Kapital – Verbrechen

Handlungsspielräume

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Kapital – Verbrechen
Handlungsspielräume
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 10. Februar 2003, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 11. Februar 2003, 00.00–01.00 Uhr
Dienstag, 11. Februar 2003, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 11. Februar 2003, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Zeitschrift :
Mittelweg 36, Heft 6/2002
 
 
Playlist :
  • Laibach : War
  • Joan Baez : Sagt mir wo die Blumen sind
  • APC : Don't
  • Wahre Schule : Kommt eine von fern
  • Rotes Haus : Move For Mumia
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/kv/kv_handl.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Satire darf alles … oder doch nicht?
Kapitel 3 : Deutsche zicken, Rumsfeld klärt auf, warum
Kapitel 4 : Expertenrunde (oder: Menschenrechtler und Scharfrichter unter sich)
Kapitel 5 : Handlungsspielräume
Kapitel 6 : Karl Plagge
Kapitel 7 : Schluß
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte –

heute mit Walter Kuhl und seiner Sendereihe Kapital – Verbrechen.

Jingle Radio Darmstadt Aktuell

Aus aktuellem Anlaß ändert Radio Darmstadt sein Programm und schaltet sich direkt ein in eine Pressekonferenz des US–amerikanischen Präsidenten George Dubya Bush, die soeben in Washington begonnen hat.

Rede George W. Bush mit deutscher Simultanübersetzung [1]

Laibach : War

 

Satire darf alles … oder doch nicht?

Einem ungeschriebenen Gesetz nach darf Satire alles. Doch die Grenzen der Satire sind dort erreicht, wo kommerzielle Interessen berührt werden. Die simulierte Rede des US–amerikanischen Kriegspräsidenten mitsamt der simulierten Simualtanübersetzung stammte von Jens Falkowski und wurde im Leipziger freien Radio Blau am 19. Januar [2003] gesendet.

In Sachsen jedoch gibt es für freie und nichtkommerzielle Lokalradios eine Sonderregelung. Während in Hessen nichtkommerzielle Lokalradios eine Vollfrequenz haben und rund um die Uhr senden dürfen, traut die christdemokratische Regierung in Sachsen ihren Bürgerinnen und Bürgern nicht über den Weg. Daher dürfen in Sachsen freie Radios nur in einer Nische senden, die ein kommerzieller Hörfunksender zur Verfügung stellen muß. Diese Nische besteht aus ganzen vier Stunden Sendezeit pro Woche, allerdings soll sich daran demnächst etwas ändern. [2]

Nun hat der kommerzielle Hörfunkbetreiber natürlich ein Interesse daran, daß ein solches gerade einmal geduldetes freies Radio ihm nicht die Hörerinnen und Hörer vergrault. Denn den Kommerzsender interessiert nur eines: Werbeeinnahmen. Und Satiren wie die gerade gehörte sind nicht gerade dazu angetan, diese kommerziellen Interessen zu fördern. Deshalb hat der Betreiber des Kommerzsenders in Leipzig – Oldie.FM – Beschwerde bei der sächsischen Landesmedienanstalt eingelegt.

Wie gesagt, die Grenzen der Satire werden durch die Interessen des Kapitals bestimmt. Selbst für Satire sind also die Handlungsspielräume in den deutschen Medien begrenzt. Es sind dieselben Grenzen, die im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wie folgt festgelegt worden sind. In Artikel 5 des Grundgesetzes heißt es bekanntlich:

Jeder hat das Recht (jede offensichtlich nicht, also:) jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.

Und damit wir uns nicht mißverstehen – die Väter und die paar wenigen Mütter des Grundgesetzes hatten ganz sicher nicht Medien im Sinn, die von ganz normalen Bürgerinnen und Bürgern gestaltet werden. Selbstverständlich dachten auch sie in den Kategorien der kapitalistischen Marktwirtschaft. Die allgemein zugänglichen Quellen sollen also diejenigen sein, die uns darüber informieren, was wir zu glauben und wonach wir uns zu richten haben. Das Kapitalinteresse und die Staatsraison haben also Vorrang vor der Wahrheit und eben auch vor der Satire. Entsprechend werden uns Lügen aufgetischt und Kriege als friedenssichernde Maßnahmen verkauft.

