Tinderbox (39)

Batman Returns

Die herrschende Gewalt ist eine faszinierende Inszenierung, doch sie ist real

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Tinderbox (39)
Batman Returns
Die herrschende Gewalt ist eine faszinierende Inszenierung, doch sie ist real
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 19. Mai 2003, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 20. Mai 2003, 00.00–01.00 Uhr
Dienstag, 20. Mai 2003, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 20. Mai 2003, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Zeitschriften :
  • Das Argument, Heft 249
  • Mittelweg 36, Heft 2/2003
 
 
Playlist :
  • Siouxsie and the Banshees : Face To Face
  • Laibach : Alle gegen alle
  • Siouxsie and the Banshees : Hothead
  • Siouxsie and the Banshees : I Could Be Again
  • (Batman und Robin)
  • Siouxsie and the Banshees : Face To Face (Catatonic Mix)
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/tinderbx/tinder39.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Peter Benz sorgt sich um ein Promenadenkonzert
Kapitel 3 : Eine auf den Hund gekommene Evolutionsbiologie
Kapitel 4 : Entgrenzung der Gewalt als Strukturmerkmal
Kapitel 5 : Michel Foucault als Vordenker des Neoliberalismus … und dessen Gewalt
Kapitel 6 : Die faszinierende Gewalt einmal genauer betrachtet
Kapitel 7 : Schluß
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte / Tinderbox

Tinderbox
Neununddreißigster Teil
Batman Returns
Die herrschende Gewalt ist eine faszinierende Inszenierung, doch sie ist real

Siouxsie and the Banshees : Face To Face

Face to Face von Siouxsie and the Banshees aus dem Film Batman Returns. In Deutschland lief er 1992 als Batmans Rückkehr in den Kinos – und das war ganz sicher kein Meilenstein der Filmgeschichte. Doch wie komme ich ausgerechnet jetzt, elf Jahre, nachdem dieser Film in den Magazinen des Medienkonzerns Warner Brothers verstaubt ist, darauf, diesen Film in meine 39. Folge von Tinderbox einzubauen? Tja, manchmal ist die Wahrheit schlicht und einfach: ich habe die Single Face to Face vor einigen Tagen zufällig erworben.

Und damit begrüße ich euch für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt. Am Mikrofon ist Walter Kuhl. Mein heutiges Thema lautet Die herrschende Gewalt ist eine faszinierende Inszenierung, doch sie ist real. Anlaß zu diesem Titel und zu dieser Sendung gaben mehrere Veranstaltungen, die in den nächsten Tagen in Darmstadt zu sehen und zu hören sein werden, sowie zwei Zeitschriften, die ich im Verlauf dieser Sendung vorstellen möchte. Und eben Face to Face aus dem zweiten Batman–Film.

Daher werde ich diesen Film kurz vorstellen, denn auch er arbeitet mit der Faszination der Gewalt und provoziert die Frage, was denn so faszinierend daran ist. Die Fragestellung ¿Faszination Gewalt? durchzieht auch eine Veranstaltungsreihe, die am vergangenen Freitag begann und noch bis zum kommenden Samstag andauert. Eigentlich hätte es sich ja angeboten, diese Veranstaltungsreihe noch bis zum 3. Juni zu verlängern, denn solange weilt die Ausstellung Unser Heer in Darmstadt, um der Gewaltfaszination eine staatstragende Bedeutung zu geben.

Die Zeitschrift Mittelweg 36 untersucht – dazu passend – im aktuellen Heft den Kalten Krieg und seine Folgen sowie den Zusammenhang von Staat und Gewalt im 20. Jahrhundert. Gewalt, vor allem staatliche Gewalt und Kriege sind jedoch nicht zu verstehen ohne ihre kapitalistische Grundlage. Kapitalismus ohne Gewalt ist wie Markt ohne Betrug oder Schröder ohne Agenda 2010. Die Zeitschrift Das Argument fragt daher in seinem ersten Heft dieses Jahres nach einigen Grundlagen der andauernden neoliberalen Offensive und stößt dabei interessanterweise auf den sonst als links geltenden Michel Foucault. Daß das kein Zufall ist, beweisen derzeit unsere GRÜNEN. Auch diese Partei galt einmal diffus als links, warum auch immer, und zeigt immer deutlicher ihr wahres antisoziales Gesicht. Die grüne FDP startet durch; und das bekanntlich unter dem wählenden Beifall von 20% der Darmstädter Bevölkerung. Offensichtlich fasziniert auch diese Form der Gewalt, die darauf abzielt, die kleinbürgerlichen Interessen der grünen Klientel zu bedienen – als da wären Flexibilisierung, Lohndumping, Deregulierung und egozentrisches Sendungsbewußtsein.

