Die Frühzeit des Menschen

 

SENDEMANUSKRIPT

In der Sendung vom 30. September 1998 sprach ich über die Eröffnungsveranstaltung zur Ausstellung "Die Frühzeit des Menschen" in Darmstadt.

 

 

Sendung :

Geschichte

Die Frühzeit des Menschen

 

Redaktion :

Norbert Büchner und Walter Kuhl

 

Moderaktion :

Walter Kuhl

 

gesendet auf :

Radio Darmstadt

 

Redaktion :

Alltag und Geschichte

 

gesendet am :

Mittwoch, 30. September 1998, 19.00–21.00 Uhr

 

wiederholt am :

Donnerstag, 1. Oktober 1998, 10.00–12.00 Uhr

 
 

Benutztes Buch und Zeitschrift :

  • Friedemann Schrenk : Die Frühzeit des Menschen, Verlag C.H. Beck
  • GEO Wissen : Die Evolution des Menschen, September 1998

 
 

Bei der Transkription der Interviews habe ich unvollendete Satzanfänge weggelassen und verschliffene Silben an die hochdeutsche Schriftsprache angepaßt. Der Sinngehalt der Interviews wurde hierbei von mir nicht verändert. Die Syntax eines solchen Interviews ist im Einzelfall sicherlich Ansichtssache, aber weitgehend frei von Willkür. Die gesprochenen Texte auf dieser Seite wurden nicht autorisiert, entsprechen also der gesendeten Fassung. Das Interview mit Meave Leakey könnt ihr auch anhören.
Ich danke Meave Leakey und vor allem Friedemann Schrenk für ihre Geduld. Das Interview mit Friedemann Schrenk mußte ich nämlich zweimal führen, da beim ersten Versuch der Aufnahmerecorder aufgrund eines leer gefahrenen Akkus nichts aufnahm.

 
 

URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/send199x/ge_frueh.htm

 

NAVIGATION
 Startseite 
 Neu auf der Homepage 
 Stichwortsuche 
 Orientierung verloren? 
 Abstract in English 
 
SENDUNGEN
 Geschichte 
 Kapital – Verbrechen 
 RadioweckerbuttonRadiowecker – Beiträge 
 Specials 
 Tinderbox 
 Nächste Sendung 
 Vorherige Sendung 
 Nachfolgende Sendung 
 
SERVICE
 Besprochene Bücher 
 Sendemanuskripte 
 Veröffentlichungen 
 Bisheriges Feedback 
 WaltpolitikbuttonEmail an Walter Kuhl 
 Rechtlicher Hinweis 
 
LINKS
 Radio Darmstadt (RadaR) 
 Alltag und Geschichte 
 Hessisches Landesmuseum Darmstadt 
 

 

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Ausblick auf die Köpfe

Kapitel 2 : Rekonstruktion einer möglichen Vergangenheit

Kapitel 3 : Meave Leakey

Kapitel 4 : Weiße degenerierte Hautfarbe

Kapitel 5 : Ausstellungseröffnung

Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Ausblick auf die Köpfe

Jingle Alltag und Geschichte

Vor einer halben Stunde wurde im Hessischen Landesmuseum die Ausstellung Die Frühzeit des Menschen eröffnet. Wir werden im Verlauf der Sendung die Eröffnungsreden übertragen, doch zuvor möchte ich einige Einblicke in das Thema geben. In der Ausstellung werden lebensecht rekonstruierte Köpfe unserer zum Teil Millionen Jahre entfernten menschlichen oder menschenähnlichen Vorfahren präsentiert.

Pressefoto rekonstruierte FrühmenschenDie Köpfe wurden eigens für diese Ausstellung hergestellt und sind wirklich sehenswert. Ob unsere Vorfahren aber wirklich so ausgesehen haben, ist fraglich. Rekonstruiert wurde ein mögliches Aussehen, sowohl für die Gesichtszüge, wie für die Hautfarbe oder Haarpracht. Darüber sprachen Reinhard Völker und ich mit Wolfgang Schnaubelt und Nina Kieser, den SchöpferInnen dieser Köpfe.

