Phantomverbrechen

1. Folge

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Phantomverbrechen
1. Folge
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Offenes Haus
 
gesendet am :
Donnerstag, 4. Dezember 1997, 17.00–17.55 Uhr
 
wiederholt am :
Freitag, 5. Dezember 1997, 08.00–08.55 Uhr
Fraitag, 5. Dezember 1997, 12.00–12.55 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Dorothea Hauser : Baader und Herold, Alexander Fest Verlag
  • »Sie behandeln uns wie Tiere« - Rassismus bei Polizei und Justiz in Deutschland, Verlag der Buchläden Schwarze Risse · Rote Straße
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/phantom/phant_01.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Baader und Herold (sind sich nie begegnet)
Kapitel 3 : Was ist ein Phantomverbrechen?
Kapitel 4 : Drogen sind erlaubt, wenn nützlich
Kapitel 5 : Rassismus bei Polizei und Justiz
Kapitel 6 : Merkwürdiges aus Darmstadt
Kapitel 7 : Schluß
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Soeben zwitscherten noch unsere Vögel [1], aber jetzt kommt Radio Darmstadt mit dem Offenen Haus. Heutiges Thema sind Phantomverbrechen. Eigentlich geht es sogar um zweierlei. Zum einen will ich dem Phantom Verbrechen auf die Schliche kommen. Was ist ein Verbrechen, was ist kriminell? Wer definiert das? Gegen wen richtet sich eine solche Vorstellung von Kriminalität? Zum anderen gehe ich der Frage nach, welche Verbrechen sozusagen als Phantom ohne jede reale Grundlage produziert werden.

Dazu werde ich zwei Bücher vorstellen und anhand dieser Bücher die Problematik zu durchleuchten versuchen. Und schließlich will ich anhand eines darmstädter Beispiels die Auswirkungen dieser Verbrechensproduktion aufzeigen. Am Sonntagmorgen des 23. November wurde ein 16-jähriger Schüler von einer Polizeistreife angehalten. Warum, und was dann passierte, darüber werde ich am Ende der Sendung berichten. Mein Name ist Walter Kuhl und ich bin für den Inhalt der nächsten 55 Minuten verantwortlich.

 

Baader und Herold (sind sich nie begegnet)

Baader und Herold ist der Titel eines Buches, mit dem die Autorin Dorothea Hauser versucht, zwei Vertreter der bewaffneten Auseinandersetzung zwischen RAF und Staat in den 70er Jahren gegenüberzustellen. Andreas Baader galt als der Kopf der Roten Armee Fraktion, Horst Herold war Präsident des Bundeskriminalamts. 1977 soll dann das Jahr des showdown gewesen sein.

Andreas Baader, am Ende des 2. Weltkriegs geboren, der Vater verschollen, die Mutter im täglichen Überlebenskampf der Nachkriegszeit. Andreas wird als träge und hochmütig verschlossen, dann jedoch auch als rücksichtslos und körperlich aggressiv geschildert. Stereotype, die seine spätere Rolle beim Aufbau der RAF erklären sollen, aber nicht erklären können. Er kommt mit der Schule nicht klar, verläßt sie mit der Mittleren Reife. Er erhält nie einen Führerschein, fällt aber früh durch Spritztouren mit geklauten Autos oder Motorrädern auf. Andreas Baader entwickelt eine Persönlichkeit, schlägt sich aber zunächst in der Münchner, dann in der Berliner Bohème durch. Er ist in gewisser Weise Kind der damaligen Verhältnisse. Es ist die reaktionäre Adenauerzeit kurz vor der Studentenbewegung. Es gärt, aber eine klare Linie ist noch nicht zu erkennen.

Da trifft er auf Gudrun Ensslin. Sie gibt seiner ungezügelten Aggressivität eine politische Richtung. Zusammen mit ihr entwirft er den Plan, Kaufhäuser anzuzünden, um die Verbrechen der amerikanischen Kriegsführung in Vietnam auch hier sinnlich wahrnehmbar zu machen. Schließlich ist die BRD das strategische Hinterland, geht der Nachschub für Vietnam über die Rhein-Main Air Base in Frankfurt. Mit zwei anderen zünden sie gegen Mitternacht zwei Kaufhäuser in Frankfurt an, der Schaden hält sich in Grenzen. Sie werden bald gefaßt und verurteilt. Bis zur Revisionsentscheidung kommen sie auf freien Fuß. Sie gründen eine Initiative, um aus Heimen entlaufenen Jugendlichen zu helfen. Dann ergeht die Entscheidung, daß sie ihre Reststrafe absitzen müssen. Sie fliehen, aber Andreas Baader wird gefaßt. Seine Befreiung aus dem Knast wird die erste Aktion der Roten Armee Fraktion sein.

