Kapital – Verbrechen

Probleme mit der Gewalt

 

SENDEMANUSKRIPT

In der Sendung vom 27. November 2006 sprach ich über Probleme, die man und frau mit Gewalt haben kann, und darüber, wo sie herkommt.

 

 

Sendung :

Kapital – Verbrechen

Probleme mit der Gewalt

 

Redaktion und Moderation :

Walter Kuhl

 

gesendet auf :

Radio Darmstadt

 

Redaktion :

Alltag und Geschichte

 

gesendet am :

Montag, 27. November 2006, 17.00–18.00 Uhr

 

wiederholt am :

Aus technischen Gründen entfielen die geplanten Wiederholungen.

 
 

Besprochen und benutzt :

  • Mittelweg 36, Heft 5/2006
  • Germinal Civikov : Der Milošević–Prozess, Promedia Verlag

 
 

URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/kv/kv_proge.htm

 

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung

Kapitel 2 : Einflußnahme

Kapitel 3 : Gewaltpotential

Kapitel 4 : Kulturschock

Kapitel 5 : Täter und Verfolger

Kapitel 6 : Schluß

Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

Eine Gesellschaft, die sich als eine zivilisierte dünkt, hat ganz besondere Probleme mit der Gewalt. Da schießt im Münsterland ein Schüler um sich, und schon wird der Ruf laut, die gerade zur Weihnachtszeit als Geschenk besonders beliebten Killervideos und –spiele zu verbieten. Denn es ist ja wohl so: man und frau verbannt ein Problem, in dem sie die visuelle Darstellung dessen, was ansonsten in der großen weiten Welt als wenig anstößig gilt, aus den Kinderzimmern verbannen wollen. Und ansonsten darf weiter getötet und gefoltert werden, aber bitte nur so, daß es nicht so offensichtlich auffällt.

Hierbei fällt die ganz alltägliche Gewalt unter den Tisch, mit der wir dann konfrontiert sind, wenn es um die Durchsetzung von Macht– und Profitinteressen geht. Selbst im kleinsten Rahmen, im angeblich geschützten Raum, in Betrieben und Schulen, in Familien und Vereinen, begegnen wir diesem Phänomen. Zwar fehlen die zugehörigen Videospiele, aber auch diese Gewalt ist real. Meist sind es die Biedermänner und Biederfrauen dieser Republik, vor allem diejenigen, die den Opferstatus für sich reklamieren, die diese besonders subtile Form der Gewalt ausüben, indem sie geltende Regeln und Gesetze einfach außer Kraft setzen, indem sie Kündigungsgründe erfinden oder sich zur Durchsetzung ihrer Interessen ihrer Denunziantinnen und Claqueure bedienen.

Doch von diesen freundlichen Männern und Frauen soll an anderer Stelle die Rede sein. Heute möchte ich aus der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Mittelweg 36 einen Aufsatz von Jan Philipp Reemtsma zum Anlaß nehmen, über das Phänomen der Gewalt in der angeblich zivilisierten Moderne nachzudenken. Dabei kommt es mir gar nicht darauf an, gegen den Autor zu polemisieren. Eher möchte ich in der kommenden Stunde versuchen herauszuarbeiten, was es denn mit der Gewalt in der modernen Welt auf sich hat, woher sie kommt, wie sie entsteht und weshalb sie zu unserem Alltag im Kleinen und zum ganz selbstverständlichen mörderischen Alltag in anderen Teilen dieser Erde gehört.

Für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt ist am Mikrofon Walter Kuhl.

 

Einflußnahme

Besprechung von : Mittelweg 36, Heft 5, Oktober/November 2006, 102 Seiten, € 9,50

I.

Einflußnahme auf gesellschaftliche Diskurse zu nehmen, ist ein Anliegen der Zeitschrift Mittelweg 36 des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Allein schon die Aufmachung und der diskursive Stil seiner Ausführungen verweisen darauf, daß mit dieser Zeitschrift die Intellektuellen dieser Republik erreicht werden sollen. Daraus ist nun keineswegs eine elitäre Einstellung zu folgern. Wenn wir den Begriff des oder der Intellektuellen einmal sehr weit fassen und damit also alle diejenigen meinen, die sich mittels ihres Intellekts mit gesellschaftlichen Zuständen auseinandersetzen, dann ist der potentielle Leserinnen– und Leserkreis gewiß nicht klein zu nennen.

Cover Mittelweg 36Andererseits erfordert die Lektüre dieser Zeitschrift ein gewisses Maß an gedanklicher Anstrengung, eine Anstrengung, die nicht nur Zeit und Muße erfordert, sondern auch den Willen, sich überhaupt mit gesellschaftlichen Anliegen zu befassen. Doch auch hier sind mehrere Handlungsperspektiven denkbar. Das Erkennen der Welt kann funktional erfolgen, nämlich mit der Fragestellung, wie kann ich Defizite frühzeitig wahrnehmen, die mein eigenes Eingerichtetsein in diese Welt behindern oder stören.

Sie kann aber auch so erfolgen, daß die Erkenntnis eine Diskrepanz, womöglich gar einen Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit feststellt, mit der Zielsetzung, diesem Widerspruch abzuhelfen. Entweder wird man und frau dann die Ansprüche der Wirklichkeit anpassen oder versuchen, die Wirklichkeit zu einem ideal bestimmten Besseren zu verändern.