Wissenschaftlich heißt das Thema Paläoanthropologie, also die Wissenschaft von den ältesten Menschen. Ich befragte Friedemann Schrenk zu den wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen und den Fallen, in die eine Forscherin oder ein Forscher fallen können. Besonders interessant fand ich das Interview mit Meave Leakey, eine bedeutende Paläoanthropologin, die eigens zur Eröffnung der Ausstellung aus Kenia gekommen ist. Das Interview habe ich auf Englisch geführt, aber ich hoffe, ihr könnt Meave Leakey dennoch verstehen.

Die heutige Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte zur Frühzeit des Menschen wird moderiert von Walter Kuhl und Norbert Büchner. Norbert Büchner sitzt zur Zeit noch im Landesmuseum und nimmt die Eröffnungsreden auf, die wir in etwa einer Stunde leicht zeitversetzt übertragen werden.

 

Rekonstruktion einer möglichen Vergangenheit

In der neuesten Ausgabe von GEO Wissen werden die im Hessischen Landesmuseum ausgestellten Hominidenköpfe groß und in Farbe präsentiert. Die lebensechten Rekonstruktionen der ersten Hominiden wurden von Wildlife Art in Zusammenarbeit mit dem Magazin GEO und unter wissenschaftlicher Betreuung des Hessischen Landesmuseums erstellt. Reinhard Völker sprach gestern mit Wolfgang Schnaubelt über dessen Arbeit an diesen Rekonstruktionen.

RV : Was war Ihnen besonders wichtig bei der Umsetzung?
WS : Am wichtigsten bei der Umsetzung dieser plastischen wissenschaftlichen Rekonstruktion, wie wir es nennen, war daß a) die wissenschaftlichen Daten, die uns zur Verfügung stehen, umgesetzt werden und daß natürlich diese Rekonstruktionen auch einen wirklichen Gesichtsausdruck bekommen, daß es nicht einfach tote Rekonstruktionen sind, sondern lebendige Rekonstruktionen, die auch eine Ausstrahlung vermitteln, vor allem dem Museumsbesucher, der sie hier in dieser Ausstellung dann betrachtet. Diese Tatsache hat uns also auch bewogen, ihnen echte Menschenhaare zum Beispiel auch zu implantieren, ihnen echte Menschenaugenprothesen einzusetzen. All das trägt dazu bei, daß eben der Eindruck entsteht, daß sie wirklich vor einem stehen. Und wenn die jetzt auch noch als ganze Figuren wären, dann wäre die Illusion total perfekt.
RV : Wie authentisch ist denn das Ganze. Oder: auf wieviel Wissen beruht das Ganze?
WS : Ja gut, wir haben also meistens natürlich Fundmaterialien in Form von fossilierten Schädeln. Die sind natürlich auch nicht immer ganz erhalten. Wir haben in diesem Fall die fehlenden Teile mit einem Wissenschaftler, dem Dr. Kullmer aus Darmstadt, ergänzt erstmal, bevor wir auf diesem dann ganzen Schädel die Weichteilrekonstruktion machen konnten.

Cover GEO Wissen September 1998Zu den Schwierigkeiten bei der Rekonstruktion befragt, antwortete Wolfgang Schnaubelt:

WS : Ja gut, es gibt natürlich immer Schwierigkeiten, und man hat Tage, wo das ganz toll läuft, und auch wieder Tage, wo man sehr viel nachdenkt, ist es jetzt wirklich so. Dann gefällt einem zum Beispiel der Gesichtsausdruck noch nicht richtig, dann muß die Mimik noch etwas verändert werden. Ich habe ja als Küstler auch noch eine Vorstellung, wie die Mimik dann nachher aussehen soll. Weil über die Mimik, das sagte ich vorhin schon, sagt natürlich der Schädel nichts aus, ob der nun lacht oder weint oder böse guckt.

Wolfgang Schnaubelt arbeitete zusammen mit Nina Kieser an diesen Hominidenköpfen. Nach welchen Vorstellungen wurden die Gesichtshaut und die Gesichtsfarbe ausgewählt?

