Kapital und Arbeit

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Kapital und Arbeit
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Offenes Haus
 
gesendet am :
Montag, 15. Dezember 1997, 17.00-17.55 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 16. Dezember 1997, 08.00-08.55 Uhr
Dienstag, 16. Dezember 1997, 12.00-12.55 Uhr
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/send199x/kv_kua05.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Soziale Gerechtigkeit, grün gestrickt
Kapitel 3 : Beschäftigungsprojekt
Kapitel 4 : Blauer Dunst im Darmstädter Echo
Kapitel 5 : Schluß

 

Einleitung

Und hier ist wieder Radio Darmstadt mit dem Offenen Haus und der Reihe Kapital und Arbeit. Die heutigen Themen:

  • Tom Koenigs stellte in Darmstadt Grundzüge einer Grünen Wirtschaftspolitik vor. Nicht rechts, nicht links, sondern vorn? Wenn ja, für und gegen wen?
  • Das Arbeitsamt und die Arbeit. Macht Kohl sein Verprechen, die Zahl der Arbeitslosen bis zum Jahr 2000 zu halbieren, durch Beschäftigungsprogramme der besonderen Art wahr?
  • und: Die Virtuelle Zitrone und der blaue Dunst. Wie sich eine große hessische Zeitung wieder einmal blamierte.

Doch zuvor feiere ich wieder einmal die Arbeit und ihr Ergebnis - das Bruttosozialprodukt. Mein Name ist Walter Kuhl.

Geier Sturzflug : Bruttosozialprodukt

 

Soziale Gerechtigkeit, grün gestrickt

Tom Koenigs war Stadtkämmerer in Frankfurt und ist heute Landesvorstandssprecher der hessischen GRÜNEN. Er stellte am 4. Dezember [1997] in Darmstadt ein von ihm erarbeitetes Diskussionspapier vor. Titel: Grüne Wirtschaftspolitik ist Arbeitspolitik. Die Ankündigung zu dieser Veranstaltung ließ allerdings nicht unbedingt Gutes erwarten, hieß es dort doch:

Gerade in Krisenzeiten stellt sich die Frage, ob es nicht doch einen Gegensatz zwischen Ökologie und Ökonomie gibt. Für eine Umweltpartei wie Bündnis 90/Die Grünen ist es nahezu eine existenzielle Frage, wenn beides gegeneinander ausgespielt wird. Deshalb haben auch die Grünen ihr wirtschaftspolitisches Profil in der Vergangenheit enorm geschärft und sind auf dem Weg, auch in diesem Bereich die dritte Kraft im Land zu werden.

Soll ich das so verstehen, daß grüne Wirtschaftspolitik die der FDP ablösen oder verfeinern soll? Nun, im folgenden soll Koenigs Wirtschaftspapier näher untersucht werden.

Die Gesellschaft, so sagt er, stehe vor neuen Herausforderungen. Im Zuge der Globalisierung würden industrielle Großstrukturen von kleinen und mittleren innovativen Firmen im Dienstleistungsbereich abgelöst. Ist das wirklich so? Wurden Daimler-Benz, Siemens, Krupp oder BMW aufgelöst? Und woher kommt die Gleichsetzung von kleinen und mittleren Betrieben mit Innovationsfreudigkeit? Ist hier nicht der Wunsch Vater des Gedankens?

Die wachsende Arbeitslosigkeit, so sagt er weiter, gefährde den auf Vollbeschäftigung gegründeten gesellschaftlichen Zusammenhalt. Moment mal! Ist Arbeitslosigkeit ein handelndes Subjekt? Oder wird nicht vielmehr von interessierten Kreisen von Kapital und Staat die wachsende Arbeitslosigkeit zum Vehikel gemacht, um massives Lohndumping zu betreiben? Gefährden also nicht genau diese Kräfte den bisherigen gesellschaftlichen Zusammenhalt? Hierzu paßt auch folgender von ihm vorgetragener Gedanke:

Der Weg aus der bürokratischen Erstarrung scheint verstellt, weil die Regierung Abstiegsängste schürt und dann nicht handelt, statt Reformziele und Reformhoffnungen zu entwickeln, mit denen die Bevölkerung für Veränderung gewonnen werden kann.

