Kapital - Verbrechen

Besinnliche Stunden 1

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Kapital – Verbrechen
Besinnliche Stunden
Teil 1
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 8. Dezember 2003, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Montag, 8. Dezember 2003, 23.10–00.10 Uhr
Dienstag, 9. Dezember 2003, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 9. Dezember 2003, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher und CD–ROMs :
  • Sahra Wagenknecht : Kapitalismus im Koma, Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft
  • Statistisches Jahrbuch 2003, Statistisches Bundesamt
  • Markus Aretz : Mythos Bökelberg, Verlag Die Werkstatt
  • Robert Frank / Daniel Krüger : Ein römisches Kastell in Deutschland, Konrad Theiss Verlag
  • Christiane Zangs (Hg.) : Das Lager der VI. Legion, Konrad Theiss Verlag
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/kv/kv_besi1.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Eine kleine Nachtmusik
Kapitel 3 : Ein Juniorpartner flennt
Kapitel 4 : Fachfrauliche Diagnose der Operation von Frau Doktor Lautenschläger
Kapitel 5 : Erhellende Gedanken zu statistischen Zahlen
Kapitel 6 : Ein Mythos zieht um
Kapitel 7 : Virtuelle Römerwelten
Kapitel 8 : Schluß

 

Einleitung

Jingle Radio Darmstadt – RadaR

Es ist die Zeit der besinnlichen Stunden angebrochen. Weihnachten steht vor der Tür. Und wie jedes Jahr jagen wir panisch angefixt von Geschäft zu Geschäft, um gehirnwäscheartig konditioniert Dinge zu kaufen, die kein Mensch braucht. Das gute Gewissen will halt gepflegt sein. Also wird für die Armen und Notleidenden gespendet, um im Verlauf eines weiteren Jahres nicht weiter an sie denken zu müssen. Gibt es einen Widerspruch zwischen dem Weihnachtsfest und der Operation Sichere Zukunft? Natürlich nicht. Eine Hand kauft die andere.

Silke Lautenschläger hat ihre Weihnachtsgeschenke schon ausgepackt. Dankbare Studentinnen und Studenten aus Darmstadt haben ihr daher ein Ständchen gebracht. Mehr dazu in meinem ersten Beitrag. Wenn Silke Lautenschläger an einer Operation als Notärztin teilnimmt, dann bedarf es vielleicht zuvor einer Diagnose, woran denn der Patient leidet. Die kommunistische Publizistin Sahra Wagenknecht hat mit ihrem Buch Kapitalismus im Koma eine sozialistische Diagnose vorgelegt. Ihr Buch werde ich im Verlauf dieser Sendung vorstellen.

Wer vom Kapitalismus redet, kommt ohne Fakten nicht aus. Eine dieser Faktensammlungen ist das Statistische Jahrbuch 2003 des Statistischen Bundesamtes. In zwei voluminösen Bänden und einer CD–ROM liegen nun die neuesten Zahlen auf dem Tisch. Fragt sich, was wir damit anfangen können.

Ein ganz anderes Thema. – Die Fußball–Europameisterschaft 2004 in Portugal steht vor der Tür. Rudi Völlers Mannen haben sich mit Mühe gegen viertklassige Gegner qualifiziert und müssen nun den Beweis antreten, daß sie mit einer Mannschaft wie Lettland mithalten können [1], um nicht wieder den letzten Tabellenplatz zu schmücken. 2004 ist jedoch auch ein Abschiedsjahr. Das legendäre Bökelbergstadion schließt seine Pforten. Markus Aretz hat mit seinem Buch Mythos Bökelberg die Geschichte eines Fußballstadions geschrieben.

Und zum Schluß wende ich mich von der Zeitgeschichte zur historischen Forschung. Wenn wir heute archäologische Fundstätten besuchen, sehen wir selten mehr als Ruinen. In den Zeiten multimedialer Visualisierung liegt es daher nahe, die Spuren der Vergangenheit so aufzubereiten, daß wir eine Vorstellung vom Aufbau und Leben in alten Ruinen gewinnen können. Im Stuttgarter Theiss Verlag sind jüngst zwei CD–ROMs erschienen, die sich mit den militärischen Hinterlassenschaften der Römer in Deutschland befassen. Es handelt sich hierbei um das Lager der VI. Legion in Neuss am Niederrhein und um das Kastell Biriciana im heutigen Bayern.

Durch diese Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte führt Walter Kuhl.

 

Eine kleine Nachtmusik

Jingle Alltag und Geschichte

Es ist morgens Viertel nach vier. Die Menschen im Modautaler Ortsteil Herchenrode schlummern noch tief und fest und träumen von den bevorstehenden Aufgaben des kommenden Tages. Doch unsanft werden sie aus ihren Träumen gerissen. Studierende aus Darmstadt ließen Mozarts Kleine Nachtmusik erklingen, um der Sozialministerin Silke Lautenschläger ein Ständchen zu bringen. Und um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, wurde der Ministerin ihre Mittäterschaft am sozialen Kahlschlag ihrer Landesregierung vorgehalten.

Die fand das natürlich gar nicht lustig. Schließlich schlummerte sie den Schlaf der Gerechten. Verteidigt sie doch eine anmaßende Umwelt vor den Zumutungen von Frauenhäusern, Schuldnerberatungen oder psychosozialen Einrichtungen.

Silke Lautenschlägers Beitrag zur Operation Sichere Zukunft fand jedoch nicht ungeteilte Zustimmung. Die Betroffenen dieser sicheren Zukunft können nämlich nicht so gut schlafen wie die Ministerin. Insofern haben die Studierenden der Fachhochschule und der Technischen Universität, die am vergangenen Mittwochmorgen nach Herchenrode aufgebrochen waren, so etwas wie Chancengleichheit hergestellt. Alle sollen gleich gut oder eben gleich schlecht schlafen können.

