Kapital – Verbrechen

LH 588 / Zivilisationsmüll

 

SENDEMANUSKRIPT

In der Sendung vom 29. Mai 2006 sprach ich die deutsche Abschiebepolitik und den hierdurch verursachten Tod von Aamir Ageeb, und besprach das Buch von Zygmunt Bauman über die Menschenmüllproduktion der kapitalistischen Moderne.

 

 

Sendung :

Kapital – Verbrechen

LH 588 / Zivilisationsmüll

 

Redaktion und Moderation :

Walter Kuhl

 

gesendet auf :

Radio Darmstadt

 

Redaktion :

Alltag und Geschichte

 

gesendet am :

Montag, 29. Mai 2006, 17.00–18.00 Uhr

 

wiederholt am :

Montag, 29. Mai 2006, 23.10–00.10 Uhr
Dienstag, 30. Mai 2006, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 30. Mai 2006, 14.00–15.00 Uhr

 
 

Besprochenes und benutztes Buch :

Zygmunt Bauman : Verworfenes Leben, Hamburger Edition

 
 

URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/kv/kv_ageeb.htm

 

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Aamir Ageeb

Kapitel 2 : … und tschüss!

Kapitel 3 : Schlußwort

Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Aamir Ageeb

Jingle Alltag und Geschichte

Vor sieben Jahren, am 28. Mai 1999, wurde Aamir Ageeb an Bord einer Passagiermaschine der deutschen Lufthansa von Beamten des Bundesgrenzschutzes getötet. Im Oktober 2004, mehr als fünf Jahre danach, sprach das Landgericht Frankfurt ein mildes Urteil: die Beamten wurden zu neun Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Ihre Vorgesetzten, die das Verhalten ihrer Beamten anordneten und billigten, wurden erst gar nicht behelligt. Der zum Zeitpunkt der Abschiebung oberste Grenzschützer auf dem Frankfurter Flughafen wurde zwischen dem Zeitpunkt der Tat und der Gerichtsverhandlung befördert. So sieht das nämlich aus, wenn die Welt zu Gast bei Freunden in Deutschland ist.

So sehe ich das. Durch die heutige Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt führt Walter Kuhl. Radio Darmstadt ist zu empfangen per Antenne auf 103,4 Megahertz, im Kabelnetz Darmstadt auf 99,85 Megahertz und in der Kabelinsel Groß–Gerau, Büttelborn und Weiterstadt auf 97,0 Megahertz. Weltweit ist Radio Darmstadt auch über das Internet zu empfangen. Einfach unsere Webseite aufrufen und dort auf LiveStream klicken.

In Deutschland gibt es so eine Masche, nach der die Opfer die eigentlichen Täter sind. Umgekehrt geriert sich die deutsche Nation der Täter selbstverständlich als Opfer, will nichts gesehen und gehört haben, und getan hat man und frau ja ohnehin nichts. Nichts zu tun, kann jedoch auch bedeuten: unterlassene Hilfeleistung. So wurde auch der getötete Aamir Ageeb nach seinem unfreiwilligen Ableben in einer Medienkampagne des deutschen Innenministeriums als kriminell dargestellt. Soll er doch die ihn mißhandelnden Beamten beschimpft und beleidigt haben. Offensichtlich ging Otto Schilys Behörde davon aus, daß sich die Tat der Beamten hierdurch relativieren ließe.

Der Tod des Mannes aus dem Sudan hat an der Abschiebepolitik selbstredend nicht viel verändert. Er ist ein mahnendes, aber typisches Beispiel für den unmenschlichen Umgang mit unerwünschten Ausländern in Europa. Denn das Verhalten der Beamten des Bundesgrenzschutzes war und ist kein Einzelfall. Die hermetisch abgeriegelte Festung Europa duldet keine blinden Passagiere. Herein darf, wer Devisen bringt, herein darf, wer den deutschen Wohlstand mehrt, herein darf auch, wer die deutsche Eventkultur exotisch anreichert.

Deshalb dürfen sich die Fußballspieler und ihre Fans aus aller Welt in den kommenden Tagen wirklich glücklich schätzen. Sie werden mit offenen Armen willkommen geheißen, weil man und frau ja weiß, daß sie nach dem Ende der Fußball–Weltmeisterschaft schleunigst das Land wieder verlassen werden. Offensichtlich wissen die Menschen aus aller Welt nur zu genau, was es bedeutet, in Deutschland zu Gast bei Freunden zu sein. Vom Besuch gewisser Städte und Regionen dieses gastfreundlichen Landes wird daher auch zurecht abgeraten. Als Skandal gilt der deutschen Migrationspolitik allenfalls, daß offen darüber geredet wird.

