Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 27. April 2009, 17.00 bis 18.00 Uhr
Wiederholt:
Montag/Dienstag, 27./28. April 2009, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 28. April 2009, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 28. April 2009, 14.00 bis 15.00 Uhr
Zusammenfassung:
Vandalismus ist kein neues Phänomen und enthält sozialen Sprengstoff. Hertzko Haft mußte im Konzentrationslager um sein Leben boxen. Ein Massenmord bei Srebrenica wirft die Frage auf, weshalb das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag so desinteressiert wirkt. Ohnehin ist internationales Recht eine spannende Angelegenheit; es kommt zumeist darauf an, wer es ausüben darf.
Besprochene Bücher und Zeitschriften:
Zwischentöne:
Jingles zum Projekt „Niemals vergessen. Ein Hörmahnmal“.
Jingle Alltag und Geschichte
In der heutigen Ausgabe meiner Sendereihe Kapital – Verbrechen werde ich über Vergehen sprechen, die seit Jahrhunderten die Gemüter erzürnen, über Verbrechen, die das den Menschen Faßbare überschreiten, und über ihre Vermittlung in Medien und Politik. Denn jedes Vergehen, jedes Verbrechen läßt sich für geeignete Zwecke instrumentalisieren. Vorstellen werde ich ein Buch über Vandalismus, einen Boxer, der um sein Leben kämpfen mußte, ein Buch über Ungereimtheiten beim Massaker von Srebrenica 1995 und einige Aufsätze zur internationalen Strafgerichtsbarkeit. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte ist Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
Besprechung von : Maren Lorenz – Vandalismus als Alltagsphänomen, Hamburger Edition 2009, 158 Seiten, € 12,00
Glauben wir den Berichten in den Medien oder den Verlautbarungen der Politik, so gibt es ein Sicherheitsdefizit. Jugendliche beschmieren Häuser und Wände, schlitzen Polster in Bahnen und Bussen auf oder punken in der Innenstadt biertrinkend herum. Sie tragen hiermit zu einem als negativ dargestellten Sicherheitsgefühl bei. Schon seit Jahren sind die Ordnungsknechtels [1] unserer Stadt unterwegs, um den Schurken mit ihren Sprühdosen das Handwerk zu legen. Der frühere Oberbürgermeister Peter Benz wollte sogar Tankstellen und Geschäfte dazu animieren, Jugendlichen keine Tatwaffen mehr zu verkaufen. Doch der Einzelhandel fand dieses Ansinnen geschäftsschädigend und spielte nicht mit.
Nun gehören nicht nur Graffiti, sondern auch achtlos weggeworfene Bierflaschen, beschädigte Sitzpolster in Straßenbahnen oder im Wald deponierte Müllberge zu den Ärgernissen, an die wir uns gewöhnt haben. Eher stellt sich die Frage, ob dies ein neueres Phänomen darstellt, ob also alles, wie es manchmal heißt, früher besser war. Da die Verklärung der Vergangenheit häufig dazu benutzt wird, mit repressiven Maßnahmen eine aus den Fugen geratene Gesellschaft im Zaum zu behalten, sind Zweifel angebracht.
Erstaunlich ist es jedoch, daß die Sozialforschung zu dieser Frage nichts Erhellendes beitragen kann. Womöglich handelt es sich um ein heißes Eisen, könnten als Vandalismus empfundene Akte doch einen sozialpolitischen Kern beinhalten. Öffentliche oder private Besitztümer zu attackieren könnte so gesehen nicht einfach eine banale Jugendsünde sein, sondern eine Form des Protestes gegen das Zurschaustellen von als illegitim empfundener Macht und Reichtum darstellen.
Die Historikerin Maren Lorenz ist dieser Fragestellung in dem kleinen Essayband „Vandalismus als Alltagsphänomen“ nachgegangen. Dieser in der Hamburger Edition des Hamburger Instituts für Sozialforschung vor kurzem herausgebrachte Band gibt weniger Antworten, sondern problematisiert vielmehr unsere Wahrnehmung. Hierbei fließen diverse Forschungsergebnisse der Autorin zu Gewalt, Körpergeschichte und Menschenbildern ein. Wir können daraus die Auffassung gewinnen, daß die guten alten Zeiten in Hinblick auf den alltäglichen Vandalismus auch nicht besser waren als die heutigen. Allerdings führt die Problematisierung verschiedener im medialen Diskurs festgezurrter Vorstellungen zu neuen Fragestellungen, ohne daß die Autorin hierzu eine dezidierte Antwort bereithält.
Schon allein die Vorstellung, ob es sich beim alltäglichen Vandalismus um eine Form von Jugendgewalt handelt, wird durch keine ernsthaft gesicherte statistische Erhebung gestützt. Gerade weil es sich um ein Phänomen handelt, das weitgehend im metaphorischen Dunkeln geschieht, sind Täter und möglicherweise auch Täterinnen weitgehend unbekannt. Insofern ist der Verweis darauf, es handele sich beim Alltagsvandalismus um eine Form von Jugendgewalt, ausgeübt von in der Regel heranwachsenden jungen Männern, nicht ausreichend belegt.
So ereiferte sich die Tagespresse der noch jungen Bundesrepublik über eine unkontrolliert handelnde Jugend, ohne zu bemerken, daß die dort vorgestellten „Banden“ von Mädchen angeführt wurden, obwohl es dem medialen Stereotyp widersprach. Weil Mädchen und Frauen dem aufgebauschten Bild nicht zu entsprechen hatten, wurde ihr Handeln schlicht ignoriert. „Wurden Mädchen mit Jungen zusammen ertappt, galten die Mädchen automatisch als Mitläuferinnen“, so Maren Lorenz [2].
Nun läßt sich durchaus argumentieren, daß junge Frauen anders sozialisiert werden als junge Männer und sie deshalb ihre Aggressionen eher internalisieren als nach außen ausagieren. Ob dieses Rollenmuster jedoch genauso selbstverständlich einer heutigen neoliberalen Gesellschaft entspricht, in der jegliche Lebensäußerung dem Verwertungszwang unterworfen wird und damit auch verkrustete Strukturen jeglicher Art aufgebrochen werden, wäre zu diskutieren. Ich kenne die Antwort nicht, vermute jedoch, daß Mädchen und junge Frauen andere Strategien entwickeln, mit den vorherrschendern Zumutungen fertig zu werden, als Jungen und Jungmacker. Da Geschlechter gesellschaftlich konstruiert sind, ist nicht auszuschließen, daß hier inzwischen einiges ineinanderfließt.
Die Halbstarkenrhetorik der 50er Jahre, in die Kinos gebracht mit James Dean, Marlon Brando und Horst Buchholz, besitzen sowohl eine Vorgeschichte als auch ein Nachleben. Bemerkenswert ist hier, daß in der Presse und in den Wochenschauberichten ein Ausmaß an Vandalismus dargestellt und debattiert wurde, das mit der Realität wenig gemein hatte. Wenn nicht einfach nur hemmungslos übertrieben wurde, dann wurden einzelne Fälle gleich schlicht erfunden.
