Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 31. März 2003, 17.00 bis 18.00 Uhr
Wiederholt:
Dienstag, 1. April 2003, 00.00 bis 01.00 Uhr
Dienstag, 1. April 2003, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 1. April 2003, 14.00 bis 15.00 Uhr
Zusammenfassung:
In der Türkei wird zuweilen noch auf altbewährte Weise gefoltert, während der Hochsicherheits-Standard die Spuren zu verwischen sucht. Die weiße Folter ist ein soziales Konditionierungsprogramm: wer sich nicht unterwirft, wird mittels Isolationstechniken gequält. Ein Darmstädter Tanztheater hat diesen Sachverhalt zu visualisieren versucht. Doch auch fernab von wegschließender Isolation wird der Mensch auf seine Unterwerfung hin konditioniert. Das Humankapital muß davon überzeugt werden, sich entfremdet in den Dienst einer Profitmaschine zu stellen. Der Begriff Biopolitik stellt den Versuch dar, dieses Konzept zu diskutieren.
Ich danke Heike Guth für ihre Gefaßtheit, plötzlich und unvorbereitet ein Mikrofon unter die Nase gehalten zu bekommen, und natürlich für ihre Ausführungen zum Hintergrund dieses Tanztheaters. Weiterhin danke ich Dorothea Mann und Annette Weller für das Zur-Verfügen-Stellen des auf der Wüsten Welle gesendeten Beitrags, Tatjana Jordan für die Akkreditierung am Staatstheater, sowie Katharina Mann, die mich darauf erst aufmerksam gemacht und so einiges an Hintergrundmaterial gefunden hat.
Angesprochenes Buch bzw. besprochene Zeitschrift:
Jingle Alltag und Geschichte
Vor fast genau zehn Jahren, in der Morgendämmerung des 27. März 1993, gab es einen lauten Knall. Das kurz vor seiner Vollendung stehende modernste deutsche Untersuchungsgefängnis war gesprengt worden. Verantwortlich zeichnete die Rote Armee Fraktion, die sich im Jahr 1998 offiziell aufgelöst hat. Nun war der geplante Knast in Weiterstadt nicht irgendein Gefängnis. Dieses Untersuchungsgefängnis war nach den neuesten Erkenntnissen über die Auswirkungen von Gefangenschaft, Isolation und sensorischer Deprivation konzipiert worden.
Was bedeutet das? Gefangenschaft, gerade Untersuchungshaft, hat ja nicht nur den Zweck, einen möglichen oder tatsächlichen Straftäter hinter Gitter zu bringen. Sofern eine Schuld festgestellt wurde, muß sie gesühnt werden, sofern die Schuld erst noch zu beweisen ist, muß der oder dem Gefangenen die entsprechende Kooperation nahegebracht werden. Dies widerspricht zwar den deutschen Strafrechtsnormen, wonach keine und niemand gezwungen werden kann, an der eigenen Aburteilung mitzuwirken, aber ein Geständnis erleichtert vieles.
Die jüngste Folterdiskussion in Frankfurt hat ja gezeigt, wie die Realität zuweilen aussieht und vielleicht auch zukünftig aussehen soll. Mehr oder weniger sanfter Druck, in den USA wird dies bekanntlich der dritte Grad genannt, soll der Kooperationsbereitschaft nachhelfen. Günstiger ist es da natürlich, wenn keine Spuren hinterlassen werden. Eine Folter, die nicht als solche wahrgenommen wird – das ist Isolationshaft unter den Bedingungen sensorischer Deprivation, also systematischen Reizentzugs. Entsprechende Forschungsprogramme aus den USA, aber auch der Bundesrepublik Deutschland, sind seit über 40 Jahren bekannt.
In der öffentlichen Diskussion wurde der Knast in Weiterstadt jedoch anders wahrgenommen. Das therapeutischen Zwecken dienende Schwimmbad wurde zum Reizthema der strafwütigen Meute schlechthin. Denn es widersprach dem eigentlichen Kerngedanken der seit den 80er Jahren geplanten und neu eingerichteten Knäste. Nicht mehr die Resozialisierung sollte als Leitmotiv die Gefangenschaft bestimmen, sondern nur noch das Wegsperren, das Wegschließen, das Ausgrenzen und Totschweigen.
Die Kriminalität, eingebildete oder tatsächliche, welche eine asoziale und ihren Grundfesten kriminelle Gesellschaft wie die unsere hervorbringt, sollte ganz im Sinne neoliberaler Ordnungsvorstellungen individualisiert werden. Wen der Markt nicht mehr braucht, wer sich anderweitig durchschlagen muß, wird ausgegrenzt und abserviert. Abschiebung oder Knast, Obdachlosigkeit oder Psychiatrie – das sind die Lösungen einer Zivilgesellschaft. Wo genügend Arbeitslose herumlaufen, die bereit sind, jeden Job anzunehmen, bedarf es keiner sozialen Investition mehr. Investiert wird statt dessen in Überwachungskameras, biometrische Datenerfassung und High Tech Knäste. Und wurde uns der Knast in Weiterstadt in den 80er Jahren noch als Untersuchungsgefängnis schmackhaft gemacht, so ist dort inzwischen der vorauszusehende überbelegte Strafhaftalltag eingezogen.
Und damit sind wir beim Thema meiner heutigen Sendung. Repression, Folter und Knast – das sind keine exotischen Randthemen, das ist Standard im Europa der Menschenrechte. Doch auch Isolationshaft, gedacht, Menschen zu brechen, ist nicht immer erfolgreich. Eva Haule, politische Gefangene aus der RAF, ist ein Beispiel hierfür. Am vergangenen Sonntag war im Staatstheater die Premiere eines Tanztheaters, welches durch Photographien von Eva Haule inspiriert worden ist.
Und wo Menschen ausgegrenzt und weggesperrt werden, ist der Gedanke an Vernichtung nicht weit. Was dies mit Humankapital und Biopolitik zu tun hat, davon handelt mein letzter heutiger Beitrag.
Für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt begrüßt euch Walter Kuhl.
Isolationshaft ist weiße Folter, eine Folter, die man und frau den Gefangenen zunächst nicht ansieht. Weiße Folter zielt direkt auf das vegetative Nervensystem, zielt darauf, autonome Körperfunktionen zu behindern. Der Sinn ist nicht einmal unbedingt, eine Aussage, den Verrat zu erzwingen. Gerade bei Gefangenen, die wissen, wofür sie stehen und warum sie im Knast sind, ist der Versuch der Folter zu diesem Zweck von vornherein sinnlos. Und genau deshalb waren politische Gefangene weltweit die Versuchskaninchen der Deprivationsforscher.