Es gibt jedoch noch eine dritte Möglichkeit. Diese Möglichkeit liegt, so denke ich, jedoch außerhalb der Zielsetzung der Zeitschrift und des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Die dritte Möglichkeit, aus dem Zustand dieser Welt bestimmte Schlüsse zu ziehen, besagt, daß diese Welt so grotesk ist, daß sie unbedingt durch eine andere, bessere, menschlichere abgelöst werden sollte.

Die hiermit verbundene utopische Vision des Anderen ist selbstredend wirklichkeitsfremd. Aber im Laufe der Geschichte wurde diese Utopie – wenn auch in unterschiedlichen Varianten – immer wieder neu gedacht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde zudem der bislang einzig ernsthafte Versuch unternommen, aus der Utopie eine Wirklichkeit zu formen. Dieser Versuch ist kläglich gescheitert. Die Frage, die hiermit verbunden ist, lautet jedoch: lag dies an der Utopie oder an den gesellschaftspolitischen Realitäten zu Beginn des letzten Jahrhunderts?

Nun – diese Frage beantwortet uns die Zeitschrift Mittelweg 36 nicht. Das mir vorliegende aktuelle Heft für die Monate Oktober und November thematisiert ganz andere Fragen; Fragen jedoch, die uns bei der Suche nach Sinn und Utopie durchaus weiter helfen können. Manchmal ist es dann jedoch vonnöten, diese Fragestellungen gegen den Strich zu lesen. Worum geht es also im aktuellen Heft?

Jan Philipp Reemtsma, der Leiter des Instituts, betrachtet in seinem einleitenden Aufsatz Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie. Ich werde auf diesen Aufsatz gleich näher eingehen. Der Soziologe Heinz Bude beleuchtet einige Motive des Subsidiaritätsgedankens. Der englische Historiker Perry Anderson geht in der Literaturbeilage der Zeitschrift auf einen Essay zur Körperpolitik der Zukunft ein. Der US–amerikanische Literaturwissenschaftler und Philosoph Richard Rorty macht sich so seine Gedanken über das Verhältnis von Demokratie und Philosophie. Der französische Philosoph Étienne Balibar untersucht Ursprung und Gebrauch des Begriffs »Monotheismus«. Und der Historiker Tom Segev gibt Antworten auf Israels säkularen Mythos.

So disparat die Themen des aktuellen Hefts zusammengestellt zu sein scheinen, sind sie jedoch nicht. Denn in allen Aufsätzen dreht es sich letztlich um die Frage, welche Aussichten die neoliberal globalisierte Welt zu Beginn des 21. Jahrhunderts eröffnet.

Und in diesem Zusammenhang ist die von Tom Segev thematisierte Krise des Zionismus genauso von Interesse wie der Versuch des deutschen Kapitals, die Menschen für mehr Eigenverantwortung in einer immer entfremdeteren Welt zu gewinnen. Und es steht im Raum die Frage der Gewalt. Verhältnisse, in denen sich Gesellschaftlichkeit auflöst, und um nichts anderes handelt es sich beim Neoliberalismus, derartige Verhältnisse sind nicht nur disparat, sie machen die Menschen auch disparat. Was geschieht, wenn die gesellschaftliche Klammer nicht mehr greift? Oder anders gefragt: gibt es eine Natur des Menschen, die ohne gesellschaftliche Klammer fürchterlich wirkt?

Und damit komme ich auf den Aufsatz von Jan Philipp Reemtsma über Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie zurück. Der in der Zeitschrift Mittelweg 36 abgedruckte Aufsatz ist Grundlage eines Vortrags gewesen, mit dem der Autor am 9. Oktober den 33. Deutschen Soziologentag in Kassel eröffnet hat. Nun ist es im Rahmen einer Sendung wie dieser nicht möglich, den Aufsatz in seiner Gesamtheit zu referieren. Angemessen wäre hier vielleicht ein Interview, womöglich ein Streitgespräch mit dem Autor selbst. Ich werde daher den Text versuchen zusammenzufassen und anschließend einige Gedanken darlegen, die darüber hinausweisen. Ich bevorzuge nämlich immer die dritte von mir schon angesprochene Möglichkeit, nämlich herauszufinden, wie eine Gesellschaft wie diese funktioniert, um sie abzuschaffen. Etwas Besseres als diese Welt gibt es nämlich allemal. Doch was ist diese Welt? Was hält sie zusammen? Und wer definiert die Werte von Gut und Böse? Gibt es das überhaupt?

 

Gewaltpotential

II.

Wenn Jan Philipp Reemtsma über Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie referiert, dann handelt es sich für ihn nicht einfach um ein modisches Thema. Zu den Forschungsvorhaben des Hamburger Instituts für Sozialforschung gehört seit jeher die Auseinandersetzung mit Phänomen der Gewalt und ihren Ursachen. Die Ausstellung zu den Verbrechen der Wehrmacht in den 90er Jahren ist hier nur ein Kristallisationspunkt.

Wenn sich eine Sozialwissenschaft mit dem Phänomen der Gewalt auseinandersetzt, dann ist eine genaue Betrachtung der Fragestellung wie der Methode wichtig. Denn was bedeutet der Begriff Gewalt? Dieser Begriff ist gar nicht so klar, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Worüber reden wir eigentlich? Über Gewalt auf dem Schlachtfeld, über Morde und Ehrenmorde? Über strukturelle Gewalt? Über die Ausbeutungsbedingungen in den maquiladores der Dritten Welt?