NK : Ja, die Gesichtshaut und –farbe ist eigentlich eine hypothetische Sache, weil das sich nicht durch fossile Funde beweisen läßt. Das heißt, man muß sich erarbeiten, wie die Person, die Lebewesen der damaligen Zeit ausgesehen haben können, in welchem Umfeld die gelebt haben, was die für Probleme hatten, ob die von Mücken geplagt wurden oder ob sie im Wald gelebt haben, Verletzungen hatten. Man muß sich einfach in die Situation denken, in der die einfach gelebt haben, und insofern die wissenschaftliche Beratung noch, die einfach besagt, daß die Menschen in Afrika wahrscheinlich eine schwarze Hautfarbe hatten. Das spricht schon mal für die Farbe. Das alles spielt natürlich auch im künstlerischen Background zusammen, ergibt dann halt so ein Bild, wie wir es jetzt hier zeigen können im Museum.

So gibt es einen rekonstruierten Hominidenkopf mit gekräuselten Haaren, aber ob es so wirklich war, ist unbewiesen.

NK : Unbewiesen, aber möglich. Auf jeden Fall. Man könnte genauso gut auch gerade Haare gewählt haben. Es ist einfach die Chance, hier Individuen aus verschiedenen Zeitaltern der Evolution zu wählen. Da wählt man halt eine Vorstellung aus, und die hat eben in dem Fall mal gekräuselte Haare.
WK : Unsere Vorfahren werden ja eigentlich eher so als Wilde immer so in den Köpfen transportiert. Das drücken diese Reakonstruktionen ja nicht aus. Da haben Sie sich sicher was bei gedacht.
NK : Ja, das Wilde ist eigentlich eine veraltete Darstellungsweise. Man hat bis in die 60er Jahre eigentlich die Vormenschen immer sehr räudig dargestellt und zähnefletschend und so. Das wollen wir hier gerade nicht, weil man den Hominiden eigentlich damals schon mehr Erfahrung, mehr Lebensweisheit zuspricht. Durch den Werkzeuggebrauch eigentlich haben die sich auch im Gesicht wahrscheinlich verändert. Insofern wollten wir hier einfach etwas intelligenter wirkende Rekonstruktionen liefern.
WK : Und deswegen haben Sie mit künstlichen Augen auch nachgeholfen?
NK : Ja, man muß ja ein hochwertiges Auge wählen, weil bei Büsten ist ja alles sehr wichtig. Also, wir haben ja nicht sehr viel Ausdrucksmöglichkeit außer dem Gesicht. Das ist halt der Mund und die Augen, das gibt eine wesentliche Aussage der Köpfe. Deswegen haben wir hier hochwertige Menschenprothesenaugen gewählt.
 

Kurzbesprechung von : GEO Wissen, Ausgabe September 1998 – Die Evolution des Menschen. Wie wir wurden, was wir sind, DM 15,80

Soweit Nina Kieser von Wildlife Art. In der von mir schon angesprochenen neuesten Ausgabe von GEO Wissen geht es insgesamt um die Evolution des Menschen. Friedemann Schrenk berichtet darin zum Beispiel über seine Ausgrabungen in Malawi im Südosten Afrikas. Außerdem werden Felsmalereien der Aborigines in Australien vorgestellt, und was sie uns über unsere Vorfahren sagen können. Weiter geht es mit einem Bericht über Primatenforschung, insbesondere über den Aufwuchs von Schimpansen und Gorillas.

Allerdings habe ich da den Eindruck, daß das Sozialverhalten der Affen an menschlichen Maßstäben gemessen und bewertet wird; das halte ich dann doch für ziemlich bedenklich. Insgesamt ist das Heft verständlich und interessant geschrieben. Es ist als Begleitheft zur Ausstellung im Landesmuseum sicher empfehlenswert und kostet 15 Mark 80.

