Geschichte

Klimaturbulenzen

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Geschichte
Klimaturbulenzen
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 14. April 2003, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 15. April 2003, 00.00–01.00 Uhr
Dienstag, 15. April 2003, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 15. April 2003, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Klima. Das Experiment mit dem Planeten Erde, Theiss Verlag
  • Gerd Hankel : Die Leipziger Prozesse, Hamburger Edition
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/herstory/ge_klima.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Klima
Kapitel 3 : Völkerrecht
Kapitel 4 : Schluß
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

Es war ein kleiner Sandsturm, der den Vormarsch der US–amerikanischen Invasionsarmee im Irak kurzfristig stoppen konnte. Daß die irakische Armee ein ernsthafter Gegner sein würde, hatte ja ohnehin keine und niemand erwartet. Nach allen Regeln der Kunst hatte die USA das Land darauf vorbereitet, eingenommen und dem üblichen kapitalistischen Verwertungsprozeß zugeführt zu werden. Noch 1991 schien den USA ein Diktator namens Saddam Hussein ein ausreichender Garant für kapitalkonforme Herrschaftsausübung zu sein.

In den Jahren darauf hinterließ das Embargo, das sich gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichtet hat, seine Spuren. Mehrere hunderttausend Kinder wurden mit billigender Unterstützung der US–amerikanischen Außenministerin Madeleine Albright in die ewigen Jagdgründe geschickt, weil es, wie sie sagte, die Sache wert sei. Daran zeigt sich, daß es nicht ein wildgewordener Cowboy aus Texas ist, der seine Truppen losgeschickt hat. Die US–amerikanische Politik an irgendwelchen durchgeknallten Politikern festzumachen, führt ohnehin ins Leere.

Nach dem Zweiten Golfkrieg 1991, dem Embargo und den Waffenkontrolleuren war der Irak für die US–amerikanischen Strategen wie ein offenes Buch. Es gab keine Geheimnisse. Welcher Kriegsgegner wurde schon auf diese Weise vorher vorgeführt, seziert und anschließend abserviert wie das Regime Saddam Husseins? Da stellt sich doch die Frage, warum die mit Abstand stärkste Armee dieser Erde solange gebraucht hat, um ein paar lästige Sandkörner wegzupusten. Ein großartiger Sieg? Nein – aber eine Weichenstellung für die Zukunft.

Die schon längst vergessen geglaubte deutsche Friedensbewegung versammelte sich massenhaft auf den Straßen. Alle diejenigen, die man und frau vor vier Jahren beim ebenfalls völkerrechtswidrigen, aber maßgeblich von Deutschland vorbereiteten Krieg gegen Jugoslawien vermißt hatte, trauten sich nun. Kriegstreiberinnen und –befürworter, die vor vier Jahren auf dem Bielefelder Parteitag der GRÜNEN noch für die humanitäre Intervention plädiert hatten, wurden nun auf dem [darmstädter] Luisenplatz gesehen, als sie herumstanden und dummen Reden [von grünen und SPD–PolitikerInnen] lauschten.

Es war ja auch kein deutscher Krieg. Die deutschen Interessen werden bekanntlich am Hindukusch verteidigt, nicht am Golf. Sagt Peter Struck, der Nachfolger von Rudolf Scharping, der in die Annalen der Geschichte als Erfinder gegrillter Föten eingegangen ist. Mal sehen, wann die Bundesregierung unter Schröder, Fischer, Trittin & Co. den nächsten Hufseisenplan herbeilügt.

Ich denke, ich kann berechtigterweise davon ausgehen, daß diese großartige deutsche Friedensbewegung beim nächsten Krieg, an dem deutsche Truppen wieder direkt beteiligt sind, zu Hause bleiben wird.

Die hilflosen, naiven, aber ziemlich typisch deutschen Appelle an die Bundesregierung, diesem jetzigen für Deutschlands Interessen unnützen Krieg entgegenzustehen, haben ja auch deutlich gemacht, auf welchem politischen Niveau sich diese Kriegsgegnerschaft befindet. Während dessen warten die deutschen Spürpanzer in Kuwait darauf, endlich zum Verkaufsschlager zu werden [1]. Krieg war schon immer ein gutes Geschäft für die deutsche Rüstungsindustrie.

In den kommenden Jahren wird dies alles noch deutlicher werden. Wenn Donald Rumsfeld Libyen, Kuba und Deutschland in einem Atemzug nennt, dann ist dies kein rhetorisches Getöse. Nein, dahinter steckt die Erkenntnis, daß im 21. Jahrhundert die Fronten neu gezogen werden. Taktisch wird dies derzeit über die Rolle der UNO ausgetragen. Wer darf den Irak mit welchem Mandat angreifen? Wer darf im Irak den Wiederaufbau vorantreiben? Wobei wir uns unter Wiederaufbau nicht etwa eine soziale Maßnahme zugunsten einer verarmten Bevölkerung vorstellen dürfen. Am gestrigen Sonntag haben IWF und Weltbank vollmundig verkündet, für den Wiederaufbau der Wirtschaft bereit zu stehen. Das läßt das Schlimmste befürchten. Wiederaufbau bedeutet dann nämlich schlicht: den Irak dem Verwertungsinteressen des globalen Kapitals zuzuführen, das Land und die dort lebenden Menschen nach allen Regeln der neoliberalen Wirtschaftskunst auszuplündern.

Weder wird hierdurch Hunger beseitigt, noch die Kindersterblichkeit. Die Gesundheitsreform von Ulla Schmidt zeigt es uns auch deutlich, was das bedeutet: an einer medizinischen Versorgung, die dem Leistungsdruck und Streß einer modernen neoliberalen Gesellschaft angemessen ist, hat keine und niemand ein Interesse. Es rentiert sich nicht, es rechnet sich nicht. Und genauso wird es im Irak sein.

Nur mit dem Unterschied, daß dort nicht einmal ansatzweise deutsche Minimalstandards gelten. Da ist es schon eine Ironie der Geschichte, daß es den Irakis nie so gut ging, wie in den Anfangsjahren der Herrschaft Saddam Husseins. Diesen Standard werden weder George Dubya Bush noch die deutsche Menschenrechtsregierung wiederherstellen und auch nicht wiederherstellen wollen. Daß Frankreich, Deutschland und ausgerechnet Rußland zusammengehen, ist schon pikant. Natürlich schaut keine und niemand auf Tschetschenien.