Auch Tom Koenigs schürt das Unbehagen mit der Bürokratie. Beamte werden zum Buhmann gemacht, um dann Betriebe und Aufgaben auslagern zu können - mit der Folge von Lohnverlusten, Arbeitsplatzvernichtung, schlechterer Leistung zu erhöhten Preisen. Die Kosten werden aber auf diejenigen abgewälzt, die ohnehin wenig haben, die Rosinen picken sich einige wenige heraus.

Es ist sicher richtig, daß diese Gesellschaft ziemlich bürokratisiert ist. Aber es sind auch und vor allem die damit verbundenen Sicherheiten, die angegriffen werden sollen. Da wird zwar gerne von Chancen meinetwegen der Globalisierung geredet. Aber diese Chancen gehen immer zu Lasten derer, die diese Chancen nicht wahrnehmen können oder wollen. Nicht jede Arbeit ist zu jeder chancenreichen Bedingung auch sinnvoll. Steigende Arbeitshetze oder unverschämte Flexiblisierungsforderungen sind die logische Folge. Wenn Lokführer gestreßt und überarbeitet sind, dann ist es kein Wunder, daß sie menschliches Versagen produzieren. Die Unfälle bei der Deutschen Bahn AG in der letzten Zeit haben nicht zuletzt hier ihre Ursache. - Tom Koenigs fuhr in seinem Vortrag am 4. Dezember fort: Die Grünen, so sagt er,

wollen eine Gesellschaft der gegenseitigen Verantwortung, die allen Bürgerinnen und Bürgern die Möglichkeit gibt, den ihnen angemessenen Beitrag zu leisten.

Nur eine Frage, wer bestimmt, welcher Beitrag angemessen ist? Und dann schließt sich eine weitere an: welchen Beitrag sollen die Konzerne und Banken leisten, die die Milliarden geradezu scheffeln? Sollte man die nicht erst einmal zur Kasse bitten, anstatt ihnen scheunentoroffene Steuerschlupflöcher geradezu hinterherzuwerfen? Jedenfalls sagt Koenigs,

die Grünen setzen auf eine produktive und innovative Leistungsfähigkeit der Marktwirtschaft.

Ich finde solch einen Satz bemerkenswert. Da geht jemand hin und tut so, als gäbe es keinen Kapitalismus, keine Ausbeutung, keine Ausplünderung ganzer Kontinente. Als gäbe es keine krankmachende Arbeit, keine Umweltzerstörung durch genau diese Marktkräfte, die er - natürlich produktiv und innovativ - entfesselt sehen möchte. Ein Beispiel für die innovative Leistungsfähigkeit des Marktes sind auch die neuen intelligenten Minen, mit denen die Bundeswehr in Zukunft ausgerüstet wird, um damit deutsche Interessen in aller Welt verteidigen zu können. Irre fand ich auch die Entwicklung eines Fensters, daß sich bei einem herannahenden Flugzeug schließt. Es läßt sich auch auf Lastwagengeräusche einstellen. Irre finde ich das deshalb, weil hier nicht etwa die Lärmquellen beseitigt werden, sondern der Lärm bleibt oder sogar vergrößert werden kann, weil sich ja die Fenster dem Lärm anpassen. Wir müssen halt alle flexibel sein und mit der Zeit gehen.

Mag ja sein, daß einige meiner Hörerinnen und Hörer mich wieder viel zu polemisch finden. Aber ist es nicht diese Welt, diese ungezügelte Marktwirtschaft, die diese Polemik geradezu herausfordert? Ja, vielleicht sogar erfordert?