Doch die Ministerin sah das vollkommen anders: Mit dieser Aktion sind die Grenzen des legitimen Protestes überschritten worden, soll sie gesagt haben. Wirklich? Oder ist es nicht so, daß diejenigen, die anderen etwas antun, also nach deutschem Sprachgebrauch die Täter, einfach nur unbehelligt und ungestört ihr Tun weiter ausüben wollen? Warum soll das hinzunehmen sein? Tausende werden um ihren Schlaf gebracht und nur die Ministerin pienst, wenn sie einmal mit den Folgen ihrer eigenen Politik konfrontiert wird.

Doch selbstverständlich macht es einen Unterschied, ob eine Ministerin oder ein paar Studierende die nächtliche Ruhe stören. Während Silke Lautenschläger in Amt und Würden und von ihren Bodyguards geschützt eine Politik betreiben kann, die einer oder einem eigentlich die Schamesröte ins Gesicht treiben müßte, wird die nächtliche Ruhestörung derjenigen, die hierzu nicht legitimiert sind, mit allen Methoden eines gutorganisierten Repressionsapparates verfolgt. Als hätte die Darmstädter Polizei nichts Besseres zu tun, löste sie eine Ringfahndung nach den nächtlichen Ruhestörern aus. Ermittelt wird jedoch wegen des Verdachts der Ruhestörung und eines Verstoßes gegen das Demonstrationsrecht, also wegen einer Ordnungswidrigkeit. Ein Delikt, so gefährlich wie falsch Parken wird verfolgt wie ein dreister Banküberfall. Es scheint so, als falle der Politik in diesem Lande kein besseres Argument mehr ein als ein Polizeieinsatz.

Wolfgang Amadeus Mozart : Eine kleine Nachtmusik

 

Ein Juniorpartner flennt

Eine Fußnote am Rande des Absurden hat sich die Jugendorganisation der Sicherheits– und Operationspartei geleistet. Beim Streik der Studierenden an der TU Darmstadt zeigte sich die Junge Union voll auf der Höhe der Zeit. Ihr Vorsitzender Andreas Heckmann argumentierte sich eine Schraube mit eingebautem Salto rückwärts zusammen, als er in einer Pressemitteilung am 27. November [1a] formulierte, es

sei untragbar, wenn [durch den Streik] Kommilitonen am Besuch von Lehrveranstaltungen gehindert und ihr Studium somit verzögert würde. Dies hat gerade für sozial schwächere Studenten gravierende Folgen.

Es ist so wie bei der nächtlich geweckten Silke. Nicht etwa diejenigen, die mit einer unsozialen Zukunftsoperation knallhart dafür sorgen, daß sozial Schwächere erst recht garantiert keine Chancen erhalten, sind die Schuldigen der Misere, sondern diejenigen, die sich dagegen zur Wehr setzen. Ist ja auch logisch. Schuld sind immer die Anderen, das ist alles eine Frage der Definitionsmacht. Sowohl Silke Lautenschläger wie auch Andreas Heckmann sind sozial gewiß gut gebettet und müssen sich daher keine Sorgen um die Probleme anderer Menschen machen. Diese Menschen werden allenfalls als Manövriermasse eigenen Gutmenschentums betrachtet.

Schließlich ist man und frau ja in einer christlichen Partei. Entsprechend konsequent predigte auch die hessische Kultusministerin Karin Wolff am 31. Oktober in Roßdorf zum Reformationstag mehr Barmherzigkeit. Der evangelischen Religionspädagogin fiel es leicht, von den sozialen Taten ihrer Regierung abzulenken und statt dessen die Verrohung der Sitten in Fernsehen und anderen Medien zu kritisieren. Sie wies hierbei auf den angeblich normativen Charakter dieser visuellen Medien hin, der Kinder dazu animiere, physisch und psychisch nachzutreten, wenn jemand schon am Boden liege. Aber liegt das an den Medien oder der Botschaft, welche diese Medien vermitteln? Egoismus, Konkurrenz, Durchsetzungsvermögen, Ausbeutung, Gewalt. Und wessen Botschaft ist das? Ist die mediale Ellenbogengesellschaft nicht genau das Spiegelbild der Agenda 2010 und der Operation Sichere Zukunft? Wird Frau Wolff die Geister, die sie rief, nicht mehr los? Kann sie gar etwa nicht mehr ruhig schlafen? [2]

Doch zurück zur Solidarität im Hochschulalltag. Auch einem Andreas Heckmann ist es aufgefallen, daß das Notopfer Studiengebühren für etwas benutzt wird, was nur schwer zu vermitteln ist. Allerdings scheinen auch viele Studierende nicht so recht zu wissen, wofür oder wogegen sie sind. Solidarität ist zwar eine Waffe, aber nur, wenn man und frau untereinander auch solidarisch ist. Doch Studentinnen und Studenten zu organisieren ist etwas anderes als Arbeiterinnen und Angestellte zum Streik aufzurufen. Bei Lohnabhängigen ist das gemeinsame Klasseninteresse zumindest objektiv vorhanden, denn ihnen gemeinsam steht der Kapitaleigner in Form des sogenannten Arbeitgebers, der die Früchte der Arbeit Anderer nimmt, gegenüber. Hier kommen Klasseninteresse und eigenes subjektives Interesse noch eher zusammen.

Doch Studierende sind keine Klasse mit einem objektiv gemeinsamen Interesse. Das Studium dient in erster Linie der zukünftigen Berufskarriere; und hier ist es nicht einzusehen, warum gemeinsames Handeln nützlich sein soll. Das Konkurrenzprinzip ist Grundlage auch des Hochschulwesens und der darin vorhandenen selektiven Auswahl. Es ist kein Zufall, daß vorwiegend Kinder aus Arbeiterfamilien und nicht zuletzt Frauen auf der Strecke bleiben. Das ist im Prinzip schon so angelegt. Wer also die Selektionsmechanismen der Hochschulen nicht thematisiert, wer nicht danach fragt, was für eine Wissenschaft denn dort vermittelt wird und wem sie dient, hat seine oder ihre Hausaufgaben nicht gemacht. Wissenschaft ist alles andere als wertfrei; und das trifft nicht nur für die drei klassischen Glaubensfakultäten einer Universität zu: die Katholischen Theologie, die Evangelischen Theologie und für die sogenannten Wirtschaftswissenschaften.