Nun – eine universitäre Wissenschaft beschäftigt sich mit einem solchen Phänomen im Rahmen der eigenen Möglichkeiten. Sie sucht Begriffe, versucht sich an Kategorien und Theorien, bastelt Modelle und findet vielleicht diese Modelle begründende Statistiken. Aber bildet sie hiermit die Wirklichkeit ab? Und vor allem, wessen Wirklichkeit?

Immerhin erstaunlich ist, daß die soziologische Forschung Ende der 90er Jahre zu der Bemerkung Anlaß gab, sie nähere sich einer Soziologie der Gewalt. Es scheint so, als würden sich verschiedene soziologische Richtungen dem Phänomen der Gewalt phänomenologisch annähern, und das mit ihren unterschiedlichen theoretischen Baukästen.

Vielleicht liegt das zugrunde liegende Problem aller Beschäftigung mit der Gewalt darin, daß die Moderne angetreten war, diese Gewalt einzugrenzen. Nun können wir lange über den modischen Begriff der Moderne räsonieren. Die Moderne grenzt ab – aber in Bezug auf was? Denn die Erkenntnis schleicht sich ein, daß die eigentlich gewaltbegrenzende Moderne gleichzeitig ihre gewaltentgrenzenden Exzesse mit sich herum trägt. Die kolonialen Völkermorde gehen über zu den Schlachtfeldern des 19. und 20. Jahrhunderts, vom Vernichtungskrieg der Nazis und ihrer Wehrmacht einmal ganz zu schweigen. Gewalt ist also Kennzeichen der Moderne und das macht denjenigen, die in der Moderne einen Zivilisationsfortschritt sehen wollen, Kopfzerbrechen.

Jan Philipp Reemtsma schickt diesbezüglich seinen eigenen Gedankengängen voraus,

daß diese sogenannte Moderne tatsächlich ein anderes Verhältnis zur Gewalt entwickelt hat als vergleichbare kulturelle Formationen. [1]

Vor Thomas Hobbes habe kein Denker in der Gewalt das Problem schlechthin gesehen. William Shakespeare läßt seine Protagonisten am eigenen Morden seelisch zugrunde gehen, was als Motiv neu ist. Weiterhin konstatiert Reemtsma einen Rückgang grausamer Hinrichtungsformen nach dem Dreißigjährigen Krieg und das Bemühen um Zivilität in der Kriegsführung.

Als Beispiel führt er an, so geschildert von Goethe, daß französische Offiziere darauf verzichtet hätten, Landkarten an die Wand zu pinnen, weil die Tapeten derjenigen, bei denen sie einquartiert waren, darunter gelitten hätten. Nun stellt sich hier allerdings schon die Frage, ob die guten Sitten des frühen Bürgertums auch für den Rest der Bevölkerung gegolten haben, also ob die gemeinen Soldaten und Söldner genauso feine Sitten an den Tag gelegt haben. Das ist doch zu bezweifeln.

Aber immerhin – mit der Durchsetzung der bürgerlichen Gesellschaft entstehen zwei wichtige Normen: das Gewaltmonopol und der Rechtsstaat. Oder in den Worten Jan Philipp Reemtsmas: Das Vertrauen, mit dem wir der Ordnung der Moderne begegnen, beruht auf der Kontrolle der Gewaltabstinenz untereinander, auf gewaltfreier Interaktion als gesellschaftlicher Norm und darauf, daß diese imaginierte Eingrenzung der Gewalt sich auch in den Köpfen festsetzt. Allerdings, so sagt er dann: dieses Vertrauen wird andauernd strapaziert.

Die Moderne hält nämlich unzählige Beispiele bereit, in denen Gewalt katastrophal erlebt und ausgelebt wurde. Sind diese Katastrophen Ausnahmen einer Regel? Oder gehören diese Ausnahmen gewissermaßen als Exklaven zur Regel? So zumindest wird in der Regel argumentiert: die jetzige Gewalt sei notwendig, um größerer Gewalt, die es sondt gebe, vorzubeugen.

Jan Philipp Reemtsma faßt diese Legitimationsstrategien mit drei Begriffen zusammen: Die Temporalisierung von Gewalt, also der Zeitrahmen, in dem die angewendete Gewalt eben noch nötig sei. Manchmal seien wir aber auch geneigt, derartige Gewalt als einen Rückfall in längst vergangene Zeiten zu begreifen. Neben der zeitlichen gibt es auch die räumliche Ausgrenzung, nämlich wo auf einem begrenzten Raum Gewalt noch nötig sei:

Auf diese Weise werden der Verteidigungskrieg, die Bestrafung des Verbrechens, das In–Schach–Halten der Unzivilisierten oder die humanitäre Intervention gerechtfertigt. [2]

Ein drittes Legitimationsmuster sei die Verrätselung. Die ausgeübte Gewalt sei Resultat eines Defekts, eine Abweichung von der Norm. Nun hat dieses pathologisierende Deutungsmuster klar erkennbare Grenzen, denn wir wissen nicht nur aus dem Vernichtungskrieg der Wehrmacht, daß ganz normale Menschen, hier: ganz normale Deutsche, also: brave Familienväter und gewiß keine pathologischen Mörder, zu Massenmord und in jeder Hinsicht entgrenzter Gewalt fähig waren (und sind). Man und frau rätselt also darüber, was diese Menschen dazu getrieben hat. Und da die Verleugnungsstrategie nicht aufgeht, greift man und frau zu dem, was Reemtsma die sekundäre Verrätselung nennt:

Anstatt sich darüber zu wundern, wie jemand derart verrückt sein kann, »so was« zu tun, wundert man sich darüber, daß ein Nicht–Verrückter »so was« getan hat und tun kann. [3]

Diese Strategien, also die zeitliche oder räumliche Ausnahmelogik oder auch die primäre und sekundäre Verrätselung

wenden wir an, um über Enttäuschungen hinwegzukommen, die uns die Moderne hinsichtlich ihres Versprechens, gewaltarm und auf dem besten Weg in eine noch gewaltärmere Zukunft zu sein, dauernd zumutet. [4]

Das Problem der Soziologie mit der Gewalt könnte mit einer derart uneingestandenen Enttäuschung zu tun haben. Und deshalb liegt es durchaus nahe, wenn die Soziologie die Gewalt als eine Abweichung von der Norm zu fassen sucht. Die Gewalt liegt demnach am Rand der Gesellschaft, wobei offen bleiben kann, wie breit denn dieser Rand ist. Und deshalb fragt Jan Philipp Reemtsma nach:

Liegt hier vielleicht eine Hemmung vor, das Selbstbild der Moderne bei aller kritischen Befragung einfach als Illusion hinter sich zu lassen? Und wäre ein solcher Schritt überhaupt wünschbar? Vollzöge er nicht gerade das, was die Rhetorik des Ausstiegs aus der Moderne suggeriert hatte? [5]

Oder anders gesagt: Wenn die Moderne nicht das hält, was sie verspricht, ist das ein Grund dafür, sich selbst von der Moderne zu verabschieden und mitzumachen im Reigen derer, für die Gewalt ein geeignetes Mittel zur Durchsetzung eigener Ziele ist?

Wir reden hier jedoch, und das wäre hinzuzufügen, über eine Gewalt, die nicht näher definiert ist. Eine Soziologie der Gewalt müßte jedoch erst einmal den phänomenologischen Raum verlassen und das Thema begrifflich zu fassen suchen. Was ist Gewalt und wer definiert, was Gewalt eigentlich ist? Bei Jan Philipp Reemtsma grenzt sich das Thema immer wieder auf eine Extremform der Gewalt ein, das Töten (oder das Androhen des Tötens) von Menschen. Aber ist das alles, was es dazu zu sagen gäbe? Was sagt der Autor selbst dazu?

Ich möchte drei Formen – gewissermaßen drei Grundformen – der Gewalt unterscheiden, und zwar hinsichtlich ihres unterschiedlichen Körperbezugs. [6]

Und zwar: erstens das Aus–dem–Weg–Schaffen eines Körpers, weil er im Weg ist. Zweitens das An–Sich–Reißen eines Körpers, um etwas mit ihm anzustellen. Und drittens das Zerstören eines Körpers, das genau dieses Ziel der (demonstrativen) Zerstörung hat. Lassen wir einmal die Frage beiseite, ob das Thema damit zu fassen ist. Was bedeutet diese letztere, die – wie er sie nennt – autotelische Gewalt?

Es sei ein Mißverständnis anzunehmen, daß Gewalt stets einen instrumentellen Charakter besitze. Es helfe auch nicht weiter, die Gewalt, der ganz offensichtlich die instrumentelle Zielsetzung fehle, als pervers und damit nicht normgerecht zu bezeichnen. Was aber, wenn die demonstrative Zerstörung eines Körpers im Vordergrund steht, ja, das eigentliche Ziel ausmacht? Und liegt uns eine derartige Gewalt so fern? Damit, so Jan Philipp Reemtsma,

will ich nicht gesagt haben, daß sich Jedermann und Jedefrau pausenlos nach derartigen Schauspielen sehnt. So wie Gewaltsamkeit (welcher Art auch immer) ebenso zu unseren menschlichen Fähigkeiten gehört wie Gewaltabstinenz, gehört der Genuß autotelischer Gewalt ebenso zu unseren Fähigkeiten wie der Abscheu davor. [7]

Und das ist gewiß keine genetisch vererbte Eigenschaft, sondern eine kulturelle. Insofern ließe sich darüber spekulieren, ob Gewalt nicht ohnehin zu jeder Kultur gehört, womit auch gesagt ist, daß diese Gewalt in jeder Extremform potentiell immer zum Tragen kommen kann. Nicht etwa, weil wir Menschen sind, sondern weil wir Menschen inmitten einer ganz bestimmten materiellen Kultur sind, die ohne Gewalt nicht auskommt.

Dennoch gehört die Gewalthemmung zu den für erstrebenswert gehaltenen kulturellen oder auch zivilisatorischen Normen. Aber auch hier bleibt die Frage: was ist Gewalt? Vielleicht ist es eher so, daß Gewalthemmung sich auf eine bestimmte Form der Gewalt bezieht. Und doch:

Menschen haben, genauer: viele Menschen haben eine Hemmung, am nicht dafür vorgesehenen Ort gewalttätig zu sein. [8]

Jan Philipp Reemtsma geht weiter und hält die Vorstellung, um Menschen zu Opfern von Gewalt zu machen, müsse man, seltener frau, sie auch entmenschen, für unangemessen. Dem hält er entgegen, daß Menschen als Menschen Opfer dieser Gewalt werden, weil sie als Menschen etwas repräsentieren. Und fährt fort:

Frauen werden nicht Opfer einer Vergewaltigung, weil man sie zuvor entmenscht hat, sondern indem man sie in der Tat auf ihre körperliche Eigenschaft reduziert. Soldaten werden nicht erschossen wie Tiere, sondern als Feinde[9]

Doch dies will mir nicht so recht einleuchten. Denn es gibt durchaus die Vorstellung davon, daß es Menschen gibt, und Frauen. Frauen sind demnach bestenfalls Menschen zweiter Klasse; und auch im beginnenden 21. Jahrhundert sind wir noch weit davon entfernt, Frauen genauso zu behandeln, zu achten, zu respektieren wie Männer. Hexen werden auch im 21. Jahrhundert gesucht, gefunden und verfolgt. Auch dies gehört zur Moderne.