Nun gehören zu derartigen Lügen zwei: diejenigen, die sie verbreiten, und diejenigen, die sie auch glauben wollen. Die letzte Landtagswahl in Hessen hat so gesehen noch einmal eindringlich bestätigt, daß Wahlen durch ganz merkwürdige Interessenlagen entschieden werden. Es ist gewiß kein Zufall, daß die CDU mit absoluter Mehrheit in den Wiesbadener Landtag einzieht. Zwar wurde diese Partei nur von einem Drittel der Wahlberechtigten gewählt und insofern ist der Durchmarsch konservativen Denkens auch begrenzt. Zudem ist festzuhalten, daß dieser Wahlerfolg nur deshalb zustande gekommen ist, weil die Rot–Grüne Koalition in Berlin ein bißchen heftig auf das neoliberale Gaspedal getreten hat. Hätte Stoiber die Wahl gewonnen, hätte er ähnlich handeln müssen und Roland Koch wäre womöglich und dann auch zurecht dafür abgestraft worden. Doch so profitieren er und seine Partei davon, daß es die SPD und die Grünen sind, welche die für das Kapital absolut notwendige Reformpolitik durchsetzen müssen. Erstaunlich jedoch, daß vor allem die SPD und nicht etwa der kleinere Koalitionspartner abgestraft worden ist. Ob das daran liegt, daß die Wählerinnen und Wähler der GRÜNEN genau diese verlogene unsoziale Kriegspolitik herbeisehnen?

Kerstin Müller, Die GRÜNEN, mal wieder im Originalton zu hören :

Wir Grüne beteiligen uns an diesem Regierungsbündnis, um eine Politik zu verwirklichen, die auf festen, unveränderlichen moralischen Überzeugungen begründet ist.

Und was meint Joschka Fischer dazu, natürlich auch im O–Ton :

Krieg ist widerwärtig.

 

Deutsche zicken, Rumsfeld klärt auf, warum

Joan Baez : Sagt mir wo die Blumen sind

Die Naivität der 60er Jahre. Joan Baez mit einem Klassiker der damaligen Friedensbewegung. Doch wir schreiben heute das Jahr 2003. Die Illusionen von damals, die Träumereien und der hoffnungsvolle Appell an die Reichen und Mächtigen, sie mögen endlich einsehen, daß es doch auch für sie gut sei, Kriege zu beenden und in Frieden zu leben – diese Illusionen haben sich als das erwiesen, was sie sind: Hirngespinste, Luftschlösser. Die Realität ist grausamer; die Realität duldet keine Metropolenkids, die nicht begreifen wollen, was passiert.

Der US–amerikanische Kriegsminister Donald Rumsfeld hingegen hat den Kern der Sache besser erfaßt als die deutsche Friedensbewegung. Während diese noch von den europäischen Regierungen eine friedliche Lösung des Irak–Problems erfleht, steht Rumsfeld mit allen Waffengattungen voll auf dem Boden der Tatsachen. Rumsfeld als Vertreter US–imperialistischer Kapital– und Machtinteressen wittert die deutsche Konkurrenz. Als er Deutschland, Libyen und Kuba in einem Atemzug nannte, wußte er genau, was er sagte. Der strategisch langfristige Feind heißt nicht Saddam Hussein, sondern Deutschland. Und es ist kein Zufall, wenn Deutschland und Frankreich eine gemeinsame Initiative ausbrüten, um den US–amerikanischen Eroberungskrieg zu vereiteln. Auch Deutschland und Frankreich haben strategische Interessen im Erdölgebiet des Irak; und beide wollen den USA das Terrain nicht kampflos überlassen. Und genauso wie die USA zücken sie bei Bedarf die UNO–Karte.

Während sich die USA jedoch dieser lästigen UNO mit ihren nervigen Resolutionen entledigen wollen, sehen Deutschland und Frankreich in der UNO eine elegante Möglichkeit, mit diesem hilflosen Papiertiger – nach Bosnien, dem Kosovo und Mazedonien – ein weiteres Protektorat einrichten zu können.