Der damalige Mediendiskurs läßt sich durchaus auf heutige Zustände übertragen. Ich erinnere an die auch von Darmstadts Lokalzeitung Ende der 90er Jahre mitgeschürte Hysterie um die allgegenwärigen Handtaschendiebstähle, bei denen frau schier glauben mußte, jederzeit ihres geschlechtsspezifischen Accessoires verlustig gehen zu müssen. Tatsächlich zeigte die polizeiliche Statistik auf, daß ein solcher Handtaschenraub im statistischen Durchschnitt allenfalls alle neun Tage stattgefunden hatte.
Maren Lorenz beginnt ihre Ausführungen jedoch zeitlich betrachtet wesentlich früher; und dies ist keinesfalls eine Zeitverschwendung für die Lektüre ihres Büchleins. Gerade ihre Ausführungen zu den ersten faßbaren historischen Beispielen vandalierender Gewalt im 17. Jahrhundert geben uns einen Hinweis darauf, daß dieses Alltagsphänomen ganz und gar nicht unpolitisch zu deuten sein könnte. Die durchaus als zielgerichtet zu begreifende Zerstörung von Alleenbäumen, Zäunen oder Statuen verweist womöglich darauf, daß die weitgehend in Unfreiheit gehaltenen Menschen hier die Symbole einer als illegitim empfundenen Herrschaft angriffen und zerstörten.
Nun lag die Obrigkeit schon damals nicht auf der faulen Haut und bemühte sich darum, der Täterinnen und Täter habhaft zu werden. Da die mit der Durchsetzung der herrschenden Ordnung betrauten Personen nicht überall sein konnten, schon gar nicht in der Dunkelheit, riefen sie offen zur Denunziation auf. Dies ging durchaus so weit zu verkünden, wer eine Tat nicht anzeige, müsse mit der gleichen Strafe wie ein gefaßter Täter rechnen. Doch es scheint so, als habe der Aufruf zur Bespitzelung nur mäßigen Erfolg gehabt, denn die Strafedikte mußten häufiger wiederholt und teilweise auch verschärft werden.
Allerdings erhoben sich auch andere Stimmen, die anstelle von Strafen eine bessere Erziehung und sogar elementare Menschenrechte einforderten. Mit der beginnenden Industrialisierung im 19. Jahrhundert verschob sich der Diskurs. Es wurde zwischen „bösem Mutwillen“ und „grobem Unfug“ unterschieden, wobei der grobe Unfug den Bereich bezeichnete, in dem die Verunstaltung von einfachen Gebrauchsgegenständen keinerlei Debatten mehr auslöste.
„Grober Unfug“ mutierte zu einer Art Jugendsünde. Ähnlich wie in den Kriminalitätsdiskursen der heutigen Zeit standen die öffentlich angeprangerten Delikte und ihre Täter in keinem angemessen Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Obwohl beispielsweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts 99% aller Jungendlichen mit dem Strafgesetz nicht in Konflikt gerieten, ereiferten sich Pädagogen, Theologen, Juristen und Ökonomen über die zunehmende Rohheit der männlichen Jugend. [3]
Wir dürfen jedoch hier nicht den präventiven Aspekt vernachlässigen. Treffe einen und erziehe Hunderte. So ähnlich hat das später auch Mao Zedong im China der Kulturrevolution formuliert. Denn in der Tat war zu Beginn des 20. Jahrhunderts die männliche Jugend zunächst einmal grundsätzlich verdächtig, die herrschenden Werte und Normen nicht bedingungslos zu akzeptieren. Womöglich würden sie nicht nur groben Unfug betreiben, sondern auch am 1. Mai demonstrieren gehen, was für die Zeit vor einhundert Jahren durchaus noch als eine revolutionäre Tat angesehen werden muß.
Maren Lorenz geht weiterhin auf den entsprechenden Jugenddiskurs der Nationalsozialisten ein, wie auch auf den Umgang mit deviantem, also abweichendem Verhalten in der DDR und der frühen Bundesrepublik. Einiges ist hier durchaus erhellend, so daß wir zurecht davon ausgehen können, daß es sich beim Vandalismus eher um so etwas wie ein Phantomverbrechen handeln dürfte. Zumal der Begriff des Vandalismus weit gefaßt, ungenügend definiert und tagespolitisch ideologisiert ist. Wenn hierbei von einer Erosion der Werte die Rede ist, dann sollten sich die Wortführerinnen und Meinungsmacher einmal die Frage stellen, woher diese Erosion denn kommt. Wer Mobbing, Gewalt, Armut und Ellenbogen sät, bekommt die Nachahmungstäter in kleinem Stil frei Haus geliefert.
Ohnehin finde ich es bemerkenswert, wie darüber lamentiert wird, wenn junge Graffitikünstlerinnen und -künstler häßliche Gebäude und Straßenschluchten mit häßlichen Tags vollkleistern, es jedoch als Ausgeburt der Ästhetik gilt, wenn Blechkarossen das Straßenbild beherrschen und Dreck, Gestank und Lärm erzeugen. So etwas betrachte ich als Vandalismus. Angebracht wäre ja wohl eine Abwrackprämie, die diesem mehr als groben Unfug ein Ende setzt und statt dessen einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr ermöglicht. Ganz abgesehen von einem Mobilitätswahn, bei dem es nur darauf ankommt, daß die Joghurtbecher möglichst schnell und billig mit einem Umweg von mehreren tausend Kilometern von A nach B gelangen, und für den Energieeffizienz ein ausgesprochenes Fremdwort bedeutet. Die Liste dieses ausgemachten Schwachsinns, der nur in einer kapitalistischen Gesellschaft möglich ist, ließe sich beliebig verlängern.
Eines scheinen die Verantwortlichen jedenfalls gelernt zu haben. Sie wissen, daß sie das Phänomen des Alltagsvandalismus nicht erfolgreich bekämpfen können. Statt dessen werden erhebliche Geldsummen in vandalismusresistente Baumaterialien, Schutzzäune oder Wachdienste gesteckt.
So anregend der kleine Band ist, so sonnenklar ist auch, daß diejenigen, die in Politik und Medien der vandalierenden Jugend das Wort reden, die hierin entwickelten Gedankengänge nicht zur Kenntnis nehmen werden. Warum ein etabliertes Weltbild in Frage stellen, solange das Kapital damit glänzende Geschäfte machen kann, auch wenn die eine oder andere Krise Anlaß zur Besorgnis gibt? Wenn das Buch einen Nutzen hat, dann für diejenigen, die hiermit eine Handreichung erhalten, um den Unsinn über eine Jugend, die sich genauso asozial verhält wie die kapitalistische Gesellschaft in ihrer verantwortungslosen Gesamtheit, kritisch und nachdenklich zu beleuchten. Der Band von Maren Lorenz heißt „Vandalismus als Alltagsphänomen“, er umfaßt 158 Seiten und ist in der Hamburger Edition zu 12 Euro erschienen.