Horst Herold, 1923 geboren, die Familie verarmt durch die Weltwirtschaftskrise 1929. Nach einem Notabitur wird er 1941 eingezogen und an die russische Front geschickt. Er gerät in russische Gefangenschaft, flieht und schlägt sich nach Nürnberg durch. Er studiert Jura, wird Staatsanwalt. Die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse bekommt er hautnah mit. Als die junge Bundesrepublik remilitarisiert werden soll, ist seine Haltung eindeutig: nie wieder Krieg, nie wieder Militär, Er steht im Kontakt zum SDS (dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund), damals noch eine Parteiorganisation der SPD.

Herold bekommt als Staatsanwalt mit, wie angeklagte Kriegsverbrecher und Nazis vor Gericht freigesprochen werden. Die Richter glauben bereitwillig den Entlastungszeugen. Vielleicht liegt hier ein Grund, warum er später den objektiven Sachbeweis zum alleinigen Kriterium für Polizei und Justiz erheben will. Sein Kontakt zum SDS führt dazu, daß er sich mit dem Marxismus beschäftigt; und so ist er in den 60er und 70er Jahren einer der wenigen Polizisten, die den revolutionären Gehalt der Studentenbewegung verstehen.

Herolds Beschäftigung mit Kybernetik führt zur Entwicklung eines für die Polizeiarbeit revolutionären räumlich-statistischen Ermittlungsmodells. Es wird später Kriminalgeographie genannt. Das Prinzip ist simpel. Man erfasse statistisch Kriminalitätsschwerpunkte und schicke die Polizei dorthin, die somit faktisch schon vor der Tat präsent ist, nämlich da, wo viel passiert. Seine Idee macht Furore. 1964 wird er Kripochef in Nürnberg, wo er seine Ideen umsetzen kann. 1967 wird er Polizeipräsident, 1971 Präsident des BKA. Herold begreift sich als mitunter unbegriffener Visionär. Datenverarbeitung, Rasterfahndung, Kommissar Computer - all das ist sein Werk.

Im Mai 1970 befreit die RAF Andreas Baader. Doch die RAF braucht zwei Jahre bis zur ersten Aktion. Viel Arbeit erfordert die Logistik. Unerfahrenheit mit der Illegalität führt zu Pannen und Festnahmen. Im Mai 1972 explodieren Bomben in amerikanischen Einrichtungen und dem Springer-Hochhaus in Hamburg. Kurz darauf werden die meisten Leute aus der RAF, unter ihnen Andreas Baader, verhaftet. Die nächsten fünf Jahre verbringt er im Knast.

Herold soll daran nicht unbeteiligt gewesen sein. Mit einem von ihm entwickelten Fahndungskonzept trieb er die RAF in die Enge. Die nächsten Jahre verbringen beide in quasi geordneten Bahnen. Andreas Baader im Hochsicherheitstrakt in Stammheim und Horst Herold im eigens für ihn erreichteten Hochsicherheitsbereich beim BKA in Wiesbaden. 1977 wird Hanns-Martin Schleyer von der RAF entführt. Herold spielt auf Zeit, vertraut auf seine Rasterfahndung. Das Versteck Schleyers hätte hiermit entdeckt werden können und müssen. Der entscheidende Hinweis verschwand jedoch spurlos.

Andreas Baader wird am Morgen des 18. Oktober 1977 tot aufgefunden. Dorothea Hauser vertritt unkritisch die offizielle Staatsversion: Selbstmord. Ich habe in mehreren Sendungen zum Deutschen Herbst 1977 deutlich gemacht, daß hier mehr als Zweifel erlaubt sind. Aber diese Zweifel, in ihrer Konsequenz öffentlich geäußert, werden immer noch strafrechtlich verfolgt.

Horst Herold quittierte 1981 den Dienst und lebt heute in einem Einfamilienhaus auf einem Kasernengelände. Aus Sicherheitsgründen. Er und Andreas Baader sind sich nie persönlich begegnet.