Daher ist ein Streik von Studierenden immer auch eine Minderheitenangelegenheit; und im Verlauf eines Streik bröckelt die Streikfront ziemlich schnell. Das kann auch gar nicht anders sein. Das liegt nicht an den falschen Zielen oder einer fehlenden Legitimation des Streiks, sondern an ganz objektiven Tatbeständen. Das Ziel der Uni ist es, Herrschaftswissen zu vermitteln; das Ziel von Studierenden ist es, einen möglichst guten Job zu bekommen, nicht etwa: Wahrheit zu erfahren. Das Studium ist daher immer schon ein Scheinstudium im doppelten Sinne des Wortes gewesen.

Wer sich das nicht klar macht, handelt fahrlässig und hängt Illusionen an. Wenn nun Andreas Heckmann von der Jungen Union Darmstadt an die Studierenden appelliert, sich für eine bessere Hochschule einzusetzen, dann sind damit nicht etwa materielle Bedingungen gemeint, die tatsächlich allen zu einer streßfreien Berufsqualifikation verhelfen sollen. Peinlich ist auch für ihn, daß mit den Studiengebühren der Landeshaushalt konsolidiert werden soll, anstatt die Gelder den Hochschulen zugute kommen zu lassen. Doch

sei es angesichts der angespannten Haushaltslage [...] unvermeidlich, daß mit diesen Gebühren auch die Studenten einen Beitrag zur notwendigen Konsolidierung des Haushalts leisteten, dies dürfe aber nur ein einmaliger Beitrag sein.

Reden wir Klartext: die Operation Sichere Zukunft dient der sicheren Zukunft von Wirtschaftsinteressen im Lande Hessen. Wo die Wirtschaft gefördert wird, wo Subventionen sprießen, wo Steuergelder verschenkt oder verschleudert werden, da müssen andere zur Kasse gebeten werden. Natürlich hat Andreas Heckmann Recht: das ist unvermeidlich und notwendig. So ist das eben im Kapitalismus. Aber nur deshalb, weil es alle so machen, von Schröder bis Koch, von Stoiber bis Clement, ist es noch lange nicht richtig oder gar unvermeidlich. Warum soll ich auch einen finanziellen Beitrag zu etwas leisten, was mir schadet?

Wenn Andreas Heckmann danach jedoch flennt, bitte laßt dies nur einen einmaligen Beitrag zur Quersubventionierung des notleidenden Mittelstandes sein, dann scheint auch ihm aufgegangen zu sein, daß neben Rentnerinnen, Frauen, Sozialhilfeempfängern, Arbeitslosen und anderen eben auch die Studierenden wie er selbst ausgenommen werden sollen wie eine passend zum Fest bereitete Weihnachtsgans. Absurd ist deswegen nicht der Studenten–Streik, wie Andreas Heckmann schreibt, sondern absurd ist es, sich das alles gefallen zu lassen.

Für alle diejenigen, die etwas mehr über die Funktionsweise dieser absurden Wirtschaftsordnung wissen möchten oder die über den Tellerrand der universitären Ausbildung schauen wollen, empfehle ich die Sendereihe Einführung in den Marxismus. Am kommenden Mittwoch ab 23 Uhr werde ich weitere Kapitel aus dem gleichnamigen Klassiker von Ernest Mandel vorlesen. Diese Einführung in den Marxismus wird am Mittwoch, den 17. Dezember, und im neuen Jahr am 14. Januar fortgesetzt. Mehr zu dieser Sendereihe ist auch im Internet zu finden unter www.einfuehrung.de.vu.

Und hierzu noch eine Ergänzung: Vor wenigen Tagen hatte ich den marxistischen Wirtschaftsfachmann und ehemaligen Bundestagsabgeordneten Winfried Wolf zu Gast im Studio. Wir sprachen über die derzeitige kapitalistische Krise und auch über die praktischen Folgen, die sie für uns haben kann. Dieses Gespräch wird am Sonntag, den 28. Dezember, ab 19 Uhr auf Radio Darmstadt zu hören sein, oder in der Wiederholung am darauf folgenden Montagmorgen, den 29. Dezember, ab 10 Uhr.

 

Fachfrauliche Diagnose der Operation von Frau Doktor Lautenschläger

Besprechung von : Sahra Wagenknecht – Kapitalismus im Koma, edition ost 2003

Money makes the world go ‘round – Geld ist das Schmiermittel, das alles in Bewegung hält. Doch es ist nicht das Geld, was Probleme macht, sondern das zugrunde liegende Kapitalverhältnis. Die Abschaffung des Geldes würde kein einziges Problem lösen, und die auch auf diesem Sender vorgestellten gesellianischen Tauschringe sind allenfalls Nischenexistenzen im Spiel der Global Player. [3]

Zwar reden derzeit alle den Aufschwung herbei, doch so recht mag er nicht kommen. Angesichts dessen, daß Zigtausende monatlich auf die Straße geworfen werden, Leistungen gekürzt und Preise erhöht werden, ist es kein Wunder, wenn die Binnenkonjunktur schwächelt. Und Doktor Lautenschläger operiert, wohlwissend, daß nur radikaler Lohnraub und Abbau von Sozialleistungen die Profitrate erhöhen werden. Doch wo ein Doktor operiert, sollte eine Diagnose vorliegen. Die kommunistische Publizistin Sahra Wagenknecht hat nun in der edition ost der Neue Berlin Verlagsgesellschaft eine "sozialistische Diagnose" vorgelegt. Ihr fachfrauliches Urteil lautet: der Kapitalismus liegt im Koma. [4]

Das Koma ist hausgemacht. Aber, so Sahra Wagenknecht, dies ist keine Frage einer falschen Politik oder der falschen Leute am falschen Platz. Das Grundübel ist der Kapitalismus und der gehört nun einmal abgeschafft. So richtig diese Erkenntnis ist, so wenig hilfreich ist sie im praktischen Leben. Hilfreich hingegen ist es, regelmäßig auf Wirtschaftskolumnen den Sinn bestimmter wirtschaftspolitischer Maßnahmen erklärt zu bekommen, um daraus abzuleiten, daß Widerstand hiergegen nicht nur notwendig, sondern auch sinnvoll ist.