Die Münchener Sicherheitskonferenz vom vergangenen Wochenende war so gesehen ein Spiegelbild dieser Auseinandersetzungen. Und wo die deutsche Friedensbewegung noch mit dem US–amerikanischen Feindbild hausieren geht, ist der deutsche Sicherheitsapparat längst auf der Höhe der Zeit. Kriegsgegnerinnen und Kriegsgegner wurden schikaniert, mißhandelt, fotografiert, durchsucht, eingesperrt und ausgewiesen. Trotz aller Meinungsverschiedenheiten wissen Schröder, Fischer und Stoiber die deutschen Sicherheitsinteressen angemessen durchzusetzen.

Allerdings hat die deutsche Bundesregierung als treue Agentur deutscher Wirtschaftsinteressen ein Problem. Die Bundeswehr ist schlicht nicht konkurrenzfähig. Doch die jetzige Regierung ist klüger als ihre Vorgänger 1914 oder 1939. Sie vermeidet die direkte Konfrontation, welche sie ohnehin nur verlieren könnte, und schmiedet stattdessen langfristige strategische Bündnisse, etwa mit Frankreich und Rußland. Wohin das führen wird, ist derzeit noch ungewiß.

Denn zur Zeit sind die USA als Militärmacht unangefochten die Nummer 1. Daher kann George Dubya Bush auch weitestgehend US–Interessen durchsetzen. Wirtschaftlich gesehen stehen die USA jedoch in einem harten Konkurrenzkampf mit der von Deutschland und Frankreich angeführten Europäischen Union. Hier muß Bush Rücksicht nehmen, will er keinen Handelskrieg vom Zaun brechen, den die USA nur verlieren können.

Insofern kann jede Bundesregierung zur Zeit zweigleisig taktieren. Einerseits zusammen mit den USA die allgemeinen imperialistischen Interessen durchsetzen, etwa in Jugoslawien oder Afghanistan. Jugoslawien war so gesehen für Deutschland ein Glücksfall. Innerhalb von zehn Jahren haben es mehrere Bundesregierungen mit der Hilfestellung des Bundesverfassungsgerichts geschafft, die Bundeswehr in aller Welt einsetzen zu dürfen.

Wer heute argumentiert, daß Angriffskriege verfassungsrechtlich verboten seien, handelt naiv und politisch sinnlos. Schon beim Krieg gegen Jugoslawien hat die Bundesanwaltschaft eindeutig die Marschroute vorgegeben: Wenn Gerhard Schröder im Bundestag sagt, es handele sich nicht um einen Angriffskrieg, sondern um eine humanitäre Maßnahme, dann ist das so [3]. George Orwell hätte sich verwundert die Augen gerieben. So viel Dreistigkeit hätte er nicht einmal dem Großen Bruder zugetraut.

Gemeinsamkeit also da, wo gemeinsame Interessen vorhanden sind oder sich unterschiedliche Interessen genial ergänzen. Andererseits verlangt die kapitalistische Konkurrenz den Kampf um Rohstoffe und Absatzmärkte, um politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einfluß. Deutschland konnte am Krieg gegen den Irak nicht teilnehmen, weil es dort nichts zu gewinnen gab. Das war bei Jugoslawien ganz anders. Aber die Protektoratslösung wäre der Clou schlechthin. Nicht nur, daß US–amerikanische Ölinteressen behindert werden, nein, Deutschland und Frankreich hätten dann mitten im Nahen Osten ein eigenes Standbein.

Wir werden sehen, welche Politik sich durchsetzt. Aber der deutschen Friedensbewegung muß klar sein, daß der Feind nicht die USA sind, sondern daß der Feind im eigenen Land steht. Die Dialektik dieses Prozesses zu begreifen, ist die Voraussetzung für jede handlungsfähige Politik – denn sie baut nicht auf Illusionen auf. Antimilitaristische Politik kann dann nur darin bestehen, jede Militäraktion zu verurteilen und für die Auflösung aller militärischen und paramilitärischen Organisationen einzutreten. Menschenrechte werden anders, nämlich emanzipatorisch erkämpft. Und Gewalt ist in den seltensten Fällen emanzipatorisch, meist einfach eben nur … Gewalt. Und sie wird nicht besser, wenn sie ideologisch geschickt verpackt wird.

 

Expertenrunde (oder: Menschenrechtler und Scharfrichter unter sich)

Aber selbstverständlich sind die Grünen gegen Gewalt – es sei denn, sie ist unumgänglich. Fragt doch einmal bei Jochen Partsch, Daniela Wagner und Finn Kaufmann nach. Die können euch das viel besser erklären, als ich das könnte. Und während die drei das euch erklären, beginnt in diesen Minuten in Berlin eine Kundgebung vor dem Hotel Intercontinental.