Geschäfte werden weder mit Menschenrechten noch mit medizinischer Versorgung gemacht. Geschäfte werden mit Öl und Waffen gemacht. Und auch unser darmstädter Bundestagsabgeordneter Walter Hoffmann weiß dies ganz genau: deutsche Arbeitsplätze hängen an Rüstungsaufträgen und nicht an moralischer Empörung über den geduldeten Krieg in Tschetschenien. Daß damit Menschen umgebracht werden, interessiert einen neoliberalen Sozialdemokraten nur dann, wenn die falschen umgebracht worden sind, also nicht die üblichen, weil verdächtigen, Bimbos.

Doch manchmal legt ein kleiner Sandsturm die hochgerüstete High–Tech–Armada lahm. So geschehen in den ersten Tagen des vierten Krieges der Neuen Weltordnung [2]. Und damit komme ich zu den beiden Themen meiner heutigen Sendung, die gar nicht so weit vom Wüstensturm der USA und dessen völkerrechtlicher Legitimation entfernt sind.

In den letzten Jahren war sehr viel vom Klima die Rede. Inwieweit hat der Mensch in das globale Klima eingegriffen? Treiben wir einer neuen Warmzeit entgegen? Ist die Häufung von Wirbelstürmen, Flutkatastrophen und ähnlichen Naturereignissen auf den Menschen zurückzuführen oder Ausdruck eines natürlichen Phänomens? Eine Ausstellung in München mit dem Untertitel Das Experiment mit dem Planeten Erde versucht, hierauf Antworten zu geben. Mehr dazu im Verlauf dieser Sendung.

Vor und während der US–Invasion in den Irak war viel vom Völkerrecht die Rede. Doch was ist dieses Völkerrecht, für wen gilt es, wer muß sich daran halten und zu welchem Zweck wurde es vor über einhundert Jahren erstmals kodifiziert? Der Jurist Gerd Hankel hat am Beispiel deutscher Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg deutlich gemacht, daß das Völkerrecht eine gar nicht so einfache und eindeutige Materie ist, wie wir uns das gemeinhin vorstellen. Mehr dazu in meinem zweiten Beitrag.

Für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt begrüßt euch Walter Kuhl.

 

Klima

Besprechung von : Klima. Das Experiment mit dem Planeten Erde, Konrad Theiss Verlag 2002, € 34,90, ab 2004 € 39,90

Der Sandsturm, welcher den US–amerikanischen Vormarsch kurz gestoppt hat, war nur ein harmloses Ereignis im globalen Klimageschehen. Das Ozonloch an Nord- und Südpol wächst und gedeiht, allen halbherzigen Abrüstungsverhandlungen im FCKW–Bereich zum Trotz. Dresden steht unter Wasser, etwas, was in Saarbrücken, Cochem oder Köln alljährlich an der Tagesordnung ist. Unwetter und andere Katastrophen fordern ihren Tribut – und die Kosten der Aufräum– und Wiederaufbauarbeiten gehen in die Milliarden.

Grund genug für die deutsche Versicherungswirtschaft, diesem Phänomen auf den Grund zu gehen. Die Münchener Rückversicherungs–Gesellschaft beschäftigt sich schon seit Jahren mit den Folgen des Klimawandels, nicht zuletzt deshalb, weil sie selbst finanziell betroffen ist. Das eigentlich Kuriose und dennoch Interessante daran ist, daß sich die Münchener Rückversicherungs–Gesellschaft mit dem Deutschen Museum in München zusammengetan hat, um den Stand der Klimaforschung einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren.

Seit November 2002 ist im Deutschen Museum die Ausstellung Klima. Das Experiment mit dem Planeten Erde zu sehen; diese Ausstellung ist noch bis zum 7. September [2003] geöffnet. Der Begleitband zur Ausstellung macht einen Ausstellungsbesuch jedoch weitgehend überflüssig. In gleichermaßen anspruchsvoll wie verständlich geschriebenen Darstellungen erhalten wir einen Einblick sowohl in die Methoden als auch die Ergebnisse der Klimaforschung. Allerdings werden hier keine Weisheiten verkündet, vieles ist noch diskussionswürdig und interpretationsbedürftig.

Aber gerade dies macht das reizvolle an dieser Ausstellung und dem Begleitband aus. Wir können anhand des vorgelegten Materials selbst entscheiden, welchen wissenschaftlichen Vorgaben wir vertrauen wollen oder wie wir uns selbst das Klimageschehen zusammenreimen möchten. Leider fällt das Entscheidende in der Diskussion um die globale Klimaveränderung aus dem Rahmen der Ausstellung heraus: wie kann zukünftig global und demokratisch, wissenschaftlich fundiert und solidarisch die Veränderung des Klimas mitbestimmt werden?

Daß die derzeitig daran beteiligten Institutionen und Organisationen unfähig oder unwillig sind, Maßnahmen zu ergreifen, die es auch in Zukunft ermöglichen können, eine Welt zu gestalten, die nicht nur für die reichen Nationen lebenswert ist, ist ja offensichtlich. Der Grund ist klar: Klimaschutzabkommen sind nur das Papier wert, das den größt möglichen Profit bei geringst möglichen Einschränkungen verspricht. Die Kosten sollen wie immer externalisiert, also auf andere abgewälzt werden.

Wer immer fundiert über das globale Klima urteilen will, benötigt Daten. Möglichst standardisierte Daten. Ein globales umfassendes Wetterbeobachtungsnetz ist unabdingbar. Doch genau fangen schon die Probleme an. Während auf der nördlichen Halbkugel die meteorologische Beobachtung relativ gut gestreut ist, also auch genügend Beobachtungsstationen existieren, fehlen selbige auf weiten Teilen der Südhalbkugel. Afrika zwischen Sahara und Simbabwe ist vollkommen unterrepräsentiert, ebenso große Teile Südamerikas und vor allem die großen Ozeane des Südens. Das heißt, wichtige Wetterdaten müssen interpoliert werden. Doch auch die reichen Industrienationen fangen an, an der direkten Wetterbeobachtung zu sparen, mit Folgen für die Vorhersagegenauigkeit. Manches kann jedoch durch verbesserte Rechenmodelle oder Satellitenbeobachtung aufgefangen werden.

