Kapital – Verbrechen

Hartz IV,2

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Kapital – Verbrechen
Hartz IV,2
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 16. August 2004, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Montag, 16. August 2004, 23.10–00.10 Uhr
Dienstag, 17. August 2004, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 17. August 2004, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochenes und benutztes Buch :
Heleno Saña : Macht ohne Moral, PapyRossa Verlag
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/kv/kv_vier2.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Des Kanzlers Machtwort
Kapitel 2 : Die Berliner Bänkelsänger
Kapitel 3 : Soziale Gerechtigkeit ist Armut pur
Kapitel 4 : Hilfe! Das Patriarchat ist in Gefahr!
Kapitel 5 : Der ideale Oberbürgermeister
Kapitel 6 : Macht ohne Moral
Kapitel 7 : Weiterhin kein Ende in Sicht

 

Des Kanzlers Machtwort

Jingle Alltag und Geschichte

Der Kanzler hat ein Machtwort gesprochen: Wir lassen uns nicht erpressen. Nachdem es die ersten zaghaften Massendemonstrationen gegen die Umsetzung des Hartz–IVPaketes gegeben hat, hat sich der Kanzler der Sache angenommen. Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement spielte die Rolle des bösen Buben, der sich bis zum Schluß beharrlich geweigert hat, das neue Arbeitslosengeld II schon im Januar auszuzahlen. Bundeskanzler Schröder hat den Part des verständnisvollen guten Jungen übernommen, der ganz paternalistisch die Wogen zu glätten versucht, indem er an einem unwichtigen Punkt Zugeständnisse macht.

Mehr geht nicht, sagt der Kanzler. Alles andere muß jetzt durchgesetzt werden. Denn, so Schröder weiter, wir wollen dafür sorgen, daß die Menschen sich nicht abhängig machen von sozialen Transfers. Die Drohung, die damit verbunden ist, ist eindeutig. In Zukunft gibt es nur noch Geld, wenn auch dafür flexibel, ohne Kündigungsschutz und im Niedriglohnbereich malocht wird. Und das sollen schon die Kleinsten spüren, deren Konten sozusagen als Einübung in das echte Leben geplündert werden. [1]

Bevor ich in meine heutige zweite Sendung zur den Hintergründen und Auswirkungen der Hartz–Reformen beginne, habe ich noch ein Rätsel für euch. Am 8. August behauptete unser Wirtschaftsminister noch, daß durch den Wegfall der ersten Auszahlung des Arbeitslosengeldes II im Januar 2005 rund 1,4 Milliarden Euro eingespart werden könnten [2]. Einige Tage später, nachdem Schröder versucht hatte, den Druck der Straße aufzufangen, hieß es, die Auszahlung würde Mehrkosten von nur 800 Millionen Euro verursachen [3]. Wie das? Rechnen unsere Haushaltsexperten eigentlich immer so exakt? Oder wer wird jetzt finanziell aufs Kreuz gelegt?

Letzte Woche habe ich in mehreren Beiträgen die gesellschaftspolitische Bedeutung des Hartz–IVPaketes behandelt. Heute geht es mir mehr um die Frage, was dieser Angriff auf die soziale Sicherheit zu bedeuten hat. Ich halte es nämlich für unzureichend, damit zu argumentieren, es sei doch eigentlich genug Geld da, oder, die Reformen seien sozial unausgewogen. Vielleicht sollen sie es ja sein. Damit verbunden ist die Frage von Macht und Moral. Der Philosoph Heleno Saña hat sich ein paar grundlegende Gedanken über die Grundlagen der Herrschaft des Westens gemacht.

Durch die Sendung führt für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt Walter Kuhl.

 

Die Berliner Bänkelsänger

Der Darmstädter Künstler Holger Wilmesmeier war zu Gast im Studio und hatte ein von Arbeitslosen produziertes Hörspiel mitgebracht: Die Berliner Bänkelsänger. Eingeleitet wurde das Hörspiel mit einigen Anmerkungen zur Entstehung auf dem Arbeitslosen–Kulturseminar 2004. Ein Mitschrieb dieses Teils der Sendung existiert nicht.

Mehr zum Hörspiel mit einem Link zur MP3–Datei findet sich hier.