Dorothea Hauser beschreibt nicht nur den Lebensweg der beiden, sondern auch das gesellschaftliche Umfeld. Ob die beiden Charaktere dadurch verständlicher werden - ich wage es zu bezweifeln. Horst Herold, der Datenfanatiker mit menschlichem Herz, das ist mir zu starker Tobak. Seine gesellschaftliche Vision, in der Gerichte unnötig werden, weil die Beweise quasi objektiv für sich selbst sprechen, unterschlägt gerade die Subjektivität der Motive und Bewertungen, die er ja auch ausschließen will.

Und in Andreas Baader als wichtiges Mitglied der RAF sieht Dorothea Hauser nur den Unruhegeist, den Aggressiven und Narzißten. Aus ihrem Buch wird ganz offen deutlich, daß sie weder die RAF noch Andreas Baader verstanden hat. Sie nimmt ihm zwar das Dämonische, das ihm die Medien angedichtet haben, aber begreift nicht das befreiende Moment, das nicht nur in der Studentenbewegung, sondern auch im bewaffneten Kampf lag. Das zu erklären, würde hier allerdings zu weit führen.

Das Buch wird damit angekündigt, es enthalte Quellenmaterial von außerordentlicher Brisanz. Ich habe keines gefunden. Dafür habe ich die kritiklose und zum Teil nicht einmal in den Anmerkungen aufgeführte Übernahme der Klischees von Stefan Aust oder Heinrich Breloer, oder der Versatzstücke aus dem wesentlich interessanteren Buch von Ulrike Edschmid, Frau mit Waffe, vorgefunden. Weder Aust noch Breloer sind seriöse Quellen. Wer sich mit der Geschichte Andreas Baaders und Horst Herolds, der RAF und des BKA, der Auseinandersetzung zwischen RAF und dem BRD-Staat in den 70er Jahren befaßt hat, kann dies nicht anders sehen.

Dorothea Hausers Buch Baader und Herold ist im Alexander Fest Verlag erschienen, hat 250 Seiten und kostet 39 Mark 80.

 

Was ist ein Phantomverbrechen?

Warum habe ich für diese Sendung den Titel Phantomverbrechen gewählt? - Nun, ich denke, daß Verbrechen und Kriminalität nicht nur Spiegelbild dieser Gesellschaft sind, sondern zudem noch künstlich erzeugt werden.

Wer oder was kriminell ist, ist eine gesellschaftliche Konvention. Es handelt sich jedoch nicht um eine Vereinbarung, die von allen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern auf freiwilliger Grundlage geschlossen worden ist. Die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft ist das Eigentum und selbiges muß daher in besonderem Maße geschützt werden. Da materielle Werte wichtiger sind als Menschen, wird ein Raub im allgemeinen schwerer als eine Körperverletzung bestraft.

Die bürgerliche Gesellschaft muß sich aber auch darauf verlassen können, daß sich alle an die Spielregeln halten. Deswegen gibt es einen Staat und der hat formal gesehen das Gewaltmonopol inne. Und damit sich auch alle an die Regeln halten, kann es zu folgender kuriosen Situation kommen: Jemand geht in einen Supermarkt und klaut eine Flasche Wein für 12 Mark 98. Ein anderer dünkt sich schlauer und klebt ein anderes Etikett auf die Flasche, sagen wir, statt 12 Mark 98 nun für 7 Mark 98. Wer die bürgerliche Justiz kennt, weiß, was jetzt passiert. Werden beide erwischt, wird der Umetikettierer härter bestraft, obwohl er den geringeren Schaden angerichtet hat. Warum? Sein Vergehen heißt Betrug, und damit hat er die allgemeinen Geschäftsbedingungen zu seinen Gunsten manipuliert.

Und wenn ich schon dabei bin. Letztens wurde in Monitor dargelegt, daß die drei deutschen Großbanken ihre Steuererklärungen in Milliardenhöhe manipuliert haben. Großes Gezeter? Aber nein! Das finden wir dann, wenn es um sogenannten Sozialhilfebetrug geht. Weil, es sind ja die Kleinen, die uns alle schädigen. Die Großen dürfen das; es ist ja auch ihr Staat. Woraus folgt, daß Kriminalität ein soziales Phänomen ist und keinesfalls, wie die Frankfurter Allgemeine zuweilen behauptet, irgendwelchen Genen geschuldet ist.

