Beiträge für den Radiowecker

von Radio Darmstadt

– Juli 2004 –

 

Radiowecker–Redaktion von Radio Darmstadt
 
04.07.2004Fußball WM 1974
11.07.2004Teure Medizin
18.07.2004Freiberger Neonazis
25.07.2004Versagenslogik
 
 
Seit November 1998 liefere ich auch kleinere redaktionelle Beiträge für den Radiowecker von Radio Darmstadt. Diese Beiträge fasse ich monatsweise zusammen und stelle sie dann auf einer eigenen Seite ins Internet. Eine komplette Übersicht auf alle Beiträge seit 1998 gibt es auf meiner Radiowecker–Startseite. Zudem gibt es eine inhaltliche Übersicht auf alle Beiträge des Jahres 2004.
Meine Radiowecker–Startseite kann auch mit http://www.wkradiowecker.de.vu aufgerufen werden.
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/rawe/rw_jul04.htm
 
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Fußball WM 1974
04.07.2004 *** Wdh. 06.07.2004 Nächster Beitrag

 
Anmoderation

Im Juli finden die Endspiele von Welt– und Europameisterschaften statt. Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte wirft einen Blick zurück in die Fußball–Vergangenheit.

Beitrag Walter Kuhl

Die diesjährige Fußball–Europameisterschaft war ein glatter Rückschritt zu den Spielen vor vier Jahren. Als vor vier Jahren am 2. Juli Frankreich mit 2:1 gegen Italien gewann, keimte Hoffnung auf, daß dem Offensiv–Fußball die Zukunft gehört. Doch derartige Lichtblicke waren diesmal rar. Vor 50 Jahren geschah am 4. Juli angeblich ein Fußball–Wunder, aber da war der Catenaccio als Destruktions–Philosophie noch nicht erfunden. Und vor 30 Jahren standen sich am 7. Juli die offensivsten Mannschaften der damaligen Weltmeisterschaft in München gegenüber. Und hierzu gibt es ein wunderschönes Buch von Folke Havekost und Volker Stahl im Agon Sportverlag.

Doch vor dem Finale von München kam der Regen von Frankfurt. Folgender Witz hätte am 3. Juli im Spiel zwischen der Bundesrepublik und Polen im Waldstadion tatsächlich erzählt werden können:

Es hat seit Stunden geregnet. Der Fußballplatz steht unter Wasser. Dennoch soll die Partie angepfiffen werden. Nach der Seitenwahl meint der Kapitän der einen Mannschaft: "Ihr habt Anstoß, aber dafür spielen wir mit der Strömung." [Seite 7]

Das waren noch Spiele! Hollands junge Mannschaft spielte "totalen Fußball" und das meinte nicht Krieg, sondern Kreativität und Spielwitz, bei dem alle Spieler auf allen Positionen zu finden waren. Jürgen Sparwasser schuf sich ein Denkmal und war dennoch alles andere als glücklich:

Nach der Rückkehr von der WM wurde das Tor ständig im Fernsehen gezeigt. Die Zuschauer konnten das nicht mehr sehen. Dann kamen die Gerüchte auf, ich hätte dafür einen Haufen Geld, ein Haus und ein Auto dafür bekommen. Obwohl das Unsinn war, glaubten die Leute die Geschichten. [..B]ei einigen kam Neid auf [...]. [Seite 140]

Es war 1974 noch möglich, daß die Kreativitätsabteilung für so manche Legendenbildung sorgte. So bleibt als spannende Frage bis heute bestehen, ob Bernd Hölzenbein in der 26. Spielminute sein Talent als Schwalbenkönig zum Einsatz gebracht hat oder ob er tatsächlich gefoult worden ist. Den Elfmeter jedenfalls verwandelte Paul Breitner sicher. Ich habe 1974 das Spiel am Fernsehen verfolgt – und aus dem Spielverlauf war eigentlich klar, daß Hölzenbein nur gefoult werden konnte, sonst hätte er zum Tor treffen müssen. Ob er vorsichtshalber das Foul provoziert hat, spielt dann eigentlich keine Rolle. Wim Jansen war so blöd und tat ihm den Gefallen.