Wer 2005 am Arbeitslosen–Kulturseminar teilnehmen möchte, sollte sich etwa im Frühjahr 2005 an Marion Schick wenden:

   Zentrum Gesellschaftliche Verantwortung der EKHN
   Marion Schick
   Ostendstraße 59
   60314 Frankfurt/Main
   Telefon: 069/489 828–21
   Email: m.schick@zgv.info

 

Soziale Gerechtigkeit ist Armut pur

Die sogenannte Arbeitsmarktreform, die den Namen Hartz IV trägt, ist ein Meisterwerk einer rot–grünen Regierung, die vor nicht allzu langer Zeit damit angetreten ist, soziale Gerechtigkeit schaffen zu wollen. Doch im Gegensatz zur landläufigen Meinung gehe ich davon aus, daß sie nicht wortbrüchig geworden ist. Dies – was uns hier entgegentritt – ist exakt das, was unsere Bundesregierung unter sozialer Sicherheit versteht. Bundeskanzler Schröder erklärte am 12. August [2004], also am vergangenen Donnerstag, zur Umsetzung der Hartz IV–Gesetze:

Mehr ist nicht notwendig, um ein Maß an sozialer Gerechtigkeit zu erzielen und das zu realisieren, was wir wollen. [4]

Ja genau. Dies, also Armut, bewußt kalkuliert hergestellte Armut, ist genau das, was sich die Damen und Herren in Berlin, Wiesbaden und München unter sozialer Gerechtigkeit vorstellen. Sozial gerecht ist es, von denen zu fordern, die nichts anderes verkaufen können als ihre Arbeitskraft, um die zu fördern, denen es an pflegeleichten ausbeutbaren Arbeitskräften mangelt. Natürlich geht es absolut nicht darum, neue Arbeitsplätze zu schaffen, zumindest nicht in der Summe. Allenfalls geht es darum, den Arbeitsmarkt einmal so richtig aufzumischen und dabei das allgemeine Lohn– und Gehaltsniveau drastisch zu senken.

Wenn der Darmstädter Sozialpädagoge Walter Hanesch am 6. August im Darmstädter Echo erklärt, diese Reform sei nicht durchdacht, dann hat er zwar Recht, aber eigentlich auch wieder nicht. Er hat Recht, wenn er eine Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit feststellt. Natürlich wird die Aktivierung der Arbeitslosen nicht die versprochenen neuen Arbeitsplätze schaffen. Er liegt falsch, wenn er sagt, die Reform unterstelle einen grundsätzlich aufnahmefähigen Arbeitsmarkt. Es geht doch gar nicht um neue Arbeitsplätze. Sondern nur um Profit. In Einzelfällen mögen die Gesetzeswerke ein wenig unausgegoren klingen, aber darauf kommt es gar nicht an. Es ist doch egal, wenn unter dem Deckmantel der sozialen Sicherheit die soziale Unsicherheit blüht. Keine und niemand soll sich mehr sozial sicher fühlen können. Denn nur so sind alle bereit, zu allen angebotenen miesesten Bedingungen anzuschaffen. Und insofern war die geplante Nichtauszahlung von Arbeitslosengeld II im Januar 2005 konsequent. Von Anfang an wurde deutlich gemacht, daß sich die Reformwerker einen feuchten Kehricht um soziale Argumente und rechtlich gesicherte Ansprüche kümmern werden.

Von den Vertreterinnen und Vertretern dieser Politik so etwas wie Einsicht zu erwarten, ist illusorisch. Sie tun ihre Einsicht doch wohl deutlich kund und zu wissen. Ihre Einsicht ist: wir haben zu bluten. Der Altar ist der Markt und das Opfer sind wir. Und daran geht kein Weg vorbei. Und sind wir nicht willens, dann werden uns die Sozialleistungen gestrichen. Armut ist gewollt. Denn ohne Armut gibt es nicht den notwendigen Druck, jede Scheiße zu fressen. Und das bedeutet auch: jede Stammtischparole bedingungs– und besinnungslos nachzuplappern, welche uns in den wirtschaftsfreundlichen Medienbetrieben vorgesetzt werden.

Ein gänzlich anderes Argument geht ebenfalls krass an den Realitäten vorbei. Es sei doch eigentlich genügend Geld da. Die Vermögenssteuer könne wieder eingeführt werden. Spekulation könne besteuert werden. Die Bundeswehr könne ersatzlos gestrichen und das viele viele Geld aus dem Kriegsetat könne sinnvolleren sozialen Diensten zukommen. Ja, das ist richtig – es ist wahrlich genügend Geld da. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein solch reiches Land, daß sie sich ein Heer, die Zupflasterung von Landschaften und jede Menge Steuergeschenke leisten kann. Und – wo leben wir? Im Kapitalismus. Eben.

