Beiträge für den Radiowecker

von Radio Darmstadt

– Juni 2004 –

 

Radiowecker–Redaktion von Radio Darmstadt
 
06.06.2004Körperrhetorik
13.06.2004Aufruf zur Europawahl
20.06.2004Einkaufen mit eBay
27.06.2004Das minoische Kreta
 
 
Seit November 1998 liefere ich auch kleinere redaktionelle Beiträge für den Radiowecker von Radio Darmstadt. Diese Beiträge fasse ich monatsweise zusammen und stelle sie dann auf einer eigenen Seite ins Internet. Eine komplette Übersicht auf alle Beiträge seit 1998 gibt es auf meiner Radiowecker–Startseite. Zudem gibt es eine inhaltliche Übersicht auf alle Beiträge des Jahres 2004.
Meine Radiowecker–Startseite kann auch mit http://www.wkradiowecker.de.vu aufgerufen werden.
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/rawe/rw_jun04.htm
 
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Körperrhetorik
06.06.2004 *** Wdh. 08.06.2004 Nächster Beitrag

 
Anmoderation

Wer mit anderen Menschen zu tun hat, kann mitunter aus ihrer Körpersprache erfahren, was sie wirklich bewegt, selbst wenn sie das Gegenteil sagen. Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte hat hierzu eine Anleitung zum Gedankenlesen gefunden.

Beitrag Walter Kuhl

Wir kennen das ja von uns selbst: bei unangenehmen Terminen, etwa einem Vorstellungsgespräch, versuchen wir unsere Gegenüber nicht nur mit Worten zu überzeugen, sondern auch mit unserer Gestik und Mimik. Wir gehen bewusst oder auch unbewusst davon aus, dass unsere Gegenüber unsere Körperhaltung lesen werden und versuchen daher, eine guten Eindruck zu hinterlassen. Daß hierbei der Manipulation alle Möglichkeiten offen stehen, ist zu erwarten, und manche Menschen machen sich dann schlaue Gedanken, was denn hinter der aufgebauten Fassade körperbetonter Haltung zu finden sein könnte.

Die Personal– und Kommunikationstrainerin Nadine Kmoth hat mit ihrer Anleitung über Körperrhetorik eine ganze Bandbreite von Verhaltensweisen abgedeckt. Zwar legt sie viel Wert auf authentisches Verhalten, aber andererseits muß sie als Trainerin Menschen dazu bringen, sich so zu verhalten, wie sie es sonst nicht tun würden. diese Widersprüchlichkeit durchzieht auch ihr Buch, was vielleicht weniger an der Autorin liegt und mehr der Sache selbst geschuldet ist. Denn was ist schon Authentisch in einer auf Lug und Trug gegründeten kapitalistischen Leistungsgesellschaft?

Unsere Körpersprache hat sicherlich viel mit unserer Persönlichkeit zu tun. Da diese alles andere als widerspruchsfrei ist, spiegelt sich dies in unserem Verhalten. Nadine Kmoth zeigt uns in ihrer Anleitung zum Gedankenlesen, auf was wir alles bei uns selbst oder bei anderen Menschen achten können, auch ohne gleich mit Gewissheit sagen zu können, mit was für einem Menschen wir es zu tun haben. Wie es sich für einen anständigen Ratgeber gehört, wird das Thema in leicht verdaubare Häppchen gepackt und mit kleinen scheinbar aus dem Leben gegriffenen Beispielen garniert. Die sieben Tage der Woche bringen uns jedes Mal eine neue Lektion, die wir aufnehmen und üben können, um so ganz nebenbei unser Verhalten besser einschätzen und womöglich sicherer auftreten zu können. Daß es hierbei mehr um Schein als ums Sein geht, merken wir dann, wenn wir mit dem eingeübten Verhalten auf die berühmte Nase fallen. Aber das ist ja wie im richtigen Leben: mancher Betrug wird bemerkt und mancher Selbstbetrug nicht.