Ulrike Meinhof hatte schon sehr früh, nämlich 1973, darauf hingewiesen, was der Reizentzug, aber auch die nicht mehr zuzuordnende Reizflutung mit einer Gefangenen machen kann. Die vollkommene Desorientierung bei gezielten Lichtreizen, bei Schlafentzug und Geräuschdosierungen war beabsichtigt. Der Tote Trakt in Köln-Ossendorf war ein Versuch, Gefangene zu brechen, sie als politische Idiotinnen vorzuführen. Zu nichts anderem diente der Versuch, bei ihr einen Gehirntumor feststellen zu lassen. [1]
Birgit Hogefeld, aber auch andere politische Gefangene, haben dieses Programm oftmals beschrieben. Selbst die Farbe der Zahnputzbecher war auf dieses Programm abgestimmt. Und während sie im Knast in Bielefeld direkt nach ihrer Verhaftung in Bad Kleinen 1993 wochenlang unter vollkommener Geräuschisolation untergebracht war, wurde sie anschließend nach Frankfurt-Preungesheim gebracht – direkt vor eine Baustelle mit Preßlufthämmern und ohrenbetäubendem Lärm. Daß das vegetative Nervensystem da nicht mitspielt, leuchtet ein.
Doch damit ist nicht gesagt, daß die weiße Folter die althergebrachten Foltermethoden abgelöst hätten. Gerade im Menschenrechtseuropa gelten die Menschenrechte nur für diejenigen, die sich anpassen und nicht aufmucken. Inwieweit die sinkenden Sozialstandards noch als Menschenrecht bezeichnet werden können, lasse ich einmal dahingestellt. Zwei Länder sind es jedoch, die immer wieder in die Schlagzeilen geraten, weil in ihnen das althergebrachte Repressionsprogramm weiter durchgezogen wird – Spanien und die Türkei. Aber auch Großbritannien, Italien oder Griechenland werden immer wieder erwähnt. Und die deutsche Abschiebepraxis, vor allem am Frankfurter Flughafen, kann ziemlich tödlich sein.
Vor zwei Wochen hat der Oberste Gerichtshof Spaniens die Baskenpartei Batasuna verboten. Dies ist nicht die erste Partei im Baskenland, in Euskadi, die verboten wurde, und es wird auch nicht die letzte sein. Vorgeblich wird das Verbot mit angeblichen Kontakten zur ETA begründet, doch der Beweis wird nie erbracht. Spaniens Justiz soll das Dilemma der Politik lösen. Denn im Baskenland gibt es eine große Mehrheit für mehr Autonomie und mehr Selbstbestimmung, und vor allem für den Abzug der verhaßten spanischen Spezialeinheiten.
Daß sich die spanische Regierung Todesschwadrone geleistet hat, wurde Mitte der 90er Jahre auch offiziell bestätigt. Doch bis heute sind willkürliche Verhaftungen und Folter an der Tagesordnung. Das spanische Rechtssystem ermöglicht es, Festgenommene mehrere Tage lang ohne Kontakt zur Außenwelt festzuhalten. Die am Körper vorzufindenden Spuren belegen den Sinn dieses Gesetzes.
Neben Organisationsverboten hagelt es auch Verbote für baskischsprachige Zeitungen und unabhängige Medien. Ähnlich wie in Deutschland in den 70er Jahren, als jede linke Äußerung zum Sympathisantentum des Terrorismus umgedeutet wurde, so behauptet die spanische Justiz, die baskische Linke sei irgendwie Teil der ETA oder arbeite ihr zu. Für derartige Behauptungen bedarf es keiner Beweise. Es reicht ein Richterspruch und das Verbot tritt in Kraft. Ähnlichkeiten zu deutschen Staatsschutzprozessen sind garantiert zufällig und bestimmt unbeabsichtigt.
Die Polizeidichte ist im Baskenland eine der höchsten in Europa. Die Polizei hat die Anweisung und das Recht, mutmaßliche Terroristinnen und Terroristen zu erschießen, bevor eine angeblich gefährliche Situation entsteht. Nach dem 11. September hat die Antiterrorabteilung der spanischen Polizei ohnehin freie Hand. Selbst Hausbesetzer gelten seither als terroristische Vereinigung.
Eine professionelle Medienberichterstattung gehört natürlich zu jeder guten Antiterror-Repressions-Strategie; und deshalb sehen wir regelmäßig Bilder in Zeitungen und im Fernsehen, wenn Hunderttausende gegen die ETA auf die Straße gehen. Daß ebenfalls Hunderttausende im Baskenland gegen die spanische Besatzung auf die Straße gehen, erfahren wir hingegen nicht.
Spanien ist selbstredend ein geachtetes Mitglied der Europäischen Menschenrechtsunion. Die Türkei hingegen möchte erst noch aufgenommen werden. Dafür muß sie noch etwas üben, nämlich die Menschenrechte so einzuhalten, daß dies dem allgemein akzeptierten europäischen Standard entspricht. Spanien gibt hier einige Fingerzeige, doch die weiße Folter macht viel mehr möglich.
Nachdem sich die türkischen Sicherheitskräfte in Deutschland kundig gemacht hatten, fingen sie in der Türkei mit dem Bau neuer Gefängnisse an, den sogenannten F-Typen-Gefängnissen. Während bis dahin politische Gefangene in großen Gefängnissälen zusammengepfercht worden waren, sollten sie nun nach mitteleuropäischem Standard in Einzel-Isolationszellen verfrachtet werden, in denen umso leichter und ungestörter gefoltert werden kann. Ende 2000 war es soweit. Doch die Gefangenen wehrten sich und wurden systematisch ausgebombt. Mehrere Gefangene kamen durch den Angriff des türkischen Staates ums Leben.
Gefangene mehrerer Organisationen traten daraufhin in einen langanhaltenden Hungerstreik, Todesfasten genannt. Während die meisten Organisationen nach mehreren Monaten diesen Hungerstreik für sinnlos hielten, weil sich die Türkei menschenrechtskonform unnachgiebig zeigte, hält die Revolutionäre Volksbefreiungspartei DHKP-C am Todesfasten fest. Welche Wahl hat sie auch? Schon bislang hatte der Kampf selbst für minimalste Verbesserung der Haftbedingungen Tote und Schwerstkranke gefordert. Doch statt wenigstens diese freizulassen, scheint der türkische Staat und sein Repressionsapparat ein perverses Vergnügen daran zu haben, sie im Knast zu behalten. Das Todesfasten seit Ende 2000 hat inzwischen über einhundert Tote gefordert.