Es geht jedoch nicht darum, in der Vergangenheit des deutschen Fußballs zu schwelgen. Wie das meiste im Leben, veränderte auch der Fußball als Sport und Geschäft sein Gesicht. Sepp Maier, überragender Torwart des Endspiels, rückt den Leistungshorizont damaliger Mannschaften zurecht. Zwar gilt die Europameisterschafts–Elf von 1972 als eine der besten und kreativsten der deutschen Fußballgeschichte, doch sagt der Sepp ganz richtig:

Haben Sie die Mannschaft von 1972 schon mal spielen sehen? Was das für ein Spiel war, zu jetzigen Zeiten? Schlafwagen–Fußball war das! [Seite 97]

Vor kurzem habe ich das Endspiel der Europameisterschaft von 1972 noch einmal gesehen. Ich habe mich auch gewundert, was für ein lahmes Gekicke das war. Nur – zur damaligen Zeit war dies das Nonplusultra. Seither jedoch ist der internationale Fußball schneller, trickreicher, taktischer und auch berechenbarer geworden. Wäre da nicht eine griechische Mannschaft, die sich unerwartet ins Endspiel der diesjährigen Meisterschaft eingeschlichen hätte.

Folke Havekost und Volker Stahl gelingt es in ihrem Buch zur Weltmeisterschaft 1974, die Art, wie damals Fußball gespielt wurde, mit dem gesellschaftlichen Aufbruch von 1968 und danach zusammenzubringen. Typen wie Netzer und Beckenbauer hätten heute kaum eine Chance, ihr individuelles Talent auszuleben. Und es ist kein Zufall, daß im Endspiel eine zweite Mannschaft aus Individualisten und aufmüpfigen Jungstars stand, welche diesen Aufbruch in kreatives und erfolgreiches Spiel umzusetzen verstand – allen voran Johan Cruyff. Warum sie dennoch verloren? Weil sie die deutsche Mannschaft einfach unterschätzt haben. Sie hätten Gary Lineker kennen müssen, von dem die Weisheit stammt, daß eine deutsche Mannschaft immer gewinnt. Zum Glück sind diese Zeiten heute vorbei. Trostloses Gekicke ist selbst einer Defensiv–Europameisterschaft nicht würdig.

Aber 1974 blieb der kollektive Jubel wie 1954 aus. Der Mannschaft von 1974 fehlte die historische Dimension ihres Sieges. Sie tat das, was von ihr erwartet wurde, nämlich gewinnen. Diese Banalität des eingeplanten Sieges fangen Folke Havekost und Volker Stahl athmosphärisch dicht und mit vielen interessanten Details ein. Ihr Buch Fußballweltmeisterschaft 1974 Deutschland ist im Agon Sportverlag zum Preis von 24 Euro erschienen.

Abmoderation

Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
 

Moderation : Katharina Mann (Sonntag), Thomas Ziaja (Dienstag)
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Teure Medizin
11.07.2004 *** Wdh. 13.07.2004 Nächster Beitrag

 
Anmoderation

Immer öfter heißt es: "es ist kein Geld da." Für wen kein Geld da ist, darüber spricht Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte im folgenden Beitrag anhand eines Beispiels aus dem Gesundheitswesen.

Beitrag Walter Kuhl

Man und frau stelle sich vor: Eine Ärztin käme per Zeitreise aus der Mitte des vergangenen Jahrhunderts in die heutige Zeit. Sie würde staunen, welche Möglichkeiten ihren heutigen Kolleginnen und Kollegen zur Verfügung stehen, um Asthma oder Krebs zu therapieren. Käme sie hingegen in die tropenmedizinische Abteilung, wäre ihr das meiste vertraut. Denn im Bereich der Tropenkrankheiten wie der Malaria oder der Schlafkrankheit gab es kaum nennenswerte Fortschritte.

Der Grund: diese von der Forschung vernachlässigten Krankheiten sind die Krankheiten der Armen. Obwohl Millionen daran leiden und oft auch sterben, werden kaum neue bezahlbare Medikamente entwickelt. Das ist in der Logik des Kapitals auch vollkommen sinnvoll: Denn wer würde schon Medikamente entwickeln, welche das Zielpublikum nie erreichen, weil sie schlicht zu teuer sind? Hingegen sind Lifestyle–Medikamente für ein kaufkräftiges Metropolensubjekt äußerst lukrativ. Während jährlich Millionen Menschen an Infektionskrankheiten sterben, sind Medikamente gegen Fettleibigkeit, Schlafstörungen und Impotenz der Renner.