Am Montag erfahren wir etwas über das Händeschütteln und zwischenmenschliche Distanzzonen. Beobachten wir zwei oder mehrere Menschen genauer, dann können wir mit etwas Feingefühl feststellen, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Nadine Kmoth weist aber zurecht darauf hin, dass nicht jedes Verhaltensmuster eindeutig sein muß, wir also darauf achten sollten, ob der Handschlag – und damit sind wir schon beim Dienstag – zur Bewegungsdynamik passt. Die Größe unserer Schritte und die Stellung der Füße können hierbei durchaus verräterisch sein. Am Mittwoch geht es um unser Stehvermögen und die Haltung unseres Oberkörpers. Nach dem Stehen kommt das Sitzen. Auch hier verrät die Art und Weise, wie wir einen Stuhl oder Sessel füllen, unseren Gemütszustand. Nun sollte man und frau das nicht alles so richtig ernst nehmen, denn es handelt sich wie an all den anderen Tagen nur um Anhaltspunkte, nicht etwa um ausgefeilte Analysen. Dafür gibt es dann ja die Trainerinnen und die Ratgeber, die uns entweder klarmachen, wie wir uns geben, oder die uns lehren, wie wir uns geben könnten. Also werden wir am Freitag unsere Gestik betrachten und schauen, wie flüssig oder kantig wir durchs Leben gehen. Am Samstag üben wir unsere Kopfhaltung, denn hier kann Arroganz und Dackelblick geübt und erkannt werden – und nicht vergessen: auch der Schein dieses Verhaltens lässt sich durch ein bisschen genaueres Hinschauen bemerken. Und worauf läuft dies alles hinaus? Nun, auch Nadine Kmoth packt die Menschen in die vier Schubladen der Temperamente oder Charaktertypen ein, um sie besser handeln zu können. Am Sonntag können wir also noch einmal kurz über das Gelesene und Gelernte nachdenken und uns fragen, ob die Welt wirklich so einfach gestrickt ist.

Wer also eine einfache Betriebsanleitung zum körpergerechten Verhalten lesen möchte, findet in der Anleitung zum Gedankenlesen und Gedankenzeigen von Nadine Kmoth den einen oder anderen Anhaltspunkt. Ihr Buch über Körperrhetorik ist im mvg Verlag erschienen und kostet 19 Euro 90.

Abmoderation

Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
 

Moderation : Katharina Mann (Sonntag), Thomas Ziaja (Dienstag)
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Aufruf zur Europawahl
13.06.2004 Nächster Beitrag

 
Anmoderation

Wählen oder nicht wählen? Und wenn ja, welche Partei und welche Kandidatin? Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte hat die wohl ungewöhnlichste Wahlempfehlung vorzuschlagen, die je auf einem deutschen Radiosender zu hören war.

Beitrag Walter Kuhl

Kennen Sie Ihren Europaparlaments-Abgeordneten? Ich auch nicht. Wissen Sie, welche Kandidatinnen und Kandidaten zur Wahl stehen? Ich auch nicht. Und ehrlich gesagt, es interessiert mich auch nicht. Denn, Hand aufs Herz – würden Sie Ihr Vermögen oder ihren Wohnungsschlüssel einer oder jemandem anvertrauen, den sie nicht einmal kennen? Umso erstaunlicher, daß regelmäßig die Hälfte bis zwei Drittel der wahlberechtigten Bevölkerung ihre Stimme an wildfremde Personen abgibt und sich dann auch noch anschließend wundert, warum man oder frau selbst so stumm ist.

Wahlen, so sagt es die bürgerliche Ideologie, sind Ausdruck der Volkssouveränität. Alle Macht geht vom Volke aus, so heißt es, und – ich glaube, es war Wolf Biermann, der danach fragte: wo geht sie hin? Tja, wo geht sie hin, die Macht, oder genauer gefragt: wer hat denn tatsächlich die Macht in diesem Land und in Europa in Händen? Offensichtlich werden wirtschaftliche und politische Entscheidungen nach sehr profitablen Erwägungen gefällt und nicht etwa auf der Grundlage von allgemeinen Bedürfnissen. Auf der europäischen Ebene gilt dies genauso – und noch mehr: über den Hebel europäischer Normen und vereinheitlichender Bestimmungen wird die neoliberale Deregulierung vorangetrieben.