Und um beim Beispiel zu bleiben: Wenn es jetzt Stimmen für eine vierte Start- und Landebahn für den Frankfurter Flughafen gibt, wenn noch mehr Flugzeuge über Wohngebiete düsen sollen, dann macht diese bahnbrechend innovative Fensterautomatik durchaus Sinn. Zumal von den Grünen sicher nicht zu erwarten ist, daß sie einen innovativen Mittelstandsbetrieb wie den Betreiber des Frankfurter Flughafens einschränken werden. In Nordrhein-Westfalen haben sie ja genügend Flugplätze geschluckt und auch in Hamburg haben sie in der Koalitionsvereinbarung mit der SPD dem Ausbau des dortigen Flughafens zugestimmt. - Und damit bin ich wieder bei Tom Koenigs und der innovativen Leistungsfähigkeit des Marktes. Sicher, er sagt,

jeder Markt bedarf eines staatlich gesetzten Rahmens.
Und deshalb wollten die Grünen einen intelligenten Staat. Einen Staat, der die Wirtschaft steuert, aber sich aus der direkten Wirtschaftstätigkeit zurückzieht. Das könnte wahrscheinlich auch die FDP unterschreiben. Und was heißt das? Nun, wir können das deutlich bei der Zerschlagung der guten alten Bundespost sehen. Häppchen für Häppchen werden hier im Namen des Wettbewerbs Arbeitsplätze vernichtet. Dasselbe gilt für die gute alte Bundesbahn. Hier verabschiedet sich die Bahn aus der Fläche und fördert wahnsinnig innovative Technologien wie den ICE. Ich bin immer noch erstaunt, wie ein High Tech Zug es schafft, 30 oder mehr Sekunden am Bahnsteig zu verweilen, nachdem die Türen geschlossen wurden. Ein Elektronikproblem mit der Türsteuerung. Und um die dadurch verursachten Verspätungen einzuholen, müssen dann ganze Städte mit neuen Bahnhöfen untertunnelt werden. Ein Schwachsinn sonder gleichen, der nur aus der Logik der Kapitalverwertung zu verstehen ist.

Ja, sagt Tom Koenigs,

wo mehr Wettbewerb ist, ist mehr Arbeit.

Ist er Gesundbeter? So, wie derzeit rationalisiert wird, gerade auch unter dem Zwang der globalen Wettbewerbspeitsche, kann mir doch niemand erzählen, daß da mehr Arbeitsplätze entstehen als vernichtet werden. Oder will er ernsthaft das amerikanische Beispiel zitieren? Das angebliche Wirtschaftswunder mit zurückgehender Arbeitslosigkeit, das darauf beruht, daß Millionen nur mit schlecht bezahlten Zweit- oder Drittjobs überleben können.

Tom Koenigs, der ehemalige grüne Stadtkämmerer von Frankfurt, will neue Güter- und Dienstleistungsbereiche schaffen. So will er arbeitsintensiv wohnartnah produzierte hochwertige Nahrungsmittel herstellen lassen. Von den Löhnen in der Landwirtschaft schweigt er lieber. Obwohl - er sagte, wir sollen realistisch sein, wir brauchen einen Niedriglohnbereich. Und wie drückt er das in freundlichen Worten aus?

Die Alternative ist eine neue, bewegliche Arbeitskultur

- was auch immer das sein mag -

die vielfältige Ein- und Um- und Ausstiegsmöglichkeiten bietet.

Mit Teilzeitarbeit, Job Sharing, Weiterbildung und Erholung; und er wünscht sich eine Politik, eine geradezu visionäre Politik, die diese Wünsche der Arbeitenden mit den knallharten Bedürfnissen und Bedingungen der freien Marktwirtschaft in Einklang bringen möge. Und daher wollen die Grünen die Dauerarbeitslosigkeit abschaffen. Das ist doch schön.

Dauererwerbslosen muß eine Möglichkeit zur Reintegration in das Erwerbsleben und zu zumindest stundenweiser Beschäftigung angeboten werden.

Nun ja, er war Stadtkämmerer. Er weiß doch, wie das läuft. Arbeit statt Sozialhilfe. Jobs, die ungemein qualifizieren. Und selbst wenn sie sich qualifizieren würden, heben sie doch nur den Wettbewerb um eben nicht mehr werdende Arbeitsplätze auf eine höhere Stufe. Das Ziel ist doch ein anderes. Möglichst alle Bereiche der Lohnabhängigkeit in einen Konkurrenzkampf untereinander zu versetzen. Im Ergebnis haben wir dann Arbeitskräfte, die alles zu allen Bedingungen zu tun bereit sind. Und damit liegt Tom Koenigs mit seinen visionären Vorstellungen voll im Trend. Halt nur ein bißchen grüngestrickt.