Also, nochmal von vorne. Es geht überhaupt nicht darum, ob genügend Geld für ausreichend viele tarifvertraglich abgesicherte Vollzeitarbeitsplätze zur Verfügung steht. Das ist so, darüber müssen wir gar nicht reden. Aber diese Sorte Vollzeitarbeitsplätze werden doch gar nicht gewollt. Die systematische Demontage sozialer Errungenschaften geschieht doch im Auftrag des heiligen Marktes. Und diese Demontage macht Sinn. Denn im globalen Konkurrenzkampf kommt es tatsächlich auf jeden Standortvorteil an. Deshalb ist es einfach abwegig, an die herrschende Klasse zu appellieren, mit ihrem und vor allem unserem Geld vernünftiger umzugehen.

Die Vernunft des Marktes ist das Geld. Was sich nicht in monetären Einheiten bewerten läßt, ist nutzlos, nicht wichtig, ja schlimmer noch: es existiert einfach nicht. Dies ist einer der Gründe dafür, warum wir ins Ehrenamt und in die sogenannte Bürgergesellschaft abgedrängt werden sollen. Was keinen Profit bringt, hat möglichst wenig zu kosten. Folglich stehen so manche Sozialträger schon bereit, sich die billigen Arbeitslosen zum Billigsttarif an Land zu ziehen. Wolfgang Clement erklärte beispielsweise am 30. Juli, es sei doch geil, für einen Euro die Stunde Kinder zu betreuen und Unkraut zu jäten. Ja klar, ist das geil für ihn: er tut's ja nicht. [5]

Die Kommunen seien aufgefordert, so Clement weiter, möglichst viele derartiger Billigjobs anzubieten, Hauptsache, und das ist wieder wichtig!, sie kämen der örtlichen Wirtschaft nicht ins Gehege. Groß–Zimmern [6] ist da schon weiter. Dort sollen Langzeitarbeitslose für 1,25 Euro malochen. Der Nebeneffekt ist klar: Städte und Gemeinden bauen teure Arbeitsplätze ab und bieten dieselben Jobs als Nebenverdienst an. Da steht ausgerechnet die Caritas [7] doch nicht abseits. Für die unprofitable Betreuung älterer Menschen werden ein bis zwei Euro veranschlagt. Anders gesagt: so viel, oder besser: so wenig sind Menschen in diesem Land wert. Und von diesen Jobs wird es zukünftig Hunderttausende geben.

Seien wir daher illusionslos: genau das ist gewollt. Diese Reform ist durchaus durchdacht. Die Bundeswehr kann nicht abgeschafft werden, weil sie noch für lukrative Rüstungssubventionen und alsbaldige Kriegsspiele benötigt wird. Der Sinn einer Marktwirtschaft besteht zudem nicht darin, Vermögende zur Kasse zu bitten. Wo ist also noch etwas zu holen? Bei uns. Logisch, oder? Daraus müssen wir nur noch die nötigen Konsequenzen ableiten.

 

Hilfe! Das Patriarchat ist in Gefahr!

Die Neoliberalen dieser Republik haben vor wenigen Tagen an einer eher unerwarteten Stelle Alarm geschlagen. Die Gleichmacherei der letzten Jahrzehnte hat an bestimmten Orten der Gesellschaft doch tatsächlich zu mehr Durchlässigkeit geführt. Der Deutsche Industrie– und Handelskammertag sieht dadurch das Patriarchat gefährdet. Nun ist es immer noch so, daß Frauen ab einem bestimmten Alter im Berufsleben systematisch diskriminiert werden. Aber in der Vorstufe zur Diskriminierung hat der Gleichheitsgrundsatz Erschreckendes zutage gefördert: Wenn Jungs nicht mehr adäquat zu ihrer künftigen Rolle im Patriarchat gefördert werden, dann fallen sie einfach durch die Maschen des Systems.