Besprechung von : Alan Scott Haft – Eines Tages werde ich alles erzählen. Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft, Verlag Die Werkstatt 2009, 191 Seiten, € 16,90
Vandalismus einer ganz anderen Dimension ist der Hintergrund zu einem Buch, das nicht zufällig gerade im Verlag Die Werkstatt herausgekommen ist. Die Sportbücher dieses Verlages zeichnen sich nicht nur durch eine genaue Recherche und eine präzise Darstellung aus, sie führen uns zudem in sportliche Bereiche, die unser Wissen bereichern, unsere Neugier wecken und verschollene Geschichten rekonstruieren.
Besonders verdienstvoll ist der in mehreren Büchern vorzufindende ambitionierte Versuch, die Geschichte des jüdischen Sports in Mitteleuropa, vor allem in Deutschland und Österreich, in ein angemessenes Licht zu rücken. Die Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft zeigt jedoch auch, daß Sport in einem ganz anderen Sinne Mord sein kann, als wir es in unserem alltäglichen Sprachgebrauch formulieren. Denn das Überleben der einen war der Tod der anderen unter Bedingungen, wie sie nur der Tod als Meister aus Deutschland ersinnen konnte.
Hertzko Haft wurde 1925 als Sohn jüdischer Eltern im polnischen Belchatow in der Nähe von Lodz geboren. Nicht deutete in seiner entbehrungsreichen Kindheit darauf hin, daß er eines Tages um sein Leben boxen müßte, auch nichts darauf, daß er dem späteren Schwergewichtsweltmeister Rocky Marciano im Ring gegenüber stehen würde. Das antisemitische Klima im Polen der Zwischenkriegszeit und die Armut, mit der er aufwuchs, waren für seine Entwicklung nicht gerade hilfreich. Schon früh mußte er zum Lebensunterhalt der kinderreichen Familie beitragen und lange litt er unter den Schlägen seines älteren Bruders, der hiermit die Flausen Hertzkos auszutreiben gedachte. Doch all dies bedeutete nichts im Vergleich zu dem, was die Jüdinnen und Juden Polens nach dem Einmarsch der Nazi-Wehrmacht 1939 erwartete.
Sein Versuch, seinen älteren Bruder aus den Klauen der SS zu befreien, führte unerwartet dazu, daß er selbst eine lange Odyssee durch die Konzentrationslager antreten mußte. Ein SS-Offizier befand, daß Hertzko Haft einen guten Boxer zur Belustigung der Soldaten und Wachmannschaften abgeben würde. Seine Gegner waren Juden, die man dazu gezwungen hatte, bei diesem Spektakel auf Leben und Tod mitzuwirken. Wer verlor, wurde nach Auschwitz transportiert oder womöglich sofort erschossen. Hertzko Haft überlebte die Kämpfe, aber er nahm die Geschehnisse als Trauma für sein gesamtes Leben mit.
Bei einem der letzten Todesmärsche vor Ende des Krieges gelang es ihm zu entkommen. Er schlug sich durch und war wenig zimperlich, wenn es darum ging, sich zu behaupten, um zu überleben. Als er dann den Soldaten der US-Armee begegnete, hatte die Qual ein Ende. Seine erzwungenen Erfahrungen als Boxer führten ihn schließlich nach New York und in die Fänge der den Boxport beherrschenden Mafia. Doch dies ist eine andere Geschichte, die ebenfalls ausgebreitet wird.
Lange Jahrzehnte trug Hertzko Haft die Geschehnisse mit sich herum, bis sein Sohn Alan Scott Haft bereit war, sich das Grauen anzutun und die Geschichte aufzuschreiben. Herausgekommen ist hierbei ein Buch voll zuweilen verstörender Offenheit, vor allem dort, wo er seinem Sohn ohne anzuklagen beschreibt, wie tief Menschen im Kampf um das nackte Überleben sinken können, es ist aber auch ein Buch, das vor allem zum Schluß emotional bewegt.
Auch diejenigen, die mit der puren Gewalt boxender Männlichkeit nichts anzufangen wissen und die diesem Sport nichts abgewinnen können, werden nicht umhinkommen, diese Facette nackter Brutalität eines Regimes zur Kenntnis zu nehmen, dem keine Methode zu perfide war, die Menschlichkeit der Barbarei zum Fraß vorzuwerfen und die Opfer zu verhöhnen. Die hier vorgestellte Überlebensgeschichte des jüdischen Boxers Hertzko Haft, aufgeschrieben von seinem Sohn Alan Scott Haft, trägt den Titel „Eines Tages werde ich alles erzählen“.
Hertzko Haft ist 2007 gestorben. Die Veröffentlichung seiner Biografie konnte er noch erleben. Das 191 Seiten umfassende Buch ist als Übersetzung aus dem amerikanischen Englisch vor kurzem im Verlag Die Werkstatt erschienen; es kostet 16 Euro 90.
Besprechung von : Germinal Civikov – Srebrenica. Der Kronzeuge, Promedia Verlag 2009, 176 Seiten, € 15,90
Eine Provokation stellt hingegen das Buch des in Bulgarien geborenen und seit drei Jahrzehnten in den Niederlanden lebenden Journalisten und Literaturwissenschaftlers Germinal Civikov dar. Nach jahrelangen Recherchen stellt er in seinem jüngst im Wiener Promedia Verlag erschienen Buch „Srebrenica. Der Kronzeuge“ die herrschende Meinung zu den Ereignissen im Juli 1995 nahe der bosnischen Stadt in Frage.
Dabei geht es weniger um die Ereignisse in Srebrenica selbst, die in seinem Buch allenfalls gestreift werden. Er konzentriert sich auf die Darstellung eines Massakers, das am 16. Juli 1995 auf der Branjevo-Farm in der Nähe des Ortes Pilica geschehen sein soll. Daß er nicht auf die serbische Eroberung von Srebrenica eingeht, mag der Leser und die Leserin bedauern. So bleibt er oder sie allein gelassen mit einem Ereignis, das isoliert betrachtet wird, einem Massaker, dem 1000 bis 1200 Männer, so genau weiß man es nicht und will es auch nicht wissen, zum Opfer gefallen sein sollen.
Die Darstellung dieses Massakers stützt sich auf die Aussage eines einzigen Zeugen, nämlich eines Mitglieds des Erschießungskommandos. Dieser Dražen Erdemović hatte zunächst einem serbischen Ermittlungsrichter und anschließend dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag seine Geschichte dieser Ereignisse erzählt. Detailliert plauderte er über seine Mittäter, über den Hergang des Mordens, über den Alkohol, der dabei geflossen sei, und über seine eigene Rolle. Demnach will er selbst 80 bis 100 Männer erschossen haben.