Ich will zum Schluß kommen, obwohl ich mit seinem Vortrag eine ganze Sendung füllen könnte. Auch er vertritt das Konzept einer Ökosteuer.

Die Kosten der Umweltnutzung - sagt er - müssen jetzt bezahlt und nicht auf die nächste Generation abgewälzt werden.

Klingt gut, aber was heißt das genau? Es bedeutet

die Integration von Umweltkosten in die Preise der Produkte.

Das sei am besten marktkonform zu erreichen. Marktkonform ist aber die Abwälzung von Lasten auf die Schultern von Verbraucherinnen und Produzenten. Das nennt sich dann Verursacherprinzip. Denn wir sind es ja, die so gierig nach den Produkten des Marktes sind, daß sich die armen Kapitaleigner unser erbarmen und Produkte zu leider hohen Umweltkosten herstellen müssen. Das müssen wir dann ja einsehen, daß wir dafür gerade zu stehen haben. - Und ich dachte immer, das sei genau umgekehrt. Produziert wird, was Profit bringt. Die Kosten sind egal und nach uns die Sintflut.

Dann paßt ja auch seine Forderung nach einem maßvollen Spitzensteuersatz. Obwohl, den bezahlt doch jetzt schon nur, wer wirklich dumm ist. Es gibt jede Menge Einkommensmillionäre, die keinen Pfennig Steuern zahlen. Und eine Firma wie Siemens, die weniger Steuern zahlt, als sie Subventionen empfängt. Zusammengefaßt: wenn das in Zukunft grüne Wirtschaftspolitik sein soll, was Tom Koenigs am 4. Dezember in Darmstadt vorgestellt hat, dann habe ich den Verdacht, daß die grüne Klientel die modernisierte Form der FDP-Klientel ist.

 

Beschäftigungsprojekt

In den folgenden Minuten soll es um das neueste Attentat der Bundesanstalt für Arbeit auf Arbeitslose gehen. Eigentlich handelt es sich sogar um zwei Attentate. Zum einen wird ab Januar eine neue zeitliche Begrenzung für Nebenbeschäftigungen eingeführt. Bislang konnte ein Arbeitsloser oder eine Arbeitslose bis zu 18 Stunden in der Woche nebenher arbeiten, ohne den Status der Arbeitslosigkeit zu verlieren. Diese Nebenjobs waren ja eben auch nur als Nebenjobs zu betrachten, denn Arbeitslose arbeiten in ihren Nebenjobs in den seltensten Fällen im erlernten Beruf.

Im Rahmen der allgemeinen Senkung des Lohnniveaus gilt ab Januar eine neue Regelung. Nebenjobs dürfen 15 Stunden die Woche nicht überschreiten und zusätzlich auch nicht 610 Mark im Monat. Bisher war die Verdienstgrenze nach oben offen; das einzige, was passieren konnte, war, daß reguläre Arbeitsamtsleistungen angerechnet wurden. Das bedeutet, daß Arbeitslosen die Möglichkeit zur Aufbesserung der zuweilen wirklich kargen Arbeitslosengelder oder Arbeitslosenhilfe eingeschränkt wird.

Wahrscheinlich in Zusammenhang damit steht, obwohl mir der Sinn nicht klar ist, das zweite Attentat. Arbeitslose müssen sich an fest vorgegebenen Tagen alle drei Monate beim Arbeitsamt zurückmelden. Das Pikante daran ist, daß sie zudem nachweisen müssen, daß und wie sie sich aktiv selbst um eine neue Stelle bemüht haben. Bis vor kurzem gab es zu dieser Bestimmung nicht einmal eine Ausführungsvorschrift. Das Arbeitsamt erklärte also den Arbeitslosen, wie sie nachweisen können, daß sie sich aktiv um eine neue Stelle bemüht haben. Als Beschäftigungsinitiative für Arbeitslose werden daher solch sinnvolle Unterfangen wie das Ausschneiden infrage kommender Zeitungsartikel vorgeschlagen und erwartet. Auch sei es sinnvoll, sich bei einem Bewerbungsgespräch attestieren zu lassen, daß ein solches auch stattgefunden hat. Diese Beschäftigungsinitiative wird also nicht nur die Personalbüros mit sinnvoller Arbeit zudecken, sondern auch überhaupt eine erhöhte Papierflut mit sich bringen. Es sei nämlich ratsam, Aufzeichungen der eigenen Bemühungen vorzunehmen und Belege aufzubewahren.