Aamir Ageeb starb an Bord einer Linienmaschine der Lufthansa mit der Flugnummer LH 588. Die Lufthansa partizipiert wie andere Airlines am lukrativen Geschäft mit der Abschiebung, aber sie mag es nicht, wenn dieses stinkende Geld an die Öffentlichkeit gebracht wird. Im Sommer 2005 stellte die Staatsanwaltschaft Frankfurt das Ermittlungsverfahren gegen vier weitere Beamte des Bundesgrenzschutzes ein, welche Aamir Ageeb schon Stunden vor der Abschiebung in erniedrigender und lebensgefährdender Weise gefesselt hatten. Das Verfahren vor dem Landgericht Frankfurt hatte nämlich einen bürokratisierten Alltag der Abschiebung zutage gefördert, der es den Beamten erst ermöglicht hatte, sich in einem quasi rechtsfreien Raum zu bewegen.

Das nun folgende Hörspiel LH 588 wurde von der Gruppe tarif_a beim Bayerischen Flüchtlingsrat erstellt. Es erzählt den Weg Aamir Ageebs vom Zeitpunkt seiner Einlieferung in den Abschiebeknast Mannheim bis zu seinem Tod im Flugzeug. Gleichzeitig thematisiert es die Struktur der europäischen Abschiebelogistik und verweist hierbei auf die Abschottung der Metropolen des Weltmarkts mitsamt des hierin verbreiteten Rassismus. Aamir Ageeb wurde gerade einmal dreißig Jahre alt. Nach Ablauf der Bewährungszeit kann sein Erstickungskommando unbehelligt weiter leben, so unbehelligt, wie es die Politik und Praxis staatlich organisierter Parallelgesellschaften vorgibt.

 

Das Hörspiel ist auf dem Audioportal des Bundesverbandes Freier Radios anzuhören und/oder herunterzuladen:

LH 588 – Tod durch Abschiebung

 

… und tschüss!

Besprechung von : Zygmunt Bauman – Verworfenes Leben, Hamburger Edition 2005, 196 Seiten, € 20,00

Das Schicksal von Aamir Ageeb ist kein Einzelfall. Jährlich strömen Millionen Menschen aus dem Süden und Osten in den Norden und Westen. Sie fordern das Menschenrecht auf materielle und soziale Sicherheit ein, sie fordern ein, an dem Kuchen teilzuhaben, der nicht zuletzt aufgrund der systematischen Ausplünderung und Ausbeutung der Regionen im Süden und Osten entstanden ist. Der Norden und Westen wäre allerdings nicht der Norden und Westen, wenn er die Verfolgten, Verelendeten und Arbeit Suchenden einfach aufnehmen und teilhaben lassen würde. So ist es konsequent, wenn sich Europa zur Festung hochrüstet und die USA an der mexikanischen Grenze eine Mauer aus Stacheldraht und Polizeipatrouillen errichten.

Cover Mittelweg 36 Heft 6/2005Dieses Schicksal ist – wenn auch soziologisch gefaßt – das Thema eines Buches des polnischen Soziologen Zygmunt Bauman. Vielleicht ist es sinnvoll, kurz auf den Werdegang des Autors einzugehen, bevor ich sein letztes Jahr auf Deutsch erschienenes Buch vorstelle. Wolfgang Knöbl schrieb hierüber Ende letzten Jahres in der Zeitschrift Mittelweg 36:

Zygmunt Bauman gehört zu jener Generation osteuropäischer Intellektueller, welche die großen Katastrophen des 20. Jahrhunderts noch am eigenen Leibe verspürt haben. Für sie ist die Soziologie keine Karriere, sondern eine vergleichsweise späte »Berufung«, die aufgrund hochgradig komplexer und zumeist tragischer Lebenserfahrungen erfolgte. 1925 im polnischen Poznań geboren, wird Bauman aufgrund der Flucht seiner Eltern vor den Deutschen in die Sowjetunion verschlagen, wo er sich der Armee anschließt, um gegen die Nazi–Herrschaft zu kämpfen. Nach dem Ende des Krieges macht er in den Streitkräften des kommunistischen Polens Karriere, bevor er 1953 aufgrund antisemitischer »Säuberungen« entlassen wird. Die Hinwendung zu den Sozialwissenschaften beginnt und damit eine erstaunlich erfolgreiche akademische Laufbahn, die ihn 1964 auf den Lehrstuhl für allgemeine Soziologie an der Warschauer Universität führt. Baumans dortige Lehrtätigkeit dauert allerdings nicht allzu lange, denn schon 1968 zwingt man ihn, wiederum im Umfeld antisemitischer »Säuberungen«, aber durchaus auch aufgrund seiner politischen Oppositionshaltung unter dem Gomulka–Regime, die Universität zu verlassen. [1]

Bauman emigriert nach Israel und Australien, ehe er 1971 einen Lehrstuhl für Soziologie an der Universität von Leeds erhält, wo er bis zu seiner Emeritierung 1990 tätig ist. Seine Lehrtätigkeit überschneidet sich mit dem Durchbruch der neoliberalen Ideologie unter Margaret Thatcher und ihrer TINA–Doktrin: There is no alternative. Bauman wendet sich von der traditionellen Klassenanalyse ab und dem Leiden der Menschen in der Moderne zu. International bahnbrechend war sein 1989 erschienenes Buch Modernity and the Holocaust, auf Deutsch Die Moderne und der Holocaust. Bauman deutete hierin den Holocaust nicht etwa als Gegenteil zur Moderne, sondern als zutiefst von eben dieser Moderne geprägt.

Seither veröffentlicht er Jahr für Jahr ein neues Buch über die Moderne, die Postmoderne und die Folgen der Globalisierung, kulturpessimistisch und kritisch. In diesem Kontext ist sein 2004 auf Englisch erschienener Essay Wasted Lives. Modernity and its Outcasts zu sehen, das letztes Jahr in deutscher Übersetzung in der Hamburger Edition mit dem Titel Verworfenes Leben vorgelegt worden ist. Wenn ich sage essay, dann weist dies darauf hin, daß Baumans Schriften weniger klassisch soziologische Schriften zu nehmen sind, die mit analytischer Stringenz und einem entsprechend aufgeblähten Anmerkungsapparat das lesende Publikum verschrecken. Im Gegenteil: Bauman bemüht sich, seine Leserinnen und Leser an seinem assoziativen Darstellungsweg teilhaben zu lassen.

Das Thema von Verworfenes Leben ist die Geschichte der Moderne in Bezug auf deren Umgang mit den Überflüssigen oder besser: den überflüssig Gemachten, den hierzu Erklärten. Zygmunt Bauman bezieht sich hierbei nicht nur auf die Arbeitslosen in den Metropolen des Weltmarktes, sondern genauso auf die vielen hundert Millionen Menschen dieser Erde, die als überflüssiger Müll einer globalen Profitgesellschaft betrachtet und auch genau so behandelt werden. Zygmunt Bauman schreibt hierzu in der Einleitung zu seinem 196 Seiten umfassenden Essay Folgendes:

Die Produktion »menschlichen Abfalls« – korrekter ausgedrückt: nutzloser Menschen […] ist ein unvermeidliches Ergebnis der Modernisierung und eine untrennbare Begleiterscheinung der Moderne. Sie ist ein unvermeidlicher Nebeneffekt des Aufbaus einer gesellschaftlichen Ordnung […] und des wirtschaftlichen Fortschritts […]. [2]

Wobei der Autor dieses unvermeidliche Ergebnis nicht für wünschenswert hält. Der Zynismus der postmodernen Ideologie, das Unvermeidliche achselzuckend festzustellen, das zu bewerten eben außerhalb des postmodernen Erkenntnisinteresses und Weltbildes liegt, ist Zygmunt Bauman fremd. Im Gegenteil: das hierdurch verursachte Leiden ist eines, das den Autor nicht kalt läßt, und es ist das Leiden, gegen das er anschreibt, obwohl seine Hoffnung, hieran etwas verändern zu können, gering ist. So bleibt ihm als Schlußsatz seines Essays die eher hilflose Formulierung:

Wir, die Nachkommen, müssen zu Beginn des neuen Jahrhunderts eine Antwort auf die große Frage finden, ob den Menschen nur noch die Wahl zwischen dem Big Brother Nummer eins oder zwei bleibt: ob das Einschluß–/Ausschluß–Spiel die einzige Möglichkeit ist, wie ein gemeinsames menschliches Leben gestaltet werden kann, und letztlich die einzige denkbare Gestalt, die unsere gemeinsame Welt annehmen […] kann. [3]