Wahlen sind also Ausdruck einer formalen Demokratie, nicht aber einer, die inhaltlich bestimmt ist. Die Abgeordneten sind ihren Wählerinnen und Wählern gegenüber zu nichts verpflichtet, sondern nur ihrem Gewissen, und das bedeutet übersetzt: den Interessen derjenigen, welche die tatsächliche Macht in ihrer Hand haben: also Banken und Konzerne beispielsweise. Selbst Oppositionsparteien haben nichts anderes im Sinn, als daran teilzuhaben; und eine linke Fundamentalopposition meint, in Parlamenten, die bestimmten Interessen verpflichtet sind, etwas verändern zu können. Ein Trugschluß. Die Geschichte aller Oppositionsparteien, die Massenwirkung erlangt haben, ist eine Geschichte der Anpassung, ja man müßte fast sagen, der Überanpassung. Es war die deutsche Sozialdemokratie, die 1914 alle ihre bis dahin noch vorhandenen Prinzipien über den Haufen geworfen hatte und die begeistert mit in den Krieg gezogen ist. Von dort bis zur neoliberalen Demontage sozialer Errungenschaften unter Kanzler Schröder und seinem lokalen Hoffnungsträger Walter Hoffmann war zwar ein weiter, aber durchaus konsequenter Weg. Die Grüne Partei, die noch 1979 angetreten war, gewaltfrei und pazifistisch die Welt ändern zu wollen, hat diesen Prozeß innerhalb eines Vierteljahrhunderts abgekürzt durchlaufen. Heute ist sie postmoderne Nachfolgerin der FDP für das Klientel des Kleinbürgertums; und nur einem grünen Minister konnte es einfallen, daß Auschwitz im Kosovo liegen würde. Und wer sich die PDS genauer anschaut, wird feststellen, daß ihr populistisches Vokabular in den ostdeutschen Bundesländern im Zweifelsfall genausowenig emanzipatorischen Interessen entspricht.

Es war der Sozialwissenschaftler Johannes Agnoli, der in seiner auch heute noch bemerkenswerten Analyse aus dem Jahre 1967 – genannt Die Transformation der Demokratie – davon sprach, daß die Volksparteien des modernen Verfassungsstaates nichts weiter sind als die "plurale Fassung einer Einheitspartei". Er schrieb hierzu:

[...] plural in der Methode des Herrschens, einheitlich als Träger der staatlichen Herrschaft gegenüber der Bevölkerung [...].

Was im Kapitalismus Wahl genannt wird, ist immer die Auswahl zwischen zwei oder ein paar mehr vorgegebenen Alternativen. Diese Wahl ist so entfremdet wie die kapitalistische Gesellschaft selbst. Politikverdrossenheit wird das genannt, wenn der formale Wahlakt mangels Perspektive immer mehr Desinteresse hervorruft. Doch Verdrossenheit sollte nicht mit Interessenlosigkeit verwechselt werden. Es gibt Interessen, nur werden diese nicht von der herrschenden Politik zum Ausdruck gebracht und zur Wahl gestellt.

Also – was bleibt dann zu tun? Ungültig wählen, zu Hause bleiben, den Kopf in den Sand stecken? Aber welchen Unterschied macht dies zur unwiderruflichen Abgabe der eigenen Stimme? Also sind wir doch selbst gefragt, unsere Vorstellungen von einem menschenwürdigen Leben für alle Menschen Europas und der ganzen Welt nicht nur zu formulieren, sondern auch durchzusetzen. Wahlen ändern nichts. Ein altbekanntes Sprichwort bringt dies ja auch auf den Punkt: würden Wahlen etwas ändern, dann wären sie längst verboten worden. Also sollten wir vielleicht einfach nicht wählen gehen, sondern verantwortungsbewußt damit beginnen, diesem Wahnsinn einer global–brutalen Welt ein Ende setzen.

Abmoderation

Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
 

  Das absolut empfehlenswerte Buch von Johannes Agnoli wird im August 2004 im Konkret Literatur Verlag neu aufgelegt: Die Transformation der Demokratie und verwandte Schriften. Eine Audiofassung dieses Beitrags ist auf dem Internetportal des Bundesverbandes Freier Radios zu finden.
Moderation : Katharina Mann (Sonntag)
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Einkaufen mit eBay
20.06.2004 *** Wdh. 22.06.2004 Nächster Beitrag

 
Anmoderation

eBay ist der Flohmarkt fürs Internet. Doch Einkaufen und Verkaufen will gelernt sein. Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte stellt im folgenden Beitrag einen Ratgeber zur Internet-Verkaufsplattform vor.