Doch nicht nur die aktuelle Beobachtung hilft, Wetterprognosen und Trends einschätzen zu können. Langfristige Beobachtungen und klimageschichtliche Forschungen, die Millionen Jahre zurückreichen, können dabei helfen, Trends als solche zu erkennen, um sie richtig einschätzen zu können.

Das gegenwärtige Klima auf der Erde ist keineswegs repräsentativ für die Klimabedingungen, die auf der Erde im Laufe ihrer Geschichte geherrscht haben. Untersuchungen der geologischen und biologischen "Archive" der Natur zeigen: In den vergangenen 600 Millionen Jahren hat ein viermaliger Wechsel von Eiszeitaltern [...] und Warmzeitaltern [...] stattgefunden. Wir leben heute in einem sogenannten Eiszeitalter, das vor etwa 55 Millionen Jahren einsetzte und sich erst allmählich entwickelte. Dadurch bildete sich vor 30 Millionen Jahren eine Eiskappe auf dem Südpol; der heutige Zustand einer Vereisung beider Polkappen ist erst seit etwa 2,8 Millionen Jahren festzustellen. Seit etwa 800.000 Jahren treten in unserem jetzigen Eiszeitalter in einem Rhythmus von ungefähr 100.000 Jahren vergleichsweise schnellere Klimaschwankungen auf: Warmzeiten von 15.000 bis 20.000 Jahren mit Eis nur an den Polen und in Grönland wechseln sich ab mit Kaltzeiten [...] von etwa 80.000 Jahren Dauer, in denen das Eis vom Nordpol aus weiter südlich bis zu den Kontinenten der Nordhalbkugel vordringt. So erreichte die Vereisung in der letzten Eiszeit vor etwa 21.000 Jahren ihr Maximum. Seither schmilzt das Eis besonders auf der Nordhalbkugel; der Meeresspiegel stieg um rund 110 Meter [...]. Schließlich wird auch unsere heutige Warmzeit [...] seit etwa 11.600 Jahren noch durch wiederum viel schnellere [...] Schwankungen des Klimas beherrscht. [Klima, Seite 88]

Eine grundlegende Hypothese kann den Wechsel von Eis– und Warmzeitaltern zumindest für die letzten 600 Millionen Jahre erklären. Demnach hängt der Klimawechsel mit der Kontinentaldrift zusammen.

Zugleich fällt auf, daß die vier Eiszeitalter immer einhergingen mit geologisch aktiven Zeiten, in denen sich Gebirge bildeten, sich die Verteilung von Kontinenten und Ozeanen und in deren Gefolge auch der Meeresspiegel änderte [...]. Die regelmäßig wiederkehrenden Klimaumschwünge mit Zeitperioden zwischen 10.000 und 1 Million Jahren gehen hingegen auf Änderungen astronomischer Parameter zurück, die mit der Erdrotation um die Sonne zu tun haben. [...] Das Holozän, unsere aktuelle Warmzeit, in der wir seit 11.600 Jahren leben, könnte nun der Anfang einer möglicherweise 50.000 Jahre andauernden Warmphase sein; denn das komplexe Zusammenspiel der einzelnen Parameter ergibt derzeit eine Situation, in der die in der Regel ellipsenförmige Bahn der Erde nahezu einen Kreis darstellt, was nur etwa alle 400.000 Jahre auftritt. [Klima, Seite 89–90]

Diese dann doch etwas ungewöhnlich lange Warmzeit macht es auch schwieriger herauszufinden, ob die globale Klimaerwärmung, die seit einigen Jahrzehnten feststellbar ist, industriell–menschlich herbeigeführt wurde, oder ob sie ohnehin eingetreten wäre. Gegner unprofitabler Klimaschutzabkommen berufen sich dann auch gerne darauf, daß der Mensch an der Erwärmung eher unbeteiligt gewesen sein soll. Es ist eben alles eine Frage der Interpretation der Daten; und diese Interpretation wiederum wird von einem klaren Erkenntnisinteresse gespeist. Hinzu kommt, daß die vorhandenen Daten und die vorhandenen Interpretationsmodelle meist nicht zusammenpassen und jede globale Prognose zukünftigen Wetters somit eher spekulativ als wissenschaftlich fundiert ist. Damit läßt sich natürlich politisch arbeiten – je nach Interesse.

Und das ist nicht alles. Klimamodelle beruhen auf Szenarien. Wie wird sich die Erdbevölkerung verändern, wie das Wirtschaftswachstum, der technische Forschritt, und welche Auswirkungen werden soziale und kulturelle Errungenschaften auf das Klima haben? Manche Szenarien sind einfach naiv. Etwa das sogenannte B2–Szenario. Es

unterstellt eine Entwicklung, in der lokale, nachhaltige Lösungen für ökonomische, ökologische und soziale Probleme gefunden werden. Die Bevölkerung steigt kontinuierlich [...]. Es gibt eine weniger schnelle ökonomische Entwicklung und eine vielfältigere technologische Entwicklung als in den anderen Szenarien. Der Schwerpunkt liegt auf Umweltschutz und sozialer Gerechtigkeit, aber eher auf lokaler und regionaler Ebene. [Klima, Seite 155]

Träum weiter, bin ich da geneigt zu sagen. Ist nicht unser derzeitiger Bundeskanzler 1998 angetreten, mehr soziale Gerechtigkeit walten zu lassen? Nun denn, heute sehen wir, was das bedeutet: soziale Gerechtigkeit. Oder anders ausgedrückt: neoliberaler Kahlschlag, sozial gerecht für die Profiteure des globalen Marktes. Also, das B2–Szenario scheint doch etwas wirklichkeitsfremd zu sein. Und genau das ist auch das Problem der anderen Szenarien. Sie abstrahieren vom Kapitalismus und seinen gnadenlosen Gesetzmäßigkeiten.