Doch bis er zu dieser eher hilflosen und an das Gute im Menschen appellierenden Aussage hingelangt, entwickelt er die Soziologie der zivilisatorischen Müllverwertung. Ja, es klingt hart, aber in dieser Welt können Menschen zu Müll werden, und es werden Menschen als Müll ausgesondert und behandelt. Das ist so, weil es nicht profitabel ist, alle Menschen am Wohlstand dieser Welt teilhaben zu lassen, das ist so, weil der Wahnsinn dieser Welt keine Alternative hierzu zuläßt. Die Hilflosigkeit des Autors zeigt sich auch darin, daß er irgendwie nicht so recht glauben kann, daß eine nennenswerte Anzahl von Menschen auf dieser Erde diese Herausforderung annehmen und hiergegen mehr als nur rebellieren könnte.

Buchcover Zygmunt Bauman Verworfenes LebenJede produktive Gesellschaft produziert Müll. Dem Gegenstand an sich ist es erst einmal nicht anzusehen, ob er verwertbar oder Müll ist – dies ist seine gesellschaftliche, seine wirtschaftliche Funktion. Eine Konsumgesellschaft, wie sie sich im Zuge der fünfhundertjährigen kapitalistischen Geschichte herausgebildet hat, produziert nicht nur Müll. Konsum funktioniert nur, in dem das Moderne von Heute zum Müll von Morgen erklärt wird. Das ist nicht nur Ausdruck des technischen Fortschritts, sondern auch Ausdruck einer Lebensmentalität. Die Güter dieser Gesellschaft müssen produziert werden; und genauso wie es überflüssige nicht verwertbare oder ausgemusterte Waren gibt, gibt es auch ausgemusterte Produzentinnen und Produzenten.

In der Boomperiode des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg bis Mitte der 70er Jahre konnten die Ausgemusterten und Arbeitslosen damit rechnen, daß ihr Zustand vorübergehend sein oder doch zumindest abgemildert werden würde. Wobei anzumerken wäre, daß zu jeder Phase der kapitalistischen Ordnung ein bestimmter Prozentsatz der Bevölkerung immer als unrentabel, nicht verwertbar, überflüssig, nicht lebenswert galt. Denn Kapitalismus ohne Leistungsfähigkeit ist wie ein Olympiasieg ohne Leistungsstimulanz. Wie auch immer – diese vergleichsweise guten Zeiten sind vorbei. Die neoliberale Dampfwalze kennt kein Erbarmen. Alles andere ist das Geschwätz von Politikern, Wirtschaftsbossen und ihren ideologischen Claqueuren.

Kapitalismus, Konsum und Arbeitszwang benötigen eine bestimmte Ordnung. Ohne Ordnung regiert das Chaos, wobei Zygmunt Bauman nicht bemerkt, daß die kapitalistische Ordnung nur dadurch funktioniert, daß die Anarchie der Warenproduktion sich austobt. Kapitalismus ist eben keine Planwirtschaft, in welcher die Bedürfnisse der Menschen demokratisch festgestellt und bedient werden würden. Dennoch kommt Kapitalismus nicht ohne Planung aus, nur daß es eben der Markt ist, der jede individuelle Planung bestätigt oder verwirft.

Chaos ist das alter ego der Ordnung, eine Ordnung mit negativen Vorzeichen: ein Zustand, in dem etwas nicht am richtigen Ort ist und nicht die zugedachte Funktion erfüllt […]. Jenes »Etwas« ohne angestammten Ort und ohne Funktion sitzt rittlings auf der Barrikade, die Ordnung von Chaos trennt. Seine Entfernung ist der letzte schöpferische Akt vor dem Abschluß der ordnungschaffenden Arbeiten.
Ohne Chaos gäbe es keine Ordnung, so wie jede Münze zwei Seiten hat und es ohne Dunkelheit kein Licht gäbe. Chaos offenbart sich selbst als chaotischer Zustand, indem es Ereignisse zuläßt, die die Ordnung bereits verboten haben muß; doch in dem Augenblick, indem das Verbot verkündet wurde, pflegte das Chaos unverzüglich sein Gesicht zu zeigen. Chaos, Unordnung und Gesetzlosigkeit verweisen auf unendlich viele Möglichkeiten und die Unbegrenztheit dessen, was sich hinnehmen läßt; Ordnung steht für Grenzen und Endlichkeit. In einem ordentlichen (geordneten) Raum kann nicht alles geschehen.
Ein ordentlicher Raum ist ein Regeln unterliegender Raum, und die Regel wird zur Regel, indem sie verbietet und ausschließt. Das Gesetz wird zum Gesetz, indem es aus dem Bereich der erlaubten Handlungen das herausnimmt, was man ohne die Existenz des Gesetzes tun dürfte – und diejenigen, die es tun würden, in den Zustand der Gesetzlosigkeit verweist. [4]

