird in einer üblen Klopperliga entschieden. Und dennoch wird dort der Fußball zuweilen mit einer Grazie gespielt, wie sie in Deutschland allenfalls einmal am 20. Oktober 1971 zu sehen war, als Borussia Mönchengladbach den härtesten Beton der Welt mit Leichtigkeit und Eleganz austanzte und an einer ordinären Büchse scheiterte.

Günter Netzer hat natürlich Recht, wenn er meint, wir würden nie Brasilianer, aber das ist so banal, daß es eigentlich keiner Rede wert ist. Schließlich kommen die Brasilianer in die Bundesliga, nicht immer gut bezahlt oder gar gut behandelt. Deutsche Profis in Brasilien? Obwohl – da könnten sie glatt etwas für's Leben lernen. Zum Beispiel die brasilianische Weisheit, wenn du schwarz und reich bist, muß dein Name Pelé sein. Pelé ist einer der wenigen, die wirklich Oben angekommen sind, und er hat sich sein ganzes Leben lang auch dafür verbogen. Andere waren nicht so clever. Garrincha zum Beispiel, das lustigste Huhn auf dem Fußballplatz und gleichzeitig der Schrecken jeder Abwehr. Schwarze Fußballstars hatten dennoch nicht viel zu lachen und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde mit jedem Trick gearbeitet, um sie vom Spielen abzuhalten.

Artur Friedenreich, der vielleicht beste Fußballer Brasiliens im ersten Vierteljahrhundert des 20. Jahrhunderts, wurde nur in seinen Club aufgenommen, weil sein Vater Deutscher war und er auch Deutsch sprach. Dennoch lief er immer als letzter auf den Fußballplatz, weil er sich in der Kabine seine krausen Haare glatt bürsten mußte. Friedenreich führte Brasilien 1919 zum ersten Titelgewinn überhaupt bei der Copa América. Das hinderte den Staatspräsidenten Pessoa nicht daran, höchstpersönlich zu dekretieren, nur weiße Brasilianer dürften das Trikot der Nationalelf tragen. Es kam, wie es kommen mußte. Brasiliens Stolz verlor seinen Titel. 1922 hielt der Präsident vorsichtshalber die Klappe und Brasilien gewann mit Friedenreich den Titel ein zweites Mal.

Und damit wir das auch richtig verstehen, warum Deutsche nie Brasilianer werden, sei darauf hingewiesen:

Der Verein übrigens, der bis 1952 und damit länger als alle anderen großen brasilianischen Klubs an dem rassistischen Dogma festhielt, nur weiße Spieler zu beschäftigen, heißt Grémio Foot-Ball Portoalegrense. Er wurde am 15. September 1903 in Pôrto Alegre von deutschen Einwanderern gegründet. [7]

Gerd Fischer und Jürgen Roth lassen uns noch einmal teilhaben am "tosendsten Schweigen in der Geschichte des Fußballs", wie der uruguayische Schriftsteller Eduardo Galeano das brasilianische Trauma von 1950 umschrieben hat, als Alcides Eduardo Ghiggia elf Minuten vor dem Schlußpfiff Uruguay zur zweiten Weltmeisterschaft schoß. Sie erzählen weiter aus dem Leben der brasilianischen Legende Pelé, dem besten Fußballer des Erdballs und dem zweitbesten Brasiliens. Sein Ruhm kam mit dem Fernsehen, die Weltmeisterschaft von 1958 war die erste, die übertragen wurde. 1970 war er Star eines genialen Ensembles, das in Mexiko zum dritten Mal den Titel gewann. Dann kamen 24 Jahre der Erstarrung. Das lag nicht am Rücktritt Pelés, sondern daran, daß sich weltweit in der Spielauffassung einiges verändert hatte.

 

Ein Huhn und sein Schlachter

Fußball ist im Grunde genommen eine Mischung aus individuellen Fähigkeiten und kollektivem Zusammenspiel. Je nachdem, wo der Schwerpunkt gesetzt wird, kommt ein gänzlich anderes Spiel dabei heraus. Die 70er Jahre brachten einen ungeheuren Schub – es wurde immer schneller gespielt und immer mehr um den Ball gekämpft. So wie sich im Kapitalismus nicht das schönste, sondern das billigst produzierte Produkt durchsetzt, so ist es auch beim Fußballspiel: Es ist eine Frage der Effizienz. Wieviel Genialität, die teuer erkauft werden muß, reicht aus, um möglichst viele Erfolge zu erreichen? Der italienische Catenaccio der 60er Jahre war eine der ersten Antworten auf diese Frage, das Pressing Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre die zweite. Und dafür braucht man Kämpfer, keine Ästheten.