 

Drogen sind erlaubt, wenn nützlich

Und damit komme ich zur Drogenkriminalität. - Es gibt erlaubte und verbotene Drogen. Haschisch ist verboten, aber ungefährlich. Alkohol erlaubt, führt aber zu Tausenden von Toten im Straßenverkehr. Offensichtlich ist es so, daß Alkohol das Leben in dieser Gesellschaft erträglicher macht als Haschisch. Mit Bier kann man sich volldröhnen, mit Haschisch nicht. Oder anders ausgedrückt: Alkohol ist eine Droge, mit denen Menschen sich selbst schädigen, anstatt die gesellschaftliche Situation anzugehen, die dazu führt, daß sie meinen, sich volldröhnen zu müssen.

Verbotene Drogen sind teuer. Sie müssen illegal beschafft werden, ihr Besitz steht unter Strafe. Heroin in reiner Form ist ein unschädliches Genußmittel, das nicht abhängig macht. Der illegalisierte Drogenmarkt führt dazu, daß Heroin gestreckt und ungesund gemacht wird. Hierdurch entsteht ein Prozeß von Drogenabhängigkeit. Mehr noch - die Abhängigkeit muß finanziert werden. Daher Beschaffungskriminalität.

Zusammengefaßt: wären Rauschmittel legal, wäre ihre Qualität besser, ihr Konsum gesünder, ihr Preis bezahlbar. Und es gäbe weniger Kriminalität. Da aber Drogenkriminalität ein prima Mittel repressiver polizeilicher Sozialkontrolle ist, wird diese Gesellschaft kaum darauf verzichten können. Ein Phantomverbrechen also. Unnötig, geradezu absurd.

Und - nur nebenbei. Ich bin kein Freund von Drogen. Ich schätze weder krebserzeugenden Tabakqualm noch alkoholisierte Männerrunden noch Junkies, die sich auf Handtaschenraub spezialisieren. Apropos Handtaschenraub. Wenn man dem Darmstädter Echo Glauben schenken mag, handelt es sich hierbei um ein massenhaft verübtes Verbrechen. Halten wir daher fest: die Aufregung ist überflüssig. Etwa alle 9 Tage wird in Darmstadt eine Handtasche erbeutet. Wenn ich mir dann überlege, daß es dazu vor zwei Jahren eine eigene Arbeitsgruppe der Polizei gab, frage ich mich, ob die nichts Besseres zu tun haben. Zum Beispiel dafür zu sorgen, daß Radwege nicht länger zugeparkt werden. Das wäre nützlicher und trüge zur allgemeinen Verkehrssicherheit bei.

Kriminalität ist ein Spiegelbild der Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der Besitz, Konsum und Rücksichtslosigkeit tragende Werte sind, darf sich nicht wundern, wenn einige Mitglieder dieser Gesellschaft das zu wörtlich nehmen und auf die Spielregeln pfeifen, die ohnehin auf die Reichen und Mächtigen zugeschnitten sind.

 

Rassismus bei Polizei und Justiz

Drogenhandel und Ausländerkriminalität sind zwei Begriffe, die fast schon synonym benutzt werden, als sei es faktisch dasselbe. Gibt es weiße Drogenhändler auf dem Luisenplatz? Oder sind selbige in der Hierarchie so weit oben, daß sie in der warmen Stube sitzen, selten erwischt werden und andere für sich arbeiten lassen? Darüber wäre mal nachzudenken.

Nachgedacht haben auch die Autorinnen und Autoren eines der spannendsten Bücher, die ich in letzter Zeit gelesen habe. Es behandelt Rassismus bei Polizei und Justiz in Deutschland, insbesondere in Bremen, aber nicht nur dort.