 

Meave Leakey

Meave Leakey entdeckte 1994 im Norden Kenias die Überreste des ältesten, zweifelsfrei aufrecht gehenden Hominiden. Sein wissenschaftlicher Name lautet Australopithecus anamensis, übersetzt "Südlicher Affe am See", weil er am Lake Turkana gefunden wurde. Er lebte vor etwa 4 Millionen Jahren, war etwa 1,20 Meter groß und wog zwischen 35 und 55 kg. Meave Leakey arbeitet am Kenya National Museum in Nairobi. Ich fragte sie gestern nach ihrer Arbeit in Afrika und hoffe, euer Englisch ist besser als meins. [1]

Audiofassung des Interviewausschnitts als MP3 [428 kB]
ML : Well, I am head of the paleontology department in the National Museum of Kenya which is based in Nairobi. But I run the field work in Lake Turkana as well. And that's my main area of research. And that's where we've been discovering these very exciting bones of Australopithecus anamensis which of the earliest of [unverständlich]. So they take our ancestry way back to four million years.

Meave Leakey sprach gerade über den von ihr gefundenen Australopithecus anamensis. Was müssen wir uns darunter vorstellen?

Audiofassung des Interviewausschnitts als MP3 [591 kB]
ML : Australopithecus anamensis was really basically an ape that walked on two legs. And I think if you see this exhibit here in this museum that is very clear because the reconstruction of anamensis shows very tidy how ape-like it was. But at the same time it was just the beginnings of humanity there. And because it walked on two legs it's the beginning off the evolution process that led to us: bipedality, walking on two legs was really the first adaptation that humans or our human ancestors came to.

Ich fragte sie, wie sie die Rekonstruktion dieses Australopithecus anamensis, die im Hessischen Landesmuseum ausgestellt ist, findet.

Audiofassung des Interviewausschnitts als MP3 [900 kB]
ML : I feel very excited about it. You know when you take up all these bones and you see the bones you form a mental picture yourself what the individuals actually like, what the species was like. But it's very hard to portrait that to the public. And then I think when you see that somebody else actually made a reconstruction and is portraying as the public [?] you are curious what they doing, how they do it. And I feel that this particular reconstruction is very much the way I would imagine anamensis look like. It's very ape-like, at the same time it relates to us in a way, slightly more rthan a shimpanzee. The apes are very close to us anyway, the [ein Wort unverständlich] were extremely close. But there are slight difference. You see anamensis is an apes, it's basely an ape who walked on two legs. And you see that, but at the same time you see the roots of humanity there.

Hatte sie eine andere Vorstellung des Anamensis oder entspricht die Rekonstruktion dem, wie sich sich das affenähnliche Wesen vorgestellt hat?

Audiofassung des Interviewausschnitts als MP3 [1099 kB]
ML : No, I have felt very much like that. I think it's very hard to say whether anamensis had a lot of hair or had big lips or flat noses and mouth of the second [?]. But because we are close to shimps we do not shimps or gorillas look like. You can guess, it's a [ein Wort unverständlich] logical guess that they will had similar features, special features in many ways. And I think you have to base your reconstruction on that. But at the same time make it's [?] like a human. Of course the wides of the eye's one very telling point. The reconstructions here have eye wides that's what makes it very human.
WK : Yes, they look like they live.
ML : All these reconstructions are I think very special because they have character. They really look alive. You can relate to them. You can say this guy looks like it's really [?] deal with you in a very difficult situation. This one you know [ein Wort unverständlich] say, come and look at me, I'm important. They're all saying something to you in their own way.

Es gibt eine Lücke von etwa 1,5 Millionen Jahren zwischen dem Australopithecus anamensis und dem noch nicht gefundenen gemeinsamen Vorfahren von Menschen und Menschenaffen. Keine Knochen, keine Fossilien, nichts Greifbares.

Audiofassung des Interviewausschnitts als MP3 [1031 kB]
ML : That's true. We don't know the fossil [?] when the split occured between when the come [?] an ancestor of chimps and humans actually split into ancestor of chimps and ancestor of humans. We don't know when that was, we don't know how long the gap is. And of course what we're all trying to do is to reduce the length of the gap and to get closer and closer to the common ancestor. Tim White who's been working in Ethiopia has got [etwa drei Worte unverständlich] 4.4 million. So the gap is closing. But again, you know when you get closer to the common ancestor [etwa drei Worte unverständlich] they look even more and more like an chimpanzees and it's going more and more difficult to say is this the common ancestor of chimps or is this the common ancestor of humans or is it both. [Etwa drei Worte unverständlich] the way you are. But I should imagine probably that this is too a gap of about a million years. I think probably the split occured about five million years or just over five million years, something around then. But we don't know yet. Of course that's the key question now we're all trying to answer.