Das Problem der Gewaltfaszination ist aber auch die Perspektivlosigkeit dieser Gesellschaft. Politisch augenfällig wirkt sie sich in der Unbarmherzigkeit wirtschaftspolitischer Vorstellungen aus, die im asynchronen Gleichtakt von CDU, FDP, SPD und GRÜNEN vorgelegt werden. Alternativen hierzu gibt es nicht, zumindest keine sichtbaren. Die Gewerkschaften üben sich in Schadensbegrenzung und die PDS hat kein Profil, das als Kristallisation nicht nur der Unzufriedenheit taugt, sondern auch als emanzipatorische Gegenkraft zum neoliberalen Zeitgeist.

Einige Veranstaltungshinweise zum Thema runden die heutige Folge von Tinderbox ab.

 

Peter Benz sorgt sich um ein Promenadenkonzert

Zur Einstimmung möchte ich den Darmstädter Oberbürgermeister Peter Benz zu Wort kommen lassen. Dieser ließ am vergangenen Freitag in einer Presseerklärung verschärfte Maßnahmen zur Sauberhaltung von Herrngarten und Orangerie ankündigen. Das erinnert mich ein wenig an den Ausspruch der Hamburger SPD im Bürgerschaftswahlkampf 1997, als sie schrill plakatierte: law and order is a labour issue. Doch der Reihe nach:

Die SPD–Stadträtin Monika Lehr, auch bekannt als Briefwahlunterlagenträgerin in einem Darmstädter Altenheim, berichtete dem Magistrat über die erschreckenden Zustände in Darmstadts öffentlichen Parkanlagen. Als sie der Eröffnung der diesjährigen Promenadenkonzerte lauschen wollte, sei sie mehrfach über den Zivilisationsmüll der Spaßgesellschaft gestolpert. Peter Benz nahm sich der Sache an. Doch er hat ein Problem. Seine Koalition hat das Grünflächenamt personell dermaßen ausgedünnt, daß der Müll liegen bleibt. Tja, dumm gelaufen!

Wir fragen jetzt lieber nicht danach, wie es kommen kann, daß die Verwahrlosung selbst die Promenadenkonzerte heimsucht, was also Menschen dazu bringt, keine Verantwortung für sich und ihre Umgebung mehr übernehmen zu wollen (vielleicht auch nicht mehr zu können). Das könnte sehr schnell mit den ordnungspolitischen Vorstellungen der neoliberalen Bereicherungsmentalität kollidieren; und so etwas wird natürlich nicht öffentlich thematisiert, schon gar nicht im entsprechend geförderten Wirtschaftsstandort Darmstadt. Nein – wo das Personal fehlt und Verantwortung systematisch dereguliert wird, gibt es nur noch ein probates Mittel: "Leider müssen wir wohl auch mit Strafen und Ordnungsmaßnahmen drohen", sprach der Oberbürgermeister. Doch das Stadtoberhaupt will zunächst noch einmal an den Gemeinsinn der Bürgerschaft appellieren, sich an die Regeln des vertraglichen Zusammenlebens zu halten. Bla bla. Oder wie habe ich das sonst zu verstehen? Welchen Vertrag gehe ich denn ein, wenn ich den Herrngarten schnellstmöglich durchqueren will? Oder soll das heißen, daß in Zukunft das Betreten der Parkanlagen eines notariell beglaubigten Vertragsabschlusses bedarf?

Auf der Mathildenhöhe wurden die Konsequenzen schon gezogen. Ein teurer privater Wachdienst ersetzt das Grünflächenpersonal. Die Beschäftigten des Wachdienstes arbeiten sicher zu den Dumpinglöhnen, welche die GRÜNEN als Wirtschaftsreform ohnehin lautstark begrüßen. Gewalt ersetzt die in der Pressemitteilung mangels Personal bedauerte gärtnerische Arbeit. Ob Peter Benz hiermit seinen eigenen Beitrag zur Veranstaltungsreihe ¿Faszination Gewalt? abliefern wollte, hat das Presseamt der Stadt Darmstadt jedoch nicht überliefert.