Eine noch unveröffentlichte Analyse des Industrie– und Handelskammertages [8] zeigt nämlich, daß Mädchen die Gehirnwäscheanstalt Schule mit mehr Erfolg durchlaufen als ihre gleichaltrigen männlichen Kollegen. Offensichtlich sind die Jungs von heute nicht mehr in der Lage, die von ihnen erwarteten Leistungen punktgenau abzurufen. Knapp 29 Prozent der Jungen machen gerade noch den Hauptschulabschluß und nur 21 Prozent das Abitur. Bei den Mädchen machen nur 22 Prozent den Hauptschulabschluß, aber knapp 29 Prozent qualifizieren sich für die nächste Runde im Lernhamsterrad, genannt Hochschule.

Wie ist das zu erklären? Das ist sicher eine spannende Frage. Womöglich finden junge Frauen die Ehe und damit die systemisch bedingte materielle Benachteiligung nicht mehr so attraktiv wie früher. Außerdem rechnen sie sich aus – wie wir aufgrund unserer Lebenserfahrung wissen, meist vergeblich –, daß sie durch eine bessere Qualifikation auch bessere Karrierechancen besitzen. Nur, auf den richtig fetten Ärschen sitzen dann immer noch die Männer.

Der Industrie– und Handelskammer–Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben forderte daher vor anderthalb Wochen ganz systemkonform: Die Jungs müssen gezielter gefördert werden. Soll heißen: Damit auch die Underdogs gegen die Mädchen überhaupt eine Chance haben, müssen sie gezielt zu Lasten (natürlich) ihrer Mitschülerinnen bevorzugt werden. Dies ist nicht nur eine knallharte Absage an jede Form der Frauenförderung, sondern auch ein eindeutiges Bekenntnis zu männlichen Machtansprüchen.

Wir ersehen daraus: Kapitalismus ist nicht nur eine asoziale, sondern auch eine frauenfeindliche Veranstaltung. Selbstverständlich gefördert mit Subventionen und Steuergeldern. Damit hat sich Martin Wansleben als Chauvi des Monats qualifiziert. Der Titel Chauvi des Jahres gebührt ihm jedoch nicht. Diesen Titel darf sich selbstverständlich die Bundesregierung umhängen. Dazu hat Christine Reymann, Bundessprecherin der feministischen Arbeitsgemeinschaft der PDS, festgestellt [9]:

Zwei Drittel derjenigen, die nach Einführung des Arbeitslosengeldes II überhaupt keine Leistungen mehr erhalten, werden Frauen sein. Allein erziehende Mütter müssen, sobald ihre Kinder drei Jahre alt sind, jede Drecksarbeit annehmen, und das Kindergeld wird dabei selbstverständlich angerechnet. Die Arbeitsmarktreformen zielen auf einen großen Niedriglohnsektor mit vielen Minijobs. Und der Niedriglohnsektor ist selbstverständlich eine Frauendomäne, denn 70 Prozent der Minijobs werden von Frauen ausgeübt. Minilöhne führen zu Minirenten, wenn es dann überhaupt noch welche geben wird. Die Folge: Altersarmut, ihr Geschlecht: weiblich.

Martin Wansleben möchte so gesehen nur dafür sorgen, daß auch die restlichen 30 Prozent der Minijobs von Frauen gemacht werden. Männern gebührt natürlich ein richtiger Männerjob. Und Frauen sind – wie immer – nur mitgemeint. Ach ja, ehe ich's vergesse: diese überaus frauenfreundliche Politik erfolgte mit ebenso freundlicher Zustimmung des Bundestagsabgeordneten Walter Hoffmann. Bekanntlich keine Frau. Und garantiert nie Bezieher von Arbeitslosengeld II.

 

Der ideale Oberbürgermeister

In diesem Zusammenhang müssen wir uns natürlich die Frage stellen, ob ein derart unsoziales Abstimmungsverhalten im Bundestag denn für das Amt des Oberbürgermeisters der Stadt Darmstadt qualifiziert, für das sich Walter Hoffmann ja beworben hat. Zunächst einmal sollten wir uns davon frei machen, daß ein solches Amt etwas mit Würden und erst recht mit Moral zu tun hat. Ein Oberbürgermeister ist dafür da, gesellschaftspolitische und vor allem wirtschaftspolitische Interessen in der Stadt und der Region zu managen.

Peter Benz, Walter Hoffmann, Wolfgang Gehrke oder Daniela Wagner werden zwar von uns gewählt, oder genauer gesagt: sie werden von denen gewählt, die überhaupt noch zur Wahl gehen. Aber es ist auch klar, wessen Interessen sie zu vertreten haben. Walter Hoffmann hat sich so betrachtet seine Sporen schon verdient. Als langjähriger Gewerkschaftsfunktionär hat er rechtzeitig die Zeichen der Zeit erkannt und ist der Berliner neoliberalen Reformfraktion beigetreten. Eigentum verpflichtet, so wird er sich gedacht haben, und deshalb ist er dem Eigentum seiner Auftraggeber verpflichtet.