Es gibt im menschlichen Stammbaum noch viele Lücken, vieles ist noch unklar. Sind die fehlenden Glieder vielleicht im übrigen Afrika zu finden?

Audiofassung des Interviewausschnitts als MP3 [671 kB]
ML : That of course is possible. And I think recently there was a find made in Chad, in North Africa. And I think it's time [?] to remind that we have so many fossils from East Africa. Of course our ancestors were all over Africa. Because there are no good fossil sites, because we have many because of the Rift Valley and because there are many fossil sites in the Rift Valley I think we must not forget that our ancestors were all over Africa and it could just as well be that this actual splitting event occurred in North Africa or South Africa, West Africa. We just don't know. We have the best record from East Africa. So one tends to think that's where it all happened. But it's not necessarily true.

Ich sprach mit Meave Leakey, Paläoanthropologin am Nationalmuseum in Nairobi in Kenia.

 

Weiße degenerierte Hautfarbe

Friedemann Schrenk ist der Leiter der Geologisch–Paläontologischen und Mineralogischen Abteilung des Hessischen Landesmuseums [2]. Unter seiner Leitung entstand die heute eröffnete Ausstellung über die Frühzeit des Menschen. Ich hatte gestern Gelegenheit, ihm hierzu einige Fragen zu stellen.

WK : Worin sehen Sie die Bedeutung dieser Ausstellung?
FS : Wir haben zum ersten Mal versucht, alle Vormenschen, Urmenschen und Frühmenschen zu rekonstruieren, das heißt: allen unseren Vorfahren ein Gesicht zu geben. Und das alles aus einer Hand, und das gibt es sonst nirgends.
WK : Das Besondere ist die Rekonstruktion. Wie sind Sie darauf gekommen?
FS : Es gibt ja jede Menge fossile Knochen, Fragmente, halbe Zähne, Viertelsfinger. Es hängt kein Schilder daran. Die Knochen sprechen nicht zu uns. Wir müssen sie interpretieren. Und natürlich können wir auch ein Schild hinhängen und sagen, das ist Australopithecus anamensis. Aber wir dachten, in einem Museum ist es vielleicht auch einmal möglich, einfach etwas zu rekonstruieren und ein Bild von dem zu entwickeln, was da war, ohne daß wir allerdings nun sagen, das war so, denn das können wir nicht.
WK : Sie transportieren damit ein Weltbild. Was ist das für ein Weltbild?
FS : Jede Rekonstruktion transportiert ein Weltbild, so auch unsere, ganz klar. Das ist das Weltbild der Paläoanthropologie 1998, und das heißt: unser Ursprung war in Afrika, die Wiege der Menschheit stand in Afrika, und zwar nicht nur einmal, also nicht nur die Vormenschen stammen aus Afrika, auch nicht nur die Urmenschen und die Frühmenschen, sondern auch der moderne Mensch. Das heißt, unser Weltbild, und das sieht man auch der Ausstellung an, ist: Wir sind alle Afrikaner.
WK : Und wir sind eigentlich alle schwarz gewesen?
FS : Bis vor kurzer Zeit waren wir alle dunkelhäutig. Also, die weiße Hautfarbe ist eine Degenerationserscheinung, die noch nicht so besonders alt ist, vielleicht hunderttausend Jahre. Aber ansonsten, und das habe ich auch schon gesehen: Leute, die in diese Ausstellung gekommen sind, waren förmlich geschockt. Ansonsten waren wir alle schwarz.

