Beiträge für den Radiowecker |
von Radio Darmstadt |
November 2003 |
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Vitamin C | ||||
02.11.2003 *** Wdh. 03.11.2003 | Nächster Beitrag | |||
Anmoderation Der Herbst mit seinen zunehmend kühleren Temperaturen führt zu vermehrten Erkältungen und schniefenden Nasen. Die Pharmalobby empfiehlt die verstärkte Zufuhr von Vitamin C. Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte hält das für blanken Unsinn. Beitrag Walter Kuhl Am vergangenen Freitag war's mal wieder im Echo zu lesen: gegen Triefnasen und Grippe hilft eine geballte Ladung Vitamin C. Melanie Wilhelm verkündete: Weg mit den Vitamin C-Tabletten. Frisches muss her! Sie empfahl einen Marktbesuch und den Kauf von vielen Orangen, Äpfeln, Birnen und Grapefruits. Mit der ersten Aussage hat sie uneingeschränkt Recht. Vitamin C in Tablettenform ist für die meisten Menschen absolut unnötig. Und Obst mag gut schmecken, aber bergeweise verzehren müssen wir es deswegen nicht, um genügend Abwehrkräfte zu tanken. Es ist nämlich ein weitverbreiteter Irrtum, daß die im allgemeinen schon fast zu wohlgenährten mitteleuropäischen Menschen auf die zusätzliche Zufuhr von Vitamin C, also auf Ascorbinsäure, angewiesen sind. So schreibt das überaus empfehlenswerte Handbuch Selbstmedikation der Stiftung Warentest: Die Bedarfsdeckung bei allgemein üblicher gemischter Kost ist als sehr gut anzusehen. Es gibt Ausnahmen, aber auf die komme ich noch zu sprechen. Jedenfalls: Dass hohe Dosen Vitamin C Erkältungen vorbeugen oder andere Infektionen verhüten können, ist bisher wissenschaftlich nicht ausreichend nachgewiesen. Ähnlich sieht das auch die Verbraucherzentrale Nordrhein- Die Einnahme hochdosierter Präparate (500 mg/Tag) ist nicht unbedenklich (möglich sind Nierensteine, erhöhter Cholesterinspiegel, Zerstörung von Vitamin B12, Schäden an Erbgutbausteinen, Arteriosklerose, Herzinfarkt). Nun sind 500 mg pro Tag etwa das Fünf- bis Sechsfache des Normalbedarfs. Man und frau muß sich da schon anstrengen, diese Überdosierung zu erreichen, zumal über den Bedarf hinaus aufgenommenes Vitamin C auch wieder ausgeschieden wird. Doch was versprechen uns die Vitaminverkäufer? Power für unser Abwehrsystem. Stärkt die Widerstandskraft. Entgiftet ihren Körper. Aber was steckt wirklich dahinter? Die Verbraucherzentrale NRW schreibt: Erste Anzeichen für Vitamin- und Mineralstoffmangel äußern sich unspezifisch, z.B. in Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Konzentrationsschwäche; derartige Symptome können jedoch auch auf andere Erkrankungen hinweisen. Wenn es jedoch stimmt, daß wir bei ausgewogener Kost den Grundbedarf an Vitamin C problemlos decken, stellt sich die Frage, warum wir dennoch müde, abgeschlagen und unkonzentriert sind. Das mag mitunter an anderen Krankheitssymptomen liegen, in der überwältigenden Zahl der Fälle gibt es aber einen ganz klaren Grund: Überforderung, Leistungsdruck, Streß. Und kapitalistische Ausbeutungsmethoden sind nun einmal nicht mit einem Vitaminplacebo zu kurieren. Für Kapitalismus empfiehlt der aufgeklärte Apotheker und die kluge Ärztin: Widerstand gegen die fremdbestimmten Zumutungen. Jetzt bleiben zwei Fragen zu klären: Erstens ernähren wir uns wirklich ausgewogen? Wenn nein, was sollten wir dagegen tun, vor allem dann, wenn die neoliberale Sparwut unser Einkommen auffrißt? Zweitens es gibt Gründe für einen erhöhten Vitaminbedarf, die auch genannt werden sollten. Dennoch bleibt in den allermeisten Fällen die zusätzliche Einnahme