Die Zeiten eines Flügelstürmers wie Garrincha sind deshalb unwiederbringlich vorbei. Ein Spieler, der sich ins Tor dribbelt, anstatt ökonomisch dem nächst besten Spieler den Ball zuzupassen, hätte heute einfach keine Chance mehr. Der Brasilianer Garrincha benötigte fünf Jahre, um sich gegen seine Trainer durchzusetzen, ehe er 1958 in nur einem einzigen Spiel beweisen konnte, daß er Recht hatte und die Trainer Idioten waren. Der damals beste Torwart der Welt, Lew Jaschin, realisierte sofort, was für eine Höllenmaschine auf ihn zukam.

Als habe man Zerberus von der Leine gelassen, rast er auf die Verteidigung zu und schließt ein vierzigsekündiges Dribbling mit einem Pfostenknaller ab. Verzweifelt schreit [Jaschin] seine Vorderleute an, doch vergeblich. [8]

Alex Bellos resümiert, daß nicht wenige die ersten drei Minuten dieses Spiels für die großartigsten des brasilianischen Fußballs halten. Keine Minute nach dem Pfostenknaller flankte Garrincha auf Pelé, der ebenfalls das Holz traf. Und nach drei Minuten war der Ball dann im Tor. Galt Garrincha 1958 nur als der beste Rechtsaußen des Turniers, war er vier Jahre später in Chile sein Star. Garrincha gehörte zu der Sorte Fußballspieler, die taktische Anweisungen für sinnlos hielten, denn der Ball gehört einfach nur ins gegnerische Tor. Solange er mit Pelé zusammen für Brasilien spielte, verlor die Mannschaft nicht eine Partie.

1974 kam Brasiliens gealterte Truppe zwar in die zweite Hauptrunde, mußte aber den in allen Belangen überlegenen Holländern mit ihrem Konzept des "totalen Fußballs" den Vortritt lassen. Vier Jahre später – so heißt es – wurde ihnen die Endspielteilnahme durch einen manipulierten Erfolg Argentiniens über Peru verwehrt. 1982 und 1986 spielten Brasiliens Kicker um Sócrates und Zico ein grandioses Turnier, vergaßen dabei aber, daß schön spielen und Tore schießen zwei verschiedene Dinge sind, die möglichst miteinander zu verbinden seien. Gegen Frankreich mit Tigana, Giresse und Platini, nun wahrlich kein Leichtgewicht des Fußballs, ging es 1986 ins Elfmeterschießen. Gerd Müller – den die beiden Autoren ähnlich wie ich verehren – hat dazu folgendes Bonmot beigesteuert:

Man muß nicht versuchen, am Torwart vorbeizuschießen, sondern ins Tor. [9]

Ja, das sollte man. Brasilien scheiterte. 1990 scheiterte man am Trainer und seinem verrückten Defensivsystem. Als sei die Lehre aus dem Scheitern der vergangenen Turniere gewesen, man habe zu offensiv agiert, wurde hinten dicht gemacht und vorne Gott vertraut. Allerdings bedeutet, von Diego Maradonas Hand Gottes 1986 zu lernen, noch lange nicht, siegen zu lernen, und so kam es, wie es kommen mußte: im Turnier der Durchschnittlichen war Brasilien chancenlos. Dabei lautete die Lehre aus dem Scheitern in den Jahren zuvor eigentlich, eine Entwicklung vor allem im europäischen Fußball verpaßt zu haben, die aggressives, kämpferisches Spiel mit viel Druck verband und selten Freiraum für individuelle Aktionen ließ. Deshalb gewannen Maradonas Kicker 1986 und – man muß es leider zugeben – mit Deutschland das beste Team der WM 1990 den Titel. Aber Brasilien lernte und gewann das Turnier 1994. Nicht berauschend, aber erfolgreich. Im Elfmeterschießen. 1998 war Frankreich eindeutig besser, aber dann kam 2002. Es gelangten zwei Teams ins Finale, mit denen keine und niemand zuvor gerechnet hatte.