Buchcover Schrenk FrühzeitSchrenk sagte vorhin, er rekonstruiere Arten aus halben Zähnen und viertel Fingern. Wenn nun ein Forscher in zwei Millionen Jahren die heutigen Menschen untersuchen würde, würde er angesichts der vielen Varianten nicht auch darauf kommen, es hätten mehrere Arten nebeneinander gelebt, obwohl dies nun wirklich nicht der Fall ist? Ist das nicht auch ein Problem für die Paläoanthropologie?

FS : Es ist so: Je weniger Funde man hat, desto leichter ist es, damit umzugehen. Weil, dann braucht man nicht die Übergänge zu rekonstruieren. Je mehr Funde man hat, desto komplizierter wird das Bild, weil man dann nicht mehr weiß, sind diese Variabilitäten, die auftreten, sind das nun Variabilitäten innerhalb von einer Art oder sind das Variabilitäten, die nun sozusagen verschiedene Arten bedeuten. Da gibt es jede Menge Fallen, die da aufgestellt sind entlang des Weges. Ich gebe gerne zu, daß eine solche Ausstellung nicht möglich ist, ohne in diese Fallen ab und zu reinzulaufen. Aber das Besondere ist eben auch an dieser Ausstellung: wir erheben auch gar keinen Anspruch, in diese Fallen nicht hineinzugehen, sondern wir sagen ja, wo die Fallen sind. Und jeder kann sich dazu sein eigenes Bild machen.
WK : Die Wiege der Menschheit in Afrika, wahrscheinlich Ostafrika? Oder liegt das nur daran, daß man in Westen Afrikas, im Norden Afrikas noch nichts gefunden hat?
FS : Also, die Wiege der Menschheit war ganz Afrika. Die Fundhäufigkeit ist allerdings klar in Ostafrika konzentriert, im ostafrikanischen Graben, und zwar deswegen, weil dort die Erhaltungsbedingung für die Fossilien besonders gut ist. In der Paläontologie gibt es einen Grundsatz, der heißt: Wenn man keine Fossilien findet, bedeutet das nicht, daß dort keine Lebewesen gelebt haben, sondern es bedeutet nur, daß man keine Fossilien gefunden hat. Und man sollte da auch sehr vorsichtig sein, weil, es ist klar, daß es theoretisch möglich ist, daß auch aus Asien zum Beispiel Funde auftauchen, die älter sind als die in Afrika, und dann ist die Wiege der Menschheit irgendwo anders. Nur – mit jedem neuen Fund aus Afrika, und es gibt ja immer wieder neue, jeder neue Fund aus Afrika zeigt uns, daß die Wahrscheinlichkeit zunimmt, daß die Wiege der Menschheit tatsächlich in Afrika gewesen ist.
WK : Läßt sich irgendetwas über das Sozialverhalten der Früh–, Vor–, Urmenschen sagen?
FS : Sozialverhalten, fossilisiert nicht. Aber es gibt Fundumstände, aus denen man zum Beispiel Sozialverhalten rekonstruieren kann. Zum Beispiel, wenn man eine Stelle findet, wo Steine im Kreis liegen, also zwei Meter Durchmesser, und einige Steine davon wurden als Werkzeuge benutzt. Es liegen auch noch die Knochen dieser Tiere dabei, die da zerlegt wurden. Dann kann man davon ausgehen, daß die Nahrungsteilung entwickelt war. Und das setzt schlagartig ein vor knapp über zwei Millionen Jahren. Das heißt: vorher haben diese Vormenschen alle für sich alleine selber die Nahrung gesammelt; und dann hat sich auch das Sozialverhalten soweit entwickelt, daß die Nahrung an einen gemeinsamen Ort gebracht wurde und dort zerteilt wurde. Nahrungsteilung, übrigens ein Verhalten, was ja bis zum heutigen Tag, wenn man mit Freunden Essen geht, eine sehr große soziale Bedeutung hat.
Den einzigen Menschentypus, den wir nicht rekonstruiert haben, das ist der Homo sapiens, der moderne Mensch. Aber wir haben in der Ausstellung Spiegel angebracht an der Stelle, wo dieser Homo sapiens hingehört, und zwar einfach deswegen um klarzumachen – und das sieht ja jeder Besucher, ist ja ein Homo sapiens, der da reinschaut – um klarzumachen, wie, also nicht direkt beliebig, aber wie groß der Ermessensspielraum dieser Rekonstruktionen ist. Weil erstens stellt man sich, wenn man sich in dem Spiegel sieht, auch in die Reihe der Ahnen hinein, und zweitens sieht man, daß nun jeder, der da reinschaut, eben verschieden ist. Das relativiert, glaube ich, auch diese suggestiven Rekonstruktionen, die wir da zeigen.