Dort feiert die iranische Botschaftden 24. Jahrestag der Revolution von 1979 – oder besser: der Liquidierung der Revolution – mitsamt aller damit verbundenen Errungenschaften. Als da wären: Verbot jeder Opposition, Verfolgung, Inhaftierung und Ermorderung Zigtausender Oppositioneller, Frauendiskriminierung, Publikationsverbot und so weiter. Also ein angenehmer Gesprächspartner für unsere rot–grüne Menschenrechtsregierung, denn mit einem solchen Regime lassen sich prima Geschäfte machen. Die Machthaber im Iran – Reformer wie Hardliner – beharren auf den islamischen Prinzipien ihrer Herrschaft. Hinrichtungen gehören selbstverständlich dazu. Das Jahr 2002 war in dieser Richtung besonders reformorientiert: rund 500 Menschen wurden öffentlich hingerichtet, mehr als dreimal so viele wie im Jahr zuvor. Maurice Copithorne, UN–Sonderberichterstatter der UN–Menschenrechtskommission, berichtete im März 2002:

Die allgemein anerkannten Prinzipien für einen fairen Prozeß werden öfters mit Füssen getreten. Viele Strafen im Iran verstossen gegen internationale Kriterien für Menschenrechte, vor allem Steinigung als Todesstrafe und die Mißhandlung von Aktivistinnen und Aktivisten der Opposition. Insbesondere zeigen die Sicherheitskräfte und die iranische Justiz eine fürchterliche Intoleranz gegenüber alternativen Gedanken.

Wenn die Grünen–nahe Heinrich–Böll–Stiftung vor drei Jahren den iranischen Staatspräsidenten Khatami zum Dialog eingeladen hat, dann vor allem deshalb, um den Illusionen Vorschub zu leisten, es gebe Gesprächspartner im Iran, die man und frau nicht verschrecken dürfe. So, als würde hierdurch ein Reformprozeß im Iran in Gang gesetzt werden. Obwohl – es wird hierdurch in der Tat einer in Gang gesetzt. Denn, wie ich schon sagte, es geht um Wirtschaftsinteressen. Reformprozeß heißt also, korrekt übersetzt: Förderung des Außenhandels. Je reformorientierter das Regime, desto besser für die deutsche Wirtschaft. Daß aufmüpfige Arbeiterinnen und Arbeiter nicht in dieses Reformkonzept passen, versteht sich von selbst. Aber dafür gibt es ja Knäste, Folter und Hinrichtungen. Die werden dann den Hardlinern zugerechnet. Ist ja auch praktisch, mit den eigens erfundenen Begriffen wie Reformer und Hardliner nach Belieben jonglieren zu können.

Vor dem Hotel Intercontinental in Berlin demonstriert daher zur Zeit die iranische Opposition in Deutschland. Ob grüne Menschenrechtler dabei sind, ist ohne Zweifel zweifelhaft. [4]

APC : Don't

 

Handlungsspielräume

Besprechung von : Mittelweg 36, Heft 6/2002, € 9,50

Das Hamburger Institut für Sozialforschung ist längst als Institution kritischer Sozialwissenschaft anerkannt. Die Institutsadresse Mittelweg 36 bezeichnet auch den Titel der Institutszeitschrift. Die Dezember/Januar–Ausgabe dieser Zeitschrift befaßt sich mit Fragestellungen, die sowohl zum Widerspruch als auch zur kritischen Reflektion herausfordern.

Jan Philipp Reemtsma fragte in einem im November in München gehaltenen Vortrag im Begleitprogramm zur Ausstellung Verbrechen der Wehrmacht nach den Handlungsspielräumen derjenigen, die am Vernichtungskrieg deutscher Landser, SS– oder Polizeieinheiten teilgenommen haben. Es gab diese Handlungsspielräume zwischen eifrigem Mitmachen, Verweigerung und Widerstand. Jan Philipp Reemtsma versucht zu begründen, warum diese Handlungsspielräume zumeist im Sinne des NS–Vernichtungsprogramms wahrgenommen wurden. Es handelt sich hierbei weniger um eine politische, als vielmehr um eine normativ–moralische Fragestellung. Darauf komme ich gleich zurück.