Beitrag Walter Kuhl

Der Unterschied zwischen einem Flohmarkt und dem Internet ist, daß man und frau auf Flohmärkten wenigstens sieht, mit wem man und frau es zu tun hat. Auch lassen sich die angebotenen Gegenstände berühren und in eingeschränkter Form auch vorher ausprobieren. Bei eBay ist das alles schwieriger. Die globale Welt des Internets ist anonymer und die Gefahr, die berühmt–berüchtigte Katze im Sack zu kaufen, größer. Nun gibt es zwar Bewertungsprofile und Käuferschutz, aber ein gewisses Risiko bleibt bestehen. Dies ist jedoch nicht unbedingt ein Charakteristikum von eBay, sondern Grundlage kapitalistischen Warentauschs. Der Versuch, soviel wie möglich Profit aus einer Sache zu schlagen, macht die Grenze zum Betrug fließend.

Eine Form der Rückversicherung könnte sein, sich vorsichtshalber noch einmal zu vergewissern, wie das Kaufen und Verkaufen innerhalb der virtuellen Weiten des Weltalls funktioniert. Die Powersellerin Marion von Kuczkowski bietet hierzu einen kleinen praktischen Taschenguide an. Praktisch insofern, als man und frau ihn auch überall hin mitnehmen kann, wo sich gerade die Gelegenheit bietet, bei eBay vorbeizuschauen. An der Uni, am Arbeitsplatz oder im Internetcafé beispielsweise. Das Büchlein versorgt daher nicht mit aufregenden revolutionären Ideen, sondern mit einem nachschlagbaren Basiswissen und kleineren Tips am Rande.

Im 3. Quartal 2003 wurden allein bei eBay Deutschland von über elf Millionen Mitgliedern 48 Millionen Angebote abgegeben. Das treibt die Preise hoch, wie so manche Bieterinnen und Bieter mit Erschrecken feststellen mußten. Das werbewirksame Meins bedeutet hier dann nur, sich mit neoliberalem Bewußtsein gegen eine mörderische Dschungelkonkurrenz durchgesetzt zu haben – und das auch noch gut zu finden. Aber die Konkurrenz schläft nicht, sondern ist mit erlaubten und auch unerlaubten Tricks dabei. Marion von Kuczkowski schreibt natürlich über die erlaubten. Nur – die funktionieren nur dann, wenn andere nicht auf dieselbe schlaue Idee kommen, und das ist ziemlich unwahrscheinlich.

Aber nicht nur das Bieten und Kaufen, sondern auch das Verkaufen will gelernt sein. Als erfahrene Powersellerin hat die Autorin eine Menge Erfahrung gesammelt, die sie auch ohne das Büchlein als eBay-Trainerin weitergibt. Auf insgesamt 126 Seiten erzählt sie uns von Verkaufsgebühren, verkaufsfördernden Bildern und Artikelbeschreibungen, oder von Privatauktionen und warum sie privat ablaufen. Natürlich hat die kapitalistische Verkaufsförderung Hilfsmittel, also Tools, bereitgestellt, die den Run auf den Profit erst so richtig fördern sollen und deshalb auch von der Autorin kurz vorgestellt werden.

Wer allerdings glaubt, hier eine kleine Ich–AG aufbauen zu können, muß schon ziemlich viel Glück haben und außerdem den Markt genau beobachten und mit Hilfe eines solchen Tools analysieren, vielleicht einen eigenen Shop einrichten und außerdem darauf achten, nicht nur Vertrauen zu suggerieren, sondern auch im Bewertungsprofil zu erhalten. Viel Aufwand – aber ist es das wert?

Marion von Kuczkowskis Taschenguide eBay mag hierzu die eine oder andere Idee liefern. Das kleine Taschenbuch ist im Haufe Verlag zum Preis von 6 Euro 60 erschienen.