Bei fast fünf Millionen offiziell registrierter Arbeitsloser und einer geringen Zahl offener Stellen ein intelligentes Verfahren, die Arbeitslosen zu beschäftigen. Das Fatale daran ist, daß Kriterien des Nachweises aktiver Stellensuche nicht transparent sind und somit der Willkür Tür und Tor geöffnet werden. Ob Kohls Arbeitsbrigade auf diese Weise die Anzahl der Arbeitslosen bis zum Jahr 2000 um die Hälfte reduzieren will?

Wie beschrieb Viviane Forrester diesen Sachverhalt in ihrem Buch Der Terror der Ökonomie so treffend? Man nimmt den Arbeitslosen ganz gezielt ihre Selbstachtung, indem man sie täglich, wöchentlich, monatlich, Jahr für Jahr auf die Suche nach Arbeit schickt, die schlicht und einfach nicht existiert.

Und anstatt die Arbeitszeit generell zu senken, denkt man sich immer perfidere Möglichkeiten aus, die Arbeitszeiten so flexibel zu gestalten, daß bei möglichst viel Arbeit möglichst wenig Lohn zu zahlen ist. So hilft das Arbeitsamt fleißig beim Lohndumping mit. So werden z.B. Jobs in der Landwirtschaft zu Billiglöhnen angeboten, die dann, aber nur, falls mehr als 6 Arbeitsstunden pro Tag anfallen, vom Arbeitsamt großzügig mit 20 Mark extra belohnt werden. Solche Billigjobs kosten einen Arbeitgeber dann vielleicht 6 oder 8 Mark die Stunde.

Aber auch die Sozialämter sind kräftig dabei. Unter der Vorspiegelung der falschen Tatsache, Sozialhilfebezieher für eine Arbeit zu qualifizieren, dürfen sie dann für 3 Mark die Stunde Laub kehren oder ähnlich sinnvolle Dinge tun. Dadurch ersparen sich die Städte eine goldene Nase, brauchen für viele Jobs keinen Tarif mehr zu zahlen und können das freiwerdende Geld in so sinnreiche Dinge investieren wie der Subventionierung des notleidenden Mittelstandes oder Finanzierung neuer Konsum- oder Kulturtempel. Die Millionen, die in die Heaghalle B oder auch ins Staatstheater gepulvert werden, kommen wenigen zugute; und die Armen und Obdachlosen können dann sehen, wo sie bleiben. Sie sind ja ohnehin kein Wirtschaftsfaktor. Wie sagte Oberbürgermeister Peter Benz so treffend bei der Eröffnung des Carree? Unter dem Stichwort Urbanität listete er Handel, Verwaltung und Dienstleistungen auf - typischerweise vergaß er die Bewohnerinnen und Bewohner dieser Stadt.

 

Blauer Dunst im Darmstädter Echo

Und jetzt mache ich mich wieder unbeliebt. Ich verteile eine Virtuelle Zitrone. Und das geht so: Die Virtuelle Zitrone zeichnet sich nicht nur dadurch aus, daß sie für besonders gelungene Einbildungsleistungen vergeben werden wird, sondern auch dadurch, daß sie virtuell ist wie die Leistung, für die sie vergeben wird. Es bleibt also alles rein im luftleeren Raum. Die Preisträgerin bzw. der Preisträger bekommt einen nicht vorhandenen, also virtuellen, Preis überreicht für eine besonders hervorstechende Leistung im geistigen Niemandsland. Und mit der mir eigenen Nonchalance vergebe ich diesen Preis mit besonderer Vorliebe an eine große südhessische Tageszeitung.