Eingeleitet wird das Buch mit der Frage nach den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für polizeilichen Rassismus. Für Flüchtlinge nach Deutschland sei nach der Asyldebatte eine Gesetzeslage geschaffen worden, die ihnen jene Mindeststandards, die deutsche Arme noch haben, verweigert und Asylverfahren aussichtslos mache. Gesetzesverstöße, wie verschiedene Formen von Eigentumsdelikten oder andere Varianten der Geldbeschaffung, seien in diesen Lebensumständen schon angelegt. Die staatlich verordnete Armut lasse objektiv nur die Wahl, kriminell zu werden oder das Land wieder zu verlassen. Trotz intensiver Kontrollen und besonders großem Risiko, entdeckt zu werden, entscheide sich offensichtlich ein Teil der Flüchtlinge dafür, Armut mit hierzulande als kriminell bezeichneten Delikten zu begegnen. Was zur Folge hat, daß die Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik ansteigen.

Es gibt also auch hier eindeutige gesellschaftliche Ursachen für diese sogenannte Ausländerkriminalität. Als Ergebnis sei festzuhalten: im öffentlichen Bewußtsein tauchen bei bestimmten Delikten Deutsche als mögliche Täter gar nicht erst mehr auf, obwohl sie selbstverständlich die Mehrheit der Tatverdächtigen stellen.

Gegen diese Kriminalität stelle die Polizei Sondertruppen auf. Hier in Darmstadt haben wir zum Beispiel die AG Lui. Dadurch entstehe eine besonders hohe Verfolgungsintensität im Bereich der entsprechenden Zielgruppe, also hier der angeblich besonders kriminellen Nicht-Deutschen. Die Autorinnen und Autoren führen dies an mehreren spannend zu lesenden Beispielen näher aus.

Eine Studie zum Verhältnis von Polizei und Drogen, die ich in einer späteren Sendung ausführlich vorstellen werde, bringt dies auf den Punkt mit der Aussage eines Polizisten: "Ich kann praktisch jeden Hinweis oder Vermerk so aufbauen, daß das für einen Beschluß reicht." [2] In Bremen wurde dies mit Beginn der 90er Jahre extrem gehandhabt: hier gerieten Schwarzafrikaner ins Visier, die seither mit besonderer Härte verfolgt wurden. Bei Durchsuchungen wurden Einrichtungsgegenstände mutwillig zerstört und Geld geklaut. Afrikaner, die sich gerade Geld vom Sozialamt geholt hatten, wurden festgenommen und ihr Geld als Drogengeld einbehalten - zum Teil ohne Quittung; was heißt, daß das Geld in die Taschen der Polizei geflossen ist. [3]

Ausführlich geht das Buch dann darauf ein, wer warum diese Politik verfolgt. Es geht also um die Grundlagen gesellschaftlichen Rassismus. Willkürliche Festnahmen mit willkürlichen Begründungen, Mißhandlungen auf der Wache, Platzverweise und Abschiebungen sind die Folge. Die Unschuldsvermutung, die formal für Deutsche noch gilt, wird hierbei völlig ausgehebelt. Peter Benz hat sich für Darmstadt schon ähnlich geäußert. Horst Knechtel, der Bürgermeister dieser Stadt, sollte dieses Buch vielleicht erst einmal lesen, ehe er seine law and order-Politik zugunsten eines heimeligen Luisenplatzes weiter verfolgt. Das, was hier in Darmstadt in Ansätzen praktiziert wird, ist Bremer Alltag. Und nicht nur dort. Es gibt keinen Grund, der Kriminalitätshysterie auf den Leim zu gehen. Aber es gibt viele Gründe, sich dagegen zu engagieren.

Das Antirassismusbüro Bremen hat das Buch »Sie behandeln uns wie Tiere«. Rassismus bei Polizei und Justiz in Deutschland herausgegeben. Es ist beim Verlag der Buchläden Schwarze Risse und Rote Straße erschienen und kostet 18 Mark. Ich nehme an, daß der Büchner-Buchladen in der Lauteschlägerstraße das Buch vorrätig hat. Es ist absolut empfehlenswert.

Im folgenden nun einige Ausschnitte aus dem soeben vorgestellten Buch über Rassismus bei Polizei und Justiz in Deutschland: Der frankfurter Rechtsanwalt Robert Schmelzer über deutsche Drogenhändler - nur so als Vergleich:

Es gibt eine ganze Menge Deutsche, die mit BtM handeln und da passiert jahrelang nichts; und zwar deswegen, weil die nicht auf der Straße stehen. Die sitzen zu Hause und verkaufen an Bekannte bzw. an Bekannte von Bekannten. Aber der Schwarze, der in der Kneipe sitzt, ist der erste, der kontrolliert wird, weil er schon als Schwarzer auffällt. [4]