Und was die Soldaten betrifft: Hier wäre ein Blick auf die US–amerikanische Kriegsführung zu Ende des Golfkrieges 1990/91 hilfreich. Dort wurden irakische Soldaten sehr bewußt und gewollt wie Tiere gejagt, getötet und verscharrt.

Und doch mag es stimmen, daß sich in dieser Gewalt das Ressentiment des radikalisierten Verlierers austobt. [10]

Wie auch immer – Jan Philipp Reemtsma kommt noch einmal auf das enttäuschte Selbstbild des Menschen in der Moderne zurück, der sich auf dem Weg in eine immer gewaltärmere Zukunft wähnt. Aber ist das so? Ist das nicht eine Autosuggestion? Und – wie halten wir es denn selbst mit der Gewalt? Suchen wir die konfliktvermeidende Lösung von Gegensätzen? Ist das in einer kapitalistischen, auf Konkurrenz beruhenden Gesellschaft nicht eine Illusion? Eine Illusion, die bei radikaler Gesellschaftskritik eigentlich sofort ins Auge springen müßte? Ja, das müßte sie.

Aber dann müßten die Intellektuellen nicht nur dieser Republik beginnen, die gesellschaftlichen Widersprüche zu benennen und sagen, daß es so nicht weitergehen kann. Die Auflösung einer Illusion führt nicht in die Beliebigkeit, sondern in die Konsequenz. Und daran scheint es zu mangeln. Es gibt genügend Handlungsspielräume, die es erlauben, eine Illusion zu pflegen und sie gleichzeitig (wenn auch nur gedanklich, und das auch nicht ernsthaft) in Frage zu stellen.

Und weiter gefragt: liegt hier womöglich eine tertiäre Verrätselung vor? Nur zur Erinnerung: Die primäre Verrätselung fragte danach, wie jemand so verrückt sein kann, anormal gewalttätig zu sein. Die sekundäre Verrätselung fragte danach, wie ganz normale Menschen »so etwas« tun können. Aber wie soll man und frau das nennen, wenn Intellektuelle über diese Rätsel rätseln und nicht benennen wollen, wo das Problem eigentlich zu suchen und demnach Antworten auch zu finden sein müßten? Ich nenne es einmal tertiäre Verrätselung, wohl wissend, daß ich Reemtsmas Gedankengang grundlegend verändere. Aber ich denke, Gewalt ist kein Rätsel, sondern Gewalt ist die Norm. Und das sollte man und frau auch so benennen und nicht um den soziologischen Brei herumreden

 

Kulturschock

III.

Jan Philipp Reemtsma redet in seinem Aufsatz Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie über Gewalt, die von ihm angesprochenen Soziologen nähern sich phänomenologisch der Gewalt, aber was ist denn eigentlich diese Gewalt?

Peter Paul Zahl dichtete hierzu in seiner Brokdorfer Kantate von 1976:

Wer von uns
wäre nicht gegen Gewalt
Die andere Seite
diskutiert nicht
über Gewalt
Sie übt sie aus
und gießt sie
in Gesetze [11]

Dieser Auszug aus einem wesentlich längeren Gedicht verrät selbst in seinem Reduktionismus das Lebensgefühl gar nicht so weniger Menschen Mitte der 70er Jahre. Denn auch fernab von seiner Dichotomie zwischen ihnen und uns verrät uns das Gedicht etwas sehr wichtiges: Gesetze werden gemacht, Gewalt kann auch rechtsförmig organisiert werden. Mehr noch: in dem Gedicht geht es gleichermaßen um die sehr konkrete Gewalt des rechtsstaatlich abgesicherten Repressionsapparates gegen den zivilen Ungehorsam der Bevölkerung rund um das Atomkraftwerk Brokdorf und um die Art und Weise, wie Gewalt in einer angeblich zunehmend gewaltärmeren Moderne sublimiert wird.

Allerdings ist das auch irgendwie banal; so banal, daß selbst die Herrschaftswissenschaft Soziologie darauf kommen müßte. Tut sie ja auch, weswegen sie sich dann mit den Phänomenen der Gewalt herumplagt, um das Grundlegende verrätseln zu können. Die Gewalt, und das ist die Lösung des Rätsels, ist der Gesellschaftlichkeit inhärent, gehört also dazu wie die Luft zum Atmen. Und doch stimmt das nicht ganz: nicht jede Gesellschaftlichkeit ist gewaltförmig, denn es gibt immer auch die Vision einer Gesellschaftlichkeit, die hierüber hinaus weist. Utopia, Kommunismus, Anarchie, um nur einige derartiger Vorstellungen zu nennen.