Leider gibt es kein [mir bekanntes] aktuelles gutes Buch zur Situation im Baskenland. Hier empfehle ich die Internetseiten von Nadir oder von linkeseite.de. Was die Türkei und den seit fast zweieinhalb Jahren andauernden Hungerstreik angeht, hierzu gibt es ein gutes und informatives Buch, das im Unrast Verlag erschienen ist. Es heißt Bei lebendigem Leib und behandelt das Gefängnissystem und den Gefangenenwiderstand in der Türkei [2]. Darüber hinaus belegt es das spezifische Interesse Europas, vor allem Deutschlands, an einer ganz gewissen Form der Menschenrechtspolitik. Isolationshaft ist nämlich ein Exportschlager.
Das Theater der postmodernen Beliebigkeit lebt von der Provokation um der Provokation willen. Selten ist eine Provokation wirklich politisch, noch seltener ist sie sinnvoll und notwendig. Und das, obwohl unsere kapitalistisch-patriarchale Wirklichkeit allenthalben Protest provozieren müßte. Doch wir gehen lieber ins Theater als auf die Straße, lieber ins Kino als vor die Zentren der arroganten Macht.
Im Staatstheater Darmstadt ist zur Zeit ein Tanztheater zu sehen, das zur Provokation reizt und Diskussionen aufwerfen mag, die jedoch sinnvoll und notwendig sind. Gezeigt wird das Tanztheater Wenn der Körper eine Stummheit ist, nach Motiven und auf der Grundlage von Auseinandersetzungen mit der politischen Gefangenen Eva Haule und ihren Haftbedingungen.
Eva Haule wurde 1986 als Mitglied der Roten Armee Fraktion in einem Eiscafé in Rüsselsheim festgenommen und zunächst zu 15 Jahren Haft verurteilt. Als Mitte der 90er Jahre ihre Haftentlassung absehbar war, wurde eine weitere Anklage wegen des Anschlags auf den Kriegsflughafen der USA auf der Rhein-Main-Airbase zusammengeschustert. Ziel war, eine besondere Schwere der Schuld festzustellen, damit eine reguläre Entlassung, die selbst bei lebenslänglicher Haft nach 15 Jahren eintreten sollte, verhindert werden konnte. Der Staatsschutzsenat am Oberlandesgericht Frankfurt nahm seine Aufgabe ernst und verurteilte Eva Haule 1994 wunschgemäß, obwohl die Beweislage nicht nur dünn, sondern faktisch nicht vorhanden war. Aber so funktionieren Staatschutzprozesse eben. Ihre Logik bemißt sich nicht nach Beweisen, sondern nach politischen Erfordernissen. [3]
Im Knast in Frankfurt-Preungesheim lernte Eva Haule das Photographieren. Ihre unter einschränkenden Knastbedingungen entstanden Bilder sind inzwischen mehrfach ausgestellt worden und werden demnächst auch im Staatstheater zu besichtigen sein. Dorothea Mann und Annette Weller haben die Ausstellung, die letztes Jahr in Stuttgart zu sehen war, im Freien Radio Wüste Welle in Tübingen so beschrieben:
O-Ton Dorothea Mann und Annette Weller :
„Wie soll man das beschreiben, wenn man tagein-tagaus über die Jahre nur das Gleiche sieht, die gleichen Wege geht? Das reduziert den Blick, das stumpft ihn ab. Das Fotografieren macht den Blick wieder auf.“
Eva Haule, geboren 1954, ist Gefangene im Frauengefängnis Frankfurt-Preungesheim. Sie wurde 1986 verhaftet und als Mitglied der RAF zu lebenslänglich verurteilt. Seit 1992 hat sie die Möglichkeit, im Gefängnis angebotene Fotokurse zu besuchen. Sie erlernte das fotografische Handwerk unter Gefängnisbedingungen: alle zwei Wochen vier Stunden Fotokurs plus zwei Stunden Dunkelkammer, einfache technische Ausrüstung, wenig Material.
Die Fotos sind im Gefängnis entstanden: 12 Blumenbilder in Farbe und 28 Schwarzweiß-Porträts von Frauen. Frauen, mit denen Eva Haule sich verbunden fühlt. „Was mich angezogen hat an ihnen: Sie tragen ihr hartes Leben mit Würde und Schönheit. Sie sind trotz allem, was sie durchgemacht haben – Leben auf der Straße als Drogenabhängige, Gewalterfahrungen, Krankheiten, Armut – nicht zerstört, nicht abgebrüht“, schreibt sie. Und über sich selbst als Fotografin: „Von mir wissen die Frauen, dass ich sie mit Achtung und Respekt anschaue und so fotografiere. Nur so konnten diese Bilder entstehen.“
Die Frauen zeigen sich, wie sie sind. Keine präsentiert sich für ein imaginäres Publikum. Denn die Fotos waren ursprünglich nicht für die Öffentlichkeit, sondern für Freunde und Freundinnen gedacht. Drei Jahre hat es gedauert, bis die Bilder entstanden sind. Jede Fotosession musste vom Sicherheitsdienst und der Anstaltsleitung genehmigt werden, die Frauen hatten Einverständniserklärungen zu unterschreiben – ein langwieriger Prozess.
Eine kleine Lupe, die einem Versandhauskatalog beilag, brachte Eva Haule auf die Idee, Nahaufnahmen von Blumen damit zu machen. Durch die Lupe betrachtet, gab es nur noch die Blume und sonst nichts – sinnlich, erotisch, kraftvoll. Die Lupe, vor die Kamera gehalten, wurde ihr Makro-Objektiv, durch das sie die Blumen fotografiert hat.
Eva Haule ist seit mehr als 15 Jahren im Gefängnis, ebenso wie Christian Klar, Brigitte Mohnhaupt und Rolf-Clemens Wagner. Die Fotoarbeiten der Öffentlichkeit zu zeigen, ist ein Weg, auf diese Situation aufmerksam zu machen. Von „normalen“ Haftbedingungen kann bis heute keine Rede sein. So wurde es Eva Haule nicht erlaubt, bei der Ausstellungseröffnung dabei zu sein. Die Ausstellung wurde [am 11. Juli 2002] in Abwesenheit der Künstlerin [in Stuttgart] eröffnet.
Diese Bilder [4] inspirierten Regina Heidecke und Birgitta Trommler vom Tanz/Theater am Darmstädter Staatstheater zu einem ungewöhnlichen Projekt. Die Dramaturgin Heike Guth stellte dieses Projekt vor kurzem in einer Matinee vor.