Nun könnte man und frau auf die wahrhaft revolutionäre Idee verfallen, an die Bedürftigen die notwendigen Medikamente gratis zu verteilen. Doch dies ist nicht im Sinne der Pharmakonzerne. Diese rechtfertigen ihre hohen Preise und den damit verbundenen Patentschutz mit den hohen Entwicklungskosten für neue Medikamente. Wenn wir jedoch berücksichtigen, daß ein Großteil der auf den Markt gebrachten Mittel entweder nicht wirkt oder gar schädlich sind, aber auch die Entwicklungskosten solcher Mittel zu Buche schlagen, dann können wir erahnen, daß das Kostenargument nur verschleiert, daß Arzneimittelforschung ein knallhartes Geschäft ist, das sich nicht an den Bedürfnissen der Bedürftigen orientieren darf.

Doch auch ein genauer Blick auf die Höhe der Entwicklungskosten kann sich lohnen. Die Pharmaindustrie operiert beispielsweise mit einer Zahl von rund 800 Millionen Dollar für jedes neue Medikament; und dieser Betrag muß sich dann auch amortisieren. Dieser Zahl von 800 Millionen liegt eine Studie zugrunde, die – richtig gelesen – vorführt, wie skrupellos die heiligen Regeln des Marktes herangeführt werden, um so richtig abzuzocken. Diese Studie geht davon aus, daß pro erfolgreichem Medikament rund 400 Millionen Dollar aufgewendet werden müssen.

Wie kommt es dann zur Verdoppelung des Betrages? Nun, da wir im Kapitalismus leben, handelt es sich um einen simplen, aber charakteristischen Buchhaltertrick. Dieser beruht auf der Fragestellung: Was hätte man mit derselben Summe verdienen können, wenn man sie statt in die Pharmaforschung am Kapitalmarkt investiert hätte? Dieser durch nichts belegte Verdienst wird dann auf die tatsächlichen Kosten draufgeschlagen. Natürlich wurden jene Forschungsgelder, die steuerlich absetzbar wären, und das sind weit über 100 Millionen US–Dollar, nicht berücksichtigt.

So kommt es, wie es kommen muß: wer nicht zahlen kann, hat halt Pech gehabt. Und wenn dann jedes Jahr mehrere Millionen Kinder an Hunger und leicht heilbaren Krankheiten sterben müssen, weil Profite wichtiger als Menschenleben sind, dann ist das kein Fehler im System, sondern absolut profitnotwendig.

Und damit wir nicht etwa darüber nachdenken, wie wir diesem Spuk ein Ende bereiten, wird uns schon angedroht, daß wir länger für weniger Geld arbeiten dürfen, und uns der Urlaub am liebsten ganz gestrichen wird. Allerdings muß man schon Autist wie Edmund Stoiber oder Walter Hoffmann sein, um die eigene durchgeknallte Arbeitsmoral zum Maßstab für eine ganze Gesellschaft zu machen.

Mehr zu den profitablen Wurzeln des Gesundheitssystems vermittelt die Pharma–Kampagne der Bundeskoordination Internationalismus – im Internet unter www.bukopharma.de zu finden.

Abmoderation

Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
 

Moderation : Katharina Mann (Sonntag), Thomas Ziaja (Dienstag)
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Freiberger Neonazis
18.07.2004 *** Wdh. 20.07.2004 Nächster Beitrag

 
Anmoderation

Daß Deutschland ein respektables demokratisches Land ist, welches seine Vergangenheit erfolgreich bewältigt hat, wurde vor einem Monat bei den Europa– und Kommunalwahlen eindrucksvoll widerlegt. Auch im Parlament von Darmstadts Schwesterstadt Freiberg sitzen in den kommenden Jahren erklärte Feinde der Demokratie. Ein Beitrag von Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte.