Das Haager Gericht verurteilte ihn erstinstanzlich wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zu zehn, nach seiner Berufung wegen „Verletzungen der Gesetze und Gebräuche der Kriegsführung“ zu nur noch fünf Jahren Gefängnis, von denen er anschließend dreieinhalb Jahre absitzen mußte. So billig ist Mord vor einem internationalen Gerichtshof. Es stellt sich folglich die Frage, weshalb Dražen Erdemović so billig davonkommen konnte. Und in der Tat gibt es einen einleuchtenden Grund hierfür.
Bevor ich hierauf näher eingehe und das Buch von Germinal Civikov hierfür heranziehe, möchte ich einen Beitrag einspielen, den Stefan Tenner vom freien Radio Corax aus Halle vor vier Jahren zum 10. Jahrestag der Ereignisse in und um Srebrenica verfaßt hat. Auch wenn der darin angesprochene Slobodan Milošević nicht mehr lebt und Radovan Karadžić sich inzwischen in den Händen des Jugoslawien-Tribunals befindet, so gibt der Beitrag einen brauchbaren Einblick in Dichtung, Wahrheit und Instrumentalisierung dessen, was unter dem Begriff „Srebrenica“ verstanden wird. [Abspielen des Beitrags (Länge: 6:45 Minuten) mit nebenstehendem Player.]
Germinal Civikov stellt die herrschende Darstellung der Ereignisse von Srebrenica in Frage [4]. Er bestreitet nicht nur, daß es sich um Völkermord gehandelt hat, er legt darüber hinaus dar, daß das Ad-hoc-Tribunal in Den Haag ein sehr eingeschränktes und offensichtlich politisch motiviertes Interesse an der Wahrheitsfindung besitzt. Was den Völkermord betrifft, so hat Germinal Civikov nach dem Wortlaut der Völkermord-Konvention von 1948 zweifellos Recht.
Diese Konvention entstand unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik gegen die europäischen Jüdinnen und Juden, war jedoch gleichzeitig darauf ausgerichtet, die zum Teil massenmörderische Kolonialpraxis der alliierten Mächte nicht mit dem Begriff des Völkermords in Verbindung zu bringen. Der Völkerrechtler William A. Schabas hat hierzu eine fundamentale Abhandlung geschrieben, die in der Hamburger Edition des Hamburger Instituts für Sozialforschung 2003 in deutscher Übersetzung herausgebracht worden ist [5]. Das Jugoslawien-Tribunal hat in seiner Rechtsprechung jedoch einen anderen Weg gewählt, vermutlich auch deshalb, um eine halbwegs stichhaltige Anklage gegen den ehemaligen jugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević zustande bringen zu können.
Was die politische Funktion des Tribunals selbst betrifft, so zeigt sein Handeln die politische Intention der Veranstaltung recht deutlich. Während vorzugsweise Serben (und eine Serbin) auf der Anklagebank saßen und sitzen, werden die systematischen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen der kroatischen, bosnischen und albanischen Seite weitgehend beiseite geschoben. Daß die Kriegsführung der NATO-Staaten gegen Jugoslawien 1999 nicht auf die Agenda gesetzt wurde, ist evident. Man und frau ermittelt schließlich nicht gegen die eigenen Auftrag- und Arbeitgeber.
Vor diesem Hintergrund muß das Buch von Germinal Civikov gelesen werden. Er breitet uns eine kleine, dafür mörderische Episode aus dem Bürgerkrieg der 90er Jahre aus und bemüht sich, unsere Verwunderung über den offensichtlichen Unwillen des Tribunals, der Sache auf den Grund zu gehen, hervorzukitzeln. Dabei geht Germinal Civikov nicht gerade geschickt vor, denn sein Buch ist eine recht trockene, zähe und nicht immer nachvollziehbare Darstellung. Dennoch bleiben Ungereimtheiten, an denen keine und niemand vorbei kann.
Da sind zum Beispiel die Mittäter und Vorgesetzten. Bis auf einen Mittäter, der als verschollen gilt, leben außer Dražen Erdemović alle in Freiheit und könnten jederzeit vor Gericht gestellt werden. Angesichts von 1000 bis 1200 ermordeten wehrlosen Jungen und Männern eine wahrlich notwendige und sinnvolle Aufgabe für ein Gericht, das zu genau diesem Zweck eingerichtet worden ist. Das Desinteresse dieses Gerichts ist derart auffällig, daß man und frau nicht umhinkommt, sich zu fragen, ob die Einvernahme dieser namentlich bekannten Mittäter womöglich die von Dražen Erdemović vorgetragene Geschichte auffliegen lassen könnte.
Denn dieser Dražen Erdemović erzählt den Anklägern und dem Gericht Folgendes: man habe den Auftrag gehabt, auf einer Farm die mit Bussen herangekarrten Männer aus Srebrenica zu erschießen. Man habe sie jeweils zu zehnt etwa 50 bis 200 Meter aufs Feld geführt und dann getötet. Zwischendurch sei reichlich Alkohol geflossen. Der gesamte Massenmord soll nach vier bis fünf Stunden abgeschlossen gewesen sein. Obwohl nur etwa zehn bewaffnete Serben über tausend wehrfähige Männer bewacht hätten, habe es keinen Widerstand gegeben. Germinal Civikov versucht, uns den Vorgang plastisch vor Augen zu führen, und stellt dabei fest, daß auf die geschilderte Art und Weise in der angegebenen Zeit nicht derart viele Jungen und Männer abgeknallt worden sein können. Dabei stellt er ein Massaker nicht in Frage, denn es wurde an dieser Stelle tatsächlich ein Massengrab gefunden. Es enthielt 153 Leichen.
Bemerkenswert ist auch die von Dražen Erdemović geschilderte Befehlskette. Ein einfacher Soldat habe das Kommando gehabt, obwohl an der Massentötung ein Leutnant und er selbst als Sergeant beteiligt waren. Allerdings bestreitet er seinen militärischen Rang, indem er behauptet, dieser sei ihm Monate zuvor genommen worden. Dieses Manöver dient offensichtlich dazu, seine Mitverantwortung kleinzuhalten. Als einfacher Soldat habe er den Befehlen gehorchen müssen. Spannend wird Germinal Civikovs Argumentation dort, wo er sich fragt, was das denn für eine Truppe gewesen sei, die in wenigen Stunden derart routiniert und kaltblütig gemordet habe. Er kommt zum dem Schluß, daß es sich bei der sogenannten 10. Sabotageeinheit wohl um eine gedungene Söldnertruppe gehandelt habe, die pro Auftrag eine Erfolgsprämie erhielt.