O-Ton Heike Guth :
Man hat anfänglich Material vorgestellt, also Bücher empfohlen, die Videos angeschaut, gerade das Interview mit Haule angeschaut, verschiedene Briefe gelesen, Literatur gelesen zu dem Thema Gefangene, hat sich zusammengesetzt. Und es war bei dieser Produktion anfänglich auch eine sehr kontroverse Diskussion über das Sujet, über diese Frau. Was will ich eigentlich zeigen? Bin ich als Tänzer bereit, diesen Weg mitzugehen? Interessieren ich mich denn, die Phantasien von Eva Haule zu zeigen und auch ein Stück mit auf die Büne zu bringen? Es waren ganz wichtige Fragen.
Und da draus entsteht ja immer so ein Improvisationskomplex, den Birgitta Trommler im Hintergrund hatte, mit dem sie anfängt, in der Diskussion Bewegungsmuster zu erzeugen. Ich habe jetzt dieses [Programmheft, in dem das folgende zu sehen ist,] leider nicht mitgebracht, aber da war zum Beispiel auch ein Moment gewesen des … in der Improvisation das Suchen, wie reagiert ein Körper auf Gefangenschaft? Die Tänzer haben Ohrstöpsel genommen und haben sich so in dieses Körperliche zurückgezogen und haben versucht, Körpergeräusche wahrzunehmen. Es gibt einen Moment in der Musik, wo David Moss auch das Herzklopfen zeigt, das Schlucken zeigt, Ohrgeräusche, Knistern der Knochen, all dies sind Dinge, die die Tänzer bemerkt haben bei sich, wo sie über eine relativ lange Zeit mit Ohrstöpseln im Ohr gearbeitet haben.
Dann sind natürlich auch viele eigene Phantasien, unterschiedliche Herkünfte. Amelia Poveda kommt aus Ecuador, hat als Südamerikanerin ganz andere Erfahrungen mit Gefangenschaft oder auch mit Diktatur, mit politischen schwierigen Situationen als jemand, der aus Frankreich kommt. Also, das sind Sachen, die natürlich mit einspielen.
Oder – gut, wer war schon als politischer Gefangener inhaftiert? Keiner. Aber gibt es denn Situationen, die auch mich in meinem Leben – im Umgang mit Krankheit, im Umgang mit Gefangensein, im Umgang mit Angstgefühlen – in eine Situation gebracht haben, die vielleicht vergleichbar ist, die mir vielleicht Informationen gibt, die ich körperlich nützen kann, um sie dann später auf die Bühne zu stellen? Also, es ist schon ein Werk, das ganz stark in einer gemeinsamen … in einem Zusammenspiel Tänzer und Choreograph, Regisseurin entstanden ist.
Nun ist Eva Haule als Terroristin, als Staatsfeindin, verurteilt worden. Macht eine solche Inszenierung aus ihr dann nicht eine Märtyrerin? Dazu Heike Guth:
O-Ton Heike Guth :
Ich habe versucht, dem Ganzen dadurch zu antworten, indem ich eben auch Frau Trommler und Frau Heidecke Fragen gestellt habe zu dem … was ist für euch das Politische am Theater? Und wie seid ihr mit diesem Thema umgegangen? Wie gesagt, Regina Heidecke sagt: „Wenn man mir die Frage nach Schuld stellt, fühlt sich jetzt die Frau schuldig, hat sie denn bereut, zeigt sie Sühne, interessiert mich das nicht. Mich hat immer interessiert diese Person. Wie kann man überleben? Wie kann man 16 Jahre Gefängnis überleben, ganz akut als Mensch? Das ist das, was mich da dran interessiert hat.“ Und auch Frau Trommler sagt immer wieder: „Es ist mir egal, ich kann als Person überhaupt mich doch mit der Schuldfrage nicht auseinandersetzen. Dafür gibt es Richter. Sie hat ihre Strafe bekommen. Nun sitzt sie hier 16 Jahre. Muß ein Mensch sein Leben lang sitzen, muß ein Mensch sein Leben lang bereuen? Es ist 16 Jahre her; was ist in den 16 Jahren passiert?“
Also, diese Frage läßt sich in dem Sinn so einfach nicht beantworten und das wollen wir mit dem Tanztheater auch nicht, daß wir einfach plakativ sagen: Gut, es könnte ja auch sein, daß es unser Wunsch ist, eine Märtyrerin zu zeigen und zu sagen, es gab genug Gründe in unserer Gesellschaft, auf die Barrikaden zu gehen. Das könnte ja auch eine These sein, die wir mit diesem Stück zeigen wollen. Wollen wir überhaupt nicht, da drum geht's uns gar nicht. Es geht uns um einen Zustandsbericht, es geht uns um die Situation, um des Seins, des Gefangenseins. Wie kann ich damit umgehen, was bedeutet das für mich, bin ich noch als Mensch aktiv, wie kann ich denn aktiv oder intakt bleiben als Person, als Mensch, als Frau nach 16 Jahren, so einer langen Zeit?
Denn ich denke, ich habe genug Interviews gesehen, auch im Fernsehen, gerade von anderen RAF-Angehörigen, wo ich das Gefühl hatte, der Mensch ist gebrochen, den ich da sehe, der spricht. Die Fragen, die an ihn gestellt waren, empfand ich als verletzend und beleidigend, der Mensch war gebrochen, der hat nach 16 Jahren nicht mehr einen klaren Satz politisch formulieren können. Er hatte keinen klaren Gedanken mehr fassen können. Das hat mich sehr betroffen gemacht, mich als Mensch. Und da drum ging es uns eigentlich schon mit diesem Abend. Die Situation, einen Zustandsbericht zu zeigen, und nicht &#´8230; bei uns ist keiner fähig zu sagen, was ist Schuld, was ist Sühne, was ist Reue. Da drüber möchte ich nicht reden an diesem Abend, da drüber möchten wir diesen Abend nicht machen.
Sind die Auswirkungen der Isolationshaft überhaupt darstellbar? Heike Guth sieht hierbei gerade im Tanztheater eine gute Möglichkeit, sich diesem Problem zu nähern.
O-Ton Heike Guth :
Das eine Element ist das Element der Bücher, wie wichtig es war, sich zu beschäftigen und sich durch das Lesen und das Beschäftigen mit Literatur auch in eigene Welten zurückzubringen. Ich weiß nicht, vielleicht kennen Sie das von sich selbst, schon als Kind oder als Jugendlicher, wenn man viel liest, in welche Welten man verschwindet, auch heute noch. Ein Krimi, und man ist zwei Tage nicht ansprechbar. Es kann um einen herum die Welt in die Luft gehen, und man selbst sitzt da in dieser kleinen Welt und kann sich eine ganz eigene Welt bauen. Deswegen waren in diesem Bereich auch Bücher auch so wichtig; und die Darstellerin Sigrid Schütrumpf, die als Schauspielerin bei dieser Produktion mitmacht. – Sie haben vielleicht auch den Unterschied gesehen, denn sie geht natürlich auch ganz anders an eine Rolle heran, sie ist diejenige, die auch mit Sprache umgeht, diesen kleinen Text liest über dieses … wie verändert sich die Körperwahrnehmung durch diese Isolation, in der ich mich befinde. Auf der anderen Seite das Tanztheaterensemble mit Amelia [Poveda], die diese Hauptrolle im Tanz … wie sie sich versenken können in Bücher und eine eigene Welt dagegen schaffen.