Doch zuvor steuert René Martens einen Aufsatz über den Brasilianer João Havelange und das FIFA–Business bei. Die FIFA unter seinem korruptionsverdächtigen ehemaligen Chef Havelange revolutionierte das Fußball–Business in ungeahnte Dimensionen. Es wurde nicht nur Fußball nach kapitalistischen Kriterien gespielt, sondern selbiger auch dementsprechend knallhart verwertet und vermarktet. 1982 benötigte Havelange 400 Tickets für seine Klientel – VIP–Karten vom Feinsten. Das Problem: sie waren längst vergeben. Also ging er ins Büro des Organisationschefs Raimundo Saporta, verriegelte die Tür und erklärte:

Ich kann hier 72 Stunden bleiben, ohne zu pissen, zu scheißen, zu essen oder zu schlafen. Sie andererseits können in der Zeit sehr wohl sterben. [10]

Er bekam innerhalb von 20 Minuten seine Karten. Unter ihm wurde die FIFA zum Teil eines globalen Business, bei dem es – wie im richtigen Leben – keine Frage der Moral gab, die nicht finanzierbar war. Ein Weltkonzern für den Weltfußball – dessen Weltmeisterschaftsturniere folgerichtig immer weiter aufgebläht wurden, um in möglichst vielen Spielen möglichst viel verkaufen zu können. Wenn dann auch noch Fußball gespielt wurde, war's auch recht, wenn nicht, egal. [11]

Nach Havelange kam Ronaldo, das Phänomen. Ronaldo scheiterte 1998 und gewann den Titel 2002 fast im Alleingang. Seine Mannschaft war alles andere als überragend, aber das waren die anderen auch nicht. So reichte die Genialität eines einzigen Spielers in gerade einmal sieben Spielen aus, um Brasilien den Titel und Ronaldo das Etikett Fußballer des Jahres zu verleihen. Die Kombination individueller Fähigkeiten und kollektiver Durchschnittlichkeit hatte einen neuen Helden geboren. Dabei fand am 30. Juni 2002 in Yokohama Erstaunliches statt: die brasilianisch spielenden Deutschen verloren gegen die deutsch spielenden Brasilianer. Knapp. Aber nicht unverdient. Und noch eins – Kahn war daran unschuldig.

Die Geschichte dieses Finales ist eines der ultimativen Highlights des Buches Ballhunger von Gerd Fischer und Jürgen Roth, das jeden seiner 18 Euro wert ist, die es kostet. Ausführliche Informationen zu den Brasilianern in der deutschen Bundesliga runden ein Buch ab, das ich als Weihnachtslektüre uneingeschränkt empfehlen möchte. Es ist im Verlag Die Werkstatt erschienen.

 

Goldenes Sonnenbad

Besprechung von : René Oth – Völker der Sonne. Versunkene Kulturen Südamerikas, Konrad Theiss Verlag, 160 Seiten, € 29,90, ab 1. Februar 2006 € 36,00

Wenn man und frau die Neolithische Revolution zum Ausgangspunkt für die innere Ausdifferenzierung von Gesellschaften nimmt – für die Entstehung des Patriarchats und von Klassengesellschaften –, so werden traditionell vier Zentren für die Ausbreitung dieser Form von Gesellschaftlichkeit genannt: der fruchtbare Halbmond, der sich von Palästina über Syrien und Mesopotamien bis zum Persischen Golf erstreckt; Ägypten entlang des Nils; die frühindischen Hochkulturen am Lauf des heute in Pakistan gelegenen Indus; sowie das mit gesicherten historischen Daten im Vergleich hierzu erst relativ spät greifbare China.

Eine in vielem gänzlich andere Entwicklung fand im vom Rest der Welt abgetrennten amerikanischen Kontinent statt. Als die Spanier in Mexiko und Peru einfielen, trafen sie zwar reiche Gesellschaften vor, die sich jedoch technologisch, in ihrer Bewaffnung und wirtschaftlichen Entwicklung bestenfalls auf dem Niveau der ersten Großreiche Mesopotamiens und Ägyptens befanden. Ein leichtes Spiel also für die europäischen Barbaren, die mit wenigen hundert Mann fast jede ungleich größere Indioarmee niedermetzelten.