Und damit auch garantiert kein Zweifel an seinen guten Absichten entstehen mag, hat er am 25. September 2001 gemeinsam mit seinem Kollegen Andreas Storm im Deutschen Bundestag dem russischen Präsidenten Wladimir Putin eine standing ovation dargebracht. Wladimir Putin ist bekanntlich Mitverantwortlicher für die Unterdrückung der Meinungs– und Pressefreiheit in Rußland und Hauptverantwortlicher für den Krieg in Tschetschenien; und somit mitschuldig am Tod Tausender Zivilistinnen und Zivilisten. Als Putin im Bundestag über Tschetschenien sprach, will Hoffmann den eigentlich fälligen Beifall unterlassen haben. Aber, wie er selbst schreibt, nur dort.

Denn Wladimir Putin steht ja schließlich auch für glänzende deutsch–russische Wirtschaftskontakte; und das ist es ja, worauf es schließlich ankommt. Wer wird da so kleinlich sein und nach Menschenrechten fragen? Und genau diese verantwortungsbewußte Haltung qualifiziert einen gestandenen Sozialdemokraten wie Walter Hoffmann für das Amt des Oberbürgermeisters der Stadt Darmstadt.

Vielleicht wäre darauf hinzuweisen, daß einige seiner sozialdemokratischen Parteikollegen aus Hamburg hierzu eine andere Position vertreten haben. Im Beisein des Bundeskanzlers hätte der russische Präsident am 10. September für seine wirtschaftswissenschaftlichen Leistungen die Ehrendoktorwürde der Universität Hamburg erhalten sollen. Dies sorgte für derart viel Unmut in der Hansestadt, daß Putin seine Bereitschaft, an diesem Spektakel beizuwohnen, vorsichtshalber zurückzog [10]. Schade, daß Walter Hoffmann zu Putins Tschetschenien–Masskern nur einfällt:

Im übrigen maße ich mir kein einfaches Urteil über Rolle und Schuld der Beteiligten des Tschetschenienkonflikts an – das gilt für die russische Seite ebenso wie für die tschetschenische Seite.

Oder, anders ausgedrückt: er will keine Position beziehen, weil es hierzu nur eine geben kann. Diese eine Position geht jedoch nicht konform mit den Wirtschaftsinteressen des deutschen Kapitals. Also hält er sich heraus. Und wer zu Massakern schweigt und sich weder ein einfaches noch ein schwieriges Urteil erlaubt, hat sich bestens darauf eingestellt, in Amt und Würden eine Politik der sozialen Demontage widerspruchslos mitzutragen. Also – wählt Walter Hoffmann. Nie wieder Wahlkampfversprechen, die ohnehin nicht gehalten werden, denn: Bei ihm wissen wir wenigstens sofort, wofür er steht. [11]

 

Macht ohne Moral

Besprechung von : Heleno Saña – Macht ohne Moral, PapyRossa Verlag 2003, € 15,90

Wenn das, was ich bis hierhin skizziert habe, die Moral der Macht ist, dann läßt sich umgekehrt eigentlich sagen, diese Macht ist ohne Moral. Dies ist nicht zufällig auch der Titel eines Buchs über die Herrschaft des Westens und ihre Grundlagen des 1930 in Barcelona geborenen Sozialphilosophen Heleno Saña. Dieser nahm in Spanien am Untergrundkampf gegen Franco teil und lebt seit 1959 in der Bundesrepublik Deutschland. Sein Buch handelt von der Entstehung der Verlogenheit der heutigen Weltordnung und von der Notwendigkeit eines neuen Zivilisationsmodells.

Heleno Saña ist kein Kulturpessimist. Vielmehr betrachtet er genau und dialektisch die Entstehung der abendländischen Moderne und ihre Einbettung in die kapitalistische Gesellschaftsordnung. Mit dem Entstehen der nachmittelalterlichen Neuzeit entwickelte sich ein Wertesystem, das sich unbedingt auf dem Glauben an die Vernunft herleitete. Der Rationalismus war die Waffe des Bürgertums gegen Feudalstaat und Kirche. Rationalismus und damit verbunden auch Wissenschaft eröffneten jedoch den grundsätzlichen Zugang zu ungehemmter Forschung und grenzenloser Ausweitung aller dem Menschen zugänglichen Möglichkeiten.

