Kapital und Arbeit

Erntehilfe

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Kapital und Arbeit
Erntehilfe
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 22. April 2003, 17.00-17.55 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 23. April 1998, 00.00-00.55 Uhr
Dienstag, 23. April 1998, 08.00-08.55 Uhr
Dienstag, 23. April 1998, 14.00-14.55 Uhr
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/send199x/kv_kua10.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Zumutbare Arbeit - oder nicht?
Kapitel 2 : Arbeitslose besuchen ihren Arbeitsplatz
Kapitel 3 : Landwirte plaudern aus dem Nähkästchen
Kapitel 4 : Super Verdienst unter Polizeischutz
Kapitel 5 : Eine Virtuelle Zitrone für virtuellen Journalismus
Kapitel 6 : Schluß

 

Zumutbare Arbeit - oder nicht?

 
Ja, in der Arbeit an sich besteht gar keine Zumutung, sondern unter den Bedingungen, wie diese Arbeit gemacht wird. Das heißt also: es gilt kein Arbeitszeitgesetz, es gilt kein Tarifvertrag, und das ist die Zumutung. Die Arbeit an sich ist ok.
Der Tarifvertrag gilt natürlich, aber er wird nicht eingehalten von den Arbeitgebern. Und das Arbeitsamt weiß das. Und macht da nichts. Es gilt normalerweise der Achtstundentag. Er kann ausgedehnt werden nach dem Arbeitszeitgesetz auf eine regelmäßige Arbeitszeit von zehn Stunden, wenn mit Freizeit ausgeglichen wird. All dies ist nicht der Fall auf den Spargeläckern. Also ist es rechtswidrig eigentlich. Und ich bin ja auch betroffen. Und ich werde also ganz genau darauf gucken, daß diese Sachen eingehalten werden, und wenn nicht, dann ist die ganze Erntehelferei ein Fall für's Gewerbeaufsichtsamt. [1]

In der heutigen Folge der Sendereihe Kapital und Arbeit befasse ich mich mit dem umstrittenen Thema Erntehilfe. Helmut Angelbeck von der gewerkschaftsnahen Arbeitsloseninitiative GALIDA hat mit dem gerade gesendeten Statement den Rahmen abgesteckt. Am 7. April demonstrierten trotz strömenden Regens Arbeitslose beim 3. bundesweiten Aktionstag der Arbeitsloseninitiativen vor dem Darmstädter Arbeitsamt. Sie thematisierten die Zwangsmaßnahme des Arbeitsamts, Erntehilfe zur zumutbaren Arbeit zu erklären.

Ich sprach mit Harald Sendelbach, Abteilungsleiter im Darmstädter Arbeitsamt, über die Hintergründe der Erntehilfe durch Langzeitarbeitslose.

Es ist so, daß die Bundesregierung eine Vorgabe macht, daß im Bereich der Erntehilfe eben nicht mehr so viel Personen aus Polen, aus den ehemaligen jugoslawischen Regionen zu uns kommen dürfen, um hier ihre Erntetätigkeit einzubringen. Der Hintergrund ist einfach der, daß man sagt, wir haben Arbeitslose, wir haben einen inländischen Arbeitsmarkt in diesem Sinne, und es soll damit aus der Arbeitslosigkeit heraus möglichst das Bemühen an den Tag treten, diese Personen auch für Erntearbeit zu gewinnen. Hintergrund ist der, daß wir Jahr für Jahr in einer Größenordnung von Starkenburg-weit ungefähr 6-7000 Menschen aus Osteuropa hierher geholt haben und wir auf der anderen Seite eine sprunghaft gestiegene Arbeitslosigkeit haben. Das zeigt natürlich schon die Brisanz. Und wir sollen eben auf diesem Wege einen Versuch - das ist nicht der einzige, aber doch wenigstens einen Versuch - unternehmen, Arbeitslosigkeit, und wenn es nur befristet wäre, abzubauen helfen.
Es müssen Personen sein, die körperlich gesund sind, denn es kann nicht angehen, daß ein Schwerbehinderter oder eine ältere Person oder eine irgendwie auf andere Art und Weise gehandicapte Person einer körperlich beanspruchenden Tätigkeit nachgeht. Also es muß jemand im wahrsten Sinne des Wortes können. Der andere Gesichtspunkt ist natürlich auch der, daß es jemand ist, der es möchte. Also wir legen schon Wert darauf, daß wir für die Bauern, für die wir ja mit tätig werden, auch Personen gewinnen können, die ihrer Arbeit auch motiviert nachgehen.
So steht es zwar in dem Gesetz drin, daß der Arbeitslose zumutbare Beschäftigung anzunehmen hat. Das ist korrekt. Das Problem ist allerdings, daß die Zumutbarkeit natürlich durch das Leistungsvermögen begrenzt wird. Wir dürfen - und das ist ganz klar - niemandem eine Arbeit offerieren, die er nicht verrichten kann. Wir möchten Motivation erzeugen. Es hat keinen Zweck, daß wir Personen in eine Tätigkeit hineinpressen, die sie tatsächlich nicht ausführen wollen, denn wir brauchen ja Personen, die auch qualitativ eine gute Ernte einzubringen in der Lage sind. Das hat nichts damit zu tun, daß wir nicht, wenn wir feststellen, es handelt sich um jemand, der das nicht möchte, der es zwar kann, aber nicht möchte, nicht auf andere Art und Weise, ja, ich will nicht sagen, verfolgen, aber zumindest diesen Dingen dann nachgehen. Das tun wir selbstverständlich. Aber ich denke, das Bereitstellen von Erntetätigkeiten ist nicht unbedingt das geeignete Mittel, das Problem hier zu lösen. Dazu ist auch einfach die Vergütung nicht so hoch, daß das uns auch vor einem Sozialgericht dann unter Umständen sichert. Nein, wir würden in diesen Fällen schon den Versuch unternehmen, dann andere Tätigkeiten, die durchaus interessanter wären, als ein Mittel zu nutzen, um hier die Nagelprobe zu machen. Wir würden jeden Einzelfall natürlich betrachten. Das kann man nicht so pauschal sagen. Es gibt natürlich schon den ein oder anderen Fall, der vorher eine vergleichbare körperliche Tätigkeit ausgeführt hat. Und wenn derjenige dann uns sagen würde, nö nö, also das möchte ich jetzt wirklich nicht, dann gehen wir der Sache nach und dann kann es im Einzelfall durchaus natürlich schon mal vorkommen. Aber den Physiker beispielsweise, der immer wieder genannt wird, den wir zur Erntearbeit zwingen würden, den gibt es nicht. [2]

Wenn ich Harald Sendelbach richtig interpretiere, dann heißt das, daß Arbeitslose, die einen Einsatz zur Erntehilfe ablehnen, nicht grundsätzlich eine Sperrzeit von zwölf Wochen zu erwarten haben. Wie das Arbeitsamt mit einer Verweigerung dieser Arbeit konkret umgehen wird, wird sich noch zeigen müssen.