Sahra Wagenknecht schreibt regelmäßig für die Tageszeitung junge Welt und erklärt dort in ihren Kolumnen genau die Zusammenhänge, an denen bürgerliche Ökonomen scheitern. Ihre Kolumnen aus den Jahren 2001 bis 2003 bilden daher auch den Grundstock für ihr Buch. Mag sein, daß die eine oder andere Zahl veraltet ist – der von ihr immer wieder aufs Neue hergestellte Zusammenhang zwischen Ausplünderung, Verelendung, Sparzwang und Steuergeschenken ist es jedoch nicht.

Ich sprach vorhin von den drei Glaubensfakultäten an deutschen Universitäten. Der Witz ist sicherlich schon alt, doch er erheitert immer wieder. Denn die deutsche Professorenzunft führt sich selbst immer wieder vor. Bei Sahra Wagenknecht liest sich das so:

Das einzig wirklich Erstaunliche an dem Vorgang ist das immer wieder ehrlich erscheinende Erstaunen der Hauptdarsteller. "Das hat mich sehr überrascht" – kommentierte Wolfgang Wiegard, Ökonomieprofessor und staatlich gekürter "Wirtschaftsweiser", den erneuten Rückgang des deutschen Bruttoinlandprodukts im ersten Quartal 2003. [...] Und das, obwohl Schröder den Vorschlägen des weisen Professor Wiegard zur "Verbesserung der Angebotsbedingungen" treu gefolgt war: das soziale Netz wurde kräftig ausgedünnt, die "Lohnkosten" dank Hartz erneut gesenkt, das Großkapital mit Steuerforderungen nahezu nicht mehr belästigt und die Lebensbedingungen Arbeitsloser weiter verschlechtert. [5]

So schreibt dann auch das Handelsblatt: "Volkswirte stochern im Nebel". Dabei ist es, so Sahra Wagenknecht, ganz einfach zu verstehen, so einfach, daß es sogar das Statistische Bundesamt weiß. Wer wenig hat, gibt sein oder ihr ganzes Geld für Konsum aus. Wer viel hat, spart. Wenn also den Habenichtsen genommen und den Reichen per Steuerreform gegeben wird, kommt als logisches Ergebnis heraus, daß weniger konsumiert wird. [6]

Vielleicht hätte Gerhard Schröder beim Statistischen Bundesamt nachfragen sollen und seine Wirtschaftsweisen nach Hause schicken? Nun, so einfach ist es nicht, und das macht auch ein wenig die Schwäche des ansonsten nett zu lesenden Buches von Sahra Wagenknecht aus. Natürlich machen Schröder, Clement und Koch keine falsche Politik. Nur ihre ideologischen Frontmänner scheinen das nicht so richtig begriffen zu haben ... und wundern sich (oder tun zumindest so). Sahra Wagenknecht hingegen kann es sich nicht verkneifen, darauf hinzuweisen, wie es denn sozial verträglicher gehen könnte – und verweist ausgerechnet aufs Kapitalismus-kompatible Grungesetz: "Eigentum verpflichtet".

Natürlich hat sie im Prinzip Recht: die Diktatur der Global Player beruht auf ihren Eigentumsrechten. Werden sie enteignet, sozialisiert oder sonstwie in ihre Schranken verwiesen, geht es wenigen schlechter und den meisten besser. Keine Frage. Natürlich hat sie auch Recht, wenn sie sagt, daß kommunale Unternehmen sich andere Ziele setzen können und deshalb im Rahmen der kapitalistischen Profitlogik unrentabler sind. Und sie hat Recht, wenn sie sagt, daß betriebswirtschaftliche Logik auf volkswirtschaftlicher, wenn nicht gar globaler Ebene der absolute Irrsinn ist. Deshalb liegt (so sagt sie) der Patient derzeit ja auch im Koma und wartet darauf, von Koch und Schröder, Blair und Bush, Fischer und Putin wachgeküßt zu werden.

Wo ist dann mein Problem? Mein Problem ist, daß Sahra Wagenknecht viel zu sehr immanent denkt – und vor allem, daß ihre Kapitalismuskritik eine Kritik der Monopole und ihrer schrankenlosen Macht ist. Mag ja sein, daß kleine Gewerbetreibende Kommunen nicht erpressen, obwohl sie ja dafür ihre Honoratiorenvereinigungen und Handelskammern haben. Aber kleine Ausbeuter sind auch nicht besser als große, sie beuten halt nur nicht so viele Menschen aus.

Als Kritik des monopolistischen Kapitalismus ist ihr Buch jedoch lesenswert, weil es die Facetten der Gemeinheit, der Bevorteilung, des Abkassierens und der damit verbundenen Lebenslügen nachvollziehbar ausbreitet. Weil sie die Handlanger des Kapitals benennt und ihre Verantwortung für den sozialen Kahlschlag herausstellt. Dabei macht sie keinesfalls vor der Sozialdemokratie, den Gewerkschaften und den Grünen halt. Mehr noch – sie kritisiert vollkommen zurecht die Rolle der PDS bei der Umsetzung neoliberaler Konzepte im Berliner Senat. Hier zeigt sich, daß die PDS auch nicht mehr ist als eine gewöhnliche sozialdemokratische Partei.

Ob allerdings ihre Diagnose stimmt, bezweifle ich. Der Patient liegt nicht im Koma. In der Berufsberatung würde es heißen: er orientiert sich um.

All das, was wir an Wahnwitz derzeit erleben, ist nur der Anfang. Da es keinerlei systemimmanente Gründe mehr gibt, ein funktionierendes Sozialsystem aufrecht zu erhalten, werden wir mit einer Gnadenlosigkeit konfrontiert, die nur ein Ziel kennt: den Markt so zu bereinigen, daß für wenige Überlebende genügend Profit zum Verteilen vorhanden ist. Mag sein, daß dieser Prozeß noch Jahre, vielleicht Jahrzehnte benötigt. Aber die Weltwirtschaftskrise von 1929 begann mit dem 1. Weltkrieg und endete mit Faschismus und einem zweiten. Das sind die Dimensionen, in denen wir denken und handeln müssen.