Über die Erfolgsprämie in diesem Fall muß es Streit gegeben haben, denn Mitglieder dieses Mordkommandos schossen nur wenige Tage später in einer Bar im Streit aufeinander. Ohnehin ist Dražen Erdemović hierbei eine schillernde Figur. Inmitten eines nationalistisch aufgeblasenen Massenwahns tritt er, ein bosnischer Kroate, zunächst einer muslimischen Einheit bei, später arbeitet er als Militärpolizist für die kroatische Seite. Hier scheint er einen lukrativen Nebenverdienst gefunden zu haben, indem er Serbinnen und Serben gegen ein angemessenes Honorar durch die Linien schleuste.
Als das aufflog und er durch das kroatische Militär arrestiert wurde, nutzte er eine Haftverschonung, um sich abzusetzen. Er heuerte nun als Sergeant bei einer bosnisch-serbischen Spezialtruppe an, eben der 10. Sabotageeinheit. Nein, ein Nationalist ist er wahrlich nicht, eher eine Art Glücksritter. Der Zeuge der Anklage verkauft sich und seine Geschichten für ein angemessenes Entgelt. Dafür zeigt er sich nützlich und erkenntlich.
Mit einer Geschichte, die nur er erzählt und die nirgends auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft wird, wird er zum Kronzeugen eines Massenverbrechens, das so nicht stattgefunden haben kann. Mit seiner Aussage wiederum konnte ein Haftbefehl gegen die Anführer der bosnischen Serben Radovan Karadžić und Ratko Mladić erwirkt werden. Dies war offensichtlich Zweck der ganzen Übung. Weitere Zeugen oder gar Angeklagte hätten die Glaubwürdigkeit des Dražen Erdemović nur erschüttern können. Einen solch nützlichen Kronzeugen demontiert man und frau einfach nicht, wohl wissend, daß die Lüge im Wesen des Kronzeugen verborgen liegt.
Ungereimtheiten dieser Art durchziehen nicht nur das Verfahren gegen Dražen Erdemović und die Arbeit des Haager Tribunals, sondern logischerweise auch die Darstellung des Buchs von Germinal Civikov. Problematisch wird die Darstellung, wenn der Autor eine französische Geheimdienstverbindung ins Spiel bringt, die, man oder frau kann es nur vermuten, den Söldnerhaufen dazu angestiftet haben soll, nützliche Sabotageakte oder Massaker anzurichten, um sie der serbischen Seite in die Schuhe zu schieben. Nicht, daß ich solcherlei für ausgeschlossen halte. Aber es klingt doch arg nach einer Räuberpistole.
Germinal Civikov hat die Akten akribisch ausgewertet und ist hierbei auch auf unterschiedliche Darstellungen desselben Gegenstandes gestoßen. So entspricht die englische Fassung des Gerichtsprotokolls, nämlich da, wo es darauf ankäme, zuweilen im Wortlaut nicht der serbokroatischen Fassung. Oder es werden, je nach Bedarf, unterschiedliche Angaben zu Ort und Zeit gemacht. Nun können das genausogut Schlampereien wie gezielte Setzungen sein, um eine bestimmte Interpretation zu fördern. Nur – es kommt dann nicht gut, wenn im Buch selbst falsche Jahreszahlen genannt werden. Eine sorgfältigere Endredaktion wäre hier durchaus zu begrüßen gewesen. [6]
Insgesamt handelt es sich bei dem Srebrenica-Buch von Germinal Civikov auch insofern um ein schwieriges Werk, weil die Geschehnisse noch vergleichsweise frisch sind und die Instrumentalisierung recht nahe liegt. Eine Einbettung der Geschichten des Dražen Erdemović in eine – und sei es eine noch so subjektive – Interpretation der Geschehnisse des Jahres 1995 wäre dem Buch zu wünschen gewesen. Allerdings, das sei hinzugefügt, hätte der Autor womöglich eine Interpretation vorgelegt, der nicht jede Leserin oder jeder Leser zu folgen bereit wären, weshalb es dann vielleicht doch nicht ganz verkehrt ist, das rohe Material ohne politisch-historischen Rahmen zu präsentieren. Mag jede und jeder selbst entscheiden, was er oder sie davon hält.
Eines ist jedoch gewiß, und dies scheint durchaus die Absicht des Autors zu sein: das Ansehen des Ad-hoc-Tribunals zum früheren Jugoslawien nachhaltig einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterziehen. Wessen Wahrheit wird dort verhandelt?
Von Germinal Civikov liegt im gleichen Verlag eine Abhandlung über die skandalöse Verhandlungsführung im Prozeß gegen Slobodan Milošević vor dem Jugoslawien-Tribunal in Den Haag vor.
Das Buch „Srebrenica. Der Kronzeuge“ ist vor kurzem im Promedia Verlag erschienen, es kostet mit seinen 176 Seiten 15 Euro 90. Zur Präsentation des Buchs gab es in Wien eine gut besuchte Podiumsdiskussion. Die zweistündige Aufzeichnung dieser Diskussion [7] werde ich am Mittwoch, den 20. Mai, ab 19.00 Uhr zu Gehör bringen – lassen. Denn – ich habe ja ein Hausverbot.
Besprechung von : Mittelweg 36, Heft 1/2009 und Heft 2/2009, 108 bzw. 94 Seiten, je € 9,50
Die Rechtsprechung der beiden Ad-hoc-Gerichtshöfe zu Jugoslawien und Ruanda ist durchaus als eine politische zu begreifen. Selbst die frühere Chefanklägerin Carla del Ponte kam nicht umhin, die politische Einflußnahme auf die Arbeit des Tribunals zu beklagen. Solange sie noch im Amt war, war es ihr jedoch offensichtlich recht. Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, daß die beiden Tribunale zu Jugoslawien und Ruanda auch Aspekte aufgenommen haben, die normalerweise im Völkerrecht ein Schattendasein führen. Die Rede ist von sexueller Gewalt in kriegerischen Konflkiten. Die Februarausgabe der Zeitschrift Mittelweg 36 aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung widmet sich schwerpunktmäßig dieser Arbeit und belegt, daß auch im internationalen Recht die Genderfrage angekommen ist.
Den Anfang macht ein Werkstattgespräch, um den Rahmen abzustecken. Die Frage, inwieweit die Ausübung sexueller Gewalt in militärischen Auseinandersetzungen anzutreffen ist und welchen Zwecken sie dient, ist nicht eindimensional zu beantworten. So wird den tamilischen Befreiungstigern auf Sri Lanka attestiert, Gewalt gegen Frauen ausdrücklich zu unterbinden und zu bestrafen, während der ANC in Südafrika kein Problem darin sah, Frauen, die den Befreiungskampf gegen das rassistische Apartheidsregime unterstützen wollten, als Sexsklavinnen für die kämpfenden Männer bereitzuhalten. In diesem Zusammenhang fällt dann auch der Name des heutigen Präsidenten Südafrikas, Jacob Zuma.