 

Eine auf den Hund gekommene Evolutionsbiologie

Laibach : Alle gegen alle

Alle gegen alle – das Motiv des neoliberal entfesselten Kapitalismus, das sich schon beim liberalen Vordenker Thomas Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts finden läßt. Mein Beitrag zum Grand Prix d'Eurovision de la Chanson – und ohnehin die heimliche Nummer 1 der deutschen Single-Charts. Robert Kurz schreibt hierzu [1] in seinem auch sonst lesenwerten Schwarzbuch Kapitalismus:

Dieser »Krieg aller gegen alle« [bei] Hobbes, sei der »Naturzustand« des Menschengeschlechts, angeblich in Reinkultur überall dort vorzufinden, wo es noch keine institutionelle Zähmung gebe. Um ja keinen Zweifel daran zu lassen, daß es sich dabei um eine blinde [Vorherbestimmung] durch Naturkräfte handelt, versteigt er sich […] zu einem aufschlußreichen tierischen Vergleich:

"Wozu jedoch brauchen die Menschen, die doch Verstand besitzen, noch mehr Beweise, wenn selbst die Hunde zu verstehen scheinen, worum es geht: Sie bellen jeden an, der ihnen über den Weg läuft: Am Tage jeden Unbekannten, nachts aber alle." [2]

Dieses im wahrsten Sinne des Wortes auf den Hund gekommene Menschenbild ist das Credo des Liberalismus bis zum heutigen Tag geblieben. Das kläffende und beißende Konkurrenzsubjekt, zu dem die Marktwirtschaft das Individuum degradiert, wird zum Naturgesetz des menschlichen Bewußtseins, und somit die eindeutig historische Marktwirtschaft zur überhistorischen »Naturform« sozialer Beziehungen umdefiniert.

Der Erklärungsnotstand der Faszination dieser Gewalt hält jedoch weiter an. Thomas Hobbes hat hierzu zwar eine folgenreiche Theorie geliefert, aber sie paßt nicht mehr so recht in das naturwissenschaftlich inspirierte 21. Jahrhundert. Heute werden die Naturformen menschlicher Beziehungen durch Sozio– oder Evolutionsbiologie erklärt; oder besser gesagt: verklärt. Denn beide Theorien erklären eigentlich nichts. Sie gründen sich darauf, ein angebliches Verhalten von Affen als evolutionsbiologisches Mitbringsel der Frühzeit des Menschen zu behaupten.

Der Faszination dieser unwissenschaftlichen Theorie sind auch die Veranstalterinnen und Veranstalter der Reihe ¿Faszination Gewalt? erlegen. Der Verhaltensforscher Wulf Schiefenhövel wird hierzu am heutigen Montagabend ab 19.00 Uhr im Hessischen Landesmuseum – so die Ankündigung – evolutionsbiologische und transkulturelle Antworten geben. Im Darmstädter Echo [3] sprach der Herr Professor folgende Worte:

Auch Schimpansen haben kriegsähnliche Auseinandersetzungen an ihren Territorien. Es ist äußerst unwahrscheinlich, daß unsere Vorfahren aggressionsfrei gelebt haben […]. Männer haben seit jeder die Aufgabe, riskante und zum Teil auch Gewalt erfordernde Dinge zu tun. In den Gefängnissen der Welt sitzen insgesamt mehr Männer als Frauen. Die genetisch mitbedingten Grundtendenzen von Mann und Frau sind eben notwendigerweise verschieden. Im Zusammenspiel von Kultur und Genen entscheidet sich, wie stark diese Tendenzen zum Ausdruck kommen.

Genau das ist aber die Frage: was unterscheidet den Menschen vom Tier und inwieweit ist es ihm gelungen, den genetischen Anteil an seinem Verhalten zurückzudrängen? Oder umgekehrt gefragt: wenn Gewalt und Krieg genetisch bedingt sind, warum sind wir in so vielen Situationen fähig, unsere Probleme durch soziale Kommunikation weitgehend friedfertig zu lösen? Könnte es vielleicht sein, daß es Gründe gibt, soziale Kommunikation zu verweigern oder gesellschaftlich zu demolieren? Und dann ist die Frage: was haben Macht– und Herrschaftsinteressen, sowie die neoliberale Deregulierung aller menschlichen Zusammenhänge damit zu tun?

Ein Verhaltensforscher wie Wulf Schiefenhövel stellt sich derartige Fragen nicht. Denn dann müßte er sich eingestehen, daß sein ganzes scheinwissenschaftliches Gedankengebäude Unsinn ist. Aber die Evolutionsbiologie ist eine in die Mode gekommene Revitalisierung der Verhaltensforschung, gepaart mit ein paar kulturalistischen Einsprengseln. Sie paßt zum neoliberalen Mainstream, der nichts wissen will vom ursächlichen Zusammenhang zwischen Markt, Herrschaft, Gewalt und Kriegen.