Die Frage lautet: können wir diesen Wahnwitz aufhalten? Die Antwort lautet ja. Wir können es, aber es bedarf dazu weitaus mehr als punktuelle Streiks oder Demonstrationen, Wahlabstinenz oder kluger Reden. Dann ist es jedoch richtig, was Sahra Wagenknecht als Schlußwort schreibt, daß nämlich die Millionen und Abermillionen Menschen, die heute noch die Rädchen des Getriebes sind, sich auch querstellen können. Sie könnten "ihr Menschenrecht auf ein würdiges, sozial gesichertes Leben ohne Angst einfordern"! [7] Dies ist jedoch letztlich eine Perspektive, die über den Kapitalismus hinausweist.

Im übrigen bin ich der Meinung, daß eine kommunistische Autorin, die Menschen fast nur in der männlichen Form kennt, ihre Gesellschaftskritik noch nicht radikal genug formuliert hat.

Kapitalismus im Koma von Sahra Wagenknecht ist in der edition ost der Neue Berlin Verlagsgesellschaft erschienen und kostet 9 Euro 90.

 

Erhellende Gedanken zu statistischen Zahlen

Besprechung von : Statistisches Jahrbuch 2003, herausgegeben vom Statistischen Bundesamt

Die Zahlen des Statistischen Bundesamtes füllen die Spalten der Zeitungen und die Sendezeit der Sender. Wie oft haben wir schon gelesen oder gehört, diese oder jene Angaben beruhen auf Informationen des Statistischen Bundesamtes? Wir nehmen sie auf und vergessen sie wahrscheinlich gleich wieder. Nur die Botschaft, die damit vermittelt wird, schlummert in uns weiter. Weil Zahlen mehr sind als abstrakte Größen. Zahlen werden zusammengestellt und weitergegeben auf der Grundlage eines damit verbundenen Interesses. Wenn wir schon nicht an die Weisheit der Wirtschaftsgutachter glauben, dann jedoch an die Wahrheit der Zahlen.

Nun weiß der Volksmund, daß man und frau nur jener Statistik Glauben schenken sollte, die sie oder er selbst erfunden oder manipuliert habe. Da ist etwas Wahres dran. Zahlen allein sagen nichts aus; nur im gesellschaftlichen, und das heißt auch: gesellschaftskritischen Zusammenhang entfalten sie ihre Wirkung. Ich zum Beispiel finde die statistischen Angaben des Statistischen Bundesamtes zuweilen inspirierend. Sie zwingen mich nämlich zum Nachdenken darüber, was damit ausgesagt werden soll. Und das Schöne ist: das könnt ihr auch haben.

So gibt es die Möglichkeit, sich auf die Mailingliste des Statistischen Bundesamtes setzen zu lassen. Dann erfährt man und frau zwar viele Dinge, die nun wirklich nicht wichtig erscheinen, aber eben auch die Zahlen, mit denen in den Medien operiert wird. Da heißt es am 14. November: Pensionierung von Lehrern wegen Dienstunfähigkeit weiter rückläufig. Wer jedoch daraus den Schluß zieht, daß die Arbeitsbedingungen für Lehrerinnen und Lehrer sich verbessert, hätten, irrt. Die angeblich so faulen Lehrerinnen und Lehrer, die es sicher auch geben mag, und warum nicht?, haben offensichtlich mit Arbeitsbedingungen zu tun, die dazu führen, daß im Jahr 2002 ganze 15% mit Erreichen des 65. Lebensjahres in den Ruhestand getreten sind. Nun, das wird sich ändern. Daran wird die Operation Sichere Zukunft sicher mitwirken.

Für diejenigen, die von Statistiken nicht genug bekommen können, die sie zum Nachschlagen benötigen oder die einfach nur neugierig sind, was es alles in diesem Land so gibt: für diejenigen gibt es das Statistische Jahrbuch 2003 als geballten Doppelpack. Zum einen das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland. Auf 738 Seiten können wir erfahren, welcher Stausee den größten Stauraum besitzt [8] (wichtig für Günther Jauch), wieviele Streiks es im Baugewerbe gab [9] (wichtig für fortschrittliches Handeln), wie sich der Kaufwert landwirtschaftlicher Grundstücke verändert hat [10] (wichtig für die Spekulation) oder wieviele Verfahren vor Familiengerichten anhängig waren [11] (was etwas über den derzeitigen Zustand des Patriarchats aussagt).

Angesichts dessen, daß das Gesundheitswesen radikal reformiert, sprich: demoliert, werden soll, sind natürlich auch die diesbezüglichen 32 Seiten von Interesse. Hier können wir überprüfen, ob wir überversorgt sind, und uns fragen, welchen Zusammenhang es gibt, wenn die durchschnittliche Verweildauer in Krankenhäusern abnimmt, aber die Bettenauslastung gleich bleibt, weil es weniger Krankenhausbetten gibt [12].

Das Statistische Jahrbuch für das Ausland bietet die Möglichkeit, die Staaten der Erde anhand statistischer Daten aus vielen Bereichen miteinander zu vergleichen. Das ermöglicht es uns nachzuschlagen, ob die Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich wirklich so glänzend dasteht oder wo ganz besonders Defizite bestehen. Und damit meine ich nicht, daß die Lohnnebenkosten zu hoch sind. Wir könnten uns zum Beispiel fragen, was es bedeutet, wenn in Deutschland 362 Ärztinnen und Ärzte auf 100.000 Personen kommen, aber in Italien 603. Wahrscheinlich zeigt dies nur das mögliche Kahlschlagpotential anderer Länder an. [13]

Langer Rede, kurzer Sinn: beide Jahrbücher sind auch getrennt zu erwerben. Das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland umfaßt 738 Seiten und kostet 67 Euro; das Statistische Jahrbuch für das Ausland umfaßt 368 Seiten und kostet 31 Euro. Beide Jahrbücher sind auch zusammengefaßt auf einer CD-ROM mit zusätzlicher Suchfunktion erhältlich. Mehr hierzu auch im Internet unter www.destatis.de.