Kriege sind abgesehen vom Kampf um Rohstoffe, Märkte, Land und Arbeitskräfte auch der Ort, in dem sich Männlichkeit widerspiegelt und ausdrückt. Wenn diese Männlichkeit sich darüber definiert, seine Frau beschützen und gegen andere Männer verteidigen zu können, dann ist die massenhafte Vergewaltigung von Frauen in kriegerischen Auseinandersetzungen ein direktes Mittel zur Wehrkraftzersetzung des Feindes. Nun können wir uns fragen, weshalb sich Männer und Männlichkeit über die Verfügungsgewalt über Frauen definieren. Doch dies ist durchaus keine Frage, die sich nur bei kriegerischen Konflikten stellt. Die Männlichkeitscodes einer zivilen Gesellschaft sind durchaus in verschärfter Form auf den Kriegseinsatz übertragbar.
Während sich das Motiv schon mythisch verklärt im Raub der Sabinerinnen wiederfindet, ist es ein paar Jahrtausende zuvor noch offensichtlich. Kriege wurden in den Anfängen der städtischen Zivilisation Mesopotamiens nicht nur um Rohstoffe, sondern auch um Sklavinnen geführt. Frauen waren selbstverständlich Beute und ihre Unterwerfung Teil der männlichen Initiation. Vermutlich hat die südafrikanische Philosophin Louise du Toit nicht ganz Unrecht, wenn sie eine Verbindungslinie zu den Initiationsriten heutiger Jugendbanden in ihrem Land zieht. Allerdings sollten wir nicht so tun, als sei die Pflege der Männlichkeit im Deutschland des beginnenden 21. Jahrhunderts verschwunden. Und ich meine hier deutsche Männer, und nicht Migranten.
Die neuseeländische Politikwissenschaftlerin Miranda Alison stört sich an der anthropologischen Feststellung, daß Krieg Bestandteil fast jeder menschlichen Gesellschaft sei, weil diese Feststellung fatalistische Positionen bestärke und einen generellen Frieden als undenkbar betrachte.
Ich denke jedoch, daß Krieg keine menschliche Eigenschaft, sondern eine bestimmte soziale Kultur darstellt. Solange Macht und Herrschaft, Reichtum und Profit soziales Handeln bestimmen und menschliche Kulturen formen, werden Kriege genauso unausweichlich sein wie die alltäglich konkrete und die bürokratisch strukturelle Gewalt. Nur eine Gesellschaft, die auf solidarischen Prinzipien aufbaut, also eine, die den Kapitalismus gestürzt und überwunden hat, wird in der Lage sein, derartige Dispositionen nachhaltig zu beseitigen. Das soll nicht heißen, daran zu verzweifeln, nur weil wir diese Utopie sicherlich nicht mehr erleben werden. Aber ich verweise darauf, daß Gewalt und Krieg durchaus erklärbar sind, weil sie zu jeder bisherigen Gesellschaft seit der neolithischen Revolution vor rund zehntausend Jahren gehören.
Nun ist das Thema des Heftes die sexuelle Gewalt in kriegerischen Konflikten. Sie geht in der Regel von Männern aus und betrifft in der Regel Frauen. Hiermit geht eine Sicht von Krieg und Frieden einher, die eine männliche Sichtweise spiegelt. Ob Frauen vom selben Frieden und vom selben Krieg wie Männer reden können, wäre eine interessante Fragestellung.
Die australische Soziologin Kirsten Campbell stellt den Umgang mit sexueller Gewalt in der internationalen Strafgerichtsbarkeit vor. Ihr geht es hierbei vor allem darum, Geschlechterrollen im Prozeßgeschehen und in der Urteilsfindung zu überwinden. Vielleicht wird ihr Ansatz am besten in folgender Formulierung deutlich:
Die geschlechtsspezifischen Muster der Rechtspraktiken, denen zufolge überwiegend Frauen als Zeuginnen sexueller Gewalt auftreten, haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Sprecherpositionen, in denen sich Männer und Frauen vor dem Tribunal befinden. Männer scheinen als Zeugen des Konflikts und Frauen als Zeugen von Vergewaltigungen aufzutreten. Indem Männer überwiegend vom Krieg berichten, erscheinen sie als Akteure des Konflikts, die überwiegend von Vergewaltigungen berichtenden Frauen hingegen als passive Opfer sexueller Gewalt. Eine solche narrative Verortung reproduziert traditionelle Modelle aktiver Männlichkeit und passiver Weiblichkeit. [8]
Wobei womöglich zu berücksichtigen sein wird, daß sich die Anklägerinnen und Ankläger in internationalen Strafverfahren ihre Zeuginnen und Zeugen auch aufgrund von Rollenmodellen suchen, die den eigenen Erwartungen entsprechen. Dies gilt auch für die Verfolgung von Tätern. Das Tribunal zu Jugoslawien hat bislang nur eine Frau angeklagt, was sicherlich auch Ausdruck tatsächlicher Machtverhältnisse ist. Frauen sind in der Politik unterrepräsentiert und in der militärischen Hierarchie kaum anzutreffen. Insofern erübrigt sich der Genderblick in Bezug auf die Täterseite wohl weitgehend. Dennoch legt die Autorin Wert darauf, daß das Geschlecht auch in Bezug auf die rechtliche Verantwortlichkeit neu bewertet werden muß. Nur so ließe es sich zukünftig vermeiden, patriarchale Rollenmuster und geschlechtshierarchische Wertungen im Strafprozeß wie in der Urteilsfindung fest- und damit fortzuschreiben.
Einen Blick in die Gefühlswelt der Übersetzerinnen und Ermittlerinnen in der internationalen Strafverfolgung vermittelt uns die Juristin Patricia Viseur-Sellers. Frauen, die sich aufgrund erlittener sexueller Gewalt einem internationalen Gericht anvertrauen, benötigen eine besondere Fürsorge. Hierbei ist es offensichtlich, daß auch die mit der Ermittlung, der Zeuginnenbefragung und der Übersetzung beauftragten Frauen besonderen emotionalen Belastungen ausgesetzt sind. Ihre Arbeit zu würdigen, ist das Anliegen des Aufsatzes „Die anderen Stimmen“.
Wenn die Autorin dabei hervorhebt, die Ad-hoc-Gerichtshöfe zu Jugoslawien und Ruanda hätten hierbei eine beispiellose Sorgfalt bewiesen, so ist dies sicherlich aus ihrer Sicht richtig. Dennoch sollten wir uns auch hier daran erinnern, daß es sich um politische Verfahren mit interessegeleiteten Anklagen handelt. Die befragten Zeuginnen sind nicht Subjekt, sondern Objekt einer derartigen Strafverfolgung. Ihr Leid interessiert nur insoweit, als es sich zur politisch motivierten Verfolgung nutzen läßt. Hier sollten wir uns keinen Illusionen hingeben. Massenvergewaltigungen in Tschetschenien oder anderswo interessieren keinen internationalen Gerichtshof. Die Geschäfte mit Rußland gehen vor.