Über den Umgang der bremer Polizei mit Kurden und Schwarzen heißt es:

Demnach kam es täglich zu Übergriffen gegen Kurden und insbesondere gegen Schwarze. Das polizeiliche Repertoire umfaßte permanente Personalienkontrollen auf der Straße, in deren Rahmen die Betroffenen oft regelrecht angefallen und gewürgt [...] wurden, um damit ein Verschlucken von möglicherweise im Mund befindlichen Kokainkügelchen zu verhindern. Wer durchsucht werden sollte, mußte mitunter noch auf der Straße die Hosen herunterlassen oder sich längere Zeit auf den Boden legen. Festgenommene wurden auf Polizeiwachen geschlagen, in die Genitalien getreten und mit kaltem Wasser übergossen. [5]

Und so weiter. - Festgenommene berichteten von Folterungen mit Stromstößen. Aber das sind nicht nur bremer Spezialitäten gewesen. Rassismus bei der Polizei ist nicht auf diese Stadt beschränkt. Baseballschläger gehörten bei der frankfurter Polizei zum Repertoire. In Hamburg wurden sechs Schwarze gezwungen, sich auszuziehen und in einen geschlossenen Raum zu gehen. Dort hinein wurde eine Tränengas-Spraydose entleert und dann die Türe geschlossen. Oder ein Polizist verteilte Wagenschmiere über den Körper eines Schwarzen.

Der Polizist sagte, das ist gut für deinen Körper. Aber ich wußte, daß das keine Creme für einen Menschen ist. Dann traten und schlugen sie mich. Sie hielten mir dann noch ein Gerät an den Arm, wovon ich dann Elektroschocks bekam. In meine Schuhe haben sie kaltes Wasser geschüttet und zwei Beamte zerrissen meine Mütze. [6]

In Bremen sind Teile der Innenstadt faktisch zu No-Go-Areas deklariert worden. Hier reicht ein durch nichts begründeter Verdacht, jemanden, also vorzugsweise Schwarzafrikaner, aus der Innenstadt zu verweisen. Werden bei ihnen keine Drogen gefunden, ist die Argumentation besonders perfide: Ein Dealer ist ein Dealer. hat er Drogen bei sich, ist alles klar. Finden sich keine, spricht dies nur für seine Konspirativität und Geschicklichkeit. Das ist reine Willkür und künstliche Produktion von Verbrechen, die einfach nicht stattgefunden haben.

Wie gesagt, ein absolut empfehlenswertes Buch. Ich mache jetzt einen Quantensprung [7] und wende mich den darmstädter Verhältnissen zu.

 

Merkwürdiges aus Darmstadt

Eine jede und ein jeder möge sich ein eigenes Bild davon machen, was unter dem Stichwort Bekämpfung der Drogenkriminalität in Darmstadt zu verstehen ist. Wenn, wie zum wiederholten Mal am 26. November geschehen, medienwirksam im Darmstädter Echo das Kriminellenmilieu Luisenplatz vorgeführt wird, dann geht hier etwas vor sich, das zum Himmel stinkt. Ein stimmungsmachender Großeinsatz mit dem phantastischen Ergebnis: ein ausgerissener 11-jähriger, ein BTM-Fall, ein Ladendieb, ein Asylsuchender, der es gewagt hat, Chemnitz zu verlassen.

Allerdings ist die darmstädter Polizei auch sonst findig: vor drei Jahren wurden des Nachts Brandanschläge auf ein kurdisches Restaurant und einen türkischen Kebap-Stand verübt. Es gab eine Zeugin, die bei den Tätern eindeutig von Deutschen sprach - ich habe selbst mit ihr darüber geredet. Und in welche Richtung ermittelt der darmstädter Staatsschutz? PKK, also die kurdische Arbeiterpartei. Somit für die Polizei ein Fall von Ausländerextremismus und nicht von Fremdenfeindlichkeit mit rechtsradikalem Hintergrund. So erfindet man ein Verbrechen und frisiert die Statistik.

Ich könnte auch an den Fall des Ghanaers erinnern, der 1993 wegen angeblichen Schwarzfahrens auf der Schloßwache landete. Im Prozeß gegen ihn ein Jahr später gab ein Polizist zu, daß auf dem Revier ein Hund auf den Ghanaer gehetzt wurde. Dies blieb für die Polizisten folgenlos; Amtsrichter Eckhard sprach in seiner mündlichen Urteilsbegründung gegen den Ghanaer sinngemäß davon, daß, wenn er den Polizisten nicht mehr glauben könnte, der Rechtsstaat unterminiert würde.