Der kapitalistische Raum ist also ein Raum, in dem bestimmte Gesetzmäßigkeiten vorherrschen müssen, damit die profitable Aneignung von Mehrwert und Profit auch gelingt. Gesetzlos ist das Chaos derer, die sich weigern, sich dem Profit zu unterwerfen und sich als Ware behandeln zu lassen. Wer sich weigert, handelt kriminell, und kriminelles Handeln erfordert ein Regelwerk des Ein– und Ausschlusses. Allerdings handelt es sich hierbei nicht um anthropologische Konstanten sozial vernünftigen Verhaltens, sondern um eine bestimmte Setzung zugunsten von Macht und Herrschaft. Und genau deshalb werden mehrere hundert Millionen Menschen davon ausgeschlossen.

Es gibt also demnach zu viele Menschen. Nicht etwa, daß die Erde nicht aufnahmefähig wäre. Fast schon witzig ist ja, daß in den Metropolengebieten mit hoher Bevölkerungsdichte keine Überbevölkerung festgestellt wird, sondern fast schon panisch der Rückgang der Bevölkerung. Überbevölkerung ist eine soziale, eine wirtschaftspolitische Setzung. Und da hilft es auch nicht, darauf hinzuweisen, daß die Menschen der Dritten Welt so unvernünftig sind, sich ihre Lebensgrundlagen abzuholzen. Wer den Finger auf Einzelne zeigt, will vom Ganzen ablenken. Es sind die reichen Industriestaaten, welche die Lebensgrundlagen zerstören, und es sind die Hungerleider, die sehen müssen, wo sie bleiben – und die gar nicht anders können als nach unseren Begriffen reicher und satter Westeuropäerinnen und Westeuropäer unvernünftig zu handeln.

Ein Beispiel: In Afrika leben derzeit 21 Menschen pro Quadratkilometer, in Holland 425. Habt ihr schon einmal etwas von der Gefahr der Überbevölkerung in unserem Nachbarland gehört? Eben. Genau darum geht es. Und deshalb finden Sterilisationsprogramme vorzugsweise im Süden und Osten statt, und die westliche Bevölkerungspolitik hat zudem einen tödlichen Verbündeten erhalten: AIDS. Und deshalb fragt Zygmunt Bauman:

Zeigten die Pharmaunternehmen nur wegen ihrer Gier und ihrer eigenmächtig angemaßten Wächterrolle in Fragen der »Rechte am geistigen Eigentum« so wenig Eifer bei der Lieferung bezahlbarer Waffen, mit denen sich die Seuche bekämpfen ließ? [5]

In einem Exkurs zur Natur der Mächte des Menschen entwickelt der Autor nun einen Gedankengang, der ihm von der kosmischen Furcht steinzeitlicher Nomaden zu der künstlich erzeugten großen Furcht vor den Schrecknissen der modernen terroristischen Welt führt. Allein schon seine Exkurse (also sozusagen der Essay im Essay) machen das Buch lesenswert. Jedenfalls ist es die Produktion einer »offiziellen Furcht«, welche die effektive Ausübung von Macht ermöglicht.