Ob das Arbeitsamt allerdings dazu berechtigt ist, Arbeitslose zur Erntehilfe abzukommandieren, ist aber noch eine ganz andere Frage. Zwar sieht die von Harald Sendelbach erwähnte Gesetzesänderung im Dritten Band des Sozialgesetzbuchs vor, daß Arbeitslose alle Möglichkeiten nutzen müssen, um die Beschäftigungslosigkeit zu beenden. Andererseits steht dem im Prinzip das Grundgesetz entgegen. In Artikel 12 heißt es zur Freiheit der Berufswahl:

(1) Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen. Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden.
(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht.
(3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.

Soweit das Grundgesetz. Ich bin allerdings überzeugt davon, daß Sozial- und Verfassunsgerichte Wege finden werden, den Arbeitszwang für Arbeitslose zu legitimieren. Denn wir leben ja in einer freien, oftmals auch sozial genannten, Marktwirtschaft. Dort endet die Freiheit der Berufswahl an finanziellen Grenzen und Zwängen. Wer eine bestimmte Arbeit annehmen muß, um finanziell über die Runden zu kommen, tut dies nach dieser Logik freiwillig. Ebenso freiwillig müssen Arbeitslose im Antrag auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe unterschreiben, alle Möglichkeiten zur Beschäftigungsaufnahme zu nutzen. Und sie tun das auch freiwillig, weil sie sonst das ihnen zustehende Geld nicht bekommen. Alle Möglichkeiten, das heißt, daß hier eine zuständige Arbeitsvermittlerin freie Hand hat zu definieren, was alle Möglichkeiten tatsächlich bedeutet. Da läßt sich immer etwas finden.

Nicht genügend Bewerbungen geschrieben? Täglich beim Stelleninformationsdienst nachgeschaut? Sich im Bewerbungsgespräch unprofessionell verhalten? Nun, ob dieser Passus in Zukunft genutzt wird, die offiziellen Arbeitslosenzahlen zu reduzieren, indem man sie einfach als nicht arbeitswillig deklariert, wird sich zeigen müssen. Wenn ich meine eigene Erfahrung zum Maßstab mache, dann werden zumindest im Moment die Daumenschrauben nicht angezogen.

In der heutigen Folge von Kapital und Arbeit sollen betroffene Arbeitslose wie Landwirte zu Wort kommen. Am Mikrofon ist, wie immer bei Kapital und Arbeit, Walter Kuhl. Doch bevor ich die Betroffenen zu Wort kommen lasse, möchte ich allen Hörerinnen und Hörern zur Einstimmung das Loblied auf die freie Marktwirtschaft präsentieren. Auf geht's!

Geier Sturzflug : Bruttosozialprodukt

 

Arbeitslose besuchen ihren Arbeitsplatz

Die Darmstädter Arbeitsloseninitiativen demonstrierten am dritten bundesweiten Aktionstag am 7. April [1998] nicht nur vor dem Arbeitsamt. Sie fuhren mit einem gemieteten Bus zu einer der zukünftigen Arbeitsstellen der Erntehelferinnen und Erntehelfer, dem auf der Weiterstädter Markung gelegenen darmstädter Hofgut Gehaborn. Herr Thiede, der Leiter des Hofguts, erklärte den Arbeitslosen die Lohn- und Arbeitsbedingungen für die Spargelernte.

Wie ist das denn mit den Arbeitsbedingungen? Wieviele Stunden müssen denn die Erntehelfer arbeiten?
So wie es die Arbeitsart erfordert, das sind sechs Stunden am Tag, das sind acht Stunden am Tag, das kann an einem Tag neun Stunden sein. Wie das Wetter das hergibt. Wir sind in der Natur, das ist Spargel, das ist ein Naturprodukt. Es kann sein in der Ernte, zwei Tage können wir nichts machen, und dann müssen wir Samstag, Sonntag, Montag dreschen oder bis abends um zehn.. Das ist in der Landwirtschaft. Und so ist das auch bei der Spargelernte. Wenn kaltes Wetter ist, dann kommen Sie an, dann können Sie sagen, heute nachmittag brauchen Sie nicht stechen, dann gehen Sie um zwölf Uhr nach Hause oder um elf Uhr. Und an einem anderen Tag geht's halt bis fünf, sechs, und dann ist wieder ein Ausgleich da. Das ist folgendermaßen: wenn es morgens um fünf Uhr dunkel ist, dann brauchen Sie noch keinen Spargel zu stechen.
Ja ja, wir haben Sommerzeit ...
Sommerzeit und so weiter und so fort nochmal.
Die Sonne geht um drei Uhr hier auf.
Um drei Uhr geht die Sonne ... die können Sie noch gar nicht sehen. Dann bleiben Sie noch im Bett.
Ja, dann schau'n sie mal um drei Uhr raus. Dann ist schon hell genug, um den Acker zu finden.
Wir fangen in der Regel morgens zwischen halb sechs und sieben Uhr an, wie das Wetter sich so einläszlig;t und wieviel Arbeit Sie haben. Und wenn es sehr heiße Tage sind, und dann sind wir froh, wenn wir um elf Uhr wieder zu Hause sind und eine Stunde eher anfangen, und fangen um drei, halb vier, wenn die Sonne nicht mehr so heiß ist, fangen wir wieder an zu stechen. Das ist nicht zumutbar für jemanden, in der Sonne zu arbeiten. Und dafür haben wir hier auf dem Hof eingerichtet, dann können sich die Leute hinsetzen oder können wieder nach Hause fahren. Aber generell sind es nur acht Tage, wo die starke Hitze so ist und sonst ist das normal, ganz normal. Acht Stunden ist normal.
Was ist in der Zwangspause, wo Sie sagen, von elf bis um vier, wir werden auf Abruf fahren und kriegen es dann nicht bezahlt.
Ich habe das dem Herrn Angelbeck ...
Nein, das will ich jetzt wissen. Ich bin nicht der Herr Angelbeck. Ich war nicht bei Ihrem Gespräch dabei. Deshalb möchte ich das doch von Ihnen wissen.
Aber ich sage Ihnen doch: Wir haben auch Spargel zu sortieren. Und wenn Leute da sind und sich dafür eignen zu sortieren, den Spargel aufzulegen und hinterher wieder abzunehmen, und dann können wir die Arbeit anschließend fortsetzen.
Können wir, ja, können wir. Ansonsten werden wir weggeschickt und dürfen dann in vier Stunden wiederkommen. [3]