Vielleicht ist das auch der Grund, warum sich Schinken wie Batmans Rückkehr in den Kinos verkaufen. Gotham City, das ist die dunkle, unheimliche Seite der unverständlichen und mythisch aufgeblasenen kapitalistischen Realität. Das Verbrechen regiert, die Polizei ist machtlos. Doch der Retter naht: Batman. Die Analogie liegt nahe: der Kapitalismus regiert mit aller brutalen Gewalt und wir sind machtlos und ohnmächtig. Und wir rufen nach dem Retter, dem Helden. Was wir nicht schaffen, imaginieren wir als Lösung unserer Probleme. Nicht selbst sollen wir handeln, das ist die Botschaft, sondern auf Erleuchtung und Erlösung hoffen. Deshalb leuchtet ja auch das Batsignal am Himmel.

Und es ist kein Zufall, daß derartige Filme ihre Fortsetzungen benötigen. Nach dem ersten Batman–Film ein zweiter und ein dritter und ein vierter. Denn das Problem ist durch die Ankunft des Helden ja nicht gelöst, denn ist strukturell vorhanden. Wir mögen von einem nicht ganz so brutalen, von einem gezähmten Kapitalismus träumen. Doch die nackte, brutale Wirklichkeit kehrt immer wieder zurück. So auch Batman.

Der Inhalt des Films ist schnell erzählt und eigentlich banal. Denn es sind immer wieder Karikaturen des Bösen, welche die Welt in Unordnung bringen. Batmans Rückkehr handelt von einem ausgesetzten Kleinkind, das von Pinguinen großgezogen, und einer Sekretärin, die von Katzen gerettet wurde. Beide wollen ihre Rache. Die monströse Gewaltorgie, die dabei verbreitet wird, findet sich im Massenmord der kapitalistischen Gesellschaft wieder. Millionen verrecken jedes Jahr an Hunger, leicht heilbaren Krankheiten oder imperialistischen Kriegen – auch solchen, welche die Weltöffentlichkeit lieber nicht zur Kenntnis nimmt wie im Kongo. Batman rettet natürlich Gotham City vor dem Bösen, vor dem Kapitalismus können wir uns nur selbst retten. Batmans Rückkehr war kein besonders spannender und erfolgreicher Film. Das liegt eher am schlecht gestylten Plot, nicht aber daran, daß Gewalt nicht faszinieren würde. Siouxsie and the Banshees trugen zur Filmmusik mit Face to Face bei; und daß die Wahl auf die eher düster melodierende Band gefallen war, mag daran liegen, daß der dissente Inhalt der Songs von Siouxsie and the Banshees gleichermaßen nicht verstanden wurde wie kommerziell verwertbar ist. Denn auch Siouxsie Sioux thematisiert das Unverständliche, Monströse und Schizophrene dieser Welt – und gleichzeitig die Sehnsucht nach einer friedlichen Nische in all der Grausamkeit. Dies ist insofern kommerziell verwertbar, weil es nicht dazu aufruft, sich zu wehren, also durchaus produktive Gewalt anzuwenden, sondern sich zurückzuziehen und im Weltschmerz zu versinken.

Hothead von Siouxsie and the Banshees.

Siouxsie and the Banshees : Hothead

 

Entgrenzung der Gewalt als Strukturmerkmal

Besprechung von : Mittelweg 36, Heft 2/2003, 94 Seiten, € 9,50

Gewalt fasziniert. Gewalttäter finden offensichtlich in unseren gegebenen gesellschaftlichen Zusammenhängen faszinierende Möglichkeiten der Betätigung. Dies verweist auf gewaltförmige Strukturen und nicht darauf, daß Menschen (seltsamerweise vor allem Männer) von Natur aus gewalttätig sind. Die Zeitschrift Mittelweg 36 des Hamburger Instituts für Sozialforschung geht im zweiten Heft dieses Jahres dieser Frage auf unterschiedliche Weise nach. Zentrales Motiv ist die Ungeheuerlichkeit des Nationalsozialismus, doch auch dieser entstammte dieser Welt. Was ist diese Welt?