Was uns die Szenarien dennoch sagen ist: das Klima am Boden wird sich um mindestens 1,4 bis maximal 5,8 Grad bis zum Jahr 2100 erwärmen. Nun habe ich nichts gegen Wärme, nur – es ist eben auch mit stärkeren Schwankungen der Niederschläge zu rechnen. Insofern könnten (müssen aber nicht) die Unwetter der vergangenen Jahre eine kleine Botschaft in diese Richtung vermittelt haben.

Der Meeresspiegel wird jedoch maximal um einen Meter steigen, was in einigen Regionen dennoch verheerende Folgen nach sich ziehen kann. Nur sind diese Folgen von Menschen gemacht – und diese Menschen werden mit ihren Problemen allein gelassen. Wen interessiert es schon, wenn ein paar Tausend Bimbos in Bangladesh ertrinken, oder auch mal ein paar Hunderttausend? Die Weltbank sicher nicht; und der Internationale Währungsfonds wird ganz bestimmt und sehr nachhaltig das Ertrinken durch seine Sozialmaßnahmen fördern.

Der Begleitband zur Klima–Ausstellung in München führt – wie ich finde – sehr fundiert in die Erforschung des Klimas und seiner Veränderungen ein. Problematisiert werden genauso mögliche Fehler in der Datenerhebung wie in der Dateninterpretation. Insofern ist das vorgezeigte Ergebnis auch nicht einheitlich. Es führt jedoch dazu, daß mehr Menschen fundierter mitreden können, was jedoch etwas anderes ist, als die Frage, ob wir auch fundiert mit entscheiden dürfen. Denn warum sollten wir? Bringt das Profit? Kaum.

Statt dessen werden so geniale Konstrukte wie der Emissionshandel ersonnen, als ob es ein Recht auf Verschmutzung geben würde.

Doch kommen wir zur Versicherungswirtschaft zurück, die ja ein sehr eigenes Interesse an der Klimaforschung hat. Und in der Tat, die Kurven der Vermögensschäden zeigen nach oben. Woran liegt es? Am Klima? Vielleicht sollten wir doch noch einmal nachdenken. Wenn in erdbebengefährdeten Gebieten, in Gegenden, in denen Tornados und Wirbelstürme zu Hause sind oder an begradigten Flüssen immer mehr Menschen siedeln und Industrien entstehen, dann ist eine steigende Schadenskurve geradezu vorhersagbar.

Offensichtlich hat sich der Mensch nicht seiner Umwelt angepaßt. Oder, vielleicht genauer, die Logik kapitalistischer Planlosigkeit hat dazu geführt, daß dort gebaut und gesiedelt wurde, wo es besser gewesen wäre, davon Abstand zu nehmen. Wer in Köln nasse Füße bekommt, ist doch selbst Schuld. Nur ist es eben nicht so einfach. Wir können uns das ja nicht immer aussuchen, wo wir leben und arbeiten. Und dabei geht es uns hier in der Metropole noch vergleichsweise gut.

Natürlich fehlt es nicht an Plänen und Ideen, das globale Klima in den Griff zu bekommen. Besonders bizarr mutet das AtlantropaProjekt des münchener Architekten Herman Sörgel aus den 30er Jahren an.

Sörgel wollte mit einem gigantischen Damm bei Gibraltar das Mittelmeer absenken, eine unerschöpfliche Energiequelle erschließen, neuen Lebensraum an den Küsten gewinnen und die Staaten Europas politisch vereinigen. [...] Durch die Absperrung der Straße von Gibraltar würde [...] ein Gefälle entstehen, das ein riesiges Wasserkraftwerk antreiben sollte, um Strom für ganz Europa zu liefern. [...] Zur Kultivierung der Sahara sollten künstliche Seen angelegt und über Kanäle mit dem Mittelmeer verbunden werden; Sörgel erhoffte sich davon regelmäßige Niederschläge. Um eine weitere Energiequelle zu erschließen, plante er, den Kongo zu stauen und das Kongobecken in ein Binnenmeer zu verwandeln. Dies sollte auch die tropischen Temperaturen mildern, um die Lebensbedingungen für europäische Siedler zu verbessern. [Klima, Seite 366–367]

Männliche (zudem kolonialistische) Allmachtsphantasien. Doch wer einen Blick auf die Sterne wirft, kann in jedem besseren Science Fiction–Roman oder –Film Wetterkontrollstationen entdecken. Ganz offensichtlich gibt es ein unüberwindbares männliches Bedürfnis nach der Beherrschung nicht nur des Wetters, sondern vor allem der Natur. Kein Wunder, daß Frauen als Natur gelten.

War Herman Sörgel also nur ein Spinner oder deutete er nur an, was heute vielleicht technologisch als machbar erscheinen könnte? Der US–amerikanische Physiker David Keith darf sich mit seinen Visionen leider unwidersprochen im Begleitband zur Klima–Ausstellung verbreiten. Er spricht von einem aktiven Planetenmanagement, so als gehe es nur um eine technokratische Lösung eines Problems. Wie viele Wissenschaftlerinnen und Forscher berührt er die zentrale Frage nicht: wer entscheidet darüber? In was für einem System leben wir?

Und wem kommt es zugute, wenn riesige Sonnenschirme im Weltall Schatten spenden oder das Sonnenlicht bündeln, wer nutzt dies gar als Waffe, wer kann sie sich überhaupt finanziell leisten? Wenn das Wetter gesteuert werden kann, in wessen Interesse? Wer definiert das Interesse? Unsere Wirtschaftsmagazine? Der Bundeskanzler? Die Versicherungswirtschaft? Das sind doch die spannenden Fragen, und nicht, wie wir Kohlenstoffreserven manipulieren oder ob wir Kohlendioxid aus der Luft einfangen können. Obwohl das auch interessant sein kann: mitzubekommen, was uns alles zugemutet werden könnte.

Ich sagte es schon – der Begleitband zur Klima–Ausstellung im Deutschen Museum in München ist alles andere als uninteressant. Die Ausstellung selbst ist noch bis zum 7. September 2003 geöffnet. Selbstverständlich gibt es zur und in der Ausstellung einen Katalog. Die Buchhandelsausgabe jedoch ist als Hardcover im Theiss Verlag erschienen, hat 400 Seiten mit etwa ebenso vielen (meist farbigen) Abbildungen und kostet 34 Euro 90 [ab 1.1.2004: € 39,90]. Noch einmal der Titel: Klima. Das Experiment mit dem Planeten Erde.