 

Ein Mythos zieht um

Besprechung von : Markus Aretz – Mythos Bökelberg, Verlag Die Werkstatt 2003

Zu den seltsamen Umständen des Lebens gehört, daß ausgerechnet ein kleiner Provinzverein aus Nordrhein-Westfalen zu den beliebtesten Vereinen der Republik gehört. Vor drei Jahren will eine in Köln ansässige Agentur in einer repräsentativen Umfrage herausgefunden haben, daß logischerweise die Bayern in der Beliebtheit auf Platz 1 stehen und daran anschließend Borussia Mönchengladbach folgt, weit vor Dortmund oder Schalke. Die Lilienfans wurden wahrscheinlich nicht befragt. [14]

Nun liegt das sicher nicht am aktuellen Tabellenstand des Vereins. Der dümpelt seit Jahren zwischen Abstiegsgefahr und Zweitliga hin und her. Nein – Vereine benötigen Mythen und Fans, die anfällig für derartige Mythen sind. Bei Gladbach ist das aber nachzuvollziehen: immer im Schatten der großen Bayern holten auch sie in den 70er Jahren Titel auf Titel und hatten gleichzeitig ihre ganz eigene Serie von Pleiten, Pech und Pannen. Dabei spielte mancher Schauspieler wie der italienische Nationalspieler Roberto Boninsegna oder so mancher Schiedsrichter eine unrühmliche Rolle. Das 7:1 gegen Mailand ist so legendär wie allenfalls das 4:7 der Bayern in Kaiserslautern. [15]

Zu einem richtigen Mythos gehört auch ein Stadion. Angesichts dessen, daß das ruhmreiche Bökelbergstadion nächstes Jahr seine Pforten schließt, um einer modernen Arena Platz zu machen, hat Markus Aretz jetzt im für seine qualitätsvollen Bücher einschlägig bekannten Verlag Die Werkstatt ein Buch über den Mythos Bökelberg herausgebracht. Kaum zu glauben, wie dieses Stadion beispielsweise im Jahr 1920 aussah. Eine Matscharena mit steil ansteigenden Rasentribünen galt damals als das "schönste Naturstadion weit und breit". Die vorhandenen Fotos belegen jedoch auch, daß Bandenwerbung schon damals kein Fremdwort war. Das Naturstadion war von einer Mauer umgeben; und die Mauer diente als Werbefläche. Erstaunlich, daß der erzreaktionäre DFB solcherlei geduldet hat!

Markus Aretz erzählt auf den 232 Seiten seines Buches nicht nur die Geschichte des Stadions. Das Stadion allein gibt ja nicht so viel her; dazu bedarf es einer Mannschaft, die es mit Leben erfüllt. Daher passieren die "unvergeßlichen Spiele" – wie eben das schon erwähnte 7:1 Revue, angeblich das beste Europapokalspiel aller Zeiten. Zum Schluß kommen dann auch die Fans zu Wort, die teilweise jahrelang, jahrzehntelang die Spiele live vor Ort verfolgt haben. Sie erzählen ihre Geschichte und von ihrer Verbundenheit mit einem Club, der sich eigentlich in nichts von anderen unterscheidet. So schaffen sich Mythen ihre eigene Identität.

Das Stadion ist allerdings nicht ganz unschuldig daran, daß die beiden Aufsteiger des Jahres 1965, Bayern München und Borussia Mönchengladbach, letztlich doch sehr unterschiedliche Wege genommen haben. Während die Bayern das Publikum einer Millionenmetropole absorbieren konnten und 1972 für die Olympischen Spiele auch noch eine für damalige Verhältnisse erstklassige Arena hingestellt bekamen, blieb Gladbach am viel zu kleinen Bökelberg hängen. Allein bei den Einnahmen aus Eintrittspreisen waren die Bayern anderen Mannschaften schon damals um Lichtjahre voraus. Was bedeutete, daß die Gladbacher ihre besten Spieler verkaufen mußten, nicht selten an die Konkurrenz aus München. Das konnte nicht gut gehen, und so verschwand Gladbach nach dem letzten Meistertitel 1977 langsam, aber sicher, in der Versenkung. Ob das neue Stadion dazu beitragen kann, den alten Glanz aufzupolieren, mag bezweifelt werden. Wie im richtigen Leben ist die Standortkonkurrenz groß; überall werden Stadien modernisiert oder neu gebaut. Und hier haben Mannschaften wie Dortmund und Schalke eindeutig Vorteile, weil sie aus den Erfolgen der Vergangenheit das nötige Kleingeld zusammengetragen haben, um neue Erfolge zu kaufen.

Somit bleibt uns der Mythos; und Mythen leben oftmals länger als gedacht. Sie werden das Stadion ganz sicher überleben. Das Buch von Markus Aretz ist also eines für Fans, vielleicht vor allem für solche, die in den 70er Jahren groß geworden sind. Mythos Bökelberg von Markus Aretz ist im Verlag Die Werkstatt zum Preis von 24 Euro 90 erschienen.

 

Virtuelle Römerwelten

Besprechung der CD-ROMs Ein römisches Kastell in Deutschland und Das Lager der VI. Legion, Theiss Verlag 2003

Von den Mythen der Gegenwart zu den Spuren der Vergangenheit. Was immer Archäologen ausgraben und Archivarinnen dokumentieren – meist sind es nur ein paar Steine, Fundamente oder Mosaiksteine, die einen meist notdürftigen Eindruck von dem vermitteln, was vor 2000 Jahren einmal stand. Vor 2000 Jahren eroberten die Römer das Gebiet westlich des Rheins und südlich der Donau; der Versuch, die Grenzen bis zur Elbe vorzutreiben, scheiterte bekanntlich. Zur Absicherung ihrer Machtsphäre bauten die Römer nicht nur den Limes als Grenzbefestigung, sondern sie errichteten Militärgarnisonen in Form von kleineren Kastellen und größeren Legionslagern. Spuren vieler dieser Lager sind heute überbaut oder abgetragen; weniges ist noch vorhanden. Hier muß die Phantasie nachhelfen. Die heutigen Möglichkeiten virtueller Rekonstruktionen stellen daher auch eine Herausforderung dar. Denn derartige virtuelle Welten sind immer eine Annäherung, nie die Wahrheit.