von Vitamin C- Überforderung, Leistungsdruck und Streß führen zu vermehrten Kopfschmerzen. Um wieder fit für die Ausbeutung zu sein, werfen wir Kopfschmerztabletten ein, die oftmals Acetylsalicylsäure enthalten. Deren Nebenwirkungen bekämpfen wir wiederum mit Vitamin C- Ein bißchen Obst regelmäßig gegessen bringt uns im Rahmen von normaler mitteleuropäischer gemischter Kost jedoch genauso gut durch den Winter. Ein darüber hinaus gehender Mehrbedarf als Grippeschutz ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Der vom Echo am Freitag empfohlene run auf die Obstkisten ist also nur begrenzt notwendig. Abmoderation Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
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Moderation : Katharina Mann (Sonntag), Dirk Beutel (Montag) | ||||
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Das Wunder von Bern war keines | ||||
23.11.2003 *** Wdh. 25.11.2003 | Nächster Beitrag | |||
Anmoderation Daß Sport alles andere als unpolitisch ist, sehen und hören wir bei jeder Sportreportage. Dennoch gibt es Sportereignisse, die tief im kollektiven Bewußtsein verankert sind und Sinn stiften. Eines dieser Ereignisse ist derzeit als Film zu bewundern. Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte bespricht im folgenden Beitrag jedoch nicht den Film, sondern ein spannendes Buch zum tieferen Verständnis der Ereignisse im Jahre 1954. Beitrag Walter Kuhl Die Intensität, mit der heute noch Bezug genommen wird auf ein fünf Jahrzehnte zurückligendes Fußballereignis, ist erstaunlich haftet doch allem, das den frühen 1950er Jahren entstammt, etwas Altbackenes, Kleinkariertes und Spießiges an. Weder nimmt sich heute irgendjemand die Politik Konrad Adenauers zum Vorbild, noch erträgt jemand die unfassbaren Schlagerschnulzen und Heimatfilme, die seinerzeit Hallen und Kinos füllten. Selbst die damalige Mode ist Äonen entfernt von einer etwaigen Retro- Fünfzig Jahre nach dem Fußballwunder kommt es als Märchen auf die Kinoleinwände zurück. War der Weltmeistertitel 1954 sozusagen die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland, die man und frau seither mit erhobenem Kopf aufbauen durfte, so ist Deutschland zu Beginn des 21. Jahrhunderts auf dem Weg zur global operierenden Weltmacht ohne Gewissensbisse. Doch was macht fünf Jahrzehnte danach den Erfolg eines Mythos und den Kinoerfolg eines Films aus? Ist es womöglich ein Nationalmythos, der viel eindringlicher ist als der 17. Juni oder der Fall der Mauer 1989? War der 4. Juli 1954 die Wiedergeburt einer Nation, die genau wußte, was sie angestellt hat? Jedenfalls wurde der Endspielsieg schon damals als Befreiungsschlag aufgefaßt und spielte sich schnell im Bereich des Legendären ab. Etwa daß eine deutsche Mannschaft nie aufgibt und kämpft, daß die deutschen Tugenden zum Sieg verhelfen, usw. Christian Jessen, Volker Stahl, Erik Eggers und Johann-Günther Schlüper haben mit ihrem im Agon Sportverlag herausgebrachten Buch zur Fußballweltmeisterschaft 1954 ein Beispiel dafür geliefert, wie man Legenden gegen den Strich bürsten und dennoch ein spannendes, lesenswertes und informatives Buch schreiben kann. Es heißt zwar auch Das Wunder von Bern, aber belegt vor allem in seiner fachkundigen Analyse, daß wenig Wunderliches und statt dessen sorgfältige Planung im Vordergrund gestanden haben. Sepp Herberger war kein Wunderdoktor, er war ein maniac heute würden wir sagen: verhaltensauffällig. Neben der sportlichen Chronik, von den Qualifikationsspielen bis zum Endspiel, wird