Und zum Schluß die Antwort auf die Frage: Ist der Mensch am Klimawandel und der Erwärmung schuld? Natürlich ist er das. Obwohl – nicht der Mensch. Sondern eine Gesellschaftsformation, in der die Menschen den Profit zum Prinzip erhoben und sich die gesamte Erde untertan gemacht haben. Eine solidarische und emanzipatorischen Zielen verpflichtete globale Gesellschaft würde anders aussehen. Ohne männliche Allmachtsphantasien.

 

Völkerrecht

Besprechung von : Gerd Hankel : Die Leipziger Prozesse, Hamburger Edition 2003, € 30,00

Der Krieg ist entschieden, das erwartete Ergebnis ist eingetroffen. Warum demonstrieren dann weltweit immer noch Hunderttausende gegen diesen Krieg? Glauben sie wirklich, daß die US–Truppen nur nach Bagdad gefahren sind, um die Plünderung der Kulturdenkmäler der Vergangenheit zu beaufsichtigen? Und was schert die USA das Völkerrecht? Recht hat letztlich der, der die Machtmittel besitzt, es auch durchzusetzen. Daher ist jede Argumentation mit dem angeblich oder tatsächlich verletzten Völkerrecht sinnlos, wenn sie nicht materielle Gewalt werden kann.

Und welche Friedensbewegung hat schon diese materielle Gewalt? Und welcher Krieg wird besser, wenn er dem Völkerrecht entsprechend geführt wird? Und welchen Sinn hat es, die Legitimation des Krieges durch die UNO einzufordern? Wird der Krieg dann schöner, bunter, grüner ... nachhaltiger? Wohl kaum.

Das Völkerrecht ist weder einheitlich noch einfach ein Antikriegsrecht. Es dient nicht dazu, Argumente für oder gegen einen Krieg auszutauschen. Das Völkerrecht dient nicht dazu, dem Guten zum Sieg zu verhelfen, sondern es regelt ganz banal die Beziehung zwischen Nationalstaaten. Zwar soll es Individuen im Krieg schützen, also gewisse Menschenrechte selbst in der absoluten Barbarei gewährleisten. Doch diese Instrumente sind meist stumpf. Wer damit rechnen kann, nicht zur Verantwortung gezogen zu werden, wird sich auch nicht daran halten.

Vielleicht ist gerade dies der Grund, warum in Deutschland so viele Menschen auf die Straße gegangen sind. Gerade weil die USA sich der Gerichtsbarkeit durch den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag weitestgehend entzogen haben, sollen es jetzt Schröder und Fischer richten. Der Appell an die beiden kriegserprobten Jugoslawienkämpfer kann doch nur eines bedeuten: wir (also wir Friedensbewegten) wollen, daß die Guten – also wir Deutschen vermittelt durch unsere Menschenrechtsregierung – die Bösen – also Dubya und seine Bande – zur Rechenschaft ziehen. Zumindest träumen wollen wir es. Christian Stock hat diesen Gedanken in der Jungle World vom 26. März auf einen nicht uninteressanten Punkt gebracht, wenn er schreibt:

Doch dieses ernüchternde Fazit, das die grassierende Beschwörung des Völkerrechts seitens vieler Kriegsgegner zu bloßem Wunschdenken zurechtstutzt, beruht nicht auf einem grundsätzlich behebbaren »Defekt« der internationalen Beziehungen. Wie jedes bürgerliche Recht ist das Völkerrecht durchzogen von hegemonialen Interessen und Diskursen. Es ist eine ideologische Konstruktion, hinter der die realen Herrschaftsverhältnisse verschwinden. Den Völkerrechtlern kann es gar nicht in den Sinn kommen, daß Krieg nichts anderes ist als die Fortsetzung des Marktes mit anderen Mitteln. Das ist nicht in einem verkürzten Sinne zu verstehen: Weder die Rede von der »Klassen–« oder »Siegerjustiz« noch die derzeit vor allem bemühte Anklage der »arroganten Supermacht« USA vermögen die herrschaftsförmigen Grundannahmen des Völkerrechts hinreichend zu erfassen. Das Völkerrecht ist nicht allein deshalb problematisch, weil sich die Interessen der »Herrschenden« darin durchsetzen, sondern weil sein Rechtssubjekt die Nationalstaaten sind. Wer sich positiv auf das Völkerrecht bezieht, affirmiert die nationalstaatsförmige Vergesellschaftung. Und die ist, wie sich unter Linken herumgesprochen haben müßte, eine Hauptursache für die Kriege der Neuzeit.

Und die Nationalstaaten, um den Gedanken von Christian Stock zu Ende zu führen, sind die geographischen Gebilde, in denen sich das jeweils nationale Kapital organisiert hat, um auf dem Weltmarkt entweder friedlich Handel zu treiben oder unfriedlich den Anteil am Profit zu erhöhen.

Zu jedem guten Krieg gehören natürlich Kriegsverbrechen. Nun stellt sich die Frage, was ist ein Kriegsverbrechen? Die Antwort ist gar nicht so einfach. Daran haben sich schon früher Juristinnen und Juristen die Zähne ausgebissen. Denn letztlich ist auch diese Frage keine juristische, sondern eine politische. Das Völkerrecht ist Politik, nicht Recht.

Der Jurist und Sprachwissenschaftler Gerd Hankel hat mit seiner Darstellung der sogenannten Leipziger Prozesse eine überaus sorgfältig recherchierte und fundierte Darstellung der Verfolgung von deutschen Kriegsverbrechen im Ersten Weltkrieg vorgelegt. Darüber hinaus belegt er, daß vieles von dem, was wir selbstverständlich als Kriegsverbrechen bezeichnen würden, weder juristisch noch politisch als solches gewürdigt werden kann. Denn das Konstrukt des Kriegsverbrechens schließt sich nahtlos an das Konstrukt des Völkerrechts an. Und genau das ist das Problem.