WK : Nochmal etwas anderes zum Sozialverhalten. Es wird ja irgendwie, das ist sehr beliebt, Familie, wie wir uns das vorstellen, weit in die Vergangenheit zurück verfolgt, angeblich. Läßt sich irgendetwas in den Funden in der Hinsicht sagen?
FS : Nein, also das Familienbild, was wir heute haben und das, was bei uns in der Verfassung verankert ist, das hat also mit biologischen Dingen überhaupt nichts zu tun. Ich habe keine Ahnung, wo das herkommt, aber natürlich kann das nicht sein. Es gibt auch überhaupt keine Hinweise darauf, daß das irgendwie sich entwickelt hat. Ich nehme eher an, das wurde irgendwann einmal verordnet, wahrscheinlich zur Stützung des Staates oder sonstwas. Also, auf jeden Fall ist das nicht etwas, was wir aus Fossilien ablesen können.
WK : Also in der Hinsicht läßt sich gar nichts sagen?
Nein, wir können nur ablesen, daß es Verbände waren, Gruppen von vielleicht zwanzig, fünfundzwanzig Individuen, die nun auch eine gewisse Rangordnung vielleicht hatten und wo auch eine Fürsorge da war für die Kinder. Das ist ja natürlich ein wesentliches Merkmal, weil das Wachstum des Gehirns ja nun bei den Kindern hauptsächlich erst beginnt nach der Geburt. Das heißt, das alles ist nur möglich, wenn eine soziale Fürsorge da ist. Also, daß das nun innerhalb von Familien in unserem Sinne gewesen ist, davon ist überhaupt nichts zu sehen.
WK : Zum menschlichen Gehirn: Wenn ich mir diese Affengehirne oder diese Vormenschengehirne ansehe, die ja nun doch kleiner sind: Wie sind wir dazu gekommen, was wir heute sind?
FS : Der erste Schrutt der Menschwerdung war eindeutig nicht das Gehirn, sondern der erste Schritt war der aufrechte Gang. Und erst viel später, nämlich der aufrechte Gang war vor ungefähr fünf Millionen Jahren, erst viel später, vor ungefähr zwei Millionen Jahren, hat dann das Gehirn begonnen, sich zu entwickeln und zu vergrößern. Das Ganze ist aber auch nur ein Faktor neben Werkzeugkultur, neben Sprache, neben Sozialverhalten. Was dann letztendlich erst in der Gesamtheit und in der gegenseitigen Beeinflussung dieser Faktoren dann zu dem geführt hat, was wir nun eben heute sind. Eine Grenze festzumachen oder einen einzigen Grund anzugeben, wo das passiert ist, ist meiner Meinung nach weder möglich noch sinnvoll.
WK : Gehirnvolumen ist kein Maßstab für Intelligenz?
FS : Gehirnvolumen ist wichtig, weil natürlich da auch bestimmte Funktionen dann erst ermöglicht werden, wenn bestimmte Gehirnbereiche da sind. Aber wir wissen aus der modernen Hirnforschung, daß es nicht so sehr auf das Volumen ankommt, es kommt mehr auf die Verknüpfung der Neuronen an, also auf die Funktion. Es ist klar, daß die Größe des Gehirns zunimmt im Laufe der Entwicklung. Aber komischerweise ist es nicht so sehr das Großhirn, mit dem wir denken, was an Grö,ße zunimmt, sondern es ist mehr das Kleinhirn, sozusagen der Bordcomputer des Menschen. Das sieht man auch ganz klar an den Fossilien, weil nämlich im Laufe der Zeit die Schädelbasis nach hinten abknickt, das heißt, das Kleinhirn vergrößert sich, nicht so sehr das Großhirn.
WK : Wie ist das evolutionär zu erklären?
FS : Das Kleinhirn steuert die Bewegung des Körpers, steuert also zum Beispiel die Finger, die manuellen Geschichten, das heißt also, alles was mit Manipulation zu tun hat. Das ist ja nun auch etwas sehr wichtiges in der Menschwerdung, auch die Werkzeugbenutzung, die Werkzeugherstellung läuft letztlich über Kleinhirnfunktionen. Und das ist ein Zusammenhang, an dem man zumindest funktionell zeigen kann, warum das Kleinhirn entsprechend zugenommen hat. Und es ist auch eine Rückkopplung dabei. Das geht immer in Rückkopplungsschritten, wie fast alle Evolutionsschritte immer wieder Rückkopplungsschritte sind.
 