Im stuttgarter Theiss Verlag sind nun zwei sehr verschiedene Rekonstruktionsversuche erschienen, die jeweils auf ihre eigene Weise eine Ahnung davon verschaffen, wie es in römischen Militärlagern ausgesehen haben könnte. Natürlich sind diese Rekonstruktionen nicht willkürlich. Die römischen Architekten und Bauherren waren durchaus praktische Leute; daher gab es normierte Ziegel genauso wie standardisierte Bauten. Somit sind die vorgelegten Rekonstruktionen realistisch.

Robert Frank und Daniel Krüger führen uns in ihrem virtuellen Rundgang durch das antike Weißenburg am bayrischen Limes in Ein römisches Kastell in Deutschland. Zwischen 90 und 254 war hier die schlagkräftigste Reitertruppe im bayrischen Voralpenraum stationiert. Die Simulation zeigt nun den Aufbau dieses Verwaltungszentrums nahe der Grenze und führt uns bis ins Allerheiligste, den geweihten Fahnen. Thermen gehörten genauso selbstverständlich dazu wie Wohnsiedlungen. Selbst an kleinere Details wurde gedacht, wie die Schatten der Gebäude oder Waffen als Dekor, wie es dem damaligen Zeitgeist entsprach.

Christiane Zangs hat für das Clemens-Sels-Museum in Neuss eine detailreiche Rekonstruktion des Lagers der VI. Legion am Ufer des Rheins herausgegeben. Dieses Lager stellt bis heute das am vollständigsten ausgegrabene römische Legionslager in Europa dar. Sehr schön werden darin die einzelnen Gebäude beschrieben; insbesondere die Rekonstruktion des Lazaretts ist beeindruckend. Irritierend ist hingegen die Geräuschkulisse, auch wenn die zugehörigen Handlungen nicht gezeigt werden. Nett ist der Einfall der musikalischen Untermalung, auch wenn die Melodie nach einiger Zeit etwas nervt. Die CD-ROM zum Legionslager von Neuss wartet mit einer Reihe zusätzlicher Informationen auf und zeigt als Schmankerl einen kleinen Filmausschnitt aus der Grabungstätigkeit. Die Flugsimulationen über das Gelände werden jedoch ein wenig zu hastig durchgeführt. Insgesamt läßt sich dennoch ein guter Eindruck von der Funktion und vom Aufbau des Lagers gewinnen. Wer Spaß am puzzeln hat, findet zudem einige Puzzles mit römischen Motiven.

Beide Rekonstruktionen sind als CD-ROM erhältlich, wobei die Rekonstruktion des Kastells von Biriciana, Weißenburg, in einer DVD-Verpackung ausgeliefert wird. Die Systemanforderungen sind nicht besonders hoch; auch betagte Pentium-Rechner sind ausreichend. Die Vorgaben von 250 MHz für Weißenburg bzw. 300 MHz für Neuss sind jedoch realistisch. Bei langsameren Rechnern ruckeln die Bilder zu sehr und der Ton klingt mitunter verzerrt oder setzt aus. Mit Ausnahme der eventuellen Installation des Quick Time Players, der notwendig ist, werden zudem keine Daten auf der Festplatte abgelegt. Das ist erfreulich und zeigt, daß derartige Simulationen auch vom CD-Laufwerk abgespielt werden können. Beide virtuellen Rundgänge sind bei Theiss zum Preis von 29 Euro 90 erhältlich. Die genauen Angaben folgen gleich.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte – 

heute mit einigen Anmerkungen zu süßen Träumen und nächtlichen Ruhestörungen, zum Kapitalismus im Koma, zu Statistiken und wie sie zu lesen sind, zum Mythos Bökelberg und zum Aussehen militärischer Einrichtungen der Römerzeit. Vorgestellt habe ich hierbei:

  • Von Sahra Wagenknecht das Buch Kapitalismus im Koma. Ihre sozialistische Diagnose ist in der edition ost der Neue Berlin Verlagsgesellschaft zum Preis von 9 Euro 90 erschienen.
  • Das Statististische Jahrbuch 2003 des Statistischen Bundesamtes in drei Teilen. Das Statistische Jahrbuch für die Bundesrepublik Deutschland umfaßt 738 Seiten und kostet 67 Euro; das Statistische Jahrbuch für das Ausland umfaßt 368 Seiten und kostet 31 Euro. Beide Jahrbücher sind auch auf einer CD-ROM mit zusätzlicher Suchfunktion erhältlich.
  • Von Markus Aretz die Geschichte eines Fußballstadions mit dem Titel Mythos Bökelberg. Diese Hommage an seinen Lieblingsverein ist im Verlag Die Werkstatt erschienen und kostet 24 Euro 90.
  • Ein römisches Kastell in Deutschland stellen uns Robert Frank und Daniel Krüger mit einem virtuellen Rundgang durch das antike Weißenburg in Bayern vor. Christiane Zangs ist die Herausgeberin einer weiteren CD-ROM über Das Lager der VI. Legion im niederrheinischen Neuss. Beide CD-ROMs sind im stuttgarter Theiss Verlag zum Preis von jeweils 29 Euro 90 erschienen.

Zum Schluß noch einige Programmhinweise:

Zum Verständnis der Agenda 2010 und der Operation Sichere Zukunft verweise ich auf unsere Sendereihe Einführung in den Marxismus, basierend auf dem gleichnamigen Buch von Ernest Mandel, das im Neuen ISP Verlag erhältlich ist. Die nächste Folge könnt ihr am kommenden Mittwoch ab 23 Uhr hören.