Bernd Greiner geht der Frage nach der Bedeutung des Kalten Krieges zwischen dem US–dominierten Westen und der Sowjetunion nach. Er kommt hierbei zu durchaus beunruhigenden Ergebnissen, vor allem dann, wenn wir daraus Schlüsse auf die Zukunft ziehen wollen. Der Begriff vom Gleichgewicht des Schreckens drückt vor allem eins aus: jederzeit bereit zu sein, Gewalt auszuüben. Doch der Kalte Krieg hatte ein paradoxes Ergebnis. Es herrschte weitgehend Frieden in den Metropolen, aber um den Preis vieler kleiner Kriege in der Peripherie. Das 20. Jahrhundert ist das wohl mörderischste der gesamten Menschheitsgeschichte gewesen. Bernd Greiner spricht daher

auch von einer Fortsetzung der seit dem späten 17. Jahrhundert bekannten Kolonialkriege […]. Diese waren – zwar nicht durchgängig, aber in hohem Maße – mit exzessiver Gewalt geführte Kriege jenseits aller Regeln und Normen des Kriegsvölkerrechts, geprägt von vorsätzlichem Terror gegen Zivilisten, Vertreibungen und einer Strategie der verbrannten Erde. [4]

Insofern vermutet er, daß der Kalte Krieg eine Entgrenzung von Gewalt gefördert hat. Daß dies auch Rückwirkungen auf die Krieg führenden Gesellschaften haben muß, hat schon Rosa Luxemburg zurecht festgestellt, wenn sie auch zunächst an die Kolonialmächte gedacht haben mag. Doch

wesentlich schwerer wiegen die psychischen Schäden, zumal dort, wo über Generationen hinweg Kriege und Bürgerkriege tobten. In diesen Gesellschaften eine tragfähige soziale Ordnung aufzubauen, scheitert oft an dem Umstand, daß ihre im Krieg sozialisierten Eliten sich an die Gewalt als Lebensform, mitunter auch als Quelle materieller Reproduktion, gewöhnt haben. [5]

Das läßt für die Zukunft nichts Gutes erwarten. Das von Bernd Greiner festgestellte Versäumnis zeithistorischer Forschung – diese Rückwirkung von kriegerischer Gewalt auf eine sozial entwickelte Gesellschaft nicht untersucht zu haben –, findet auch Mark Mazower in seinem Literaturbericht Gewalt und Staat im Zwanzigsten Jahrhundert vor. Mark Mazower, Professor für Geschichte in London, begnügt sich nicht mit kulturellen oder gar genetischen Anlagen des Tötens, die allenfalls eine Disposition erklären können, nicht aber die reale Handlung.

Es sind meist, aber nicht immer, staatlich organisierte Gesellschaften, welche Krieg führen, Gewalt ausüben, Menschen innerhalb und außerhalb ihrer Grenzen terrorisieren. Meist wird staatliche diktatorische Gewalt im 20. Jahrhundert anhand zweier Beispiele abgehandelt: dem Nationalsozialismus und dem Stalinismus. Doch Mazower hält diese Betrachtungsweise – vor allem in Form der wieder zu Ehren gekommenen Totalitarismustheorie – für unbrauchbar. Zum einen nimmt sie die unterschiedliche Struktur und Form dieser beiden terroristischen Regimes nicht wahr, zum anderen ist sie eurozentristisch angelegt. Gewalt und Krieg ist jedoch ein globales Phänomen. Starke Staaten, schwache Staaten, Rebellengruppen und Siedlerkolonien mit weitgehender Abwesenheit staatlicher Strukturen waren und sind bis heute daran beteiligt. Doch die Abwesenheit oder Schwäche eines Staates ist keine Garantie für die Abwesenheit von Gewalt – eher im Gegenteil. Doch letzten Endes haben nur wenige Staaten wirklich die technologischen Möglichkeiten zur Verfügung, überwältigende Zwangsmittel einzusetzen.

Auch wenn Mark Mazower letzten Endes keine Erklärung für die Zunahme entgrenzter Massengewalt geben kann, so zeigt seine Untersuchung dennoch, daß die Verbrechen der Nationalsozialisten – der Holocaust – keine tatsächlich brauchbare Meßlatte für moderne Massengewalt abgeben können. Mazowers Problem der Benennung der Ursachen mag damit zusammenhängen, daß er Kriege und Massengewalt nicht als Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung in den Metropolen und als Integrationsproblem peripher-kapitalistischer Gesellschaften begreift.