Die Freiheit des Marktes bedurfte derartiger Vorstellungen. Denn nichts ist freier, grenzenloser und ungehemmter als der Markt. Und wenn der Markt die Essenz der instrumentellen Vernunft ist, dann ist er wahr und allmächtig; und seine Propheten verkünden das Evangelium von Hartz IV. Und auch die Wissenschaft, die anfangs aufklärerisch die feudalen Schranken durchbrechen sollte, ist längst der Verwertbarkeit ihrer Ergebnisse untergeordnet. Mit dem Aufblühen der Wissenschaft entstand ein Fortschrittsglaube, der davon ausging, daß der Fortschritt an sich positiv zu bewerten sei:

Angesichts der tiefgreifenden Krise, die die Welt nicht nur in sozialwirtschaftlicher Hinsicht erfasst hat, wird die These, die Geschichte sei trotz partieller Rückschläge insgesamt als Fortschritt zu bewerten, immer unglaubwürdiger. Klar ist, dass der Begriff »Fortschritt« keine wissenschaftliche Legitimation besitzt und auf einer rein ideologischen, [willkürlichen] Konstruktion beruht. Dass ein Großteil der etablierten Theorie das Gegenteil behauptet und sich weiterhin an alte Mythen und Kategorien klammert, belegt nur ihre Unfähigkeit, sich vom [rechtfertigenden] Diskurs des Systems zu lösen und gegen ihn Stellung zu nehmen. [12]

Wer angesichts des Zustandes der Welt heute noch von Fortschritt spricht, muß schon Zyniker sein. Was vorläufig bleibt, ist die Erkenntnis, daß die Geschichte der letzten Jahrhunderte Fortschritt und Wohlstand für Wenige auf Kosten Vieler gebracht haben. Da das Rad der Geschichte nicht zurückzudrehen ist, müssen wir sehen, was wir daraus machen. Ohne kritische Reflexion des Vergangenen, genaue Analyse des Bestehenden und eine emanzipatorische Vision des Zukünftigen werden wir dabei jedoch nicht sehr weit kommen.

Der neuzeitliche Rationalismus ist ein weltumspannendes Phänomen, das auch und gerade in die Sphäre der Ökonomie tief eindringt. Kapitalismus und kalkulierende Vernunft waren von Anbeginn unzertrennliche Zwillingsbrüder. Die Moderne ist in der Tat weit mehr als ein gesellschaftspolitisches, geisteswissenschaftliches, kulturelles und theoretisches Ereignis. Sie ist auch eine eminent praktisch orientierte Bewegung, die schon an ihrer Wiege die ökonomischen Fragen in den Vordergrund stellt. [13]

Insofern ist es wohl nicht ganz richtig, wenn Marx davon sprach, daß die Philosophen die Welt nur verschieden erklärt hätten. Neben der tatsächlichen Suche nach Erkenntnis und Wahrheit war die Philosophie der Neuzeit auch immer davon durchdrungen, die sich durchsetzenden kapitalistischen Verhältnisse zu verinnerlichen und zu rechtfertigen. Das zieht sich von John Locke über Hegel und Max Weber bis zu den postmodernen Vertreterinnen und Vertretern der Zunft. Dabei ist immer das Privateigentum heilig, vor allem das Privateigentum an Produktionsmitteln. Jede Philosophie geht davon aus, diese Grundlage als absolut zu betrachten.

Damit verbunden ist die Verherrlichung der Arbeit als Grundlage sowohl der persönlichen Selbstverwirklichung als auch als Ausdruck einer rationalen Gesellschaftsordnung. Wie Karl Marx in seinem Abschnitt über die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals in einer bis heute unerreichten Dichte gezeigt hat, mußte den mittelalterlichen Arbeitsvorstellungen verhafteten Menschen diese Arbeitsmoral buchstäblich eingeprügelt werden. Der Zusammenhang mit dem elitären Dünkel und dem Herabblicken auf das gemeine Volk wird hier deutlich: den Proletariern muß zu ihrem Glück verholfen werden, wenn sie zu derart rationaler Einsicht nicht fähig sind. Die Parallele zu Hartz IV ist ja wohl offensichtlich.