Doch vielleicht sollte ich zunächst die Leipziger Prozesse vorstellen. Mit der Niederlage des Deutschen Kaiserreichs im Ersten Weltkrieg wurde im Versailler Vertrag festgeschrieben, daß Wilhelm II. vor ein internationales Gericht gestellt werden sollte, sowie deutsche Kriegsverbrecher an die Siegermächte auszuliefern seien, wo sie dann vor Militärgerichte gestellt werden würden. Dies war in der Geschichte des Völkerrechts ein neuartiger und unerhörter Gedanke. Bislang wurde im allgemeinen so verfahren, daß mit einem Friedensschluß die Vergangenheit ruhen sollte. Kriegsverbrechen wurden also nicht verfolgt. Doch die deutsche Kriegsführung setzte sich in den Augen der Alliierten so eklatant über geltende Normen der üblichen Kriegsbräuche hinweg, daß eine nachträgliche Ahndung derartiger Verbrechen unumgänglich schien.

Nun waren sich die Siegermächte über ihre jeweiligen Nachkriegsvorstellungen nicht einig. Immerhin hatte es sich um einen innerimperialistischen Krieg gehandelt, in dem selbst die Alliierten untereinander vollkommen verschiedene und zum Teil auch gegeneinander gerichtete Kriegsziele besaßen. Diese Uneinigkeit nutzte die neue deutsche Reichsregierung aus. Sie bot den Alliierten an, die ermittelten Kriegsverbrecher in eigener Regie vor dem höchsten deutschen Gericht, dem Reichsgericht in Leipzig, abzuurteilen. Und kam damit durch.

Vor dem Reichsgericht fanden ab dem Frühjahr 1921 17 Gerichtsverhandlungen statt, von denen zehn mit einer Verurteilung und sieben mit einem Freispruch endeten. Hunderte weitere Verfahren wurden [bis 1931] eingestellt. Die Reaktion der Öffentlichkeit auf die Verfahren war durchweg negativ, und zwar sowohl in Deutschland als auch in den Ländern der Entente. Ein Eingriff in die staatliche Souveränität und eine nationale Schande seien die Verfahren, hieß es in Deutschland, und im Ausland wurden sie in die Nähe von Scheinverfahren gerückt oder schlichtweg als juristische Farce bezeichnet. [Hankel, Seite 11]

Nach dem Zweiten Weltkrieg zogen die damaligen Alliierten daraus die Konsequenz, indem sie das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal installierten. Doch auch Nürnberg und die sich daran anschließenden Prozesse blieben halbherzig. Der Kalte Krieg warf seine Schatten voraus; die alten Nazis wurden im neuen antikommunistischen Deutschland dringend benötigt.

Gerd Hankel erzählt nun die Geschichte dieser Prozesse, ihre Vorgeschichte genauso wie die mitunter abenteuerlich anmutenden Windungen des Reichsgerichts, um einen Freispruch zu begründen. Allerdings, und darauf weist Hankel mehrfach hin, machten es auch die Alliierten dem deutschen Gericht zuweilen sehr einfach, auf Freispruch zu erkennen. Viele Vorwürfe waren unsauber dokumentiert oder bezeugt. Was Hankel jedoch nicht daran hindert, gleichzeitig die juristische Rechtmäßigkeit vieler der Urteile festzustellen und ihre moralische Verwerflichkeit. Denn daß deutsche Truppen, insbesondere 1914 in Belgien, schwerste Verbrechen begangen hatten, steht außer Zweifel.

Das grundsätzliche Problem der Verfahren vor dem Leipziger Reichsgericht war jedoch ein anderes – nämlich das Völkerrecht. Was in mehreren Konventionen eigentlich klar definiert schien, ließ so manches Hintertürchen offen. Hintertürchen, die als Ausnahme deklariert waren, wurden von der deutschen Armee zur Regel gemacht. Und auf dieser Grundlage ließ sich prima freisprechen. Dies verweist auf das zusätzliche Problem, daß die kodifizierten Rechtsgrundsätze von den Kriegsparteien unterschiedlich gewertet und umgesetzt wurden.

Wie war nun der Stand des Völkerrechts vor dem Ersten Weltkrieg? Zunächst einmal handelte es sich um Regelungen zwischen Staaten, und zwar den zivilisierten Staaten. Das heißt, in Kolonien oder Gebieten, die Kolonien werden sollten, galt das Völkerrecht nicht. Denn die zu kolonisierenden Gebiete galten ja nicht als zivilisiert. Weiterhin handelte es sich um Regeln der Kriegsführung, die sicherstellen sollten, daß die eigene Armee in Ruhe ihrem Tun nachgehen konnte. Daß heißt, der Zivilbevölkerung wurden nur wenige Rechte eingeräumt. Eine typische Begründung lautete so:

»Wenn man so viel von Menschlichkeit redet, so muß ich daran erinnern, daß auch die Soldaten Menschen sind und ein Recht auf menschliche Behandlung haben. Wenn die Soldaten von Anstrengungen ermattet, nach langen Märschen und Kämpfen sich in einem Dorf zur Ruhe niederlegen, so müssen sie sicher sein können, daß sich die friedlichen Einwohner nicht plötzlich in erbitterte Feinde verwandeln.« [Hankel, Seite 236]

Besser, finde ich, läßt sich der Grundgedanke des Völkerrechts gar nicht fassen. Nicht etwa US–amerikanische Stoßtrupps, die ein fremdes Land besetzen, sind das Objekt der völkerrechtlichen Exekution, sondern fanatische Selbstmordattentäter. Ein ehrenvoll kämpfendes Arschloch hat das Recht darauf, nicht meuchlings an seinem Mordauftrag gehindert zu werden.

Natürlich ist es nicht ganz so einfach. Gerd Hankel beschreibt sehr klar und nachvollziehbar, wie zu Beginn des 20. Jahrhunderts versucht wurde, auch kleineren und gefährdeteren Nationen Rechte zu geben, um sich gegen eine rechtswidrige Invasion zur Wehr zu setzen. Nicht jedes Land hat ein stehendes Heer mit allen Schikanen, gerade Belgien und die Schweiz traten für eine Sonderregelung ein.