Der Kulturwissenschaftler, Ethnologe und Altamerikanist René Oth hat jüngst im Theiss Verlag einen reich bebilderten Band über die Völker der Sonne herausgebracht und stellt hierin die versunkenen Kulturen Südamerikas vor. Denn die Azteken, Maya und Inka, die den Spaniern gegenüber traten, hatten schon viele Jahrhunderte zuvor Vorgänger, deren kulturelle Hinterlassenschaften eine frühe eigenständige Entwicklung zeigen.

Buchcover Völker der SonneSchon im einleitenden Kapitel räumt der Autor mit der Legende auf, die Spanier hätten überall leichtes Spiel mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des von ihnen eroberten Kontinentes gehabt. Zumindest die Araukaner, die heutigen Mapuche, denen die Spanier auf ihrem Zug von Peru nach Süden begegneten, setzten sich lange Zeit erfolgreich zur Wehr. Sie fingen spanische Pferde ein, entwickelten eine eigene Reiterei und konnten sich drei Jahrhunderte lang mehr oder weniger erfolgreich behaupten. Erst im unabhängigen Chile ereilte sie das Schicksal ihrer nordamerikanischen Verwandten.

Von all dem, was die herrschenden Gruppen oder Klassen der frühen südamerikanischen Hochkulturen errichtet, geschmiedet oder getöpfert hatten lassen, ist uns durch den immensen Goldhunger der Spanier nur wenig hinterlassen worden. Die Goldgegenstände wurden eingeschmolzen und ein Großteil hiervon liegt auf dem Boden der Meere, welche die spanischen Galeonen auf ihrem Weg vom südamerikanischen Kontinent ins Mutterland zu befahren pflegten. Nichtsdestotrotz ist es wichtig darauf hinzuweisen, daß die uns im Buch Völker der Sonne gezeigten Kulturdenkmäler und Goldschätze wie in anderen Kulturen auch auf der Ausbeutung der einheimischen Bevölkerung und auf Versklavung besiegter Nachbarn beruhte.

Im Gegensatz zu den großen Flußkulturen Ägyptens, Mesopotamiens, Indiens oder Chinas siedelten die Menschen im südlichen Amerika in zum Teil ziemlich unwirtlichen Regionen. Dennoch finden wir mit der Valdívia–Kultur zeitgleich mit den sumerischen Stadtstaaten die Anfänge einer frühen Stadtkultur vor. [12]

Allerdings fehlen hier noch die Monumentalbauten, wie wir sie sowohl in Mesopotamien als auch später bei den Azteken, Maya und Inka vorfinden sollten. Einige Jahrhunderte später entstand im Tal des Rio Supe im heutigen Peru eine Stadt uns unbekannten Namens, die wir deshalb nach einem modernen Flurnamen als Caral bezeichnen, in der tatsächlich im 27. Jahrhundert Stufenpyramiden errichtet wurden.

Da kaum anzunehmen ist, daß es eine kulturelle Verbindung zwischen dem alten sich selbst genügsamen Ägypten und der Westküste Südamerikas gegeben hat, stellt sich die Frage nach dem Bedürfnis für eine solche Frühform von Monumentalität. Die bis zu 160 mal 150 Meter in der Grundfläche großen und bis zu 18 Meter hohen aus gestampfter Erde errichteten Tempelberge erreichten somit auch nicht ansatzweise die Größe ihrer ägyptischen Pendants. Beeindruckend müssen sie dennoch gewesen sein.

Eine eigenwillige Interpretation gibt uns der Autor René Oth für die monumentalen Bodenzeichnungen der Nazca–Kultur. Diese sind dadurch entstanden, daß die sich auf weißem Wüstensand befindenden schwarzen Geröllsteine planvoll zur Seite geräumt wurden. Die meisten der hierdurch entstandenen Bilder können nur aus der Luft betrachtet werden. Wenn man und frau einmal die esoterische Phantasterei einer Landebahn für außerirdische Raumschiffe beiseite läßt – übrigens insofern auch lustig, weil Aliens ganz sicher Wüstensand als Landepisten nutzen –, stellt sich doch die Frage, ob dieses Betrachten aus der Luft nicht auch die ursprüngliche Absicht war. Auf Grundlage einer alten Inka–Legende erbaute der Pilot Jim Woodman eine Art Heißluftballon mit den technologischen Möglichkeiten der Nazca–Kultur. Der Ballon flog tatsächlich. Die hiermit verbundenen religiösen Spekulationen sind vorerst jedoch nur das – Spekulationen.