Nützlich, wenn auch geradezu überbordend ist die von Ingwer Schwensen zusammengetragene neuere Literatur zu sexueller Gewalt in kriegerischen Konflikten. „Neuer“ meint hier die vergangenen sieben Jahre, und es handelt sich hierbei um – wenn ich richtig gezählt habe – 425 Aufsätze, Berichte und Bücher. Es ist sicherlich kein Zufall, daß die meisten hiervon von Frauen geschrieben oder redigiert worden sind. Männer haben eben andere Themen.
Zum Beispiel der an der Universität Kassel lehrende Kulturwissenschaftler Christian Schneider. Er fragt, wozu wir Helden benötigen, und ist sich durchaus darüber im Klaren, daß Helden in gewissem Sinne Übermenschen sind:
Wer Held sagt, sagt automatisch Tod. Oder genauer: Mord. Denn die archaichste Schicht des Helden ist, dass er die grundlegende Zivilisationsleistung, das Tötungsverbot, außer Kraft setzt. [9]
Mit dieser Erkenntnis ließe sich nun durchaus eine Menge machen. Wir könnten uns fragen, weshalb derartige Helden durch unsere Medien geistern, weshalb wir uns für sie begeistern, vor allem wenn wir heranwachsende junge Männer sind, die sich von ihren Eltern abnabeln und eigene Ideale setzen möchten.
Statt dessen erhalten wir eine Lektion in griechischer Mythologie und Tragödiendichtung, die zwar interessant zu sein scheint, aber irgendwie den Eindruck hinterläßt, hier soll ein bestimmtes zivilisatorisches Modell festgeklopft werden. Ohne Helden, so vermittelt uns der Autor, also ohne Menschen, die sich durch außergewöhnliches Handeln gegenüber der Masse auszeichnen, gebe es keine Erneuerung über die Grenzen des Bestehenden hinaus. Nun mag das so sein oder auch nicht. Die Frage ist jedoch, ob wir das benötigen. Eine kapitalistische Leistungsgesellschaft benötigt derlei Gas gebende Helden ganz sicher, aber gilt dies auch für eine menschliche Gesellschaft?
Noch problematischer finde ich seinen Rückgriff auf die Ilias, die Heldendichtung schlechthin. Kommt doch hier zum heldenhaften Massenmord noch die Männerfreundschaft zum Tragen. Doch um was für eine Freundschaft handelt es sich hierbei? In den Worten von Christian Schneider finden wir hierin „die Wurzeln und die grundsätzlichen Gesetze der Freundschaft als Keimform des sozialen Zusammenhalts, der Solidarität“ [10].
Wenn ich jedoch einige Aufsätze im selben Heft zurückgehe, dann finde ich in diesen Männerzusammenschlüssen die Form sexueller Gewalt wieder, die in kriegerischen Konflikten in Massenvergewaltigungen enden. Nun ist es sicherlich so, daß dem Autor nichts in dieser Richtung vorschwebt, er vielmehr nach einem neuen Rollenmodell des „zivilen Helden“ sucht. Dennoch bin ich bei der Lektüre seines Aufsatzes einigermaßen ratlos. Was, bitte sehr, soll ich damit anfangen, wenn die Frage „Wozu Helden“ damit beantwortet wird, „weil wir sie brauchen“ [11]? Das klingt eher nach Selbstvergewisserung als nach grundlegender Analyse. Die Frage ist doch: wer benötigt in einer durchgeknallten kapitalistischen Männerwelt Helden, und wozu? Hat die Orientierung an Helden in den vergangenen 10.000 Jahren nicht schon genug Schaden angerichtet? Wäre eine Welt ohne Helden nicht lebenswerter?
Das nachfolgende, in diesem Monat herausgekommene Heft von Mittelweg 36 greift den völkerrechtlichen Aspekt in gänzlich anderer Hinsicht wieder auf. Der Jurist Gerd Hankel, der in seinem profunden Werk über die Leipziger Prozesse im Gefolge des Ersten Weltkriegs interessante Einblicke über die Struktur und das Funktionieren des Völkerrechts als eines eminent politisierten Rechts abgeliefert hat [12], ergreift Partei für den Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir. Nun mag er dies tun, allein es stellt sich die Frage, welches Weltbild er uns hiermit zu vermitteln sucht. Denn in der Tat ist es problematisch, wenn die westliche Welt einmal mehr über die Dritte Welt verfügt, als gebe es nur eine Wahrheit, nämlich die derjenigen, die die Macht haben, sie auch zu exekutieren.
Der Hintergrund ist klar. Es geht um Kriegsverbrechen in Darfur [13]. Nun werden selbige nicht aufhören, wenn der sudanesische Präsident Gefangener der internationalen Staatengemeinschaft ist, weshalb sich hier andere Fragen auftun, und diese Fragen werden durchaus gestellt. Weshalb soll ausgerechnet der sudanesische Präsident als erstes Staatsoberhaupt vor den Internationalen Gerichtshof gezerrt werden und nicht etwa der US-amerikanische? Ist es eine Machtfrage? Gewiß. Gerd Hankel verweist auf die Stimmen afrikanischer Politiker, die diesen Haftbefehl als Teil eines neokolonialistischen Plans betrachten, geht jedoch, wie ich finde, etwas arrogant darüber hinweg. Völkerrechtlich mag er den Schritt legitimieren können, und doch sollten wir hier kurz innehalten und uns fragen, was hier eigentlich geschieht.
Die internationale Strafgerichtsbarkeit geht ja nicht, wie es in einem nationalen Rahmen üblich ist, von einem gegebenen und legitimierten staatlichen Gewaltmonopol aus. Internationales Recht ist immer ein Recht, das neben kollektiven Verträgen der Durchsetzung durch bewaffnete Mächte bedarf. Handlungsfähig sind hier in der Regel diejenigen, die in der Lage sind, ihre Rechtsposition militärisch gegen Dritte zu behaupten.
Keine und niemand kommt auf die Idee, sich militärisch gegen die USA zu wenden, nur weil sie in Afghanistan und Irak einen ziemlich mörderischen Krieg führt. Von der Barbarei des Vietnam-Krieges mit seinen weit über einer Million Toten einmal ganz zu schweigen. Als jedoch Saddam Hussein die Dreistigkeit besaß, seine durchaus diskutable Rechtsposition gegenüber Kuwait durchzusetzen [14], war der Teufel los. Insofern ist der Einwand, es handele sich um eine Form neokolonialen Handelns, durchaus berechtigt, auch wenn ein solches Handeln völkerrechtlich in Ordnung sein mag. Doch weshalb sollten wir eine imperialistische Machtpolitik, die sich durch das Völkerrecht selbst vergewissert, auch noch verteidigen? Das kann ich nicht nachvollziehen.