Helmut Angelbeck hat einen für das Hofgut Gehaborn gültigen Arbeitsvertrag. Während er nach dem Manteltarifvertrag für Landarbeiter auf der niedrigsten Lohnstufe beschäftigt werden soll, erhält Herr Thiede eine Besoldung nach dem Tarifvertrag des Öffentlichen Dienstes. Dafür darf Helmut Angelbeck das zweifelhafte Privileg nutzen, bei schlechter Witterung frühzeitig nach Hause gehen zu können. Die ausgefallene Arbeitszeit wird dann bei günstigerer Witterung nachgeholt.

Es handelt sich hierbei um eine Arbeit auf Abruf, um Tagelöhnerei. Sollte nämlich ein Arbeitstag buchstäblich ins Wasser fallen, erhält er gar keinen Lohn für diesen Tag, muß aber faktisch auf Abruf zu Hause bleiben.

Das Hofgut Gehaborn ist ein Eigenbetrieb der Stadt Darmstadt. Insofern bezweifelt Helmut Angelbeck die Rechtmäßigkeit des ihm vertraglich angebotenen Lohns. Wenn sich tatsächlich herausstellen sollte, daß ihm ein Lohn nach dem Tarif des Öffentlichen Dienstes zusteht, wäre dies ein Skandal. Die Stadt Darmstadt hat dann nämlich unter Umgehung des richtigen Tarifvertrags jahrelang Erntearbeiterinnen und Erntearbeiter zu wesentlich geringerem Lohn beschäftigt.

Man stelle sich das einmal vor: eine Schreibkraft in einem Dienstleistungsunternehmen erhält 10 Mark 09 die Stunde, brutto wohlgemerkt, fängt morgens um 6 an, und darf um 11 ihre Mittagspause antreten, weil das Internet überlastet ist. Um 15 Uhr sind die Telekommunikationsverbindungen wieder nutzbar, dann wird bis 22 Uhr gearbeitet, weil die Schriftstücke alle noch am selben Tag raus müssen.

Leider kann es ihr passieren, daß am nächsten Tag keine Arbeit anfällt. Dann muß sie zu Hause auf Abruf bereit stehen, denn es könnte ja plötzlich ein Auftrag bearbeitet werden müssen. Arbeitet sie nicht, erhält sie kein Geld. Aber der ganze Tag ist trotzdem futsch.

Das mögen die Arbeitsbedingungen von morgen sein, von denen flexible und schlank denkende Arbeitgeber heute träumen. In der Landwirtschaft ist das jetzt schon normal. Mit Arbeitslosen kann man so etwas machen. Sie sind sozusagen die Versuchskaninchen für die Arbeitsbedingungen von morgen.

Aber es gibt dabei noch einen Aspekt. Durch Erntehilfe läßt sich bei genügend langer Beschäftigung eine neue sogenannte Anwartschaftszeit erarbeiten. Arbeitslosengeld gibt es dann aber auf der Grundlage dieser 10 Mark 09 brutto, das heißt etwa 700 bis 800 Mark. War eine Arbeitslose vorher zu wesentlich günstigeren Bedingungen beschäftigt, erfolgt hier der krasse Absturz in die Sozialhilfe.

Das andere Problem ist: die Menschen werden hineingezwungen. Und dagegen verwahren wir uns und wir verwahren uns dagegen, wie man mit uns umgeht. Und wenn man sagt, wir haben 10 Mark 09, dann können Sie, wenn Sie nämlich lange genug in der Saison arbeiten, so runtergestuft werden, daß Sie nicht einmal mehr Ihre Miete bezahlen können. Dadrum geht es. Der polnische Arbeiter geht heim und hat genügend Geld. [4]

 

Landwirte plaudern aus dem Nähkästchen

Damit die Arbeitslosen auf die Felder kommen, haben einzelne Landwirte einen Fahrdienst eingerichtet. Was aber als großzügige Geste erscheint, entpuppt sich schnell als staatliche Subvention.

Der Direktor des Arbeitsamtes hat mir eben noch gesagt, daß er dabei ist, die Kosten zu übernehmen für den Fahrdienst. Und er hat sich beklagt, daß das die Bauern einfach nicht machen und kein Interesse daran haben. Er wird das bezahlen ...
Wir beide haben schon im Januar gesagt, wie die ersten anfragten, daß wir für die Leute ... die Frau E. hat zu mir gesagt, Herr Thiede, das ist das Problem, wir können nicht hingekommen. Da hab' ich gesagt, ich habe einen Bus gemietet und dann werden die Leute abgeholt und werden hierher gefahren.
Wenn Sie ins SIS gucken, da steht das drin, dann gucken Sie bei Meinhardt, da steht das drin. Und da steht drin: Fahrdienst ab Hauptbahnhof morgens um 7. Und ich meine, ich kann von jedem Arbeitnehmer verlangen, daß er morgens um 7 Uhr am Bahnhof ist.
Das ist klar.
Gut, also ich mein', da gehe ich einfach mal davon aus. Und die werden auch wieder hergefahren. Meine Leute werden sogar kostenlos bei mir auf dem Hof verpflegt. Das muß ich auch dazu sagen. Die kriegen Mittagessen, da müssen sie nichts dafür bezahlen.
Das können Sie von der Steuer wieder abkloppen.
Jeder Arbeitnehmer kann sein Fahrgeld oder irgendwelche Kilometergelder absetzen; und wenn jemand seinen Leuten irgendwo ein Essen stellt, wenn er das nicht von der Steuer absetzen kann ... also irgendwo leben wir doch, denke ich, in einem Staat ...
Das ist ein Aufwand, dessen Kosten man absetzen kann.
Ich stelle Ihnen ein Essen für drei oder vier Mark. [5]

Wie ein Mittagessen von 3, 4 Mark konkret aussieht, überlasse ich der Phantasie der Hörerinnen und Hörer von Radio Darmstadt. Viel krasser finde ich es, wenn tariflich zustehende Überstundenzuschläge in einen Leistungslohn verwandelt werden. Ob das rechtlich zulässig ist?