Abmoderation

Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
 

Moderation : Katharina Mann (Sonntag), Thomas Ziaja oder Lena Switalla (Dienstag)
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Das minoische Kreta
27.06.2004 *** Wdh. 29.06.2004 Nächster Beitrag

 
Anmoderation

Griechenland ist ein beliebtes Reiseziel. Dies gilt erst recht für Kreta, obwohl die Insel gerade im Sommer ziemlich überlaufen ist. Archäologisch ist auf Kreta jedoch viel Spannendes zu entdecken. Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte stellt im folgenden Beitrag ein Buch über das minoische Kreta vor.

Beitrag Walter Kuhl

Wo schriftliche Überlieferung und archäologische Untersuchungen Lücken im Geschichtsbild hinterlassen, gibt es zwei mögliche Arten, mit dieser Lücke umzugehen. Es gibt Bücher, in denen spekulativ oder provokativ versucht wird, eine These zu formulieren, wie es denn gewesen sein könnte. Und es gibt Bücher, die uns wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholen und die danach fragen, ob gewisse Spekulationen nicht am Stand der Forschung vorbeigehen. Beide Vorgehensweisen haben ihren Reiz, solange sie ihr Vorgehen reflektieren und sich nicht suggestiv der Leserin und dem Leser aufdrängen.

Das im Frühjahr im Theiss Verlag als Übersetzung erschienene Buch der britischen Historikerin J. Lesley Fitton über die Minoer gehört zur zweiten Kategorie. Sie holt uns auf den Boden der Tatsachen zurück und problematisiert die zum Teil ideologisch motivierten Vorstellungen über die Welt der vorgriechischen Bewohnerinnen und Bewohner Kretas. Ihre Argumentation ist einleuchtend und dabei keinesfalls oberlehrerhaft. Im Gegenteil - auf dem neuesten Stand der Forschung bringt uns die Autorin eine Welt nahe, über die wir eher Vermutungen als gesichertes Wissen besitzen. Ein Buch also, das für Kreta–Urlauberinnen und –Urlauber bestens geeignet ist.

Auch wenn eine frühere Besiedlung nicht ganz auszuschließen ist, ist Kreta wohl erst seit neuntausend Jahren von Menschen dauerhaft bewohnt. Wahrscheinlich kamen sie aus der heutigen Türkei. Vor etwa 5000 Jahren begann auf Kreta die Bronzezeit und damit die Metallverarbeitung. Obwohl Kreta arm an entsprechenden Erzen ist, entwickelte sich hier im 2. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung eine relativ eigenständige Hochkultur, deren Zusammenbruch zwar faßbar, aber nicht sicher erklärbar ist. Ob und inwieweit der auch nicht sicher zu datierende Vulkanausbruch des Thera–Vulkans Mitte des 2. Jahrtausends daran beteiligt war, ist unklar.

J. Lesley Fitton geht davon aus, daß die vorliegende Fundlage allenfalls Aufschlüsse auf das Leben der herrschenden Klasse liefert. Wie die Bäuerinnen und Stadtbewohner gelebt haben, ist nur selten belegt. Insbesondere die religiösen Vorstellungen und Praktiken sind alles andere als sicher überliefert. Die Autorin hält Vorstellungen eines matriarchalen Kreta mangels beweiskräftiger Zeugnisse für eine Fiktion.

Die Anwesenheit bzw. die Bedeutung von Frauen in der minoischen Ikonografie ist unbestritten. Die Göttinnen oder Götter von Kreta hatten [ein weibliches Gefolge] und Frauen werden bei großen Versammlungen vermutlich anlässlich religiöser Feste in privilegierten Positionen dargestellt. Es wäre allerdings zu einfach, daraus auf eine Gesellschaftsform zu schließen, in der Männer und Frauen sozial und politisch gleichberechtigt waren. [Seite 156]

Wie die Autorin an anderer Stelle ausführt, handelt es sich eher um rückwärts gewandte Projektionen als um gesicherte Erkenntnisse. Dies gilt auch für den angeblich friedlichen Charakter oder den Waldreichtum des minoischen Kreta. Schon damals war Kreta nur bedingt eine Idylle; die Lebenserwartung war nicht besonders hoch und das Leben zum Teil ziemlich hart. Daß auf Kreta schon sehr früh eine Klassengesellschaft existierte, kann als sicher gelten. Doch wie die Herrschaft über die Insel organisiert war und ob es den mythischen König Minos gegeben hat, entzieht sich unserer Kenntnis. Bei aller Unsicherheit kann die Autorin dennoch mit einer Fülle interessanter Details zur Geschichte und Kultur des minoischen Kreta aufwarten.