der sportpolitische Kontext nicht außer acht gelassen. Wie es dazu kam, daß die Weltmeisterschaft in der Schweiz stattfand, was es mit der ungarischen Wunderelf auf sich hatte, wie es zu dem seltsamen Spielmodus in den Gruppenspielen kam und warum es kein Zufall war, daß sich ausgerechnet die Mannschaften der Bundesrepublik Deutschland und Ungarns im Finale gegenüberstanden. Doch auch die Nachwirkungen des Siegs im Berner Wankdorfstadion fallen nicht unter den Tisch. Etwa die peinlich nationalistische Rede des DFB- Das Wunderteam von Bern war allerdings keine verschworene Gemeinschaft. Der Mythos von den elf Freunden ist erst nachher erfunden worden. Dennoch bot sich gerade dieses Team, das noch nicht aus hochbezahlten Profis bestand, sondern aus Menschen zum Anfassen, geradezu als Projektionsfläche eigener kleinbürgerlicher Sehnsüchte an. Das sorgfältig zusammengestellte Buch von Christian Jessen, Volker Stahl, Erik Eggers und Johann-Günther Schlüper über Das Wunder von Bern ist in seinen Wertungen differenziert und aufklärerisch. Es ist als Band 5 einer Reihe zur WM-Geschichte im Agon Sportverlag erschienen und kostet 24 Euro. Als Kontrapunkt zum gefühlsbeladenen (um nicht zu sagen: spießigen) Film von Sönke Wortmann ist es uneingeschränkt empfehlenswert. Abmoderation Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
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Moderation : Katharina Mann (Sonntag), Timo Krstin (Dienstag) | ||||
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Am Rande der Welt | |
30.11.2003 *** Wdh. 01.12.2003 | Nächster Beitrag |
Anmoderation Jedes Jahr erscheint ein Sonderband der Zeitschrift Archäologie in Deutschland zu einem speziellen Thema. Dieses Jahr geht es um die Siedlungsgeschichte in den Randbereichen möglicher menschlicher Existenz. Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte hat den Band gelesen und stellt ihn uns nun vor. Beitrag Walter Kuhl Das Ende der letzten Eiszeit vor rund 12.000 Jahren führte nicht nur zu einer kleinen Bevölkerunsgexplosion, sondern auch dazu, daß sich Menschen an unwirtlichen Orten niederließen. Das taten sie gewiß nicht freiwillig. Entweder waren die guten Siedlungsplätze schon besetzt oder sie wurden von nachfolgenden Gruppen abgedrängt und mußten mit dem vorlieb nehmen, was an Ressourcen übrig blieb. Dirk Meier legt nun in seinem bei Theiss erschienenen Band Siedeln und Leben am Rande der Welt einen Überblick über einzelne Aspekte dieser Siedlungstätigkeit unter extremen Bedingungen vor. Der Autor beschäftigt sich seit mehr als 15 Jahren mit interdisziplinärer Siedlungsforschung; sein Schwerpunkt ist die Erforschung menschlichen Lebens am und im Wattenmeer an der Nordseeküste. Doch extreme Witterungs- und Lebensbedingungen gab es nicht nur an der Nordsee. Der Autor führt uns im ersten Kapitel seines Buches zu den ersten Spuren menschlicher Anwesenheit in den Hochalpen noch in der letzten Eiszeit oder zur Almwirtschaft im Römischen Imperium. Das Leben am Rande des gerade noch Erträglichen war jedoch unstet und führte nicht selten zu einer nomadischen Lebensweise von Jägern, Sammlerinnen und Hirten. Ab der Römerzeit wurde der Alpenraum systematischer genutzt, da die Römer die Alpenpässe und -täler als Transitwege in ihr germanisches Teilreich nutzten und somit ihre Spuren hinterließen. In einem zweiten Kapitel führt uns der Autor zur Besiedlung der unwirtlichen schottischen Highlands, der vorgelagerten Inseln, dann über die Färöer-Inseln bis nach Island, Grönland, ja