Dann war es ein zweiter, ein wichtiger Aspekt: das ist eigentlich dieses Schlagwort Kreativität. Wie wichtig es ist, eigenkreativ zu sein, sich mit Dingen zu beschäftigen, die einem wichtig sind, einem selbst, auch wenn sie nach außen ganz sinnlos erscheinen mögen. Und deswegen beschäftigen sich in einer Sequenz auch alle Tänzer und die Darsteller mit Stoffen. Das ist ein ganz feinstoffliches Moment des Stoffes, das ist ein ganz erotischer Umgang eigentlich mit Stoff. Man spürt etwas, man nimmt ein Gegenüber wahr, der in dem Moment kein Mensch sein kann, sondern ein Ding. Und trotzdem ist es ganz wichtig, diese eigene Kreativität immer wieder zu suchen und immer wieder anzusprechen und immer wieder zu äußern, um gegen diese Abstumpfung und die Monotonie, mit der man sich auseinandersetzen muß, einen Kontrapunkt zu bieten und trotzdem bei sich zu bleiben. Das sind diese ganzen Fragen, die eigentlich in dieses Thema eingearbeitet werden.
Dann war ein Bild ganz wichtig für uns, ein Blumenbild, das Sie jetzt so direkt nur einmal geäußert sehen auf der Bühne. Die Gefangene Eva Haule hat sich sehr viel mit Blumen beschäftigt. Und ihre ersten Photographien sind auch Blumen. Eva Haule beschreibt sehr schön, was für eine Bedeutung Blumen hatten. Also, daß sie anfänglich Blumen in ihre Zelle bekam, und das war etwas sehr Schönes gegen diese harte und kalte Gefängniswelt. Und sie hat sich dann mit einer Lupe mit diesen Blumen beschäftigt und ist ganz in diese Blumen hineingegangen. Und Sie sehen auch hinterher auf den Bildern, man erkennt teilweise … es sieht aus wie inszenierte Landschaften. Man erkennt gar nicht mehr so, wo das herkommt, daß das jetzt ein Blumenbild ist, sondern man sieht eigentlich ganze Phantasiewelten entstehen. Und das ist ein sehr sehr schönes Bild, das wir versucht haben auf der Bühne umzusetzen durch dieses Stoffbild, die Beschäftigung mit dem Stoff. Also ganz hineintauchen in eine Atmosphäre und etwas Neues da draus zu erschaffen, ein eigenes Bild.
16 Jahre bei zum Teil völliger Abschottung und bei begrenzter Realitätswahrnehmung – wir wurden und werden von einer Flut an Informationen und Begegnungen überschüttet. Wir wissen ja manchmal gar nicht, wie wir diese ganzen Informationen verarbeiten sollen. Das sind Erfahrungen, die eine Gefangene nur sehr sehr begrenzt machen kann.
O-Ton Heike Guth :
Und was ganz wichtig ist bei dem Bühnenbild ist noch: es gibt ein Laufband, das Sie heute [während der Matinee] nicht gesehen haben. Denn die Beschäftigung mit Gefängnis ist eine sehr wichtige Beschäftigung, auch das Moment Zeit zu hinterfragen. Also jemand, gerade Gefangene äußern immer wieder dazu: „Diese Zeit, diese Monotonie. Fragen Sie mich was 16 Jahre sind, ich sitze hier 16 Jahre, und ich kann Ihnen nicht sagen, was 16 Jahre sind. Es ist nichts gewesen, und trotzdem, die Tage sind so lang, daß sie nie vorbeizugehen scheinen.“
Also – uns war es wichtig zu zeigen, diesen Zeitfaktor zu äußern und zu verbildlichen. Das ist auf der einen Seite, die Tage gehen nicht vorbei, die Minuten kleben an einem, diese Tage wollen nicht enden. Es gibt um 5 Uhr Abendessen und dann ist diese lange Nacht vor einem, und am nächsten Morgen um 6 geht das Frühstück los, und dazwischen ist nichts, nichts, außer einer Zelle mit sechs Quadratmetern, in der ich eigentlich nichts machen kann, in der ich mich kaum bewegen kann. Sie haben vielleicht auch bei dem letzten Teil [der Probe] gesehen, wenn die Männer reinkommen und die Frauen. Es ist ein Messen dabei. Man halt also diese sechs Quadratmeter, und mehr hat man nicht. In diesen sechs Quadratmetern muß ich mich bewegen bis auf diese eine Stunde Hofgang, die mir zusteht am Tag. Also dieses Messen, was ist möglich in diesen sechs Quadratmetern, und trotzdem zu einem Tanz zu kommen und trotzdem auch mal ein euphorisches Gefühl zu haben.
Und dann auf der anderen Seite – 16 Jahre sind vorbei, 16 Jahre habe ich Freunde nicht gesehen, habe ich Familie nicht gesehen, habe ich bis auf die wenigen Kontakte, die mir möglich sind, keinen Kontakt gehabt. Und wir haben dann ein Laufband eingeblendet, das eigentlich von der Zeit losgeht, von der Zeit der Gefangennahme '86, und endet in der Heutzeit, März 2003. Und Sie werden sehen, eine immense Flut von Informationen, die über einen hinwegzieht, was ist eigentlich alles passiert in der Zeit außerhalb des Gefängnisses im politischen Bereich, im kulturellen Bereich, auf der ganzen Welt. Unendlich viel [ist] passiert. Und in der Zelle ist in den 16 Jahren ganz ganz wenig passiert an eigener Zeit. Und es gibt noch ein zweites Moment der Zeit – [zur Bühnenbildnerin gewandt:] da mußt du mich korrigieren, wenn es nicht stimmt – es war angedacht, noch eine große Uhr aufzuhängen, daß man dieses Moment der Jetztzeit auch erfaßt. Dieser Zeiger, der sich in der Zeit der Vorstellung, diese eine Stunde und 10 oder 15 Minuten, die diese Vorstellung dauern wird, ganz langsam fortbewegt. Das ist die andere Zeit, die dagegensteht, gegen diese schnell rasenden Informationen, die da über den Kopf vorbeiziehen.