Die Redaktion Alltag und Geschichte ist wieder am Dienstag ab 18 Uhr mit Jadran, unserer Sendung in serbischer Sprache, on air, und am Mittwoch ist Alexander Pollack mit einer neuen Ausgabe von SoFA – Soziales Familie und Arbeit – ab 19 Uhr auf Sendung.

Und wenn dies jetzt alles ein paar Informationen zu viel auf einmal waren: meine heutige Sendung wird am Dienstag nach dem Radiowecker um 8 Uhr und noch einmal gegen 14 Uhr wiederholt. Am Mikrofon war Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Ich war offensichtlich Hellseher! Am 19. Juni 2004 trotzten die besten Kicker der Nation dem haushohen Favoriten Lettland ein 0:0–Unentschieden ab.
[1a]  Junge Union Darmstadt–Stadt, Andreas Heckmann – Pressemitteilung [ohne Datum, 27.11.2003] : JU Darmstadt: Studenten–Streik ist aburd
[2]   Michael Fritz : Wolff ruft zu mehr Barmherzigkeit auf, in: Darmstädter Echo vom 3. November 2003 (Landkreis-Teil)
[3]   Siehe hierzu das Sendemanuskript zu Schwarzarbeit und Tauschringe von Katharina Mann und Niko Martin: www.alltagundgeschichte.de/archiv/spiemanu/hds_0309.html.

[4]   Das CDU–nahe Sonntag–Morgenmagazin entblödete sich nicht, auf plumpe antikommunistische Manier von einer Lesung der Autorin zu berichten. Andreas Giese schrieb in der Ausgabe vom 12. Oktober 2003 unter der Überschrift Staatsbürgerkunde im Schloss. Sahra Wagenknecht liest aus ihrer Wahrnehmung der Realität:

Staatsbürgerkunde war das wohl meist gehasste Fach in der DDR. Mehrere Generationen von Kindern wurde die allein seelig machende Theorie des Marxismus–Leninismus eingeimpft. Mit mäßigem Erfolg, wie die Geschichte gezeigt hat. Eine, die den Stoff verinnerlicht und die Phrasen adaptiert hat, war am Freitag [10.10.2003] zu Gast in Darmstadt.
Die Unterrichtsstunde in Sahra Wagenknechts Lieblingsfach "früher war alles besser" begann ohne Klingelzeichen und moderiert von ex-ZDF–Redakteur Alexander U. Martens. Rund 40 Zuhörer im Jagdschlosse Kranichstein lauschten Wagenknechts sehr individueller Wahrnehmung der Realität, die sie sich in ihrem Buch "Kapitalismus im Koma" von der wiedervereinigungsgeplagten Seele geschrieben hat.
Fast eine Stunde lang offerierte die Vertreterin der Marxistischen Plattform in der PDS ihre Erklärungen für die Probleme der Welt. Im Irak ist es nur um Öl gegangen, um Einfluss von Texaco und BP, in Fidel Castros kommunistischer Karibikenklave Kuba ist die Kindersterblichkeit gering und US-Präsident Bush haben die "Öl– und Rüstungsbarone an die Macht geputscht".
Und auch bei der Unternehmenssteuerreform der rot–grünen Bundesregierung hatte das "Kapital" gewiss seine Finger im Spiel. Nachdem die Besucher erfahren hatten, dass die imperialistische "Barbarei heute Demokratisierung" heißt und unter Freiheit nur das "Faustrecht des Stärkeren" zu verstehen sei, lieferte Wagenknecht noch die Erkenntnis, dass nach dem Ende des Kommunismus in den Ländern Osteuropas alles schlechter geworden sei und die "Wiedereinführung des Kapitalismus in Russland zu größerer Verheerung geführt hat als der zweite Weltkrieg".
Nach so viel Erkenntnis gab die bekennende Marxistin ihrem Auditorium zum Abschluss der Lesung noch eine optimistische Perspektive mit auf den Weg: Denn mit Verstaatlichung würden die Probleme der Menschen gelöst und mit ein bisschen Idealismus könnte man aus Europa, dem "alten hochgerüsteten und kriegerischen Kontinent", noch ein kommunistisches Kuschel–Idyll machen.
Die Lesung war Teil der Reihe "Leseland Hessen" und mitfinanziert vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst.

Das muß den armen Andreas Giese ganz schön gewurmt haben. Vor allem die Erkenntnis des hessischen Wissenschaftsministeriums, daß der Marxismus durchaus als eine Wissenschaft betrachtet und deshalb gefördert werden muß.

[5]   Sahra Wagenknecht : Kapitalismus im Koma, Seite 100
[6]   Sahra Wagenknecht, Seite 101
[7]   Sahra Wagenknecht, Seite 160
[8]   Statistisches Jahrbuch 2003 (Inland), Seite 17
[9]   Statistisches Jahrbuch 2003 (Inland), Seite 130
[10]  Statistisches Jahrbuch 2003 (Inland), Seite 163
[11]  Statistisches Jahrbuch 2003 (Inland), Seite 356
[12]  Statistisches Jahrbuch 2003 (Inland), Seite 444
[13]  Statistisches Jahrbuch 2003 (Ausland), Seite 288
[14]  Holger Jenrich : das Borussia Mönchengladbach Lexikon, Verlag Die Werkstatt, Seite 36
[15]  Dieses 4:7 vom 20. Oktober 1973 gehört in der Tat zu den Klassikern der Bundesligageschichte. Ich kann mich noch dunkel erinnern, wie ich die nachmittägliche Berichterstattung von Radio Luxemburg verfolgt und natürlich innerlich gejubelt habe, als die Bayern ein 3:0 und ein 4:1 nicht festhalten konnten. Als am Abend in der Sportschau Sepp Maier im Strafraum herumirrte, war es das Sahnehäubchen auf einem gelungenen Fußballnachmittag. Bayern München wurde in dieser Saison dennoch Deutscher Meister.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 21. Dezember 2004 aktualisiert.
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