Ulrich Herbert [5] hielt im Oktober die Eröffnungsrede zur Wehrmachtsausstellung in München. Er untersucht darin das unterschiedliche Verhalten deutscher Wehrmachtsverbände in Frankreich und in der Ukraine.

Die Offiziere in den Stäben des Militärbefehlshabers [in Paris] waren bereit und in der Lage, mit der Regimeführung und auch mit Hitler selbst in Konflikt zu treten, wenn durch die Befehle aus Berlin Bereiche berührt wurden, die ihr Selbstverständnis und ihre soldatische Ehre verletzten […]. Diese Haltung galt aber ganz offenbar nicht generell. Denn gegen das entsprechende Vorgehen der deutschen Stellen in den Ländern Ost- und Südosteuropas erhoben sich […] keineswegs ähnliche Einwände von seiten der Militärs; in manchen Fällen übrigens derselben Personen. Die kulturelle Wertschätzung Frankreichs und der Franzosen spielt hierbei eine offenbar ausschlaggebende Rolle und die damit verbundene Haltung, gegenüber den kulturell und zivilisatorisch als gleichrangig angesehen Völkern anders, nämlich gesitteter aufzutreten, als gegenüber Völkern, die als niedrigstehend empfunden wurden. Demgegenüber bestanden zwischen der Berliner Führung und der Pariser Militärverwaltung in bezug auf das Vorgehen gegen Juden keine grundsätzlichen Divergenzen […]. Hier traten die Militärs sogar besonders initiativ und forciert auf. […] [6]

Diese kulturell motivierte Rücksichtnahme entfiel in der Sowjetunion.

Die ideologisch fixierte Vorstellung der Einheit von Judentum und Bolschewismus […] wurde hier aktualisiert und radikalisiert. [7]

Ulrich Herbert legt auch die durchaus rationalen Gründe der deutschen Barbarei dar. Es war ja nicht nur ideologische Verblendung, sondern Kriegsrationalität. Städte nicht zu erobern, sondern sie einzuschließen und auszuhungern, war effektiver, als die Bevölkerung eroberter Städte versorgen zu müssen. Denn der eigene Nachschub mußte gesichert werden. Entsprechend gnadenlos war das Vorgehen von Wehrmacht, SS und Polizeibataillonen. Zwar gab es auch hier Handlungsspielräume, doch offensichtlich auch weniger Rücksichtnahmen. Man ging wohl davon aus, nicht zur Rechenschaft gezogen zu werden, und führte sich entsprechend auf.

Einen völlig anderen Aspekt trägt Heide Gerstenberger [8] in der Literaturbeilage der Zeitschrift in die Debatte. Ihr Thema sind Illegale. Nun können wir uns fragen, wie Menschen illegal sein können. Handlungen vielleicht, aber Menschen? Menschen werden durch politische Verfolgung illegalisiert, die Bundesrepublik Deutschland ist hier durchaus führend. Heide Gerstenberger hat sich die Literatur zum Thema Migration und Flucht genauer angeschaut und einiges Interessante gefunden.

Zum Beispiel, daß die hermetisch abgeriegelten Grenzen der USA eine eigenständige Ökonomie illegalisierter Arbeit gefördert haben mit dem Ergebnis, daß die Löhne in der Landwirtschaft Kaliforniens generell gefallen sind. Illegalisierte Migration wird ganz offensichtlich gezielt zur Etablierung eines Niedriglohnsektors genutzt. Überhaupt stellt sich die Frage nach der Rationalität staatlicher Politik in bezug auf die weltweiten Migrationsbewegungen. Gerade die Illegalisierung jedoch scheint gesellschaftlich durchaus nützlich zu sein. Je prekärer die Lebensumstände, je unsicherer die Zukunft, desto bereitwilliger lassen sich Menschen be– und ausnutzen. Wer davon profitiert, können wir uns ja denken.