Ja, dieses Tanztheater ist multimedial und geschieht auf mehreren Ebenen; und manchmal verliert man dabei auch den Überblick. Das sind sechs, sieben Ebenen gleichzeitig, die es zu beachten gilt, eben auch das schon angesprochene Laufband, das wir dann in der Premiere am Sonntagabend, also gestern, gesehen haben. Es enthält einen sachlichen Fehler, mal sehen, ob ihr den Fehler bemerkt. Ja – dieses Tanztheater wirkt auf einen politischen Menschen wie mich etwas befremdlich. Also, mit bestimmten Sachen habe ich auch relativ wenig anfangen können, mit anderen Sachen konnte ich eine Menge anfangen, weil ich kenne genügend Berichte von Gefangenen, was Isolationshaft bedeutet. Das wird schon wiedergegeben. Und insofern ist auch dieses Tanztheater durchaus eine empfehlenswerte Abendveranstaltung, vor allem, wenn sie dann dazu führt, sich auch mehr mit der Materie zu befassen.
Nun trägt die bewußt hergestellte Abschottung vor der Realität einer politischen Gefangenen zuweilen auch ziemlich skurrile Züge. Eine Zusammenarbeit mit Eva Haule – für das Tanztheater – war nur begrenzt möglich. Und selbst der Staatsschutzapparat scheint Angst vor den Möglichkeiten der Kunst zu haben. Man mag es gar nicht glauben.
O-Ton Heike Guth :
Eva Haule war auch eingeladen, an einem Tag den Proben zuzuschauen, sie zu begleiten. Das wurde ihr leider nicht erlaubt, das wurde verboten. Also, sie ist im Geiste anwesend, das muß ich schon sagen. Gerade dieses Blumenbild hat … Genauso wie sie sagt, sie möchte gerne … sie autorisiert natürlich auch die Ausstellung, die wir zeigen mit Photos von ihr. Also, es gibt indirekten Kontakt. Die Redakteurin Regina Heidecke hat über ein Jahr mit ihr brieflichen Kontakt geführt, bis ihr erlaubt wurde, sie auch selbst zu sehen und das Interview zu machen. Und natürlich kann man ein Interview im Fernsehen nicht zeigen, wenn man nicht das Einverständnis desjenigen hat, der interviewt wird. Das wäre ja ein Unding. Also, es ist ein ganz direkter Kontakt da, und soweit es möglich ist bei den Bedingungen, die man hat … Es ist ja nicht so ein intensiver Kontakt möglich, weil einfach die Bedingungen anders sind. Aber das, was uns möglich ist, ist an Austausch passiert.
Ich habe zum Beispiel auch eben [im nicht gesendeten Teil der Matinee] diese Geschichte zitiert zwischen ihrem Freund Helmut Pohl und Eva Haule, die sich sehr viel gemalt haben. Es gab Zeiten, da haben sie sich nicht Briefe geschrieben, sondern Briefe gemalt. Bis es verboten wurde, weil man befürchtete, daß die gemalten Briefe einen Code haben, daß sie sich mit den Farben unterhalten. Ganz einfach, daß eine Farbe einen Buchstaben bedeutet. Letztendlich läßt sich vielleicht etwas da draus an Informationen hin- und herschicken, die ich als Betrachter nicht verstehen kann. Es wurde verboten nach einer Weile, diese Briefe zu schicken. Und Helmut Pohl meinte da drauf nur: „Für mich war es wie ein Triumph der Kunst.“
Wenn der Körper eine Stummheit ist – das Tanztheater ist am kommenden Samstag, sowie am 6. und am 19. April [2003] im Kleinen Haus des Staatstheaters jeweils um 19 Uhr 30 zu sehen. Die Ausstellung mit den Photographien von Eva Haule wird am kommenden Samstag nach der Vorstellung eröffnet; sie ist bis zum 25. April im Staatstheater zu besichtigen. Das von Heike Guth angesprochene Interview mit Eva Haule ist am kommenden Sonntag um 22 Uhr 45 im Hessenfernsehen zu sehen.
Besprechung von: Mittelweg 36 Heft 1/2003, 94 Seiten, € 9,50
Während Isolationshaft eine Form der kapitalistischen Vergesellschaftung ist, die darauf zielt, Menschen entweder zu brechen oder ihr vegetatives Nervensystem zusammenbrechen zu lassen (oder beides), ist die ökonomische Nutzbarmachung des Menschen eine andere Form derselben Vergesellschaftung.
Die Zeitschrift Mittelweg 36 aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung thematisiert diese Nutzbarmachung des Menschen in ihrem ersten Heft dieses Jahres anhand der Begriffe Biopolitik und Humankapital. Die Fragestellung, die zunächst einmal nichts damit zu tun haben scheint, ist, warum zweckrationales Handeln einer modernen zivilisierten kapitalistischen Gesellschaft bruchlos zusammengehen kann mit der Vernichtung von Leben.
Und der Aufsatz von Ulrich Bröckling mit dem Thema Menschenökonomie, Humankapital hat es in sich. Seine Argumentation beginnt mit der zunächst gar nicht so einfach zu begreifenden Aussage, daß die gesellschaftliche Ordnung der Moderne gar nicht zu denken ist ohne die Ausnahme, ohne die Möglichkeit des straffreien Tötens. Es ist die Rede von Biopolitik. Immer schon seien in der abendländischen Tradition Menschen zu Rechtssubjekten gemacht worden und immer schon sei auch festgelegt worden, welche Formen menschlichen Lebens aus dem Gemeinwesen ausgeschlossen bleiben sollen. Die Moderne ist demnach kein Bruch dieser Tradition, sondern ihre konsequente Fortführung. Wenn wir heute von Biopolitik reden, dann ist meist von Stammzellenforschung oder therapeutischem Klonen die Rede. Weniger ist die Rede davon, welches Leben der Biopolitik als lebenswert gilt. Denn Biopolitik ist vor allem eines – eine politische Ökonomie der Bevölkerung.