Heleno Saña breitet auf diesen Gedankengängen die furchtbare Logik der neoliberalen kapitalistischen Ausbeutergesellschaft aus. Er betont zwar, kein Marxist zu sein, hat aber auch keine Berührungsängste mit den Erkenntnissen marxistischer Theoretikerinnen und Theoretiker. Sein Bezugspunkt ist jedoch immer wieder die griechische Antike und Philosophie, auch wenn ich denke, daß manche dieser Bezugspunkte arg unkritisch erscheinen. Die griechische Antike war eine männlich orientierte sklavenhaltende Ausbeutergesellschaft; und diese Form der Gesellschaftlichkeit floß selbstverständlich in die griechische Philosophie ein. Dennoch versteht er seine philosophische Arbeit nicht als eine Gedankenübung. Selbst wenn ihm bewußt ist, daß die bestehende Weltordnung in absehbarer Zukunft wohl nicht verändert werden wird, besteht kein Anlaß dazu, sich zurückzulehnen.

Theorie würde sich schon [von vornherein] selbst negieren, wenn sie sich nur in günstigen und erfolgversprechenden historisch-gesellschaftlichen Perioden zu Wort melden würde. Die einzig legitime Motivation von Theorie ist die Suche nach Wahrheit [...]. [14]

Was auch heißen kann: eine Minderheitenposition zu vertreten, sich dem Spott der Mehrheit auszusetzen und natürlich auch Ohnmacht dem Bestehenden gegenüber. Aber all dies ist immer noch besser, als mit den Wölfen zu heulen und sich dabei selbst aufzugeben. Doch hat Heleno Saña durchaus Vorstellungen von einer anderen Welt, die auf Kooperation und Selbstverwaltung beruht. Nur, dort hinzukommen, wird ein ziemliches Problem darstellen. Aber es ist für ihn unvermeidlich, soll die Geschichte der Menschheit nicht in einer Katastrophe münden, die beim normalen Gang der kapitalistischen Barbarei unvermeidlich scheint.

Allerdings stellt er uns auch die Frage: warum sollen wir danach streben, besser zu werden und diese Welt nicht länger zu ertragen? Heleno Saña argumentiert von einer ethisch-moralischen Warte aus, aber eben nicht, wie die Moralphilosophen der herrschenden Klasse, um das Bestehende zu veredeln und zu vernebeln, sondern um emanzipatorisch etwas vollkommen Neues an dessen Stelle zu setzen. Ein bißchen pathetisch schreibt er daher:

Wahre Siege kann es nur im Bereich des ethischen Edelmuts geben. [...] Wie dem auch sei: die Selbstfindung und Selbstvollendung unseres Menschseins kann nur auf dem Weg freiwilligen Einsatzes für die Humanität erreicht werden. [15]

Das Pathos etwas beiseite lassend, ist dies durchaus eine sinnvolle Richtschnur, mit den Zumutungen und Anforderungen dieser Gesellschaft fertig zu werden, ohne sich davon völlig fremdbestimmen zu lassen. Einen gravierenden Kritikpunkt gibt es bei Heleno Sañas Buch Macht ohne Moral aber dennoch: Frauen kommen bei ihm nicht vor; seine Philosophie ist eine männliche und das Patriarchat als fundamentaler Widerspruch wird vollständig ausgeblendet. Dabei würden hier noch ganz andere Ungeheuerlichkeiten zutage treten.

Somit geht Heleno Saña mit seinem Buch Macht ohne Moral vor allem dem kapitalistischen Wahnsinn auf seinen philosophischen Grund. Es ist vergangenes Jahr im PapyRossa Verlag erschienen, hat 261 Seiten und kostet 15 Euro 90.

 