Also, ich habe mit meinen Arbeits ... mit meinen ... Arbeitslosen sind sie ja nicht mehr ... die sind bei mir ja in Arbeit, ja? Da habe ich ausgemacht, wir haben ein Prämienlohnsystem gemacht, wenn die eine gewisse Norm erfüllen, wenn sie drüber sind, dann kriegen sie mehr Geld. Und die Leute sind so ... mittlerweile sind sie schon so fit und die verdienen auch mehr. [6]

Die folgende spannende Diskussion zwischen den angereisten Arbeitslosen und den Landwirten möchte ich nicht vorenthalten. Ich denke, sie spricht für sich.

Erst einmal müssen Sie die Woche über gearbeitet haben. Und dann kommt der Samstag, Sonntag, und dann reden wir weiter, oder?
Steht mir Urlaub zu?
Ja, zwei, zwei Urlaubstage bekommen Sie bezahlt.
Aber auch nicht in allen Verträgen.
Ich habe mich bei drei Firmen vorgestellt. Alle drei lachen mich aus und fragen: Herr W., wollen Sie Urlaub haben oder wollen Sie arbeiten? Deswegen frage ich Sie das. Freut mich, daß es auch einmal andere Aussagen gibt.
Nee nee nee nee, Moment, nee, ich habe das mit meinen Leuten so geregelt, Sie können arbeiten ...
Es gibt schwarze Schafe bei Ihnen in der Branche, die behaupten offensichtlich was anderes. Tut mir leid für Sie, aber es ist so.
Wenn ich Sie für zwei Monate angestellt habe, dann habe ich gesagt, hier, wollt ihr Urlaub haben, ja, habe ich meine Arbeitslosen gefragt. Und dann haben die gesagt, wir würden lieber arbeiten, dann kriegen sie die zwei Tage bezahlt. Fertig.
Gut, ok, einverstanden.
Also, das ist überhaupt kein Problem. Ich weiß auch gar nicht, warum er sich ... die Bedingungen, wenn's regnet oder Sonnenschein ist, ja, oder daß der Spargel unten ist, ja, da können wir nichts dafür. Das kann ich nicht ändern. Gehen Sie heute mal an die Straßenbauer oder Bauarbeiter, der schafft auch, wenn's Regen ist.
Der kriegt aber auch 22 Mark ...
Ja, der Vergleich hinkt doch.
Ja gut, das ist das Problem. Wenn ich 22 Mark bezahlen müßte, dann muß ich sagen, da höre ich mit dem Spargel- und Erdbeeranbau auf. Dann hat's überhaupt keinen Wert.
Das ist Ihr Problem, nicht unseres.
Dann müssen die Leute mehr für den Spargel bezahlen.
Dann gehen Sie mal auf den Markt und sagen, jetzt wollen wir für's Kilo Spargel 30 Mark haben. Dann kauft's keiner und dann hat's überhaupt keinen Sinn.
Herr Meinhardt, wir können doch aber nicht so weit runtergehen mit unseren Löhnen, daß der Taiwanese bei uns die T-Shirts nähen läßt. Wie soll ich denn hier meine Miete bezahlen? Ich zahl doch nicht Miete irgendwo in Warschau oder sonstwo. Ich zahle die Miete hier in Darmstadt, in der Stadtmitte. Da kann ich nicht für zehn Mark arbeiten.
Dann ziehen Sie nach Gräfenhausen, dann zahlen Sie gleich 3-400 Mark weniger. ... Wissen Sie, auf der einen Seite, was ich bei Ihnen nicht verstehe, Sie haben immer Rechte und wollen des und wollen jenes. Und Sie arbeiten praktisch nix. [7]

Die Arbeitgebermentalität ist nur zu deutlich. Flexibilität ist alles. Hier zeigt sich die so oft ausposaunte Ideologie auf dem Boden der Tatsachen.

Und dann habe ich das so gemacht: Ich habe flexible Arbeitszeiten gemacht. Es können dann Leute drei Tage in der Woche arbeiten, dann arbeiten sie zehn oder elf Stunden, dann haben sie die anderen drei Tage frei. Oder halt, wir sagen so, die kommen nur für sieben oder acht Stunden. Ich habe zum Beispiel einen, der kommt aus Ober-Ramstadt hergefahren, und der sagt, er will nur drei Tage in der Woche arbeiten, ja, weil seine Frau ein kleines Kind hat, und die schafft auch noch drei Tage in der Woche. Und da schafft er bei mir drei Tage, ja, ... fängt er dann morgens um sieben an bis abends um sieben, sind das zwölf Stunden, da kriegt er seine 36 Stunden voll, ja. Und dann die restlichen drei oder vier Tage hat er frei. Das muß man natürlich mit den Leuten irgendwo abklären. [8]

Über den Verdienst der polnischen Erntearbeiter war zu hören:

Ich möchte nochmal sagen, daß die keine fünf Mark bekommen, die haben auch keine zwo, die haben zum Teil neun und zehn Mark verdient, weil sie vernünftig und ordentlich gearbeitet haben. Und genau das biete ich Ihnen auch an. [9]

Für die beschäftigten Polen sind die 10 Mark 09 netto. Das heißt, sie können das Geld ohne Abzug mitnehmen. Für sie ist selbst dieser Lohn attraktiv, denn die Lebenshaltungskosten sind im Durchschnitt doch geringer als hierzulande.