Und damit komme ich auf Jan Philipp Reemtsmas Aufsatz über Handlungsspielräume [9] zurück. Ich finde ihn deshalb interessant, weil er eine spannende Frage thematisiert, aber leider so, daß das wirklich Spannende nicht zum Vorschein kommt. Laßt mich mit einer einfachen Betrachtung beginnen. Er fragt in seinem Vortrag:

Wie groß sind Ihre Handlungsspielräume, meine Damen und Herren, ganz konkret: hier und jetzt? Zwar sitzen Sie alle auf Stühlen, hören zu, werden sich, so hoffe ich, während des ganzen Vortrags gesittet benehmen – aber sie könnten alle auch anders. Sie könnten Ihre Nachbarn verprügeln, sich etwas zu essen holen und hier ein Picknick machen, jemand von Ihnen könnte aufstehen und die Anwesenden auffordern, die Versammlung in einen Gottesdienst umzufunktionieren. [10]

Nein, sage ich, das könnten sie nicht. Denn haben sich schon entschieden. Ein derart gesittetes Publikum, das gekommen ist, Jan Philipp Reemtsma zu lauschen, wird nicht pöbeln. Insofern stellt sich hier die Frage nach den Handlungsspielräumen nicht, weil die Frage schon vorher entschieden wurde. Nun handelt es sich hierbei um ein banales, letztlich uninteressantes Beispiel. Denn spannend wird es erst bei der Frage verbrecherischer Handlungen.

Vielleicht ist es seine Fragestellung, die mehr Probleme aufwirft als löst: Reemtsma fragt danach, warum so viele Wehrmachtssoldaten sich an Taten beteiligt haben, die wir heute moralisch verurteilen. Muß die Frage nicht andersrum lauten? Denn die Frage, warum Menschen im Krieg Dinge tun, die sie im Zivilleben nicht oder nicht so machen würden, verweist doch auch auf die moralischen Grundlagen unseres Handelns. Ist Krieg der Ausnahmefall? Oder nur das Extrem einer kapitalistischen Leistungsgesellschaft, deren Norm und Moral der Profit ist? Denn wenn letzteres der Fall ist, also wenn Kriegsverbrechen logische Konsequenz kapitalistischer Rationalität sind, dann stellt sich doch die Frage so: warum handeln wir in der Regel moralisch nicht derart verwerflich? Warum bringen wir keine Ausländer um (obwohl es Menschen in diesem Land gibt, die das tun), sondern überlassen das Geschäft der Abschiebung staatlichen Behörden?

Was dies mit den Verbrechen der Wehrmacht zu tun hat? Ich glaube, mehr, als uns lieb sein kann. Denn wenn Ulrich Herbert feststellt, daß die Wehrmacht sich in Frankreich anders verhalten hat als in der Ukraine, dann müssen wir uns doch fragen, was hat die Wehrmacht daran gehindert, sich in Frankreich genauso aufzuspielen? Die Angst vor Vergeltung? Vielleicht. Bestimmt nicht das moralische Gewissen. Denn wie Ulrich Herbert zurecht feststellt, haben teilweise dieselben Personen in Frankreich und in der Ukraine vollkommen verschieden gehandelt. Offensichtlich legt die Gelegenheit zum Verbrechen den Charakter bloß.

Einen Anhaltspunkt gibt uns auch Jan Philipp Reemtsma. Die Kriege des 16. und 17. Jahrhunderts zeichneten sich durch ungehemmte Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung aus; ganze Landstriche wurden entvölkert, etwa Südhessen. Historisch betrachtet folgt darauf auf der einen Seite Kasernierung, Uniformierung und Hierarchisierung des Militärs – vorher eher ein Haufen als eine Armee. Auf der anderen Seite entwickeln sich Vorstellungen in Richtung Kriegs– und Völkerrecht. Offensichtlich ein Versuch, der uneffektiven ungehemmten Gewalt beizukommen.

Und genau hier zeigt sich der Charakter des Vernichtungskrieges von SS, Polizeieinheiten und Wehrmacht. Das Ungehemmte kommt da wieder zum Vorschein, wo sicher zu sein scheint, daß Vergeltung, Rache und Völkerrecht nicht greifen werden. Was bedeutet, daß die Bestie dann zuschlägt, wenn sich die Gelegenheit hierfür bietet. Fragt sich nur, warum so viele Fälle von Befehlsverweigerung, Desertion oder gar Hilfe überliefert sind.