Und kurz darauf überprüft eine Zivilstreife einen anderen Ghanaer im Herrngarten, weil dieser ein nagelneues Mountainbike mit sich führte. Da lag ja der Verdacht auf Diebstahl nahe, denn wir wissen ja - Afrikaner klauen. Der Ghanaer konnte von Glück sagen, daß er die Kopie der Kaufquittung bei sich trug, sonst hätte er sein Fahrrad abschreiben können, das dann als Diebstahl in der Statistik aufgetaucht wäre. Noch ein Phantomverbrechen mehr.

Einen aktuellen Fall aus Darmstadt stelle ich gleich vor.

Extrabreit : Polizisten

Ich glaube es gerne, daß das Leben eines Polizisten hart genug ist. Das kann aber nicht aggressives Verhalten im polizeilichen Alltag begründen. Ich komme jetzt auf einen Fall zu sprechen, den ich persönlich mehr als ärgerlich finde. Am Morgen des 23. November [1997] - das war ein Sonntag - gingen vier Jugendliche plakatieren, unter anderem aus Solidarität zum Streik der Studierenden hier in Darmstadt. Als sie an der Justus-Liebig-Schule angelangt waren, näherte sich ein Streifenwagen mit ausgeschalteten Scheinwerfern, wie in einem schlechten Tatort-Krimi. Die Vier sahen das Auto kommen und liefen in verschiedene Richtungen davon. Schließlich war ja nicht auszuschließen, daß wildes Plakatieren als strafbare Handlung angesehen wird. Ein Polizeibeamter des 1. Reviers, also der Schloßwache, lief dem Jüngsten der Vier hinterher. Der sah ein, daß er keine Chance hatte, und blieb stehen. Das folgende schildere ich aus der Sicht des Jugendlichen. Er ist 16 Jahre alt. Ich kenne ihn persönlich und habe keine Veranlassung, am Wahrheitsgehalt seiner Ausführungen zu zweifeln.

Der Beamte schreit ihn an, er solle sich auf den Boden legen, was der Jugendliche auch tut. Der Beamte ist aggressiv und versucht, den Jungen in den Bauch zu treten, trifft aber zum Glück nicht. Daraufhin schlägt der Beamte den am Boden liegenden Wehrlosen mit seiner Stabtaschenlampe auf die Schulter. Den Schlag spürt der Jugendliche noch Tage später. Der Beamte meint dazu nur, daß er ihm den Schädel einschlagen werde, was aufgrund seines Verhaltens ja auch tatsächlich eine reale Drohung ist. Dann stößt er die Taschenlampe auf den Mund des am Boden liegenden, der Glück hat, daß seine Zähne das unbeschadet überstehen. Daraufhin wird er, immer noch am Boden liegend, mit Handschellen gefesselt, am Rucksack gepackt und hochgehoben. Daraufhin wird der Jugendliche aufgefordert, zum Streifenwagen zu gehen, wo seine Personalien aufgenommen werden. Dann wird er nach Drogen durchsucht; gefunden werden keine. Die Suche nach Drogen scheint mir symptomatisch. Egal ob Plakatierer oder Nachtschwärmer, hier in Darmstadt scheint die Polizei auf Drogen geeicht zu sein. Dem Jugendlichen werden anschließend die Handschellen wieder abgenommen und er kann gehen.

Vom Pressesprecher der Polizei, Heiner Jerofsky, war keine Stellungnahme zu erhalten, was aber auch angesichts der gegen diesen Polizisten laufenden Ermittlungen verständlich ist. Denn inzwischen hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen aufgenommen und es bleibt abzuwarten, was jetzt geschieht. Ich hoffe nur, daß dieser Vorfall ein Einzelfall gewesen ist. Ich will hier gar nicht von Polizeibrutalität reden. Darmstadt ist nicht Bremen oder Hamburg. Und ich hoffe, daß das auch so bleibt. Aber Horst Knechtels Programm zur Säuberung des Luisenplatzes von kommerzschädigendem Gesindel ist ein Schritt in diese Richtung. Das, was ich zu Bremen ausgeführt habe, ist vielleicht in Ansätzen auch hier schon spürbar. Den Eindruck kann frau oder man allerdings gewinnen. Und mir kommt es so vor, daß die Drogenjägermentalität mit diesem Beamten durchgegangen ist. Wenn das die Auswirkung der darmstädter Kriminalitätsbekämpfungsstrategie sein sollte, dann wird es Zeit, diese zu stoppen.