Leider hat sich die zuständige Gewerkschaft B-A-U, also die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, in diesem Zusammenhang wieder einmal als rechtslastig geoutet. Hans-Joachim Wilms, für Agrarfragen zuständiges Vorstandsmitglied erklärte im Februar:

Statt den Arbeitsmarkt weiter für nichtheimische Saisonarbeiter zu öffnen, fordere die IG BAU von der Bundesregierung verstärkte Anstrengungen zur Förderung des landwirtschaftlichen Arbeitsmarktes für heimische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und wirksame Maßnahmen zur Eindämmung der illegalen Beschäftigung.[10]

Wenn ich sage, wieder einmal als rechtslastig geoutet, dann beziehe ich mich auf die Politik derselben Gewerkschaft gegenüber der Beschäftigung ausländischer Arbeiter auf dem Bau. Mit rassistischen Untertönen wurden diese für die Beschäftigungsmisere deutscher Arbeitskräfte verantwortlich gemacht. Der Tenor ist jedenfalls derselbe. Die Polen nehmen den Deutschen die Arbeit weg. Außerdem betätigen sie sich als Lohndrücker. Nur - es sind die Unternehmen auf dem Bau, die illegale und schlecht bezahlte Beschäftigungsverhältnisse fördern und ausnutzen. Anstatt eine solidarische Kampagne für gleichen Lohn für alle Beschäftigten zu fordern, greift die B-A-U auf populistische rechte Deutungsmuster von Arbeitslosigkeit und Lohnverlusten zurück.

Auch auf den weiterstädter Spargeläckern mußte die Gewerbeaufsicht schon einmal eingreifen. Unter unzumutbaren Bedingungen und zu Niedrigstlöhnen mußten dort sich illegal in Deutschland aufhaltende kroatische Frauen schuften. Auch insofern ist die Frage nach der Einhaltung der Tarifverträge notwendig. Allerdings sollten sie für alle Beschäftigten gleich, und zwar gleich gut, gelten.

Ich befragte Rolf Meinhardt vom Tannenhof in Weiterstadt nach den Arbeitsbedingungen auf seinen Äckern.

Ich zahle nach Tarif. Bei mir kriegen die Leute 10 Mark 50 brutto, wenn sie Spargel stechen. Das kann sich aber auch nach oben, weil wir haben Leistungslohn. Es sind also auch Leute dabei, die kriegen noch eins oder zwei Mark Zuschlag, wenn sie vernünftig arbeiten.
Und Ihre ausländischen Arbeitskräfte?
Die bekommen genau dasselbe. Arbeitszeiten: wir fangen in der Regel morgens um sechs Uhr an, beziehungsweise jetzt nur erst um sieben. Dann habe ich für die Arbeitslosen zwei Schichten eingeführt. Die eine arbeitet morgens, die andere arbeitet nachmittags. Aber in der Regel wird am Tag nicht mehr wie acht, neun Stunden gearbeitet. Weniger als sechs kann schon vorkommen, wenn's zum Beispiel regnet oder sowas, weil dann können die Leute nicht raus auf's Feld. Aber gut, ich sag', auf die sechs Stunden kommen wir im Schnitt immer pro Tag. Die Überstunden, die wir also für unsere Arbeitnehmer bezahlen, sind in dem Prämienlohnsystem mit drin. Am Wochenende wird auch gearbeitet, aber die deutschen Arbeitnehmer haben am Wochenende frei. Also dann habe ich das nur mit den anderen, mit den Saisonarbeitskräften gemacht. [11]

Es gelten also spezielle Bedingungen für die eingestellten deutschen Arbeitslosen. So äußerte sich auch Georg Merlau, Landwirt aus Darmstadt-Arheilgen.

Wir bezahlen den Tariflohn. Bei uns arbeiten die Leute in der Regel 40 bis 48 Stunden, und wenn jemand länger arbeitet, und dann werden dann natürlich Überstunden bezahlt. Aber in der Regel haben wir Arbeitszeiten, wo nicht mehr als 40 Stunden für diese Leute anfallen. Wir haben die betriebliche Organisation so umgestellt, daß wir mit 40 Stunden hinkommen. [12]

 

Super Verdienst unter Polizeischutz

10 Mark 09 brutto ist wirklich nicht viel. Deswegen gibt es einen Zuschuß, die sogenannte Arbeitnehmerhilfe, von 25 Mark netto für jeden Arbeitstag, der länger als 6 Stunden dauert. Wer krank wird, geht dann halt leer aus.

Das ist ein zusätzlicher Anreiz, weil der Gesetzgeber erkannt hat, daß die Vergütung, die in der Landwirtschaft bezahlt wird, tatsächlich nicht hoch ist. Und dieser Anreiz dient einfach dazu, vermehrt Personen aus der Arbeitslosigkeit heraus in Erntetätigkeiten hineinzubringen. Die 25 Mark sind steuerfrei und damit quasi netto sozusagen ausgezahlt. Und sie setzt allerdings voraus, daß ein Minimum an sechs Stunden pro Tag erbracht wird. Theoretisch könnte jemand sieben Tage in der Woche 25 Mark täglich auf diese Weise zusätzlich verdienen.
Tarifvertraglich sicherlich nicht in der vollen Bandbreite von sieben Tagen pro Woche, weil hier auch jeder Arbeitnehmer Anspruch darauf hat, daß bestimmte Ruhepausen eingelegt werden müssen, und ein ganzer Ruhetag sozusagen ist ein körperliches Muß. Man kann nicht beispielsweise acht, zwölf Stunden am Tag arbeiten wollen und dann noch sieben Tage die Woche. Das ist problematisch. [13]

Harald Sendelbach vom Arbeitsamt Darmstadt errechnete auf dieser Grundlage einen möglichen Nettoverdienst von über 2.000 Mark.