Dies ist eine Frage, die Reemtsma auf einer anderen Ebene zu beantworten sucht. Wie frei ist das menschliche Handeln? Ist es wirklich so, daß wir durch Erziehung, Indoktrination und ähnliche Beeinflussungen so handeln, wie es von uns erwartet wird? Oder was macht die menschliche Handlungsfreiheit aus? Könnte es sein, daß wir gezielt die Angebote nutzen, die wir erhalten wollen, um das zu tun, was wir tun wollen? Wofür sind wir dann verantwortlich zu machen? Für falsches Handeln (denn wir alle machen Fehler, dafür sind Fehler ja schließlich da) oder dafür, daß wir zu der Persönlichkeit geworden sind, die moralisch verwerflich handelt? Dennoch bleibt die Antwort hierauf unbefriedigend.

Denn was fehlt, ist die Analyse gesellschaftlicher Bedingungen, die das Bestialische überhaupt erst ermöglichen. Kriegsverbrechen geschehen nicht einfach so. Menschenrechtskriege werden nicht einfach so geführt. Menschliches Handeln von materiellen Interessen zu trennen, kann ganz böse in die Irre führen. Und wer den Kapitalismus und seine Rationalität außen vor läßt, wird letztlich nicht begreifen, daß Menschen auch anders handeln können, wenn sie eine Vision davon haben, was Menschsein und Emanzipation ausmacht. Was allerdings auch voraussetzt, daß wir diese Vision überhaupt entwickeln wollen, denn sie verweist auf eine andere Form von Gesellschaftlichkeit.

Diesen Handlungsspielraum haben wir jedenfalls auch. Nicht nur bei Kriegsverbrechen, sondern hier und jetzt. Nicht mit so albernen Beispielen wie dem Verhalten während eines Vortrages. Sondern in unserem Verhältnis zur Festung Europa, zur deutschen Menschenrechtspolitik oder zum neoliberalen Reformeifer von Regierung, Opposition und Gewerkschaften.

Wenn Jan Philipp Reemtsma mit einem Vortrag zum Thema Handlungsspielräume derart zur Kritik provoziert, dann spricht das nicht unbedingt gegen seinen Vortrag, sondern dafür, sich mit den Inhalten genauer, kritischer und reflektierter auseinanderzusetzen. Und dafür ist eine Zeitschrift wie Mittelweg 36 ja schließlich auch da. Mittelweg 36 ist im gutsortierten Buchhandel oder direkt über das Hamburger Institut für Sozialforschung zu beziehen. Das Einzelheft kostet 9 Euro 50, im Abo 8 Euro plus Versandgebühr.

Wahre Schule : Kommt eine von fern

 

Karl Plagge

Jingle Alltag und Geschichte –

mit einem Veranstaltungshinweis für den kommenden Mittwochabend. Auch hierbei geht es um Handlungsspielräume, nämlich um die bewußte Entscheidung, sich den Verbrechen ganz normaler deutscher Nazis zu widersetzen.

Major Karl Plagge aus Darmstadt ist ein Beispiel für Zivilcourage in der Zeit des Holocaust – und davon handelt die Veranstaltung am Mittwochabend um 19 Uhr 30 im Alten Hauptgebäude der Technischen Universität Darmstadt. Marianne Viefhaus stellt ihn uns in ihrem Referat näher vor; und dies führt uns nach Wilna in Litauen.

Wilna, als heutige Hauptstadt Litauens Vilnius genannt, war im 19. Jahrhundert zum oft zitierten Jerusalem Litauens, einem Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit und Kultur, und vor dem Ersten Weltkrieg auch zu einem Brennpunkt jüdischen politischen Lebens geworden.

In Wilna lebten im Juni 1941 beim Einmarsch der Deutschen Wehrmacht zwischen 60 000 und 70 000 Jüdinnen und Juden. Nach der Befreiung durch die Rote Armee im Juli 1944 gab es nur noch 2000 bis 3000 jüdische Überlebende. Sie waren in die Wälder entkommen, hatten in Verstecken und Konzentrationslagern überlebt – alle übrigen, Männer, Frauen und Kinder ohne Unterschied, waren bei zahllosen Vernichtungsaktionen getötet worden. SS, Wehrmacht und litauische Gehilfen hatten das zuvor blühende Judentum Litauens innerhalb von drei Jahren in einer Serie von planvoll verübten Massenmorden ausgerottet.