Ich möchte da aber nicht mißverstanden werden. Das ist keine Privatfehde. Eine Zeitung, die sich politisch in das Geschehen dieser Stadt einmischt und dabei ihre Monopolstellung ausnutzt, muß sich gefallen lassen, daß ihr Stil wie ihr journalistisches Niveau einer besonderen Prüfung unterzogen werden. Nun könnte frau oder man sagen, auch RadaR hat ein Monopol - das Monopol für Radiosendungen in Darmstadt nämlich.

Ich sehe das anders. - Pressefreiheit, so ein Bonmot, ist die Freiheit einiger weniger Pressemagnaten, ihre Meinung frei zu äußern. Im Darmstädter Echo ist es eben nicht für normalsterbliche Darmstädterinnen und Darmstädter möglich, sich zu äußern oder Einfluß auf die Gestaltung dieses Blattes zu nehmen. Hier entscheiden die Eigentümer über die journalistische und politische Linie des Blattes. Und die ist reichlich konservativ. Solange weder Rundschau noch Frankfurter Allgemeine ein Interesse an einer Konkurrenzsituation in Darmstadt haben, wird sich das Echo so einiges erlauben können. Anzeigenkunden werden kaum abspringen, ist das Echo doch auf ihrer Linie. Und vergrätzte Abonnentinnen und Leser kann das Echo verkraften.

Diese Art Monopol gibt es bei RadaR eben nicht. Hier kann jede und jeder, die oder der sich aktiv einmischen will, dies auch tun. Hier verschwinden keine Leserinnenbriefe im redaktionellen Niemandsland. Hier wird nicht gekürzt. Statt dessen warten zur Zeit 14 Redaktionen darauf, daß neue Leute frischen Wind hereinbringen. Das heißt nicht, daß wir alles bringen. Gewaltverherrlichende, rassistische und sexistische Inhalte haben bei RadaR nichts zu suchen. Leider ist die Klarheit im Punkt Sexismus bei vielen Radiomachern, aber auch Radiomacherinnen nicht so klar, wie er vielleicht sein könnte.

Genug der Vorrede. Ich hoffe, es ist klarer geworden, worauf ich hinauswill. So will ich denn zur Tat schreiten. Die Virtuelle Zitrone des Monats Dezember erhält (wo bleibt die Fanfare?) Harald Pleines aus der Politik- und Nachrichten-Redaktion des Darmstädter Echo. Seine Meinung tat er am 6. Dezember unter dem Titel Der Geschmack der Freiheit kund. Hintergrund war der Beschluß der EU-Gesundheitsminister, Tabakwerbung zu unterbinden.

Womit hat sich nun Harald Pleines die Virtuelle Zitrone verdient? Er stellt zunächst ganz richtig fest, daß zweifelsfrei feststehe, daß zwischen Nikotinkonsum und Krebs ein Zusammenhang bestehe. Jeder Staat habe eine Fürsorgepflicht gegenüber seinen Untertanen (er sagt Bürger) und müsse Gefahren von diesen abwenden. Aber, so sagt er,

Werbeverbote verletzen die aus guten Gründen in der deutschen Verfassung verankerte Meinungs- und Informationsfreiheit. Daher darf ein Unternehmen seine Produkte anpreisen, und der Bürger hat das Recht, sich aus frei zugänglichen Quellen zu informieren.

Aber - sagt er weiter - die EU-Gesundheitsminister gehen davon aus, daß ein Werbeverbot den Tabakkonsum reduziere und daher der Zweck Gesundheitsschutz das Mittel Zensur heilige. Aber dieser Zusammenhang sei umstritten. Überhaupt sei die Wirkung eines Werbeverbots beschränkt. So hätten deutsche Spirituosenhersteller von 1986 bis 1994 ihre Werbeausgaben verdoppelt, aber der Konsum sei um 5 Prozent zurückgegangen. In Skandinavien sei der Alkoholkonsum trotz Werbeverboten sogar gestiegen. Und überhaupt:

Die EU müßte dann gleich auch die Produktion von Zigaretten, Zigarren und Pfeifentabak verbieten - und konsequenterweise auch Alkohol, Süßigkeiten und Schweinshaxen einbeziehen.