Das Bedürfnis, den Krieg weiterhin berechenbar und führbar zu machen, stieß auf das Bedürfnis, Widerstand gegen einen als übermächtig empfundenen Gegner zu leisten, dessen allzu leichte Beute man nicht werden wollte. [...] Den kleineren Staaten, die über keine oder nur kleine reguläre Armee verfügten, wurde ein Widerstandsrecht zugebilligt, das jedoch an bestimmte Voraussetzungen geknüpft war: Zusammenfassung der Zivilisten zu einer disziplinarisch organisierten Truppe, offenes Tragen der Waffen und Abzeichen, Beachtung der Gesetze und Gebräuche des Krieges [...]. Dadurch blieb der Krieg für die größeren Staaten nach wie vor eine kalkulierbare Angelegenheit, während kleinere Staaten im Falle eines Krieges auch auf Nichtsoldaten zurückgreifen konnten, ohne jedoch ein tendenziell unbeschränktes Widerstandsrecht zu haben. [Hankel, Seite 236]

Ich denke, das macht deutlich, welche Interessen das Völkerrecht vertritt und wessen Rechte mit Füßen getreten werden und auch werden sollen. Das Reichsgericht in Leipzig hat dies in seinen Urteilen eigentlich auch nur bestätigt. Massenerschießungen, das Versenken von Lazarettschiffen oder Passagierdampfern – all dies ließ sich durchaus mit dem Völkerrecht in Einklang bringen. Man mußte nur die richtige Argumentationsebene finden. Mit Folgen. Denn es

ist wohl nicht von der Hand zu weisen, daß die 1920 mit den Ermittlungsverfahren einsetzende juristische Bestätigung der deutschen Kriegsführung, beziehungsweise ihre nach Ansicht der Beteiligten und der Öffentlichkeit glänzende Rehabilitierung, keine Auswirkungen auf die Art und Weise hatte, wie der Zweite Weltkrieg von Deutschland geführt wurde. Warum sollten beispielsweise der Kriegsbrauch oder die Kriegsnotwendigkeit mit anderen, völkerrechtsgemäßen Inhalten gefüllt werden, warum sollten Repressalien und Geiselnahmen nach den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit oder zumindest der Humanität praktiziert werden, wenn der deutschen Praxis im Ersten Weltkrieg von höchster Stelle die rechtliche Unbedenklichkeit bescheinigt wurde? Sicherlich läßt sich keine direkte Verbindung zwischen dem deutschen Verhalten in Belgien 1914 und in der Sowjetunion ab 1941 herstellen. Dazu sind die Unterschiede in den Kriegszielen zu groß, vor allem in völkisch–ideologischer Hinsicht liegen zwischen beiden Kriegen Welten. Dennoch gibt es Parallelen in der Bereitschaft zur Hinnahme rechtlich entgrenzter Kriegsgewalt, und sie finden sich auch dort, wo der Krieg kein erklärter Vernichtungskrieg war. [Hankel, Seite 519–520]

Die deutsche Kriegsführung in Belgien 1914 ist jedoch kein Einzelfall. Armeen mehrerer kriegsführender Nationen haben im 20. Jahrhundert sehr deutlich gezeigt, wo sie die Grenzen des Völkerrechts ansetzen. So bleibt die Schlußformulierung dieser überaus lehrreichen und dennoch gut lesbaren juristischen Geschichtsschreibung ein wenig hilflos – aber diese Hilflosigkeit ist nicht dem Autor, sondern den Verhältnissen anzulasten. Er schreibt:

Was also bleibt, um die Täter von Kriegs– und Menschlichkeitsverbrechen nicht straflos davonkommen zu lassen? Die Antwort wird sich, soweit ersichtlich, auf eine Alternative beschränken. Entweder gibt es in dem betreffenden Staat einen Regimewechsel, deutlich genug, damit sich die neue Regierung an die juristische Aufarbeitung der Verbrechen ihrer Vorgänger machen kann, oder eine internationale Strafgerichtsbarkeit wird aktiv und versucht, der Täter habhaft zu werden, um sie zu verurteilen. [...] Aber auch eine ständige internationale Strafgerichtsbarkeit, wie sie seit dem 1. Juli 2002 existiert, als das Statut von Rom in Kraft trat, wird, unabhängig von der Unterstützung mächtiger Staaten, immer auch auf die Kooperation der Staaten angewiesen sein, zumal sie ohnehin nur dann zum Zuge kommt, wenn die einzelstaatliche Gerichtsbarkeit nicht willens oder nicht fähig ist, Verfahren gegen Kriegs- und Menschlichkeitsverbrechen einzuleiten. [Hankel, Seite 522–523]

Vielleicht sollten wir uns an dieser Stelle daran erinnern, daß die Bundesanwaltschaft weder im Falle des Krieges gegen Jugoslawien noch im Falle der Spürpanzergeschäfte und Überflugsrechte einen Grund gesehen hat, die Fötenjäger und Hufeisenplaner anzuklagen. Wie sagte das die Bundesanwaltschaft 1999 so schön: Wenn Gerhard Schröder im Bundestag sagt, wir führen keinen Angriffskrieg, dann ist das so. Insofern liegt das Verhalten der Bundesanwaltschaft durchaus in einer Linie mit den Urteilen des Leipziger Reichsgerichts 1921/22.

Die Leipziger Prozesse. Deutsche Kriegsverbrechen und ihre strafrechtliche Verfolgung nach dem ersten Weltkrieg von Gerd Hankel ist in der Hamburger Edition des Hamburger Instituts für Sozialforschung erschienen und kostet 30 Euro.

 

Schluß

Alltag und Geschichte

Ich bedaure Leipzig, und zwar nicht wegen dieser wenig ehrenvollen Vergangenheit. – Millionen Euro werden sinnlos verpulvert für ein Event, das nicht kommen wird. Wer wird schon Olympische Spiele im biederen Deutschland veranstalten wollen? Wozu überhaupt Olympische Spiele? Wer braucht eine weitere Veranstaltung kollektiven Leistungswahns, der nur dadurch möglich wird, daß Sehnen reißen, Knochen splittern und die pharmazeutische Industrie die notwendigen Präparate bereit stellt? Sport ist Mord– und nichts, aber auch wirklich nichts daran ist nützlich.

Anderen zuzuschauen, wie sie im Kreis herumlaufen, hin und her schwimmen, herumballern oder irgendwelche Bälle traktieren, dies scheint mir doch die Sinnlosigkeit der neoliberalen Spaßgesellschaft mitsamt ihrer Selektionsmechanismen bestens auf den Punkt zu bringen. Wenn wir uns schon für irgendetwas begeistern lassen, dann offensichtlich für Unfug.