Kurzbesprechung von : Friedemann Schrenk – Die Frühzeit des Menschen, Verlag C.H. Beck, 2. Auflage 1998, DM 14,80

Zum Nachlesen und als wirklich gute Übersicht über die Frühzeit des Menschen hat Friedemann Schrenk das gleichnamige Buch verfaßt. Er beschreibt darin sowohl die Forschungsgeschichte der Paläoanthropologie wie auch – und das äußerst kenntnisreich – die Evolution des heutigen Menschen aus einem noch unbekannten Zwischenglied zwischen den Vorläufern der heutigen Menschenaffen und denen der heutigen Menschen. Er verschweigt dabei nicht die Schwierigkeiten, die sich aus der sehr begrenzten und wahrscheinlich äußerst unvollständigen Fundsituation ergeben, so wie er es auch im Interview ausgedrückt hat. Sein neubearbeitetes und aktuelles Buch ist bei einem Preis von 14 Mark 80 wirklich zu empfehlen.

 

Ausstellungseröffnung

Zusammenfassung : In der darauf folgenden Sendestunde wurde die Eröffnungsveranstaltung zur Hominiden–Ausstellung mit ihren aufgezeichneten Reden ausgestrahlt. Zunächst begrüßte die Leiterin des Hessischen Landesmuseums Ina Busch die anwesenden Gäste und führte in die Besonderheiten neu gestalteten Geologisch–Paläontologischen & Mineralogischen Abteilung und der zugehörigen Ausstellung Die Frühzeit des Menschen ein. Alsdann sprach Martin Meister von der GEO–Redaktion über den Beitrag seiner Zeitschrift zur Ausstellung der Hominidenköpfe. Ihm folgte Friedemann Schrenk mit seiner Eröffnungsrede, in der er nicht nur vielen am Umbau und der Ausstellung direkt oder indirekt Beteiligten dankte, sondern auch einen kurzen Einblick in das gab, was die Besucherinnen und Besucher der Ausstellungsräume zu erwarten haben. Die Attraktion des Abends war die Gastrednerin Meave Leakey, die ein wenig an ihrem Leben und ihrer Grabungstätigkeit teilhaben ließ. Die Sendung wurde meinerseits mit einigen Dankworten an meine Interviewpartner und Interviewpartnerinnen beendet.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Meave Leakey hat dermaßen schnell gesprochen, daß es mir unmöglich war, in jeder Lautfolge einen inhaltlichen Sinn zu erkennen. Deshalb die [?] und die als unverständlich bezeichneten Passagen. Womöglich geht es Migrantinnen und Migranten nicht viel anders, wenn sie meinen Redeschwall versuchen in verständliche Sinneinheiten umzusetzen.

[2]   Beziehungsweise: er war es 1998.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 23. Dezember 2006 aktualisiert.

Links auf andere Websites bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur.

©  Walter Kuhl 1998, 2001, 2006
Das Pressefoto mit den sechs rekonstruierten Frühmenschenköpfen: © Rekonstruktion: Wild Life Art, © Foto: Sina Althöfer.

Die Wiedergabe des Textes, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

 
Startseite
Zum Seitenanfang
WaltpolitikbuttonEmail an Walter Kuhl

 

 Vorherige Sendung     Nachfolgende Sendung