Und von Skiern, Motorrädern und Fallschirmen, da auch hiermit Jahr für Jahr viele Menschen getötet würden. Interessanterweise unterschlägt er hier das Mordgerät Nummer 1, nämlich des Deutschen liebstes Kind, das jedes Jahr im Mai in der Fußgängerzone in der Wilhelminenstraße unter dem Beifall des Darmstädter Echo gefeiert wird. Und seine Meinung beschließt er mit den Worten:

Die Menschen in freiheitlichen Gesellschaften brauchen keine staatlichen Bevormundungen und Gängelungen. Sie wollen selbst entscheiden, was sie kaufen. Dazu gehört auch die Information über das jeweilige Produkt und sei sie - wie im Fall der Zigarettenwerbung - noch so nichtssagend.

Muß ich da noch irgendetwas zu sagen? Oder seid ihr mit mir einer Meinung, daß ein solches Geschwafel die Virtuelle Zitrone locker verdient hat?

Wenn Meinungsfreiheit das ist, sich mit nichtssagender Werbung eindecken zu lassen, für Produkte, die krank machen oder zur Tötung von Menschen verwendet werden, dann ist hier etwas faul. Meinungs- und Informationsfreiheit würde doch bedeuten: vollständige Aufklärung über Gefahren von Produkten; würde bedeuten, nach Mitteln und Wegen zu suchen, derartige Produkte weder produzieren noch anwenden zu müssen. Wenn die gesellschaftlichen Verhältnisse - Arbeitsbedingungen, Schulstreß, Beziehungsprobleme atomisierter Zweierkisten usw. - derart sind, daß sie nur mit Rauschmitteln erträglich sind; wenn für die Gewinne der Automobilindustrie der öffentliche Nahverkehr unattraktiv gehalten wird und damit die Notwendigkeit privaten Autoverkehrs gegeben ist; wenn Freiheit und Abenteuer mit Fallschirmen und Motorrädern und Zigaretten die einzige Möglichkeit ist, dem tristen Alltag zu entfliehen - dann wäre es vielleicht an der Zeit, die Verhältnisse zu ändern.

Und nicht noch eine Einlullorgie unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit anzubieten. Wenn die EU-Gesundheitsminister zu kritisieren sind, dann deswegen, weil ihr Verbot nicht umfassend und sofort wirkt. Und daß sie nur Symptome bekämpfen und nicht die Ursachen angehen. Die Ursachen liegen in einer Leistungsgesellschaft, die ohne Drogen welcher Art auch immer nicht mehr zu ertragen ist. Und die Leistungsgesellschaft hat nur einen Götzen: den Profit.

Fröhliche Weihnachten!

 

Schluß

Nach diesen harschen Worten möchte ich nicht unterschlagen, denn das gebietet die journalistische Sorgfaltspflicht, daß auch im Darmstädter Echo zuweilen qualitativ und journalistisch hochwertige Artikel erscheinen. Besonders positiv ist mir der Artikel Mann bleibt Mittelpunkt im Frauenleben vom 17. November [1997] aufgefallen.

Birgit Femppel berichtet dort über eine Lesung einer Gaby Hauptmann in einer darmstädter Buchhandlung. Sie arbeitet darin heraus, wie eine angeblich feministische Autorin doch eher Frauen- als Männerfeindliches in ihren Romanen verbrät. Letztlich reproduziere auch Gaby Hauptmann das klassische Rollenklischee, wonach der Mann der Mittelpunkt des Universums ist und Frauen sich fleißig drumherum drehen.

Die nächste Virtuelle Zitrone verteile ich in der Januar-Ausgabe von Kapital und Arbeit am Montag, den 19. Januar 1998. Ich bin sicher, daß mich das Echo bis dahin nicht im Stich lassen wird. [Die folgende Virtuelle Zitrone wurde jedoch schon am 12.01.1998 verteilt.] Damit möchte ich mich für heute verabschieden und auf meine nächste Sendung am 23. Dezember um 17 Uhr verweisen. Dort werden Antje Trukenmüller und ich Bücher aus den verschiedensten Gebieten vorstellen, die sich vielleicht als Mitbringsel im Rahmen des globalisierten Bethlehem-Terrors eignen. Am Mikrofon war Walter Kuhl.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 11. März 2005 aktualisiert.
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