Ulrich Bröckling baut seine weitere Argumentation auf den Schriften zweier völlig unterschiedlicher Autoren auf. Zum einen ist hier der der Sozialdemokratie nahestehende Autor Rudolf Goldscheid zu nennen, der 1908 seine Schrift Entwicklungswerttheorie, Entwicklungsökonomie, Menschenökonomie publizierte. Er begriff sein Buch als einen Protest gegen die ungeheure Menschenvergeudung. Seine Vorstellungen zielten darauf, den Staat als ideellen Gesamtkapitalisten eine möglichst rationale Menschenökonomie gestalten zu lassen:
Menschenökonomie ist das Bestreben, unsere Kultureigenschaften mit einem immer geringeren Verbrauch an Menschenmaterial, mit einer immer geringeren Vergeudung an Menschenleben zu erzielen […]. [5]
Rudolf Goldscheid ging es also um die Wirtschaftlichkeit des Gebrauchs von Arbeitskräften. In Abgrenzung zu sozialdarwinistischen und rassehygienischen Argumentationen bestand er darauf, daß nicht das Erbgut zu verbessern sei, sondern die Lebensumstände der Menschen. Und hierauf baute er seine Ethik auf. Kein kategorischer Imperativ, keine Caritas sollten der Moral ein festes Fundament liefern, sondern die entwicklungsökonomische Notwendigkeit.
Insofern stellte sich für ihn das Problem unnützen Lebens nicht. Denn Menschen, die wissen, daß selbst dann für sie gut gesorgt wird, wenn sie der Gesellschaft nichts mehr bringen, sind die besten und produktivsten Arbeiterinnen und Arbeiter. Der Staat plant, was für die Gesellschaft und die einzelnen Menschen am besten ist.
Uns mag das heute vollkommen verquer vorkommen, überhaupt so zu denken, aber das war durchaus Geist der damaligen Zeit, zumindest ein Geist. Denn während Goldscheid 1914 noch optimistisch prognostizierte, daß es nicht mehr lange dauern würde, bis sich die Erkenntnis durchsetze, daß Humanität und Produktivität zusammengehören, brach die verallgemeinerte Barbarei als kapitalistische Notwendigkeit aus. Woraus wir auch für die Zukunft lernen können: die Flausen über das Gute im Kapital werden beizeiten ziemlich radikal wieder ausgetrieben.
Mit Investitionen in Menschen beschäftigt sich auch eine Theorie, die sich in den Jahrzehnten nach dem 2. Weltkrieg durchsetzte und die auch heute noch im Bereich der Bildungsökonomie großen Anklang findet. Es geht um das Humankapital, das zu hegen und zu pflegen ist. Allerdings nicht vom Staat, wie bei Goldscheid, sondern ganz marktkonform. Ihre prominentesten Vertreter, die US-Amerikaner Theodore W. Schultz und Gary S. Becker, erhielten konsequenterweise den Nobelpreis. Es muß also eine ungemein nützliche Theorie sein. Fragt sich nur, für wen.
Nach der Logik der neoklassischen Theorie gehen die beiden Autoren davon aus, daß sich Menschen ökonomisch rational verhalten und der Markt diese Rationalität steuere. Die Annahme ist so dumm wie falsch, wird jedoch an Universitäten gelehrt. Wenn etwas nützlich und gleichzeitig bescheuert ist und vor allem jeder Vernunft widerspricht, dann kann es sich nur um Ideologie handeln. Eine Ideologie jedoch, die sich produktiv nutzen läßt und die es der oder dem einzelnen anheimstellt, sich fit für den Markt auszubilden. Schuld sind also immer wir.
Ulla Schmidt, Bert Rürup und ihre Gesundbeterreform finden sich in den Vorstellungen von Gary Becker so wieder:
Eine gute Gesundheit und ein langes Leben sind für die meisten Menschen wichtige Ziele, aber sicher braucht man nur einen kurzen Augenblick nachzudenken, um sich klar zu machen, daß sie nicht die einzigen Ziele sind: Es kann sein, daß man etwas von der besseren Gesundheit oder einem längeren Leben opfert, weil es andere konfligierende Ziele gibt. […]
Wenn daher jemand ein starker Raucher ist, oder sich derart seiner Arbeit widmet, daß er darüber jede Bewegung vernachlässigt, so nicht notwendigerweise deshalb, weil er sich über die Konsequenzen nicht im klaren ist […], sondern möglicherweise deshalb, weil die zu gewinnende Lebensspanne für ihn die Kosten des Verzichts auf das Rauchen oder die intensive Arbeit nicht aufwiegt. [6]
So ein Quatsch wird nicht nur an Eliteunis gelehrt – und nachgebetet. Jedenfalls:
Jede Zigarette – ein kleines Todesurteil, jede Joggingrunde – ein kleiner Aufschub seiner Vollstreckung.–[7]
Doch was hat die Annahme marktkonformen rationalen Nutzenkalküls des oder der Einzelnen mit Biopolitik zu tun? Nun, Markt funktioniert nicht ohne Staat, ohne Souverän. Die souveräne Macht der Moderne sei nun an die Kontrolle über den Ausnahmezustand gebunden und dieser Ausnahmezustand ist längst zur Regel geworden. Und weiter in den Worten Ulrich Bröcklings:
Ins Ökonomische übersetzt heißt Ausnahmezustand Krise, während die in diesem [Ausnahmezustand aufgehobene] Normalität dem ökonomischen Gleichgewicht von Produktion und Konsumtion entspricht.
Mit Gleichgewichtsmodellen operieren auch Menschenökonomie und Humankapitaltheorie. Für Goldscheid ist eine ausgeglichene Bilanz von Kosten und Ertrag des organischen Kapitals das [Endziel] planwirtschaftlicher Steuerung; Schultz und Becker dient die Annahme eines Marktgleichgewichts als [Problem lösendes] Prinzip. Der eine erhebt [das Prinzip der Gegenseitigkeit in] der Sozialversicherung zum Modell entwicklungsökonomischer Gerechtigkeit, die beiden anderen [verallgemeinern] die Selbstregulierung durch Angebot und Nachfrage zum Universalmedium sozialer Integration. Von Krise sprechen weder Goldscheid noch Becker und Schultz, und doch ist sie den Theorien des einen wie der anderen eingeschrieben. In der Krise der Zwischenkriegszeit legitimierte die menschenökonomische Wertberechnung des Lebens mörderische Selektion, in der auf Dauer gestellten Krise der Gegenwart entpuppt sich der ökonomische Imperialismus der Humankapitaltheorie als [Verteidigung] eines rücksichtslosen Konkurrenzkampfs aller gegen alle. Wenn die Märkte zu kollabieren drohen, wird Nutzenmaximierung zum Nullsummenspiel und der homo oeconomicus zum Wolf des Menschen. [8]
Soweit Ulrich Bröckling über den Zusammenhang von Biopolitik, Menschenökonomie, Humankapital und Selektion in einer modernen mehr oder weniger zivilisierten Gesellschaft.