Globalisierung ist Gewalt. Genau hier sind auch die Ursachen zu suchen: das Kapitalverhältnis als solches ist seinem Wesen nach gewaltförmig und entgrenzend. Schon Marx war dies klar, als er ausrief: Akkumuliert, akkumuliert, das ist Moses und die Propheten [6]. Und er legte insbesondere in seinem Hauptwerk Das Kapital schonungslos offen, daß die Einführung der kapitalistischen Marktwirtschaft vor allem auf einem beruhte: massenhafter staatlicher Gewalt – und eben Kriegen. Mark Mazower stellt hierzu völlig zurecht fest, daß es falsch sei,

daß Modernisierung zu Wohlstand, Stabilität und sozialer Wohlfahrt führt. Wollten historische Sozialwissenschaftler politische Gewaltexzesse erklären, neigten sie dazu, solche Episoden für vorübergehende Erscheinungen zu halten, [und] betrachteten sie […] bloß als Elemente eines Übergangsprozesses. [7]

Diese Sichtweise ist in der Tat nicht aufrechtzuerhalten. Das Warum? kann er so jedoch nicht erklären. Allerdings liegt der Blickwinkel der Zeitschrift Mittelweg 36 auch eher in der sozialen und historischen Untersuchung von Macht- und Herrschaftsstrukturen, aus denen Gewalt, Kriege und Massenmord erwachsen, weniger in ihren allgemeinen kapitalistischen Ursachen.

 

Michel Foucault als Vordenker des Neoliberalismus … und dessen Gewalt

Besprechung von : Das Argument, Heft 249 (2003), 176 Seiten, € 11,00

Vielleicht hilft hier ein Blick in das in der Aufmachung neugestaltete erste Heft der Zeitschrift Das Argument aus diesem Jahr. Hier wird auch ein anderer Blickwinkel deutlich. Macht und Gewalt werden als Ausdruck kapitalistischer Vergesellschaftung betrachtet. Das eigentlich Spannende an dieser Ausgabe ist jedoch, Michel Foucault als Vordenker des postmodernen Neoliberalismus zu begreifen.

Stephen Gill betrachtet in seinem Aufsatz Übermacht und Überwachungsgewalt im globalen Kapitalismus als Form moderner Sozialgewalt die ausgeweitete Überwachung. Der Begriff des Panoptikums spukt durch das ganze Heft und ist auch bei ihm zu finden. Es bezeichnet eine Form der totalen Überwachung, die auch darauf beruht, daß die Überwachten daran mitwirken, sich selbst zu disziplinieren. Das Konzept stammt von Jeremy Bentham aus der Frühphase des Kapitalismus, als es noch darum ging, Arbeitskräfte zu disziplinieren und an ihre neue Aufgabe zu gewöhnen: entfremdete Arbeit für andere zu leisten.

Die moderne Überwachung von Systemen und Bevölkerungen zielt darauf ab, Vorhersagbarkeit so zu maximieren und Ungewißheit zu minimieren, um damit die intensive und extensive Ausweitung des Kapitals zu untermauern. Mit intensiv [meint Gill] die Art, wie das Kapital nicht nur die Arbeit, sondern auch die Freizeit und immer weitere Teile des Gesellschaftslebens durchdringt. […] Wir haben auch erlebt, wie Familie, Bildung und Kirchen zusehends nach marktorientierten, dem Profit verpflichteten Prinzipien funktionieren. Anders ausgedrückt tendiert das Kapital dazu, das Soziale zu entfremden und sich unterzuordnen […].

Die extensive Ausweitung des Kapitals drückt eher den geographischen Raum der Durchdringung noch nicht kapitalistischer Regionen aus: die ehemalige Sowjetunion und China.

Insgesamt wird die Ausbreitung des Kapitals, weil sie widersprüchlich verläuft, von steigenden Überwachungstätigkeiten durch die liberal–demokratischen Staaten begleitet. [8]

Denn wenn das selbstdisziplinierende Panoptikum versagt, wird zunehmend auf Strafgewalt und Knast zurückgegriffen. In den USA ist daraus eine florierende Industrie entstanden, was auch kein Wunder ist, denn schon zu Beginn des Kapitalismus waren die Arbeitshäuser Knäste und umgekehrt. Foucaults Untersuchung Überwachen und Strafen ist 1975 erschienen. Er versucht darin, die Herausbildung kapitalistischer Produktionsverhältnisse und das Entstehen der Disziplinarmacht zu begründen. Jan Rehmann betrachtet in seinem Aufsatz Vom Gefängnis zur modernen Seele, inwieweit Foucaults Ansatz tatsächlich trägt. Denn obwohl Foucault so manches zur Erklärung struktureller Gewaltförmigkeit in Form von Knästen, Psychiatrien oder anderen Strafsystemen hat beitragen können, so fällt bei ihm der reale Zusammenhang zu den Erfordernissen kapitalistischer Arbeitsmarkt– und Sozialpolitik meist weg. Der panoptische Blick führt zudem dazu, nicht nur Gefängnisse, sondern auch Sozialarbeit und Sozialpolitik als Teil dieser Disziplinarmacht zu begreifen – und zu bekämpfen. Nun ist es durchaus plausibel, in Lehrern oder Sozialamtsmitarbeiterinnen nicht gerade befreundete Personen zu sehen, sondern sie in ihrer Funktion als staatliche Agentinnen und Agenten zu betrachten.