Weiterhin kein Ende in Sicht

Jingle Alltag und Geschichte –

heute mit dem von Holger Wilmesmeier mitgebrachten Hörspiel Die Berliner Bänkelsänger, produziert auf dem Erwerbslosen–Kulturseminar 2004. Das Reformpaket Hartz IV und das Arbeitslosengeld II sind leider keine unausgegorene Geschichte, wie der Sozialpädagoge Walter Hanesch vermutet. Hier stehen knallharte Klasseninteressen auf dem Spiel. Der Sozialstaat hat als ordnungspolitisches Instrument ausgedient und die nackte Wolfsgesellschaft soll es möglichst ehrenamtlich richten. Und wo gehobelt wird, sind die patriarchalen Späne nicht weit. Der Abbau des Sozialstaats geht einher mit der stillschweigenden, aber durchaus erwünschten Folge der Ausgrenzung von Frauen. Walter Hoffmann und Martin Wansleben sind eifrig dabei. Ist dies die Moral des neoliberalen Kapitalismus? Nun, der Philosoph Heleno Saña zeigt uns, daß Macht auch ohne Moral auskommt; wobei von uns moralisch arbeitwütiges und anspruchsloses Handeln erwartet wird. Für dieses Moralisieren ist arbeitsteilig die Christdemokratie zuständig, beispielsweise in Person der Sozialministerin Silke Lautenschläger.

Am kommenden Montag werde ich an einzelnen Beispielen den unsozialen Charakter der neoliberalen Reformveranstaltung Hartz IV beleuchten und gleichzeitig Mut machen, sich gegen derartige Zumutungen allein und vor allem auch gemeinsam zur Wehr zu setzen. Es gibt nämlich sehr schöne Möglichkeiten für Happenings, Sit–Ins und absurdes Theater. Warum soll der Protest gegen die neoliberale Dampfwalze nicht auch Spaß machen?

In diesem Zusammenhang noch ein Hinweis. Die Gewerkschaftliche Arbeitsloseninitiative GALIDA trifft sich ab sofort an jedem Dienstag um 18.00 Uhr im OS/3–Büro am Mathildenplatz 1. Am morgigen Dienstag, oder wenn ihr die Wiederholung hört: am heutigen Dienstag, sollen konkrete Maßnahmen zur Belebung der darmstädter Demonstrationskultur besprochen werden.

Diese Sendung wird in der Nacht zum Dienstag ab 23 Uhr wiederholt, und dann noch einmal am Dienstagmorgen um 8 Uhr und am Nachmittag um 14 Uhr. Alltag und Geschichte ist am Dienstag wieder um 18 Uhr mit einer neuen Folge der Sendereihe Hinter den Spiegeln zu hören. Es folgt nun Heinerkult, eine Sendung der Kulturredaktion von Radio Darmstadt. Am Mikrofon war Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Hartz IV: "Das was jetzt ist, muss durchgesetzt werden", Homepage der Bundesregierung, 12. August 2004
[2]   Siehe hierzu meine Collage der Deutschlandfunk–Nachrichten vom 8. August 2004.
[3]   Darmstädter Echo vom 12. August 2004: "Die zwölfmalige Auszahlung des Arbeitslosengeldes II kann laut Clement für den Bundesetat eine Mehrbelastung von bis zu 800 Millionen Euro bedeuten."
[4]   Siehe Anmerkung 1.
[5]   Darmstädter Echo vom 31. Juli 2004: "Arbeiten für einen Euro die Stunde?"

[6]   Darmstädter Echo vom 16. Juli 2004: "Gemeinde beschäftigt Sozialhilfeempfänger"

In Groß–Zimmern sollen die Langzeitarbeitslosen zwischen drei und sechs Monaten beschäftigt werden und zusätzlich zur Sozialhilfe einen Stundenlohn von 1,25 Euro erhalten. Für die Gemeinde entstehen keine Kosten, da das Sozialamt für Lohn und Arbeitskleider aufkommt.
[7]   Sonntag–Morgenmagazin (Ausgabe Darmstadt) vom 25. Juli 2004: "Tausende neue Arbeitsplätze? Caritas will im Rahmen der Hartz IV Reformen Jobs für Arbeitslose schaffen"
[8]   Deutschlandfunk–Nachrichten 6. August 2004, 23:00 Uhr. Die Agenturmeldung ist vollständiger wiedergegeben passenderweise auf der Homepage der CDU.
[9]   10,5 Millionen in die Chauvi–Kasse
[10]  Hamburger Abenblatt vom 5. August 2004: "Putin–Ehrung: Immer mehr Professoren machen Front". Darmstädter Echo vom 11. August 2004: "Universität sagt Ehrung ab".
[11]  Siehe hierzu ausführlich meine Seite zu Walter Hoffmann, Andreas Storm und ihr Verhältnis zu Tschetschenien.
[12]  Heleno Saña : Macht ohne Moral, Seite 57
[13]  Saña Seite 60
[14]  Saña Seite 225
[15]  Saña Seite 247

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 29. Dezember 2004 aktualisiert.
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