Wie kommt also die Gewalt zu den Menschen? Jan Philipp Reemtsma verweist auf die allerdings recht unklar zu begreifende genetische Verwandtschaft zu zwei Schimpansenarten, von denen die eine friedlich sei und keine Neigung zu autotelischer Gewalt aufweise, die andere jedoch mit List und Tücke aufwartet, um Artgenossen buchstäblich zu zerfleischen. Einmal unabhängig von der Problematik, wie wissenschaftlich derartige (evolutions– bzw. soziobiologische) Untersuchungen tatsächlich sind, und es gibt gute Gründe, daran zu zweifeln, sagt uns das nichts über unser eigenes evolutionäres Erbe.

Die Menschen stammen von irgendwelchen affenähnlicheren Vorfahren ab. Irgendwann vor zwei Millionen Jahren streiften sie nicht mehr einfach durch die Savanne oder hangelten sich auch einmal durch die Bäume, sondern fingen an, gezielt und planmäßig Werkzeuge zu nutzen. Spätestens hier setzt ein Prozeß ein, der Menschen befähigt hat, sich (bewußt) zu entscheiden, Gewalt anzuwenden oder auch nicht.

Und hier beginnt auch die Kulturgeschichte des Menschen, der sich langsam frei macht von Instinkten, Trieben und tierischen Verhaltensweisen. Es gibt derzeit kaum Anhaltspunkte dafür, wie gewalttätig das Menschsein in den zwei Millionen Jahren vor der Neolithischen Revolution gewesen ist. Aber mit Beginn dieser Revolution vor etwa zehntausend Jahren setzte eine Kulturgeschichte ein, die in die ersten Zivilisationen des Zweistromlandes, Ägyptens, Indiens und Chinas mündete – um nur die bislang als bedeutendst angesehenen zu benennen. Doch was geschah hier?

Ab wann wir mit sozialer Schichtung rechnen müssen, ist noch nicht eindeutig festzumachen. Dennoch weisen Indizien darauf, daß schon bald nach dem Beginn planvollem Ackerbaus und zugehöriger Viehzucht es zur Herausbildung von Eigentum, Reichtum und Macht gekommen ist. Eine derartige Struktur ist in der Tendenz unsolidarisch und macht die Konkurrenz zu dem oder den Anderen zum Grundprinzip. Es gibt Anzeichen für sozialen Streß in dieser Jungsteinzeit, wahrscheinlich weil die Menschen noch keine Sozialisationsinstanzen entwickelt hatten, die ihnen begreiflich machten, wie sie sich unter den veränderten Verhältnissen zu verhalten hatten.

Spätestens in dem Moment, wo einzelne Siedlungen aufeinander stießen, kam es zum Konflikt. Gewalt wurde zum Grundprinzip des Handelns. Dies kann durchaus so ausgesehen haben, daß die Gewalt externalisiert wurde. Frieden nach innen, Krieg nach außen. Jede der Friedensperioden der Jahrtausende danach fußte auf diesem Prinzip und bedurfte einer Armee zur Absicherung. Die Ausbildung zum Rekruten führte schon in der Antike in den richtigen Gebrauch entgrenzter Gewalt ein und ist bis heute Kennzeichen jeder modernen Armee. Es ist eine männliche Welt, eine männliche Kultur, eine weitestgehend männliche Gewalt. Auch deshalb gibt es Menschen und Frauen, Menschen und die Anderen.

Mit Beginn des Kapitalismus ab dem 15./16. Jahrhundert entstand etwas Neues. Das Kapital ist ein gesellschaftliches Verhältnis, das auf der Einhaltung bestimmter Regeln beruht. Die Fiktion geht vom Austausch von Äquivalenten aus, also gleicher Werteinheiten. Deshalb gibt es rechtlich einklagbare Ansprüche. Betrug, also ein Verstoß gegen diese Fiktion, wird als kriminelles Delikt betrachtet. Gewalt zur Durchsetzung derartiger Ansprüche ist nicht mehr vonnöten, sie kann also auf einen Garanten dieses gesellschaftlichen Verhältnisses abgewälzt werden. Dieser Garant ist der moderne bürgerliche Staat.

Dennoch ist die Gewalt nicht verschwunden. Schon die Geschichte der von Marx so genannten ursprünglichen Akkumulation des Kapitals zeigt, daß die kapitalistische Expansion Westeuropas ohne Kanonen, Soldaten und systematischen Massenmord nicht funktionieren konnte. Insofern ist es einfach albern anzunehmen, die Moderne habe die Tendenz zu weniger Gewalt. Ohne diese Gewalt hätte der Kapitalismus sich gar nicht erst weltweit durchsetzen können.

Und trotz staatlichen Gewaltmonopols ist die Gewalt aus der Gesellschaft nicht verschwunden. Die soziale Frage, früher auch Klassenkampf genannt, ist ja nicht gelöst. Und so wird es weiterhin als Unrecht angesehen, wenn wenige viel und viele wenig haben. Der Staat als Garant der kapitalistischen Ordnung benötigt also immer einen Gewaltapparat. Dieser umfaßt Polizei und Militär, aber auch Gerichte, Schulen und die Verfügungsgewalt über Medien.

Gewalt ist jedoch auch alltäglich erfahrbar, und das nicht nur in entsprechend aufbereiteten Berichten im Fernsehen oder anderen Bild–Zeitungen. Nehmen wir die Verkehrsrowdies, also ganz normale Bürgerinnen und Bürger wie du und ich, nehmen wir die lieben intriganten Kolleginnen und Kollegen im Betrieb, nehmen wir die Arbeitgeber, die dich von heute auf morgen rausschmeißen, und das nur deshalb, weil es den Aktienkurs erhöht. Auch das ist selbstverständlich Gewalt. Eine Gewalt, die im Konkurrenzverhältnis der Menschen zueinander begründet liegt.