Einen Seitenhieb möchte ich mir hier nicht verkneifen. Über diesen Vorfall sollte auf der studentischen Kundgebung am Tag darauf auf dem Luisenplatz berichtet werden. Der studentische AK Demo lehnte dies ab. Schließlich, so die Begründung, wolle man es sich mit der Polizei nicht verscherzen. Herber ging es vier Tage später auf einer studentischen Vollversammlung zu. Dort wurde der Fall geschildert, aber von den anwesenden Studentinnen und Studenten mit solidarischen Äußerungen wie Ach, der Arme ... und Linke Zecken kommentiert. Wer sich derart unsolidarisch zu solidarischen Schülerinnen und Schülern verhält, der oder dem wünsche ich geradezu noch ein bißchen mehr von dieser reaktionären Bildungsreform. Das paßt dann wenigstens.

 

Schluß

Eigentlich wollte ich heute - zusammen mit Antje Trukenmüller - über eine ganz besondere Sorte Phantomverbrechen berichten. Die Heppenheimer Polizei hat nämlich eine eigene kriminalistische Wirklichkeit erfunden. Aber das Vergnügen an der Präsentation polizeilicher Realitätsverschiebung werden wir unseren Hörerinnen und Hörern wahrscheinlich erst im Februar des nächsten Jahres präsentieren können. Denn leider war Antje aufgrund einer Erkrankung nicht in der Lage, diese zur allgemeinen Erheiterung dienende Geschichte vorzubereiten. Inzwischen geht es ihr ja besser und so freue ich mich schon jetzt darauf.

Das war daher der erste Teil einer Beschäftigung mit Phantomverbrechen. Mit Verbrechen, die diese Gesellschaft selbst erzeugt, mit Verbrechen, die künstlich produziert werden. So wie bei Monika Haas, die in Frankfurt vor Gericht steht, weil sie die Waffen dem Entführerkommando der Landshut im Jahre 1977 übergeben haben soll. Außer verlogenen Stasi-Akten und einer von ihrer Aussage zurückgetretenen Kronzeugin bleibt nichts von der Anklage übrig. Monika Haas hat die Waffen nicht beschafft. Sie war nämlich nie in ihrem Leben auf Mallorca gewesen. Noch so ein künstlich erzeugtes Verbrechen. Dafür saß sie etwa 2½ Jahre in Untersuchungshaft.

Doch damit Schluß für heute. Wir hören uns vielleicht am Montag, dem 15. Dezember um 17 Uhr, wieder. Dann geht es im Rahmen des Offenen Hauses wieder einmal um Kapital und Arbeit. Am morgigen Freitag wird diese Sendung um 8 und um 12 Uhr nochmals ausgestrahlt. Es verabschiedet sich Walter Kuhl. An der Technik saß Günter Mergel.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Nach der Wiederholung des Programms vom Vortag wurde eine MiniDisc als Sendeschleife gestartet, auf den mehrere Vögel durch das Programm führten. Diese Sendeschleife wurde kurz darauf abgeschafft.
[2]   zit. nach: »Sie behandeln uns wie Tiere«, Seite 70-71.
[3]   In entsprechenden Zeitschriftenartikeln oder Fernsehdokumentationen wird ein solches Verhalten selbstverständlich als zu Osteuropa, Afrika oder Hinterindien zugehörig vorgestellt; daß eine solche Abzocke auch zum deutschen Polizeialltag gehört, wird hingegen ausgeblendet.
[4]   »Sie behandeln uns wie Tiere«, Seite 108.
[5]   »Sie behandeln uns wie Tiere«, Seite 113.
[6]   »Sie behandeln uns wie Tiere«, Seite 119.
[7]   Ein Quantensprung ist genau genommen ein winzig kleiner Sprung.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 2. Januar 2005 aktualisiert.
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©  Walter Kuhl 1997, 2001, 2005
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