Versetzen wir uns hierbei in die Gedankenwelt der seit über fünfhundert Jahren ausgebeuteten, verschleppten, versklavten und massenhaft ermordeten Menschen Lateinamerikas, Afrikas und Asiens und lassen uns nicht von unserem mitteleuropäisch geprägten Gutmenschentum leiten. Dann verstehen wir vielleicht besser, weshalb dieser Haftbefehl als ein Akt neokolonialer Arroganz gelten kann und auch muß. 1998 zerstörten US-amerikanische Marschflugkörper die einzige pharmazeutische Fabrik des Sudan, weil die CIA behauptete, hier werden chemische Waffen hergestellt. Die Basisversorgung mit Medikamenten eines ohnehin armen Landes wurde damit zerstört. Selbstverständlich wurde der Schaden nicht wieder gut gemacht, denn mit dem Sudan darf man so umspringen.
Oder nehmen wir das geografisch nicht allzu entfernte Somalia. Mit einer Dreistigkeit, die dem Völkerrecht spottet, werden sogenannte Piraten durch deutsche Schiffe einfach kenianischen Behörden überstellt. Die Frage, ob es sich bei diesen Piraten vielleicht um eine legitime, wenn auch ungewöhnliche Form der Durchsetzung somalischer Rechtsinteressen handelt, wird erst gar nicht gestellt. Die Journalistin Susanne Härpfer fragt diesbezüglich in einem Telepolis-Artikel nicht zu Unrecht, ob diese sogenannten Piraten nicht die im Seerecht anerkannte Marine somalischer Warlords darstellen. Sie schreibt:
Das Internationale Seerechtsübereinkommen erlaubt in § 56 Küstenländern, in der Wirtschaftszone Zölle zu erheben, die Fischereirechte zu sichern und die Umwelt zu schützen. Lösegeldzahlungen an Piraten wären demnach nichts anderes als rechtmäßiger Tribut. Nähmen sich also die Warlords einen Anwalt und beriefen sich auf diesen Paragraphen, gäbe es einen interessanten Prozess vor dem Hamburger Seegerichtshof. [15]
Nun ja, mit vorhersehbarem Ausgang. Umso wichtiger fände ich es, der kolonialen Arroganz nicht auch noch durch eine einseitige Interpretation völkerrechtlicher Normen Vorschub zu leisten. Sinnvoller wäre eine politische Argumentation, die deutlich macht, daß im Sudan und den angrenzenden Staaten bis hinunter zum Kongo imperialistische Machtinteressen eine entscheidende Rolle spielen. Wer liefert die Waffen, wer die Logistik, wer finanziert, wer kassiert ab? Derartige Fragen verbieten sich selbstverständlich vor einem Internationalen Gerichtshof, denn dann würden andere Staatsmänner und -frauen auf der Anklagebank sitzen. Und das geht ja nun wirklich nicht.
Laßt mich zum Abschluß meiner Sendung noch kurz auf die übrigen Themenstellungen der aktuellen Ausgabe von Mittelweg 36 eingehen. Andreas Reckwitz schreibt über die moderne Urbanität einer kreativen Stadt. Berthold Vogel behandelt Streit, Zwist und Zorn aus soziologischer Sicht. Und Natan Sznaider geht Hannah Arendts Wirken in München nach. Mittelweg 36 ist die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Das alle zwei Monate erscheinende Einzelheft kostet 9 Euro 50.
Jingle Alltag und Geschichte
In der vergangenen Stunde hörtet ihr einen Streifzug durch Vergehen, Verbrechen und ihrer Vermittlung. Vorgestellt habe ich hierbei das Buch „Vandalismus als Alltagsphänomen“ von Maren Lorenz, die Biografie „Eines Tages werde ich alles erzählen“ von Alan Scott Haft, den Band „Srebrenica. Der Kronzeuge“ von Germinal Civikov sowie die beiden letzten Hefte der Zeitschrift Mittelweg 36.
Ich danke der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt für ihre Unterstützung bei der Produktion dieser Sendung und Stefan Tenner für seinen Beitrag über Srebrenica. Das Manuskript zu dieser Sendung findet ihr in den nächsten Tagen auf meiner Webseite: www.waltpolitik.de. Im Anschluß folgt eine Sendung der Kulturredaktion von Radio Darmstadt. Am Mikrofon war für die Redaktion Alltag und Geschichte Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
»» [1] Anspielung auf den früheren Darmstädter Bürgermeister Horst Knechtel, der sich medienwirksam auf Graffitijags begeben hatte.
»» [2] Maren Lorenz : Vandalismus als Alltagsphänomen, Seite 123.
»» [3] Unnötig zu erwähnen, daß zwischen medialer Impertinenz und jugendlicher Realität auch heute Welten liegen.
»» [4] Am 5. Oktober 2005 sprach Germinal Civikov auf einer Veranstaltung in Darmstadt über die Ungereimtheiten der Prozeßführung vor dem Tribunal in Den Haag. Siehe hierzu meine Sendung Srebrenica vom 19. Oktober 2005.
»» [5] Siehe meine Besprechung des Buchs „Genozid im Völkerrecht“ von William A. Schabas in der Sendung Völkermord vom 15. März 2004.
»» [6] So heißt Bijeljina auf Seite 45 Bjeljina. Falsche Jahreszahlen finden sich auf den Seiten 111 (1995 statt 1996) und 175 (1966 statt 1996).
»» [7] Der Podcast mit der Aufzeichnung der Podiumsdiskussion befindet sich im cultural broadcasting archive.
»» [8] Kirsten Campbell : Transitional Justice und die Kategorie Geschlecht. Sexuelle Gewalt in der Internationalen Strafgerichtsbarkeit, in: Mittelweg 36, Heft 1/2009, Seite 26–52, Zitat auf Seite 44.
»» [9] Christian Schneider : Wozu Helden?, in: Mittelweg 36, Heft 1/2009, Seite 91–102, Zitat auf Seite 93.
»» [10] Schneider Seite 96.
»» [11] Schneider Seite 102.
»» [12] Siehe meine Besprechung des Buchs „Die Leipziger Prozesse“ von Gerd Hankel in der Sendung Klimaturbulenzen vom 14. April 2003.
»» [13] Siehe zu Darfur auch die fünfteilige Serie von Peter Mühlbauer : Darfur –Ethnographie und Geschichte eines Konflikts, in: Telepolis vom 11. bis 15. Juni 2007. In der Hamburger Edition ist hierzu 2007 der mir nicht bekannte Band „Darfur. Der »uneindeutige« Genozid“ von Gérard Prunier (englisches Original 2005) erschienen.
»» [14] Die Abtrennung Kuwaits aus dem früheren türkischen Herrschaftsgebiet in Mesopotamien sicherte den britischen Einfluß in der Ölregion und muß als Teil einer imperialistischen Strategie betrachtet werden. Inwieweit Gebietsansprüche aufgrund vorheriger tatsächlicher oder fiktiver Zugehörigkeit erhoben werden können, ist eine Frage, die nur innerhalb nationalistischer Konzepte einen Sinn ergibt.
»» [15] Susanne Härpfer : Nehmen die somalischen Piraten nur ihr Recht wahr?, in: Telepolis vom 18. April 2009.
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