Nun können wir uns fragen, welchen Zweck seine Ausführungen haben, welche Handlungsanleitung sie uns gibt. Vordergründig reflektiert die Zeitschrift Mittelweg 36 auch in ihren weiteren überaus lesenswerten Beiträgen die Entstehungsbedingungen nationalsozialistischer Herrschaft mitsamt ihrer Vernichtungslogik. Doch diese Logik wirkt weiter. Sie ist kein Spezifikum des Nationalsozialismus. Die Entstehungsbedingungen liegen in der kapitalistischen Vergesellschaftung. Und in der leben wir. Heute. Und morgen.
Die Zeitschrift Mittelweg 36 ist sicher anstrengend zu lesen. Aber es lohnt sich, denn selbst da, wo man und frau Widerspruch anmelden mag – ein Erkenntnisgewinn ist immer vorhanden. Die Zeitschrift erscheint alle zwei Monate, kostet 9 Euro 50 und ist im gutsortierten Buchhandel oder direkt über das Hamburger Institut für Sozialforschung zu beziehen.
Jingle Alltag und Geschichte
mit vier Beiträgen
Die Ausstellung der Photographien von Eva Haule über Frauen im Knast wird am 5. April [2003] nach der Aufführung eröffnet; sie ist bis zum 25. April im Staatstheater zugänglich. Das Interview von Regina Heidecke mit Eva Haule ist am kommenden Sonntag, also am 6. April, im Hessenfernsehen um 22 Uhr 45 zu sehen.
Am nächsten Montag ist auf diesem Sendeplatz wie an jedem 1. Montag eines Monats die Redaktion Gegen das Vergessen zu hören. Diese Sendung wird am Dienstag um Mitternacht, morgens um 8 nach dem Radiowecker und noch einmal um 14 Uhr wiederholt. Fragen oder Kritik könnt ihr wie immer meiner Mailbox bei Radio Darmstadt anvertrauen, die Telefonnummer ist […] in Darmstadt; oder ihr schickt mir eine Email an kapitalverbrechen <at> alltagundgeschichte.de.
Im Anschluß folgt eine Sendung der Kulturredaktion. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt war Walter Kuhl.
»» [1] Unter dem Titel Irre Pathologie heißt es in Heft 1/2003 der Zeitschrift Die Rote Hilfe auf Seite 12:
„Vor 25 Jahren kamen Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader in ihren Einzelzellen des Hochsicherheitsgefängnisses Stuttgart-Stammheim unter ungeklärten Umständen ums Leben. Irmgard Möller überlebte die Todesnacht schwer verletzt. Dass die Frage danach, was in dieser Nacht geschah, nicht nur historischen, sondern tagespolitisch bedeutsamen Wert hat, betont die im vergangenen Jahr gestartete Initiative ‚Die Archive öffnen!‘: Vor dem Hintergrund der aktuellen Maßnahmen zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus könnten daraus Schlüsse gezogen werden, was in einem demokratisch verfassten Staatswesen wie der Bundesrepublik in einer Krisensitiation möglich ist oder inwieweit die politischen Kontrollmechanismen auch in solcher Lage noch wirken, schreiben die Initiative in ihrem Aufruf (siehe Die Rote Hilfe 4/2002).
Was in den Zeiten des Deutschen Herbstes 1977 von staatlicher Seite tatsächlich alles möglich gewesen ist und mit welcher selbstverständlich erscheinenden Verfügungsgewalt der Staat über das Schicksal seiner Gefangenen entschied, lässt sich anhand der jüngsten Enthüllungen erahnen, die den Umgang der Rechtsmedizin mit den Leichen von RAF-Gefangenen öffentlich machten.
So war Ulrike Meinhofs Gehirn 1976 von dem gerichtlich bestellten Obduktionsarzt Mallach entnommen und dem Neuropathologen Jürgen Pfeiffer übergeben worden. Pfeiffer untersuchte das Gehirn der Verstorbenen, stellte eine durch einen operativen Eingriff verursachte Veränderung der Gehirnstruktur fest und behauptete eine Kausalität zwischen der Hirnveränderung und den realitätsverlustigen Terrorhandlungen. Dieses ‚Untersuchungsergebnis‘ griff gut 20 Jahre später der Magdeburger Professor Bernhard Bogerts auf, schnitt Meinhofs Gehirn in Scheibchen und verglich es mit dem eines schwäbischen Amokläufers. Obgleich die offizielle Zielvorgabe dieser Untersuchung eine Überprüfung der strafrechtlichen Schuldfähigkeit war, zu der das "wissenschaftliche Interesse" trete, dürften wohl eher die Fantasien des damaligen Staatsanwalt Peter Zeis maßgeblich gewesen sein. Der nämlich frohlockte seinerzeit, dass es doch sehr peinlich wäre, wenn sich herausstellte, dass alle diese Leute einer Verrückten nachgelaufen sind. Entsprechend interessiert es die staatlichen Stellen bis heute nicht, dass dieses Vorgehen nicht nur jeder Rechtsgrundlage entbehrt, sondern nach Paragraph 168 Strafgesetzbuch (Störung der Totenruhe) auch strafbewehrt sein dürfte.
Der Versuch, die Entscheidung Meinhofs für den bewaffneten Kampf als pathologisch darzustellen, folgte ein ähnlich empörender Umgang mit den Leichen von Andreas Baader, Jan Carl Raspe und Gudrun Ensslin, die ebenfalls in Stammheim ums Leben kamen. Rechtsmediziner Mallach, als Mitglied der Waffen-SS und Unterscharführer der SS-Panzerdivision ‚Hitlerjugend‘ offenbar ein ausgewiesener Nazi, drückte 1977 die Köpfe der drei in Gips und bewahrte die Totenmasken in seinem Institut auf. Die Gehirne der drei landeten rechtswidrig in der Sammlung des Tübinger Professors Pfeiffer. Heute sind sie nicht mehr auffindbar.“
»» [2] Eine ausführliche Besprechung des Buchs Bei lebendigem Leib findet sich im Manuskript zu meiner Sendung über Menschenrechte in der Türkei vom 28. Januar 2002 auf Radio Darmstadt.
»» [3] Eva Haule wurde 2007 aus der Haft entlassen. Siehe hierzu den Spiegel vom 17. August 2007: Ex-RAF-Terroristin Eva Haule kommt frei.
»» [4] Der Fotoband Porträts gefangener Frauen von Eva Haule ist 2005 im Verlag der AG SPAK erschienen, er kostet € 19,00.
»» [5] Zitiert nach Ulrich Bröckling : Humanökonomie, Humankapital; in: Mittelweg 36, Heft 1/2003, Seite 7.
»» [6] Zitiert nach Bröckling Seite 21.
»» [7] Bröckling Seite 21.
»» [8] Bröckling Seite 21–22.
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