Doch eine Frage hätte ich jetzt: wie will Peter Benz denn nun den Neubau des Böllenfalltorstadions begründen? Nicht einmal Kuwait kommt aus Dank für die Spürpanzer zum Vorbereitungsspiel nach Darmstadt und die Lilien befinden sich ohnehin im freien Fall in die Viertklassigkeit. Für solch einen Schwachsinn scheint jedoch Geld da zu sein, das dann angeblich nicht vorhanden ist, um wirklich sinnvolle kommunale Arbeit, soziale Versorgung und leistungsgerechte Tarife zu finanzieren.

In Darmstadts Schulen regnet es hinein. Aber wer braucht schon Schulen? Wird dort wirklich etwas Vernünftiges gelernt? Also etwas, was dich und mich nicht darauf abrichtet, entfremdete und andere bereichernde Arbeit abzuliefern? Wo werden denn emanzipatorische Perspektiven vermittelt? Wo ein Leben außerhalb von Auswendiglernen und stumpfem Nachbeten von Schulbuchwissen? Wo wird der entschiedene Einsatz gegen Kriegsverbrecher gelehrt? Also, laßt es weiter reinregnen und gebt den Schülerinnen und Schülern statt dessen die Freiheit, selbständig zu denken und zu handeln.

Und anstelle eines völlig unnötigen Stadionneubaus könnte man und frau doch so viele Überwachungskameras installieren, die unsere Junkies davon abhalten, in den Einkaufsmeilen zu erschienen und womöglich gar illegalen Stoff zu erwerben. Illegale Geschäfte haben gefälligst profitabel zu sein und in ganz anderen Dimensionen stattzufinden. Wer ist der weltweit größte Drogenhändler? Die CIA? Oder müssen Junkies erst schwarze Koffer vorweisen, um als ehrenwert akzeptiert zu werden?

Bleiben wir doch bei einem echten hausgemachten Konjunkturprogramm: Spürpanzer für Kuwait und Überwachung für alle. Doch leider hat es sich ja – zumindest in Darmstadt – ausgeknechtelt. Bleiben die Spürpanzer. Walter Hoffmann wird für weitere Rüstungsprogramme selbstredend zur Verfügung stehen. Und Andreas Storm? Der sowieso.

Schöne Aussichten.

Nächste Woche, am Ostermontag, gibt es voraussichtlich eine zweistündige Tinderbox schon ab 16 Uhr. Bei all den Seltsamkeiten der postmodernen Beliebigkeit stellt sich ja schon die Frage: was tun? Soll es das schon gewesen sein? Gibt es keine Perspektive außerhalb von kollektivem Sicherheitswahn, schulischem und sportlichem Leistungswahn, militärischen Eroberungswahn und psychopathologischem Geldscheffelwahn?

So oder ähnlich müssen vor 40 Jahren Menschen gedacht haben, die daraus eine Strategie subversiver Aktionen entwickelt haben. Um solcherlei Subversion soll es daher in meiner nächsten Sendung am Ostermontag gehen. – Gleich folgt eine Sendung der Kulturredaktion. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt war Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Presseerklärung der PDS–Bundestagsfraktion vom 3. April 2003. Hier der Wortlaut:

Spürpanzergeschäft mit Kuwait

Die Bundestagsabgeordnete Dr. Gesine Lötzsch erklärt zur Stationierung der Fuchs–Spürpanzer in Kuwait:

Entgegen früherer Ankündigungen der Bundesregierung, die Fuchs-Spürpanzer im Falle eines US-Angriffs gegen den Irak abzuziehen, sollen nun sogar noch mehr ABC–Abwehreinheiten nach Kuwait verlegt werden. Die Stationierung der ABC–Einheiten erfolgt offensichtlich nicht nur aus Gründen der Stärkung der militärischen bzw. zivilen Schutzkomponente, wie das Protokoll einer Delegationsreise des Haushaltsausschusses nach Kuwait vom 31.01. bis 02.02.2003 offenbart. Seitens der Delegation wurden die guten Beziehungen auf politischem, militärischem und rüstungswirtschaftlichem Gebiet hervorgehoben. Besonders betont wurde das deutsche Interesse an einem Erwerb von Spürfüchsen durch Kuwait und auf die positive Beschlusslage hingewiesen.

Auf kuwaitischer Seite wurden ebenfalls die guten Beziehungen zu Deutschland betont und das Interesse am Erwerb von Spürfüchsen unterstrichen, die man sehr schätzt.

Diese Begründung ist an Zynismus kaum zu überbieten. Die Bundesregierung will sich in keiner Weise am Krieg gegen den Irak beteiligen. Zugleich soll die deutsche Rüstungsindustrie mit Billigung der Bundesregierung vom Krieg gegen den Irak profitieren.

Ich fordere die Bundesregierung deshalb auf, ihrer Ankündigung einer Nichtbeteiligung am Krieg endlich Taten folgen zu lassen und die ABC–Spürpanzer sofort aus Kuwait zurückzuziehen.

[2]   Meine eigene Zählung der Kriege der Neuen Weltordnung umfaßt den Krieg der USA plus ihrer Verbündeten gegen den Irak (1991), den Krieg der NATO gegen Jugoslawien (1999), den Krieg der USA gegen Afghanistan (2001 bis heute [2003]), sowie den Krieg der USA mit ihrem treuen sozialdemokratischen Verbündeten Tony Blair gegen den Irak (2003). Der fünfte Krieg der Neuen Weltordnung war eigentlich kein Krieg, sondern ein Gemetzel und ein peinliches Debakel für die USA und ihre Verbündeten: Somalia 1992–1994. Selbstverständlich läßt sich darüber streiten, ob der Genozid in Ruanda [1994], die Massaker im Kongo [seit Ende der1990er Jahre], der Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien [seit 1990] und Rußlands Krieg in Tschetschenien [seit 1994] nicht auch Kriege der Neuen Weltordnung sind. Ich habe jedoch nur diejenigen gezählt, in denen die Bande der Kriegstreiber massiv einmarschiert sind oder bombardiert haben.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 7. März 2006 aktualisiert.
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