Wir haben kalkuliert eine Tätigkeit, die acht Stunden pro Tag ausmacht, und eine Tätigkeit, die an fünf Tagen bzw., das wäre die zweite Alternative, sechs Tage in der Woche ausmacht. Wenn jemand also acht Stunden am Tag und fünf Tage in der Woche ..., bekommt er ja zusätzlich jeweils noch die 25 Mark steuerfrei. Darüber hinaus ist einkalkuliert, daß eine Lohnsteuer kaum anfält bzw. im Rahmen eines Einkommensteuerausgleichs am Jahresende zurückfließen wird, so daß also unter diesen Gesichtspunkten nur Kranken- und Rentenversicherungsbeiträge abzuziehen wären. So daß wir schon kalkulieren, daß eine Größenordnung von um die 2000 Mark realistisch sein können, sein werden. Wenn darüber hinaus die betreffende Person mehr Stunden leisten möchte oder auch eine Tätigkeit, die an sechs Tagen in der Woche stattfindet, kommen nochmal weitere Beträge hinzu, die das vielleicht sogar in einer etwas größeren Größenordnung attraktiver vielleicht dann auch machen. [14]

Also, kurios finde ich das schon. Ich stelle mir gerade vor, wie beim Bewerbungsgespräch der Personalchef sagt: "Ach, mit dem Lohn ist das nicht so schlimm. Sie können ihn ja durch eine Einkommensteuererklärung verbessern." Halten wir doch lieber das fest, was wir vorhin gehört haben, nämlich daß die Landwirte die Arbeitslosen etwa 40 Stunden die Woche beschäftigen wollen. Trotz Arbeitnehmerhilfe sind dabei garantiert keine 2.000 Mark netto drin. [15]

Aber ich komme noch einmal auf den Arbeitslosen-Aktionstag vom 7. April zurück. Der Bus mit den Arbeitslosen zum Hofgut Gehaborn wurde von einem Kleinbus der darmstädter Polizei eskortiert. Vor dem Hofgut stand während des etwa halbstündigen Gesprächs mit dem Verwalter des Guts ein Streifenwagen der darmstädter Kriminalpolizei. Ich fragte den Pressesprecher der darmstädter Polizei, Heiner Jerofsky, nach den Gründen dieser Maßnahme.

Er antwortete mir, daß die eingesetzten Beamten zum einen zum Schutz vor Störungen von außen eingesetzt worden seien, zum anderen bereit sein müßten, mögliche Straftaten sofort zu verfolgen. Dieser präventive Aspekt war ihm sehr wichtig. Es sei zu befürchten gewesen, daß es eine Sitzblockade wie bei der Schülerdemonstration vor der Deutschen Bank hätte geben können. Oder Farbschmierereien oder gewalttätige Übergriffe, etwa aus Verärgerung über die Situation der Arbeitslosen.

Nun frage ich mich schon, welchen Sinn ein derartiger Polizeieinsatz hat, Arbeitslose als mögliche Straftäter zu begleiten. Bekommen wir demnächst neben dem rassistischen Bild des ausländischen Drogenkriminellen auch noch das des arbeitslosen Gewalttäters präsentiert? Wird hier schon der Knechtel'schen Gefahrenverordnung zugearbeitet?

Erinnern wir uns: Horst Knechtel, Ordnungsdezernent der Stadt Darmstadt hat zwei Gefahrenabwehrverordnungen ausgearbeitet. Zum einen will er das sogenannte "wilde Plakatieren" verbieten lassen. Der ästhetische Anblick der vielen bunten Plakate sei unzumutbar. Worin dabei die Gefahr besteht, weiß wohl nur er allein.

Die konkrete und nicht nur ästhetische Gefahr von Autofahrern in dieser Stadt ist allerdings kein Thema seiner Gefahrenabwehrverordnungen. Alkoholisierte Fahrer, Verkehrsunfälle, Ignoranz gegenüber Radfahrern und Fußgängerinnen, alles sehr konkrete Gefahren, sind kein Thema. Obwohl - irgendwie schon.

Die zweite geplante Gefahrenabwehrverordnung verbietet nämlich das Trinken von Alkohol. Jedoch nur außerhalb von ausgewiesenen Schankflächen. Das heißt, wenn man sich in der Kneipe oder vor dem Stehimbiß vollaufen läßt, ist das in Ordnung. Wenn man seine Sorgen als Arbeitsloser im Herrngarten oder auf dem Luisenplatz ersaufen will, nicht.

Nur - es dürften wohl die Kneipengänger sein, die sich dann alkoholisiert ans Steuer setzen und damit eine konkrete Gefahr darstellen. Die dürfen es. Arme und Obdachlose, die den ästhetischen Anblick von Darmstadts Konsum- und Kulturmeilen stören, dürfen es hingegen nicht.

Es ist nämlich tatsächlich eine Satzung gegen Arme und Obdachlose. Nächtigen im Freien oder in Wohnwagen soll verboten werden. Sperrmüll darf nicht mehr nach noch Verwertbarem durchsucht werden. Und dies ist sozialdemokratische Politik. Warum die GRÜNEN als Koalitionspartner immer noch nicht öffentlich erklärt haben, derartiges nicht zu unterstützen, ist mir ein Rätsel. Fraktionsintern haben sie sich nämlich einstimmig gegen beide Satzungen ausgesprochen.

Und eine öffentliche Äußerung von dieser Partei wäre ja schon einmal angebracht, zumal beide Gefahrenabwehrverordnungen von Radio Darmstadt einer öffentlichen Diskussion zugänglich gemacht worden sind. Wir faxen die Texte gerne zu. Im Studio Bismarckstraße 3 [16] kann der Text auch kopiert werden.

So, wie es aussieht, sind beide Pläne vorerst vom Tisch. Aber es würde mich wundern, wenn Horst Knechtel nicht am Ball bleiben würde. Über tatsächliche Gefahren werde ich hingegen am nächsten Montag in meinem Special zur Automobilausstellung, die alljährlich in der Wilhelminenstraße stattfindet, sprechen.

Aber ich komme noch einmal auf den Polizeieinsatz am Hofgut Gehaborn zurück. Als ich den Streifenwagen sah, bin ich gut sichtbar mit Mikrofon darauf zugegangen. Gefragt hätte ich die beiden Kriminalbeamten schon ganz gerne, welche Straftaten sie denn präventiv zu vereiteln gedächten. Offensichtlich scheuten sie das Licht der Öffentlichkeit. Sie fuhren nämlich auf und davon.

Soweit meine heutige Beschäftigung mit der Erntehilfe.

 

Eine Virtuelle Zitrone für virtuellen Journalismus

Diesen Monat habe ich die Qual der Wahl. In meiner Reihe Kapital und Arbeit pflege ich nämlich die Virtuelle Zitrone für besonders schlechten bzw. schlecht recherchierten Journalismus in darmstädter Medien zu vergeben. Das kritiklose Abschreiben von Agenturmeldungen gehört dazu. Zum Teil werden nämlich Artikel bar jeder Ahnung vom Thema abgedruckt, zum Teil werden damit politische Ziele verfolgt, die eher auf Verdummung als auf Aufklärung ausgerichtet sind. Ich könnte also sagen, es handelt sich hierbei nicht um Journalismus, wenn ich darunter ein bestimmtes Maß an Qualität verstehe. Es ist also virtueller Journalismus und dafür gibt es von mir eine Virtuelle Zitrone für journalistische Glanzleistungen im geistigen Niemandsland. Eine große südhessische Zeitung zeichnet sich durch besondere Häufung derartiger Qualitätsartikel aus, über die ich mich beim Frühstück regelmäßig ärgern darf. Ich denke, so wie mir, geht es vielen Darmstädterinnen und Darmstädtern, die ihr Echo lesen.