Beitrag Walter Kuhl

Zwei Dinge sind es, welche die politische Landschaft in Darmstadts Partnerstadt Freiberg bestimmen. Über das eine wird inzwischen auch in Darmstadt geredet – nämlich über die finanziellen Folgen des Plattenbaudeals zwischen Darmstädter Bauverein und der Freiberger Städtischen Wohnungsgesellschaft SWG. Hier ist noch vollkommen offen, wer die Zeche für ein Spekulationsprojekt aus der Mitte der euphorischen 90er Jahre zahlen wird.

Das andere Politikum ist der flächendeckende Einzug von Neonazis in die sächsischen Kommunalparlamente am 13. Juni. Ein nicht unbeachtlicher Nebenerfolg für die NPD ist ganz sicher, daß auch in den kommenden fünf Jahren die staatliche Finanzierung antisemitischer, rassistischer und völkischer Propaganda abgesichert ist. Mit etwas über 5 Prozent der abgegebenen Stimmen zieht die Neonazipartei jetzt mit zwei Sitzen in den Freiberger Stadtrat ein. Mit Sandro Kempe zieht zudem ein militanter Neonazi in den Freiberger Kreistag ein. Freibergs alternative Zeitung, der FreibÄrger, analysiert in seiner aktuellen Ausgabe den Wahlausgang:

Als Gründe für die Erfolge der Neonazis werden in den Medien insbesondere die niedrige Wahlbeteiligung als Folge einer Parteien– und Politikverdrossenheit genannt. Zutreffend an der Argumentation ist der nicht zu widerlegende Fakt, dass die Hälfte der Wahlberechtigten von ihrem Wahlrecht keinen Gebrauch gemacht hat. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Neben der Parteiverdrossenheit muss auch die Ablehnung der augenblicklichen Politik des Sozialabbaus und der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums von Unten nach Oben erwähnt werden. Eine Alternative zu der Politik bietet keine parlamentarische Partei. Selbst die sich als Wahlsiegerin feiernde PDS verliert dort [Wählerinnen und Wähler], wo sie sich in der Regierungsverantwortung an der [sogenannten] "Reformpolitik" veteiligt. Der höhere prozentuale Gewinn mag dann auch die Folge der geringen Wahlbeteiligung sein, der Gewinn an absoluten Stimmen zeigt aber, dass die Neo–Nazis an Zustimmung in der Bundesrepublik dazu gewonnen haben. Die Annahme, dass der Protest gegen die herrschende Politik automatisch nach links tendiere, war schon in der Weimarer Republik falsch. Die Sieger der letzten Wahlen sind die Unionsparteien. Stimmenverluste der beiden großen Parteien kamen in erster Linie den Parteien zugute, die sozialpolitisch eher rechts von ihnen eine schärfere Variante des Neoliberalismus einfordern wie die Grünen und die FDP. [...] Die Reaktion auf die Wahlerfolge der Neonazis fällt naturgemäß unterschiedlich aus. Während der [CDU–] Oberbürgermeister von Pirna [...] massiven Widerstand gegen die Neonazis ankündigt, legt die Oberbürgermeisterin aus Freiberg Dr. Uta Rensch (SPD) Wert auf die Feststellung, dass alle Parteien demokratisch gewählt seien und dementsprechend mit ihnen umgegangen werden muss. Der Bürgermeister von Reinhardtsdorf–Schöna, Arno Suddar (CDU), erklärte [...], dass er besser mit den neonazistischen Mandatsträgern als mit den PDS–lern zusammenarbeiten könne.

In Reinhardtsdorf–Schöna bekam die NPD ein Viertel der abgegebenen Stimmen. Dies verpflichtet natürlich auch einen gestandenen CDU'ler. Das einzig Erfreuliche an diesem Wahlergebnis war, daß es die Neonazis versäumt hatten, genügend Kandidaten aufzustellen, und daher nicht alle ihnen zustehenden Mandate besetzen können.