Karl Plagge, in Darmstadt beheimatet und an der hiesigen Technischen Hochschule ausgebildet, war im Zweiten Weltkrieg Leiter eines Heereskraftfahrzeugparks in Wilna. Er unterstützte und schützte die dort beschäftigten jüdischen Arbeiterinnen und Arbeiter, sowie deren Familien, und rettete einigen von ihnen beim Abzug der Wehrmacht das Leben, einfach weil er dies – wie er später sagte – für seine Pflicht hielt.

Überlebende aus dem Ghetto Wilna, die in die USA ausgewandert waren, und ihre Nachkommen machten sich über das Internet seit dem Jahr 2000 auf die Suche nach den Spuren des damaligen Helfers. Erst hierdurch konnte nicht zuletzt durch die Nachforschungen von Marianne Viefhaus vom Archiv der TU Darmstadt die Geschichte von Karl Plagge rekonstruiert werden – eine Geschichte von Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten. Karl Plagge starb 1957 in Darmstadt.

Darüber berichtet Marianne Viefhaus erstmals in einer öffentlichen Veranstaltung. Und zwar am Mittwochabend [12.02.2003], 19 Uhr 30, im Alten Hauptgebäude der Technischen Universität Darmstadt, Raum 25.

Eine Veranstaltung des AStA der TU Darmstadt, der Darmstädter Geschichtswerkstatt und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes / Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten in der Region Starkenburg.

Gerade weil der Nationalsozialismus eine besonders extreme Form kapitalistischer Gewaltherrschaft gewesen ist, sollten und müssen wir uns heute Gedanken darüber machen, wie der ganz normale kapitalistische Wahnsinn – und das heißt auch: der als Frieden deklarierte Krieg – bekämpft werden kann. Und wenn gerade einmal nicht die Bomben fallen, dann sterben Flüchtlinge an den hermetisch abgeriegelten deutschen Grenzen, werden abgeschoben oder im Frankfurter Flughafen und ähnlich skandalösen Einrichtungen interniert.

Und auch während dieser Sendung sind wieder eintausend Kinder verhungert oder an leicht heilbaren Krankheiten gestorben – nicht zuletzt deshalb, weil die ethischen Grundsätze Kants in der kapitalistischen Marktwirtschaft nicht gelten.

 

Schluß

Handlungsspielräume – so der heutige Titel meiner Sendereihe Kapital – Verbrechen, ist als Sendemanuskript demnächst auch im Internet nachzulesen; und zwar auf meiner Homepage www.waltpolitik.de. Natürlich könnt ihr mich auch über das gute alte Telefon kontaktieren – die Telefonnummer lautet (06151) für Darmstadt, und dann die 8700–192. Oder ihr schickt mir eine Email an: kapitalverbrechen <at> alltagundgeschichte.de.

Diese Sendung wird am Dienstag um 0 Uhr, nach dem Radiowecker mit Holger Coutandin um 8 Uhr und noch einmal um 14 Uhr wiederholt. Im Anschluß folgt eine Sendung der Kulturredaktion. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt war Walter Kuhl.

Und den folgenden politischen Gefangenen wollen wir auch nicht vergessen:

Rotes Haus : Move For Mumia

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   http://www.freie-radios.net/portal/content.php?id=3162
[2]   Siehe hierzu die Pressemitteilung der Sächsischen Landesmedienanstalt vom 6. Februar 2003.
[3]   Siehe hierzu die Argumentationslogik der Bundesanwaltschaft.
[4]   Zur Situation im Iran gibt es mehrere informative Seiten im Internet, z.B. auf Deutsch und auf Englisch.
[5]   Ulrich Herbert : Vergeltung, Zeitdruck, Sachzwang. Die deutsche Wehrmacht in Frankreich und in der Ukraine. In: Mittelweg 36, 6/2002, Seite 25–42.
[6]   Herbert Seite 30–31.
[7]   Herbert Seite 33.
[8]   Heide Gerstenberger : Illegale, in: Mittelweg 36, 6/2002, Seite 45–56.
[9]   Jan Philipp Reemtsma : Über den Begriff Handlungsspielräume, in: Mittelweg 36, 6/2002, Seite 5–23.
[10]  Reemtsma Seite 8.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 21. Februar 2006 aktualisiert.
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©  Walter Kuhl 2001, 2003, 2006
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