Das Problem, das bei Foucault durchscheint, ist jedoch sein tendenzielles Unvermögen, den durchaus sinnvollen Charakter sozialpolitischer Maßnahmen zur Sicherung eines gewissen Lebensstandards zu begreifen. Seine Ablehnung sozialpolitischer Ordnungspolitik geriet daher zur Legitimierung neoliberaler gegen den Sozialstaat gerichteter Angriffe. Daß Foucault auch im heute grünen Lager gern gelesen wurde, paßt hierzu. Tilman Reitz führt den Gedanken daher weiter, wenn er Foucault als Vordenker neoliberaler Vergesellschaftung begreift. Sein Aufsatz Die Sorge um sich und niemand anderen beleuchtet Foucaults Werdegang. Seine Ablehnung der fordistischen Produktion, also Massenproduktion plus Sozialstaat, findet ihren Widerpart in antifordistischen neoliberalen Vorstellungen. Seine Überlegungen zum Gebrauch der Lüste finden sich durchaus in gewissen Momenten der Spaßgesellschaft wieder.

Cathren Müller betrachtet in einem weiteren Aufsatz die Governmentality Studies, die in gewissen Aspekten auf Foucaults Arbeiten aufbauen. Offensichtlich scheint sich hier eine neue sozialwissenschaftliche Richtung zu etablieren, welche auf dem Nährboden des Neoliberalismus gedeihen kann. Sie arbeitet auf der Ebene von Diskursen und Programmatiken auf der einen Seite, der eine andere unbestimmte Sphäre der Realität gegenübersteht. Da aber nicht Diskurse die Welt verändern, stolpern die Governmentality Studies zuweilen über ihre eigenen theoretischen Grundlagen. Denn

die Governmentality Studies geben keine Antwort darauf, wie und warum sich bestimmte Diskurse zu einer bestimmten Zeit etablieren können […]. [9]

Bei dieser neuen sozialwissenschaftlichen Richtung geht es im Anschluß an Foucault sowohl um die Frage von Herrschaftstechniken wie auch um die Frage von Macht und Gegenmacht, um das Herstellen eines Individuums als Selbst. Macht ist dann nicht mehr die Gegenthese zur Freiheit, sondern ein Teil eigener Subjektivität. Empowerment soll Menschen befähigen, selbständig zu handeln, aber die Bedingungen müssen hierfür mitgedacht werden – und genau das ist das Problem. Diskurspolitische Erwägungen behaupten einen Machtgewinn, der real erstens nicht vorhanden ist und zweitens auch noch profitabel ausgenutzt werden kann. Hierzu gehören Diskurse um das unternehmerische Subjekt, zu Selbstverantwortung und bürgerschaftlichem Engagement. In der neoliberalen Praxis der Deregulierung bedeutet dies jedoch alles andere als Empowerment, sondern eher eine neue Form des Panoptikums. Wir begeben uns freiwillig vom welfare state zum workfare state (also ganz in der Tradition Jeremy Benthams vom Wohlfahrts– zum Arbeitsstaat). Die Grünen haben das Programm bestens verstanden:

Die Verknappung finanzieller Mittel ist eine direkt wirksame Technologie, die die (vermeintliche) Idealität des Programms unternehmerische Subjektivität in Realität überführt. [10]

Das alles ist noch einmal genau nachzulesen in Heft 249 der Zeitschrift Das Argument. Das Heft kann über den Argument Versand oder den gutsortierten Buchhandel bezogen werden. Es kostet 11 Euro.

Heft 2/2003 von Mittelweg 36 kann über das Hamburger Institut für Sozialforschung oder denselben gutsortierten Buchhandel erworben werden. Das Heft kostet 9 Euro 50.

Siouxsie and the Banshees : I Could Be Again

 

Die faszinierende Gewalt einmal genauer betrachtet

Das Thema meiner heutigen Tinderbox ist nicht nur Batmans Rückkehr, sondern auch, daß die herrschende Gewalt eine faszinierende Inszenierung ist. Verschiedene Aspekte dieser Inszenierung finden ihren Widerhall in mehreren Veranstaltungen der kommenden Tage.