Obwohl das Buch der britischen Historikerin ohne die üblichen Anglizismen flüssig übersetzt wurde, haben sich einige Fehler eingeschlichen, die wohl darauf zurückzuführen sind, daß die Übersetzerin zuweilen nicht wußte, worüber sie schrieb.

So heißt der Berg des schlafenden Zeus nicht Iuktas, sondern Juchtas [Seite 12 und überall]. Im Gegensatz zu den britischen Gewohnheiten werden im Deutschen die Pharaonen der 18. Dynastie nicht Amenhotep, sondern gräzisiert Amenophis genannt [Seite 30]. Der als Rundbau gestaltete Grabtyp Tholos wird männlich, nicht weiblich dekliniert [Seite 38, sonst überall richtig]. Byblos und Ugarit liegen nicht an der südtürkischen Küste, sondern im heutigen Libanon und Syrien [Seite 57]. Miletos ist im Deutschen Milet [Seite 84 und 144]. Die im Englischen Luvian genannte Sprache wird natürlich nicht mit Luvianisch, sondern korrekt Luwisch übersetzt [Seite 141]. Ein Zeus »Cretagenes« ist ein Zeus Kretagenes, weil die Griechen kein C benutzten [Seite 175]. Rhadamantes ist Rhadamantys [Seite 176]. Dies alles ist zum Teil der englischen Schreibweise geschuldet, die jedoch ins Deutsche zu transponieren gewesen wäre.

Zum Schluß noch eine Anmerkung zur Schreibweise heutiger griechischer Namen und Bezeichnungen – ein Problem, das jeden Verlag trifft, der sich mit Griechenland beschäftigt. Wie in Atlanten, Landkarten, Reiseführern oder Sachbüchern oft anzutreffen, werden die griechischen Wörter ohne jedes System sehr eigenwillig transkribiert. Als Tribut an die klassische Bildung werden oftmals die im Deutschen »etazistisch« vorgegebenen Umschreibungen verwendet – und gleichzeitig stehen daneben moderne Umschreibungen, welche dieselben Laute oder Lautkombinationen anders (nämlich »itazistisch«) wiedergeben. Vollkommen sinnlos wird es jedoch, wenn beide Schreibweisen in einem Wort vereinigt werden. Das antike Herakleion ist modern einfach Iraklion und nicht Heraklion [Seite 34]. Und der Wein heißt modern mawrod(h)afni (also mit deutschem "w" und stimmhaftem "th", das zur Unterscheidung vom stimmlosen "th" mit "dh" umschrieben wird) und nicht mavrodaphne [Seite 181]. Um ein etwas anders gelagertes Beispiel zu nehmen: die Stadt New Orleans würde wohl kaum gleichzeitig englisch New und französisch Orleans ausgesprochen werden.

Das soll nicht heißen, daß die Übersetzung nichts taugt. Ganz im Gegenteil – die Übersetzung hebt sich wohltuend von so mancher flüchtigen Bearbeitung eines englischen Originals ab. Worauf ich hinauswill, ist, daß es mitunter sinnvoll ist, sich der Übertragung von Eigennamen und Schreibweisen ins Deutsche zu vergewissern, vor allem dann, wenn das Thema ein gewisses Fachwissen voraussetzt. Allerdings habe ich auch schon den Fall einer ägyptologisch anerkannten Fachfrau erlebt, deren Übersetzungskünste dennoch peinlich waren.

Das Buch Die Minoer von J. Lesley Fitton ist im Theiss Verlag erschienen und kostet 24 Euro 90 [ab 2005: € 29,90].

Abmoderation

Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
 

Moderation : Lena Switalla (Sonntag), Thomas Ziaja (Dienstag)
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Diese Seite wurde zuletzt am 24. Dezember 2005 aktualisiert.
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