Eine solidarische Gesellschaft hingegen benötigt keine Konkurrenz, kein Gegeneinander, keine Außenstehenden, keine Sündenböcke. Eine solidarische Gesellschaft ist jedoch eine, die mit kapitalistischen Werten und Normen nicht zu vereinbaren ist. Kapitalismus ist Gewalt. Und während ich diesen Gedanken in meiner heutigen Sendung vortrage, sind wieder einmal ein paar hundert Kinder an leicht heilbaren Krankheiten, an Wassermangel oder Hunger krepiert. Denn im Kapitalismus gibt es nur ein Menschenrecht: den Profit. Und der geht eben über Leichen.

Vielleicht wäre hier anzumerken, daß zwar nicht unsere Soziologen, aber dafür unsere Fernsehmachenden ein gewisses Gespür für diese Gewalt entwickelt haben, wenn auch in grotesker, unbegriffener und konsumierbarer Art und Weise. Bei so vielen Toten, die allein das Fernsehen in dieser Republik in Kriminal– und Polizeifilmen Jahr für Jahr inszeniert, verwundert es nicht, wenn die Deutschen langsam aussterben. Credo quia absurdum est.

Da frage ich mich, warum unsere Soziologinnen und Soziologen von derart einfachen Einsichten abstrahieren und lieber Phänomene untersuchen, welche das Funktionieren einer derartigen Ordnung stören. Vielleicht ist Stören genau der richtige Begriff für das, worum es geht. Wer stört, wird rausgeschmissen, ausgegrenzt, gemobbt, verleumdet, und im Extremfall körperlich zerstückelt.

Hier liegt kein Widerspruch zur Moderne vor. Genau das macht die Moderne aus. Die belgischen Kolonialgreuel im Kongo, der Holocaust, Hiroschima oder Vietnam – all das waren keine Betriebsunfälle. Sie gehören zum Transformationsprozeß einer sich weiter entwickelnden modernen Gewaltkultur, die sich Zivilisation oder auch Moderne nennt. Mag sein, daß es für uns im Westen Europas heute bequemer, sicherer und wirtschaftlicher ist als zu den Zeiten des Dreißigjährigen Krieges, als exzessive Gewalt vor keiner und niemandem haltmachte.

Doch was mögen die Abermillionen Menschen im Osten und Süden dieser Erde darüber denken; Menschen, denen elementare Sicherheiten auch heute noch fehlen, obwohl die Ressourcen dieser Erde für ein Leben in Sicherheit und Würde für alle Menschen locker ausreichen?

Die Gewalt liegt so gesehen gleichermaßen innerhalb wie außerhalb unserer Gesellschaft. Und sie ist vielleicht auch deshalb so unbegreifbar, weil wir uns selbst begreifen müßten, uns selbst als Täter und Opfer in einer Person. Und das ist in der Tat nur schwer auszuhalten. Aber durchaus zu verändern. Und Veränderung ist etwas, was ängstigt. Gewalt ist etwas, das wir kennen und worauf wir gerne zurückgreifen.

Wie fragen eigentlich kleine Kinder, welche die Lebenslügen dieser Gesellschaft erst noch internalisieren müssen? Sie sind noch nicht in der Lage, strukturiert an diese Frage heranzugehen. Sie begreifen noch nicht, worauf es ankommt, denn dies erfordert ein jahrelanges Training zu Hause, in Kindergärten und in der Schule. Sie verstehen deshalb das Unbegreifliche dieser Gesellschaft nicht. Aber nicht nur deshalb, weil sie zu klein sind, sondern auch, weil es so grotesk ist. Insofern ist die abschließende Frage von Jan Philipp Reemtsma durchaus richtig gestellt:

Was haben wir, wenn wir über Gesellschaft nachgedacht haben, an Menschenmöglichem gar nicht zureichend bedacht, und was haben wir an denkbarer sozialer Zukunft nicht bedacht, weil wir es einfach nicht für möglich halten? [12]

Das sind Fragen, welche über die gegebene Gesellschaftlichkeit hinausweisen. Die Soziologen, deren Tagung er eröffnet hat, werden kaum in der Lage dazu sein, die Brisanz der Fragestellung zu begreifen. Denn es hängen nicht nur Jobs und Drittmittel an derartigen Fragen. Es hängt auch ein ganz bestimmtes Leben daran. Ein Leben, das ohne die viel beschworene, aber unbegriffene Gewalt nicht auskommt.

IV.

Mittelweg 36, die Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, erscheint alle zwei Monate zum Preis von 9 Euro 50. Das soeben auszugsweise besprochene Heft 5/2006 hat einhundertzwei Seiten und beschäftigt sich neben der Gewaltfrage mit Subsidiarität, Körperpolitik, Philosophie, Monotheismus und der Bedeutung des Zionismus für Israel. Die Zeitschrift ist erhältlich über den Buchhandel oder im Abonnement.

 

Täter und Verfolger

Mit Fragen der Gewalt beschäftigt sich auch das diesen Herbst im österreichischen Promedia Verlag herausgebrachte Buch des bulgarischen Journalisten Germinal Civikov über den Milošević–Prozeß in Den Haag. Weitab von den medial zelebrierten Beschwörungsformeln über das Monster aus Belgrad berichtet Civikov einfach das, was er im und außerhalb des Gerichtssaals erlebt hat. Denn so kann der Autor herausarbeiten, daß die Beweisführung der Anklage in einem kompletten Fiasko endete. Die sogenannte Wahrheitsfindung bestand eher aus einem Schauspiel, dessen Rollen mehr oder weniger gut einstudiert waren, weil es ja nicht auf die Wahrheit, sondern auf die Aburteilung ankam. Das liegt jedoch im Wesen derartiger politischer Prozesse.