Die Veranstaltungsreihe ¿Faszination Gewalt? habe ich im Verlauf dieser Sendung ja schon mehrfach angesprochen. Seltsam berührt hat mich die Fragestellung der vom Staatstheater initiierten Reihe dann doch. So heißt es hierzu:

Im Mittelpunkt soll die Doppelgesichtigkeit der Gewalt stehen, die unsere Erfahrungen und unseren Umgang mit Gewalt meist kennzeichnet. Warum haben wir das Bedürfnis, uns nach einem Verkehrsunfall auf der Autobahn umzudrehen, anstatt uns den möglicherweise grauslichen Anblick doch lieber zu ersparen? Warum fesseln uns die gerade wieder besonders eklatant auf allen Bildschirmen präsenten Bilder von Gewalttaten? Wie verhalten sich Erschrecken und Faszination zueinander, wenn wir mit Gewalt konfrontiert sind?

Vielleicht sollte ich zurückfragen: was eigentlich ist Gewalt? Ich finde es bemerkenswert, daß diese grundsätzliche Frage ausgeklammert bleibt. Offensichtlich ist die herrschende Propaganda, daß uns ungezügelte Gewalt allgegenwärtig umgibt, unreflektiert übernommen worden. Weder wird der Ordnungsdienst von Peter Benz hinterfragt noch die Bundeswehr–Jubelveranstaltung, die vom 29. Mai bis zum 3. Juni auf dem Meßplatz zu sehen sein wird. Doch gerade hier manifestiert sich die Gewalt, die von denen ausgeht, die ein Interesse an ihr haben.

Mein ganz besonderer Knallfrosch [11] Bastian Ripper hat vollkommen Recht: da sollte man und frau tatsächlich etwas machen. Denn womit Unser Heer, so auch der Titel der Ausstellung, wirbt, ist eiskalte Propaganda für die ganz und gar nicht friedlichen zukünftigen Aufgaben nicht nur am Hindukusch, wo ja bekanntlich unsere Freiheit verteidigt wird. Ganz besonders werden nämlich Schulklassen mit Schülern ab 14 Jahren eingeladen und sogar ihre Hin– und Rückfahrt organisiert. Dies ist dann wohl die etwas intelligentere Variante zum allseits so verteufelten Wehrkundeunterricht der ehemaligen DDR. Ob auch Schülerinnen eingeladen sind, wird nicht gesagt.

Verlosungsaktionen, nette Filmchen, Kampfpanzer und Fallschirmspinger werden garantiert die Faszination Gewalt auf eine ziemlich nachhaltige Art und Weise beleuchten. Sicher wird man dort auch den kritischen Dialog pflegen, denn das kostet ja nichts. Dafür hat die Bundeswehr ein Lockangebot für Jugendliche im Programm, das Kapitaleigner und öffentlicher Dienst mehr und mehr verweigern: Lehrstellen. Offensichtlich weiß der Verhaltensforscher Wulf Schiefenhövel nicht, daß auch das erlaubte Töten erst noch erlernt und geübt werden will. Unser Heer macht's möglich. – Dann doch lieber ins Kino:

Michael Moores Dokumentation Bowling for Columbine ist am Dienstagabend um 20 Uhr 15 im Programmkino Rex zu sehen. Coming Home, ein Film, der auch ohne Kriegsszenen auskommt, am Donnerstagabend um 20 Uhr 15 im Cinemaxx.

Oder ihr geht zu einer Veranstaltung des Deutschen Polen–Instituts mit Hans Koschnick, welcher die deutschen Interessen als EU–Administrator 1994 bis 1996 in Mostar vertreten durfte. Er will auf der Veranstaltung jedoch lieber die Lehren aus den nationalistischen Konflikten bei der Auflösung der jugoslawischen Föderation gezogen wissen als danach zu fragen, was der Internationale Währungsfonds und die Bundesregierung zum jugoslawischen Bürgerkrieg beigetragen haben. Von den Kriegslügen seiner Bundesregierung im März 1999 ganz zu schweigen. So stellt sich dann auch die Frage, was es bedeutet, wenn er seit Ende 1998 als Bosnien–Beauftragter der Bundesregierung dabei mithilft, Flüchtlinge aus Bosnien–Herzegowina in das US–amerikanisch–europäische Protektorat abzuschieben. Diese Frage wird er uns sicher nicht am Donnerstagabend um 20.00 Uhr im Foyer des Staatstheaters beantworten. Dabei ist Abschiebung auch Gewalt und für die herrschende Klasse in diesem Land offensichtlich ein faszinierendes Mittel, unnütz gewordene (weil propagandistisch nicht mehr gebrauchte) Esser loszuwerden.

Interessant könnte hingegen der Film der Darmstädter Dokumentarfilmer Hannes Karnick und Wolfgang Richter über