Aber nicht nur an den trockenen Berghängen der Anden, sondern auch im oberen Amazonasbecken fanden Archäologinnen und Archäologen Hinweise auf frühe Kulturen. Damit kann als widerlegt gelten, daß im Dschungel aufgrund von Temperatur, Vegetation und Feuchtigkeit von vornherein die Entfaltung fortgeschrittener Gesellschaften auszuschließen sei. Dennoch ist auffällig, daß die Entwicklung zu dem, was wir Hochkulturen nennen, dann nicht im Dschungel stattfand, sondern in den eher unwirtlichen Andenregionen.

René Oth führt uns sukzessive durch die aufeinander folgenden oder sich parallel entwickelnden regionalen Kulturen. Auffällig ist, daß wie in Mesopotamien, die Tendenz zu immer größeren Reichen festzustellen ist; offensichtlich konnten sich derart hoch entwickelte Kulturen nur durch Krieg und Expansion und damit die Aneignung von fremdem Mehrprodukt halten. Wie das Ende des Inka–Imperiums zeigt, gab es jedoch offensichtlich auch eine Maximalgröße des beherrschbaren Raumes – fatalerweise wurde das Reich kurz vor der spanischen Eroberung unter zwei verfeindeten Brüdern aufgeteilt.

Merkwürdig ist in diesem Buch über die versunkenen Kulturen Südamerika der durchaus lesenswerte Exkurs zur Kultur der Osterinsel. Gegen 1470 soll der spätere Inka–Herrscher Tupac Yupanqui mit einigen Flößen die rund zweieinhalbtausend Kilometer von Peru entfernte Insel erreicht haben, was ganz sicher eine respektable Leistung darstellt. Ob und inwieweit die peruanischen Inka hier jedoch kulturelle Spuren hinterlassen haben, läßt sich nicht näher ergründen.

Nicht nur merkwürdig, sondern geradezu störend sind die rassenkundlichen Einsprengsel des Autors. Auf Seite 116 spricht er von den Vorfahren der heute Quechua genannten peruanischen Indígenas, die – seinen Worten zufolge – sich "rassisch, sprachlich und kulturell mit den Inkas vermischten". Auf Seite 130 erzählt René Oth uns etwas von einer "Rätselrasse", welche die Osterinsel kolonisierte, und am Ende seines Buches läßt er sich über Aussehen, Kleidung und Gebräuche der Auka im amazonischen Urwald aus, und beendet seine Ausführungen mit den Worten:

Mädchen werden schon vom zwölften Lebensjahr an als reif für die Verbindung mit einem Mann angesehen, denn größtmögliche Fruchtbarkeit erweist sich als die einzige Waffe gegen den Untergang ihrer Rasse. [13]

Einmal abgesehen von durchschimmernden Frauenbild als einer Gebärmaschine muß es schon befremden, dem Verschwinden einer Rasse allein auf biologischem Weg begegnen zu wollen. So als wären Rassen eine unhinterfragbare biologische Kategorie mit besonderen Qualitätsmerkmalen. Offensichtlich hat es sich bis zum Autor dieses Buches noch nicht herumgesprochen, daß es keine Menschenrassen gibt und daß es wohl eher darum gehen müßte, eine sozialpolitische Lösung zu finden, wenn es denn schon als erstrebenswert gilt, die angebliche Ursprünglichkeit des edlen Wilden zu erhalten.