Wie gesagt, diesen Monat habe ich die Qual der Wahl.

Soll ich die Politik- und Nachrichtenredaktion dieser Zeitung mit einer Virtuellen Zitrone für ihre sinn- und verstandlose Algerien-Berichterstattung auszeichnen? Alle paar Tage eine Kurzmeldung über neue Massaker, bei denen es dann gewöhnlich heißt, vermutlich seien islamische Fundamentalisten dafür verantwortlich.

Wenn die Redakteure des Darmstädter Echo es einmal wagen würden, über ihren geistigen Horizont zu blicken, dann würden auch sie vielleicht zur Kenntnis nehmen, daß sie nur eine Regierungsversion widergeben, die mit der Wahrheit selten etwas zu tun hat. Regierungstruppen, Milizen, Todesschwadrone, kriminelle Banden und eben auch islamische Terroristen sind hierfür verantwortlich.

Ich könnte ganz uneigennützig auf meine Sendung vom 30. März zu Algerien verweisen. Das Sendemanuskript kann bei der Redaktion Alltag und Geschichte angefordert werden. Vielleicht könnte die Echo-Nachrichtenredaktion da noch etwas lernen. Aber das Echo bedient wohl lieber das Klischee des verabscheuungswürdigen Islamischen Fundamentalismus. Vielleicht sollte das Echo lieber einmal erklären, warum die Bundesregierung eine Militärdiktatur unterstützt, die ihrer Bevölkerung seit 36 Jahren demokratische Rechte vorenthält.

Oder soll ich diejenige unbekannte Journalistin oder den unbekannten Journalisten auszeichnen, der unter der Rubrik Kalenderblatt am 3. April [1998] eine schlecht recherchierte Meldung abdruckte, in der es hieß:

In der Nacht zum 3.4. [1968] verübten Studenten mit selbstgebastelten Zeitbomben Brandanschläge auf zwei Frankfurter Kaufhäuser. Die Brandstifter heißen Andreas Baader, Thorwald Proll, Horst Söhnlein und Astrid Proll.

Immerhin, eine Trefferquote von 75%! Ist das der Echo-Standard für den Wahrheitsgehalt seiner Meldungen? Es war nämlich nicht Astrid Proll, sondern Gudrun Ensslin.

Oder soll ich vielleicht den Chef der Lokalredaktion, Klaus Staat, für eine virtuelle Glanzleistung nominieren? Der schrieb nämlich in einem Kommentar am 4. April [1998]:

Tatsächlich wurde der Castor zum Stehen gebracht, aber nur für fünf Minuten und nicht von Knechtel, sondern von Jugendlichen, deren Anführer sie auf den Eisenbahngleisen in Lebensgefahr brachten.

Klaus Staat ist immerhin clever genug, von mehreren Jugendlichen zu sprechen, auch wenn er sicher nur Bastian Ripper meint. Karin Wolff von der darmstädter CDU war da nämlich unvorsichtiger gewesen. Sie schrieb Bastian Ripper eine Gleisbesetzung zu, die an dem von ihr genannten Tag nicht hatte stattfinden können, weil der Atomtransport für diesen Tag abgesagt worden war. Nur - Bastian Ripper ist eben nicht der Anführer dieser Jugendlichen. Männer wie Klaus Staat, die nur in Hierarchien denken und leben können, werden es nie verstehen, daß junge Menschen zuweilen ganz eigene Strukturen aufbauen, bei denen niemand bestimmt, was gemacht wird, weil alle darüber mitbestimmen. Man stelle sich auch vor: im Echo würden die unteren Chargen mitbestimmen und so etwas wie ... Qualität hineinbringen! Undenkbar!

Oder wie wäre es mit einem typischen Beispiel für Rassismus im Darmstädter Echo? Horst Felger schrieb am 9. April einen Artikel mit der Überschrift Krimineller Asylbewerber mit Ansprüchen. Erst war der Sudanese, um den es im Artikel geht, so dreist, nach Deutschland zu emigrieren und nicht ins ultrareaktionäre Saudi-Arabien zu seiner Mutter. Dann stellte er auch noch einen Asylantrag, der als unbegründet abgelehnt wurde. Es scheint sich noch nicht bis zum Darmstädter Echo herumgesprochen zu haben, was in aufgeklärten Kreisen seit zwei Jahrzehnten bekannt ist, nämlich daß Anerkennungen in Asylverfahren nach Quoten ausgesprochen werden und Ablehnungen mit den absurdesten Begründungen erfolgen. Vielleicht könnte ich dem Echo einen Kontakt zu Pro Asyl vermitteln. Ich bezweifle aber, daß dies weiterführt.

Am 23. März [1998] fand nämlich im Rahmen des Runden Tischs Antirassismus ein Gespräch mit Klaus Staat und Petra Neumann-Prystaj statt. Die Teilnehmer des Gesprächs unterstellten dem Echo dabei in keinster Weise rassistische Tendenzen, machten aber deutlich, daß die Berichterstattung der Diskriminierung Vorschub leiste. Klaus Staat und Petra Neumann-Prystaj wollten dieses Thema daher in einer der nächsten Redaktionssitzungen ansprechen. Es scheint nichts genutzt zu haben.

Horst Felger fährt nämlich fort: Gemeinerweise paßte sich der junge Mann nicht seiner neuen Umgebung im Odenwald an. Da ist es nämlich idyllisch. Soll er doch dafür dankbar sein, daß ihm nur ein Aufenthaltsrecht im Landkreis Darmstadt-Dieburg gewährt wurde. Das, was für deutsche Bürger selbstverständlich ist, wird Asylsuchenden schlicht verwehrt. Zum Beispiel ein Besuch in Darmstadt. Tut er's trotzdem, wird er kriminell. So einfach ist das. Oder wie Horst Felger das formuliert: Die Unterkunft im schönen Modautaler Ortsteil Brandau gefiel ihm nicht. An seinen Schulproblemen war er natürlich auch selbst schuld. Wer denn sonst?