Buchcover Civikov Der Milosevic ProzessNun geht es mir nicht darum, Slobodan Milošević als unschuldig verfolgtes Opfer darzustellen. Immerhin war er Präsident eines Landes, das sich in den 90er Jahren im Krieg befand, nachdem mit Hilfe des Internationalen Währungsfonds und der deutschen Außenpolitik sich Anfang der 90er Jahre Slowenien und Kroatien für unabhängig erklärt hatten. Diese äußere Beeinflussung korrespondierte mit wirtschaftlichen und politischen Interessen der Eliten der jeweiligen Teilrepubliken, die ihre Ansprüche auf das Vermögen des Bundesstaates Jugoslawien mit Waffengewalt, ethnischen Säuberungen und gezielten Tötungen ausfochten.

Als Ergebnis haben wir ethnisch korrekt zerstückelte Staaten, die zum Teil unter direkter, zum Teil unter indirekter Herrschaft der USA, Deutschlands und Großbritanniens stehen. Bosnien–Herzegowina ist ein Protektorat, dem nicht einmal eine eigene Wirtschafts– und Währungspolitik erlaubt ist. Und der letzte Akt der Zerstückelung besteht in der Abtrennung des Kosovo, in dem unter deutscher und US–amerikanischer Militärverwaltung Kinderprostitution, Frauenhandel und ein gut organisiertes Gangsterwesen blühen und gedeihen.

Das vielleicht Bemerkenswerteste an dem Prozeß gegen Slobodan Milošević in Den Haag war, daß die Sieger und Profiteure von dieser Zerstückelung über den Machthaber jener Teilrepublik zu Gericht saßen, die sich zu Beginn der 90er Jahre geweigert hatte, sich dem Diktat des Internationalen Währungsfonds zu unterwerfen. Diese Unbotmäßigkeit wurde inzwischen korrigiert, natürlich mit Gewalt. Zuerst bombardierte die NATO 1999 mit lügnerischer Unterstützung aus dem deutschen Außen– und Verteidigungsministerium Belgrad und ansonsten vorzugsweise Zivilistinnen und Zivilisten auf Brücken, Feldern und in Wohngebäuden. Alsdann kaufte sie sich eine Opposition, welche den (wahrscheinlich) wahlbetrügerischen Milošević absetzte und seinen Häschern auslieferte.

Über diesen Prozeß hat nun Germinal Civikov auf 216 Seiten sein Buch geschrieben. Das im Promedia Verlag erschienene Buch kostet 13 Euro 90. Am Samstag, den 9. Dezember finder im Café Habibi in der Landwehrstraße 13 eine Buchpräsentation statt. Cathrin Schütz, die das Nachwort zum Buch geschrieben hat, wird das Buch vorstellen. Ralph Hartmann, der ehemalige Botschafter der DDR in Jugoslawien, wird aus einem weiteren Buch über die Zerstörung Jugoslawiens vorlesen. Veranstalter sind der Deutsche Freidenker Verband, die Vereinigung für Internationale Solidarität und die Tageszeitung junge Welt.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte –

heute zur Natur der Gewalt als Problem der Soziologie und zur Zerschlagung Jugoslawiens in kleine handliche ethnisch gesäuberte Teile. Diese Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte wird wiederholt, und zwar in der Nacht von Montag auf Dienstag um 23.00 Uhr nach den Deutschlandfunk–Nachrichten, am Dienstagmorgen in aller Frühe gegen viertel nach fünf, sowie noch einmal am späten Dienstagvormittag ab halb 12. [13]

Hinweisen möchte ich noch auf Lorettas Leselampe, eine politische Literatursendung vom Freien Sender Kombinat aus Hamburg. Die nächste Folge ist am morgigen bzw. heutigen Dienstagabend ab 23.00 Uhr zu hören. Den Schwerpunkt der Sendung bilden der letzte Band von Hubert Fichtes umfangreicher Geschichte der Empfindlichkeit und daran anschließend eine Diskussion über den Antisemitismus im deutschen Literaturbetrieb. Der zweite Teil dieser Ausgabe von Lorettas Leselampe gibt es dann am Dienstag, den 12. Dezember, ebenfalls um 23.00 Uhr.

Im Anschluß an dies Sendung folgt Äktschn!, eine Sendung der Kulturredaktion von Radio Darmstadt. Am Mikrofon war Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Jan Philipp Reemtsma : Die Natur der Gewalt als Problem der Soziologie, in: Mittelweg 36, Heft 5/2006, Seite 6

[2]   Reemtema Seite 7

[3]   Reemtema Seite 8

[4]   Reemtema Seite 8

[5]   Reemtema Seite 10

[6]   Reemtema Seite 13

[7]   Reemtema Seite 15

[8]   Reemtema Seite 19

[9]   Reemtema Seite 19

[10]   Reemtema Seite 19

[11]   Peter Paul Zahl : Alle Türen offen [1977], Seite 42

[12]   Reemtema Seite 25

[13]   Aus technischen Gründen mußten die geplanten Wiederholungen entfallen.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 17. Dezember 2006 aktualisiert.

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