Der 160 Seiten mit 120 farbigen Abbildungen umfassende Band Völker der Sonne von René Oth ist Ende September im Theiss Verlag zum Preis von 29 Euro 90 erschienen.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte –

heute mit einigen Anmerkungen zum bevorstehenden Fest der käuflichen Liebe und Hinweisen auf nützliche Geschenke, die man und frau auch sich selbst machen könnte. Vorgestellt habe ich hierbei

Hinweisen möchte ich noch auf eine Veranstaltung am Mittwochabend um 20 Uhr im Schloß. Der Politikwissenschaftler und Publizist Georg Fülberth wird im Rahmen der Veranstaltungsreihe 60 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus über den Verdrängten Antifaschismus nach 1945 reden. Diese Veranstaltung der Darmstädter Geschichtswerkstatt, des DGB Starkenburg, von ver.di Südhessen, sowie der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten Starkenburg beginnt am Mittwochabend um 20 Uhr im Seminarraum 56 im Schloß – das ist, wenn man und frau vom Marktplatz über den rechteckigen Schloßhof geht, auf der linken Seite im Erdgeschoß.

Diese Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte wird in der Nacht zum Dienstag um 23 Uhr, dann noch einmal am Dienstagmorgen um 8 Uhr, sowie am Dienstagnachmittag ab 14 Uhr wiederholt. Nächste Woche sind auf diesem Sendeplatz Cornelia Roch und Monika Kanzler–Sackreuther mit ihrer Sendung Gegen das Vergessen aus der gleichnamigen Redaktion zu hören. Es folgt in wenigen Minuten eine Sendung der Kulturredaktion von Radio Darmstadt. Am Mikrofon war Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Bettina Winsemann : Auch er war leider schon mal Deutschland …, in: Telepolis, 24. November 2005
[2]   Lexikon des frühen 21. Jahrhunderts, Seite 5
[3]   Lexikon Seite 31
[4]   Siehe hierzu auch das Manuskript meiner dritten Sendung zu Tschetschenien vom 28. Oktober 2002 auf Radio Darmstadt.
[5]   Lexikon Seite 165–166
[6]   Siehe meine Besprechung des Buches von Alex Bellos: Spielfreude, Aberglaube und Politik – Fußball in Brasilien, gesendet am 29. November 2004.
[7]   Gerd Fischer / Jürgen Roth : Ballhunger, Seite 41
[8]   Fischer/Roth Seite 94. Der Begriff "Höllenmaschine" ist im Grunde genommen falsch. Garrincha spielte eben nicht wie eine Maschine, sondern aus purer Lust am Fußball; seine Darbietungen waren Ausdruck reinster Subjektivität.
[9]   Fischer/Roth, Seite 116
[10]  Fischer/Roth Seite 126

[11]  Havelange setzte sich 1974 gegen den amtierenden FIFA–Präsidenten Stanley Rous durch, indem er mit lukrativen Versprechen und Zahlungen gezielt die Stimmen der Verbände der Dritten Welt aquirierte. Als brasilianischer Verbandschef wußte er, wie Nepotismus funktioniert. Es ist gewiß kein Zufall, daß derartige Geschichten über den umtriebigen João Havelange keinen Eingang in den FIFA–Jubiläumsband "FIFA 1904–2004. 100 Jahre Weltfußball" (Verlag Die Werkstatt, 2004) gefunden haben. Hier wird Havelange als der große Modernisierer eines Verbandes gefeiert, der die FIFA fit gemacht habe für die globalisierte Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Bemerkenswert folgende Umschreibung der damit verbundenen verbandsinternen Korruption:

Beide [Havelange und Blatter] zogen auch bei der Verteilung der Gewinne an die Mitgliedsverbände aus der Dritten Welt an einem Strang. Die überwiegende Mehrheit der Mitgliedsverbände hat die Finanzhilfen aus Zürich sehr zu schätzen gewusst und der FIFA–Spitze immer wieder ihr Vertrauen ausgesprochen. [Seite 249]
[12]  René Oth schreibt auf Seite 25: "In Real Alto gab es schon um 3400 v. Chr. – zeitgleich mit Babylon im Alten Orient – eine städtische Zivilisation." Nun – falls es damals Babylon schon gegeben haben sollte, dann war es ein winzig kleines Dorf, das noch Jahrhunderte später das Attribut Stadt nicht verdient haben dürfte. Babylons große Zeit begann erst anderthalb Jahrtausende später.
[13]  René Oth : Völker der Sonne, Seite 151

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 16. Dezember 2005 aktualisiert.
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