Nun, wer in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt wird, aber erlebt, daß Deutsche alles dürfen, was ihm verwehrt wird, dem dürfte es schwerfallen, den Verlockungen eines der reichsten Länder dieser Erde zu widerstehen. Da er keine eigenen Mittel hat, außer einem popligen Taschengeld von ... jetzt muß ich schätzen, aber ich denke mal, mehr als hundert Mark im Monat dürften das nicht sein, wovon er zum Beispiel auch seinen Anwalt im Asylverfahren bezahlen muß; also, da er keine eigenen Mittel hat, ist es da so verwunderlich, daß er versucht, ein bißchen von dem zu erhaschen, was ihm in dieser Gesellschaft systematisch verwehrt wird; und das nur, weil er Sudanese ist?

Ich kenne Tageszeitungen, in denen wird die Verletzung der Menschenwürde und Menschenrechte von Migrantinnen und Migranten zum Thema gemacht. Das Darmstädter Echo gehört jedenfalls nicht dazu. Das Echo reiht sich in den gesellschaftlichen und damit diskriminierenden Umgang mit Asylsuchenden absolut unkritisch ein. Das läßt nur einen Schluß zu, nämlich den, daß es so gewollt ist. Mir bleibt daher nichts anderes übrig, als Horst Felger für seinen unqualifizierten Beitrag die Virtuelle Zitrone des Monats April zu verleihen.

 

Schluß

Soweit die heutigen Beiträge zum Thema Erntehilfe und Rassismus. Beides wird weiterhin Thema meiner Sendungen sein. Ich rufe daher alle Arbeitslosen, die zum Erntedienst abkommandiert worden sind, dazu auf, ihre Erfahrungen zu sammeln und weiterzugeben. Helmut Angelbeck wünsche ich viel Glück bei seinen Bemühungen, tarifwidrige Arbeitszeiten und Löhne zu bekämpfen. Alle anderen Erntehelfer kann ich nur darin bekräftigen, es ihm gleichzutun.

Und zum Schluß noch ein Rätsel für unsere Hörerinnen und Hörer. Was ist das? Es steht auf einem Spargelfeld in Weiterstadt. Sieht wie eine Bretterbude aus und hat innendrin ein Loch. Die Auflösung: Obwohl ohne Wasseranschluß und Papier, so handelt es sich doch zweifellos um eine Toilette. Soviel zu den sanitären Bedingungen bei der Spargelernte. Wohl bekommt's.

Die Moderation der Sendung hatte Walter Kuhl. In Kürze folgen die Lokalnachrichten im Originalton Darmstadt.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   O-Ton Helmut Angelbeck, Arbeitsamt Darmstadt, 7. April 1998
[2]   O-Ton Harald Sendelbach, Arbeitsamt Darmstadt, April 1998. Da stellt sich doch die Frage, ob es beim Arbeitsamt so etwas wie einen Akademikerschutz gibt oder ob es frei nach Orwell gleichere Arbeitslose gibt. Ich ziele hier auf die innere Logik der Erntehilfevermittlung von Arbeitslosen, die ich prinzipiell ablehne.
[3]   O-Ton eines Streitgesprächs zwischen Arbeitslosen und Jochen Thiede, Hofgut Gehaborn, 7. April 1998
[4]   O-Ton einer Arbeitslosen, Hofgut Gehaborn, 7. April 1998
[5]   O-Ton einer Diskussion zwischen Jochen Thiede, Rolf Meinhardt und Arbeitslosen auf dem Hofgut Gehaborn, 7.4.1998. Die erwähnte Frau E. ist eine Mitarbeiterin des Arbeitsamtes Darmstadt.
[6]   O-Ton Rolf Meinhardt, Hofgut Gehaborn, 7.4.1998
[7]   O-Ton. Erst Jochen Thiede, dann Rolf Meinhardt im Gespräch mit den Arbeitslosen. Hofgut Gehaborn, 7.4.1998.
[8]   O-Ton Rolf Meinhardt, Hofgut Gehaborn, 7.4.1998
[9]   O-Ton Rolf Meinhardt, Hofgut Gebaborn, 7.4.1998
[10]  Information des Bundesvorstandes der IG BAU vom 20. Februar 1998 (Vorstandsbereich Bundesvorsitzender / Pressestelle - Nr. 12/98)
[11]  O-Ton Rolf Meinhardt, Hofgut Gehaborn, 7. April 1998
[12]  O-Ton Georg Merlau, Hofgut Gehaborn, 7. April 1998
[13]  O-Ton Harald Sendelbach, Arbeitsamt Darmstadt, April 1998
[14]  O-Ton Harald Sendelbach, Arbeitsamt Darmstadt, April 1998
[15]  Günstige Witterungsbedingungen vorausgesetzt und keinen Krankheitsfall berechnet, erhalten wir in der Arbeitsamts-Modellrechnung:
  • 4,25 Wochen mal 40 Stunden mal 10,09 DM pro Stunde gleich DM 1.715,30
  • davon abzüglich Sozialversicherungsbeiträge etwa DM 162,95
  • weiterhin werden keine Lohn- und Kirchensteuern gezahlt (das gilt wohl nur für Langzeitarbeitslose mit niedrigen Bezügen)
  • 21 Tage Arbeitnehmerhilfe zu 25 Mark gleich DM 525,00
  • ergibt im günstigsten Fall einen Betrag von DM 2.077,35
[16]  Unser altes Sendestudio; im Januar 2000 ist Radio Darmstadt zum Steubenplatz 12 umgezogen. Das scheint sich noch nicht so recht herumgesprochen zu haben. Selbst dreieinhalb Jahre nach dem Umzug wird fleißig Post in die Bismarckstraße 3 geschickt.
 
Die O-Töne wurden so weit es ging im Sprachduktus der SprecherInnen wiedergegeben. Verschleifungen der Sprache oder Satzfüllsel aufgrund von Wiederholungen im Gedankengang wurden der Lesbarkeit willen angepaßt. Manches war nicht ganz verständlich. Der Sinn der Aussagen wurde an keiner Stelle verändert.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 12. März 2005 aktualisiert.
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