Die Freiberg–Korrespondentin des Darmstädter Echo, Sabine Ebert, erwähnte den Erfolg der NPD gerade einmal in einem Nebensatz. Das mag damit zusammenhängen, daß die örtliche Haus– und Grundbesitzervereinigung in Freiberg ein Viertel der Stimmen erhalten hat, während die Partei der Oberbürgermeisterin nicht einmal auf 10 Prozent der Stimmen kam. Welche Auswirkungen dies auf die Abwicklung des Plattenbau–Deals und die Auszahlung der eigentlich fälligen Millionen an den Darmstädter Bauverein hat, bleibt abzuwarten. Doch irgendwer wird dafür aufkommen müssen, und das werden gewiß nicht die Manager der beteiligten Spekulationsunternehmen Bauverein und SWG sein.

Den Inhalt von Freibergs alternativer Zeitung – dem FreibÄrger – kann man und frau auch im Internet nachschlagen: www.freibaerger.de.

Abmoderation

Ein Beitrag von Walter Kuhl für Radio Darmstadt. Demnächst nachzulesen im Internet unter www.wkradiowecker.de.vu.
 

Moderation : Katharina Mann (Sonntag), Thomas Ziaja (Dienstag)
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Versagenslogik
25.07.2004 *** Wdh. 27.07.2004 Nächster Beitrag

 
Anmoderation

Drei Ereignisse der vergangenen Woche haben Walter Kuhl aus der Redaktion Alltag und Geschichte dazu gebracht, sich in seinem regelmäßigen Beitrag für den Radiowecker Gedanken über den Zusammenhang von Versagenslogik und Versagenslogik zu machen. Jaja, richtig gehört: Das eine Versagen soll uns etwas versagen, das andere Versagen legt die Fehler im System offen.

Beitrag Walter Kuhl

Drei Ereignisse der vergangenen Woche – und es ließen sich sicher noch mehr finden – drei Ereignisse also prägten der vergangenen Woche ihren Stempel auf. Erstens war der groß angelegte Erpressungsversuch des DaimlerChrysler–Konzerns von Erfolg gekrönt. Die Tatsache, daß eine Bastion der bundesdeutschen Gewerkschaften locker im Frontalangriff genommen werden konnte, wird dramatische Auswirkungen auf die Kultur zukünftiger Auseinandersetzungen in diesem Land haben. Jeder ist sich selbst der nächste; und solidarisches Handeln gegen diese oder andere Zumutungen wie etwa Hartz IV wird für die Zukunft unmöglich gemacht.

Das zweite Ereignis war der zu erwartende Ausgang des Prozesses gegen Aufsichtsräte des Mannesmann–Konzerns. Hier ging es um das Spiegelbild der Erpressung, nämlich um ungehemmte Bereicherung. Es wurde als rechtlich weitgend in Ordnung befunden, daß Manager ihre Belegschaften nach Strich und Faden verkaufen dürfen – und das ist es ja auch. Moralische Werturteile sind nett für die Empörung, aber im Geschäftsleben vollkommen unangebracht. Was Geld bringt, ist erlaubt, und wer dabei auf der Strecke bleibt, ist egal.

Und schließlich gab es noch ein drittes Ereignis in der vergangenen Woche, das lohnt, zur Kenntnis genommen zu werden. Zwar fand es in den USA statt, aber es gibt durchaus einen mittelbaren Zusammenhang zwischen der Erpressungspolitik hier und dem Versagen US–amerikanischer Geheimdienste im Vorfeld des 11. September. Eine Untersuchungskommission hatte am vergangenen Donnerstag ihren Abschlußbericht vorgelegt. Darin wurden sowohl der CIA wie auch dem FBI fehlende Kooperation, fehlerhafte Analysen und eine zugrunde liegende falsche Politik vorgeworfen. Die Bedrohung durch den Terrorismus sei nicht ernst genug genommen worden.

Erpressung, Bereicherung, unsolidarisches Handeln und Geheimdienstlogik haben mehr miteinander gemeinsam, als man und frau sich denken mag. Das zugrunde liegende Prinzip heißt Konkurrenz, das Motiv sind unterschiedliche Formen der Belohnung. Konkurrenz belebt das Geschäft, heißt es. Aber Konkurrenz zeichnet sich auch durch ein übergeordnet planloses Handeln und eine gegeneinander ausgerichtete Logik aus. So wie Konkurrenten auf dem Weltmarkt sich auszustechen versuchen und ihre Belegschaften gegeneinander ausspielen, so liegt es nicht im Wesen der Politik zu kooperieren, sondern auf den eigenen Vorteil bedacht zu sein.