sogar nach Neufundland. Um das Jahr 1000 waren die klimatischen Bedingungen in Island und Grönland etwas wärmer als heute, dennoch war das Leben hart und der Erfolg ungewiß. Auf Neufundland scheinen sich die Wikinger nicht lange aufgehalten zu haben; hier waren es die indianischen Stämme, die den europäischen Siedlern das Leben schwer machten. Spätestens um 1500 wurden die Siedlungen auf Grönland aufgegeben. Das Klima war kälter, die Sommer nasser und damit die Lebensgrundlagen viel zu unsicher geworden. Das dritte Kapitel des Buches führt uns zu Seen und Mooren und letztlich zum Leben im Wattenmeer. Pfahlbausiedlungen beispielsweise am Bodensee, aber auch im Randbereich anderer Alpenseen waren wahrscheinlich eine Erfindung aus dem westlichen Mittelmeerraum im 6. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung. Von den ufernahen oder gar im See gelegenen Siedlungen wurde das bewaldete Hinterland intensiv landwirtschaftlich genutzt. Allerdings stellt sich schon die Frage, ob es sich hierbei um Leben unter Extrembedingungen gehandelt hat oder um eine besonderes gelungene Art und Weise, sich die natürlichen Umweltbedingungen zunutze zu machen. Hingegen war die Besiedlung der Nordseeküste von Anfang an eine Auseinandersetzung mit den elementaren Natürkräften des Meeres. Doch auch hier waren die Menschen erfinderisch, um sich gegen die permanente Gefahr von Überflutungen abzusichern. War es wirklich vor 2000 Jahren ein Wagnis, in den Marschen zu siedeln? Offensichtlich hatten sich die damaligen Menschen auch an der Nordseeküste gut eingelebt; dennoch gab es mehrfach verheerende Sturmfluten und Zeiten, in den sich kaum oder keine Siedlungstätigkeit nachweisen läßt. Nicht vergessen werden darf hierbei auch, daß zum Ende der letzten Eiszeit der Meeresspiegel rund 100 bis 120 Meter tiefer lag als heute. So betrachtet wurden die steinzeitlichen Jäger- und Sammlerinnenverbände aus ihren ursprünglichen Siedlungsräumen vertrieben und mußten sich womöglich notgedrungen an die Randexistenz zwischen Wattenmeer und sandiger Geest anpassen. Dirk Meier lenkt mit seinem Band über das Siedeln und Leben am Rande der Welt den Blick auf von der historischen und archäologischen Forschung eher am Rande behandelte Gebiete Europas. Doch nicht nur in den fruchtbaren Flußtälern siedelten Menschen, sondern auch in Gebieten, die gerade einmal das Überleben sicherten. Über das Warum muß vielleicht noch spekuliert und geforscht werden; die Tatsache, daß am Ende der Eiszeit die wenigen Menschen Europas, und das waren vielleicht einmal ein paar Zehntausende, auch schon in Randgebieten siedeln mußten, ist unbestreitbar. Zwei kleinere Schönheitsfehler hat dieses Buch dennoch. Erstens wird nur das Leben in den Randbereichen Europas thematisiert, obwohl sich bei der Befassung mit den Wikingern in Grönland durchaus ein Vergleich mit der Lebensweise der in der Nachbarschaft lebenden Inuit angeboten hätte. Und zweitens schreibt der Autor, daß der irische Mönch Dicuil zwischen 814 und 825 am Hofe Karls des Großen gelebt habe, als er der Nachwelt eine Beschreibung des damaligen Lebens auf den Färöer Das Buch Siedeln und Leben am Rande der Welt zwischen Steinzeit und Mittelalter von Dirk Meier ist im Theiss Verlag erschienen und kostet 24 Euro 90. Abmoderation Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
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Moderation : Katharina Mann (Sonntag), Dirk Beutel (Montag) | |
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