Das Versagen von Politik und Geheimdiensten im Umfeld des 11. September ist auch das Thema eines schon im vergangenen Jahr herausgebrachten Buches mit dem Titel Tödliche Fehler der Autoren Oliver Schröm und Dirk Laabs. Die Ergebnisse der US–amerikanischen Untersuchungskommission sind bei Licht betrachtet alles andere als neu. Schröm und Laabs listen eine Menge derartiger Abstimmungsfehler und Ungereimtheiten staatlicher Politik auf. Doch sie verfallen in ihren daraus gezogenen Schlüssen derselben Argumentationslogik wie die Kommissionsmitglieder des US–amerikanischen Untersuchungsausschusses. Diese Logik lautet: mehr Terrorabwehr, verbesserte Datensammelei und Stärkung der Polizei.

Weder die US–Kommission noch die Autoren des Buches Tödliche Fehler thematisieren das Monster, welches sich die USA in den 80er und 90er Jahren selbst herangezüchtet haben. Kein Wort wird verloren über die systematische Unterstützung fundamentalistischer Regimes und Gruppen, solange sie den eigenen Zielen diente. Erst recht wird nicht nach dem Warum dieser Unterstützung gefragt. Denn dann wäre der Zusammenhang zwischen reaktionärer Erpressungslogik und reaktionärer Terroristenausbildung viel deutlicher geworden. Kurz gesagt: im Kapitalismus gibt es nur eine Moral – und die geht zur Not (nein: im Normalfall!) auch über Leichen.

Wer jedoch in seiner Analyse diese grundlegenden Tatbestände ausblendet, kommt zu logischen Fehlschlüssen, die jedoch der Logik der Ausbeutung und der Bekämpfung selbst gezüchteter Monster entspricht. Statt weniger Geheimdienst wird ein mehr davon propagiert, statt stärkerer Unterstützung emanzipatorischer, demokratischer Kräfte wird weiter auf bewährte Methoden der Unterdrückung gesetzt. Das US–amerikanische Heimatschutzgesetz ist das beste Beispiel dieser Logik, doch auch Otto Schilys Vorstellungen haben hierin ihre Grundlage. Denn es geht nicht um Menschenleben, sondern um die Aufrechterhaltung ungerechter Strukturen.

Oliver Schröm und Dirk Laabs betrachten in ihrem Buch Tödliche Fehler jedoch nur einzelne Aspekte dieser Logik, nämlich die, welche angeblich ein Versagen darstellen. Daß eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Geheimdienste womöglich sinnvoller sein könnte, auf diesen wahrhaft provokativen Gedanken kommen sie nicht. Erst recht nicht darauf, daß die Terroristen vom 11. September ihre Tat akribisch über einen längeren Zeitraum planen mußten, während die freie Marktwirtschaft eine entsprechende Zahl von Toten jede einzelne Stunde seither immer wieder neu produziert hat. Diesen Terror bekämpfen jedoch weder CIA noch FBI, und die beiden Autoren Oliver Schröm und Dirk Laabs machen sich dazu auch keine sinnvollen Gedanken. Ihr Untersuchungsgegenstand ist vielmehr die mangelnde Zusammenarbeit zweier Geheimdienste, die in der Tat ein monströses Verbrechen hätten verhindern können. Daß dieselben Geheimdienste hingegen an der Verwirklichung anderer Verbrechen mitwirken, bleibt außen vor. Das Buch Tödliche Fehler liefert somit allenfalls einen kleinen und zudem vollkommen aus jedem Zusammenhang gerissenen Ausschnitt. Wer sich ein bißchen über die Pannen von CIA und FBI belustigen will, mag das Buch zur Hand nehmen – wirklichen Erkenntnisgewinn bringt es jedoch nicht.

Tödliche Fehler von Oliver Schröm und Dirk Laabs ist im vergangenen Herbst im Aufbau–Verlag erschienen. Das Buch kostet 19 Euro 90.

Abmoderation

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Moderation : Katharina Mann (Sonntag), Thomas Ziaja (Dienstag)
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Diese Seite wurde zuletzt am 21. Februar 2005 aktualisiert.
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