Kosmische Furcht mag ohne menschliche Vermittler auskommen; offizielle Furcht kann nur erdacht werden. Irdische Mächte kommen den Menschen, die bereits von Furcht erfaßt sind, nicht zu Hilfe – obwohl sie alles mögliche (und mehr) versuchen, um ihre Untertanen davon zu überzeugen, daß dies tatsächlich der Fall ist. Irdische Mächte müssen sich – ganz wie die neuen Waren in einer Konsumgesellschaft – ihren eigenen Bedarf schaffen. Ihre Objekte müssen verletzbar und unsicher gemacht und in diesem Zustand auch gehalten werden, damit ihr Zugriff auch weiterhin fest bleibt. [6]

Deshalb benötigt die Welt der neoliberalen Verunsicherung in allen Lebenslagen einen gemeinsamen äußeren Feind, gegen den die Verunsicherten mobilisiert werden können. Eine Macht, eine Regierung, ein Staat, der vorgibt, diese bösen Mächte, die im Kino und Fernsehen auch virtuell noch einmal besonders aufgeladen werden, zu bekämpfen, muß sich nicht mehr um die realen Nöte der Menschen kümmern. Da dies auch nicht gewollt ist, denn der Zustand der Unsicherheit ist profitabel, erleben wir ein abnehmendes Interesse der Untertanen an der an ihnen exekutierten Politik. Wahlenthaltung und politisches Desinteresse sind hausgemacht, vielleicht auch erwünscht.

So wird Sicherheit zum Gebot und zum Schlagwort der Stunde. Unser Landtagsabgeordneter Rafael Reißer hat das einmal sehr richtig dargestellt: Es geht nicht um die Herstellung von Sicherheit, sondern um die Herstellung eines Sicherheitsgefühls. Denn Sicherheit ist nicht gewollt; sichere Menschen lassen sich nicht so einfach ausbeuten und beherrschen. Zu einer solchen Sicherheit gehört dann auch ein Apparat, der gleichermaßen kontrolliert, überwacht, ausschließt und wegsperrt. Der moderne Überwachungsstaat ist längst auf dem Vormarsch.

So bleibt festzuhalten: die globale Ordnung des postmodern–neoliberalen Kapitalismus funktioniert über eine Politik der Sicherheit, in der vorgegeben wird, wer darin eingeschlossen bleibt und wer ausgeschlossen wird. Frühere Ordnungen kamen mit dem Großen Bruder der Überwachung der Untertanen aus, damit diese auf Linie blieben. Der heutige Große Bruder betreibt den Ausschluß derer, die für diese Ordnung nicht oder nicht mehr benötigt werden. Er verfügt über unzählige Datenbanken, Flüchtlingslager, Gefängnisse.

Der alte Big Brother ließ dir noch die Chance zur Rückkehr in den offenen Arm einer Gesellschaft der sozialen Kontrolle. Herbert Marcuse hat das vor rund 50 Jahren mit dem Begriff der repressiven Toleranz umschrieben. Der heutige Big Brother kennt nur noch die zero tolerance. Wer nicht spurt, wer nicht mitzieht, wer nichts mehr leisten kann, wandert auf dem Müllhaufen der globalen Welt. Und daraus entwickelt Zygmunt Bauman die Frage, ob wir nur noch zwischen dem alten und dem neuen wählen wollen oder können – oder ob wir vielleicht nicht doch das gemeinsame menschliche Leben vorziehen möchten.

Zygmunt Bauman: Verworfenes Leben, erschienen 2005 in der Hamburger Edition, 20 Euro.

 

Schlußwort

Jingle Alltag und Geschichte –

heute mit einem Hörspiel der Gruppe tarif_a beim Bayerischen Flüchtlingsrat zum Tod von Aamir Ageeb am 28. Mai 1999 und einem Buch von Zygmunt Bauman über Die Ausgegrenzten der Moderne mit dem Titel Verworfenes Leben, erschienen in der Hamburger Edition.

Wenn ihr diese Sendung am Montagnachmittag hört, dann hätte ich noch einen Veranstaltungshinweis für den Montagabend. Wenn ihr diese Sendung am Dienstag hört, ist alles schon vorbei.

Heute abend um 20.00 Uhr stellt Hannes Heer sein neues Buch Hitler war's! über Joachim Fest und die Speer–Legende im Literaturhaus in der Kasinostraße 3 vor. Hannes Heer war von 1993 bis 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung und Leiter des Ausstellungsprojekts Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944. Im Anschluß an die Buchvorstellung folgt ein Gespräch mit Werner Durth, Professor für Theorie und Geschichte der Architektur an der TU Darmstadt (und damit auch Speer–Experte). Das wird sicher ein interessanter und erkenntnisreicher Abend.

Der Eintritt beträgt 5 Euro, ermäßigt 3 Euro. Veranstalter sind die Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit, die Initiative "Gedenkort Güterbahnhof Darmstadt", die Arbeitsgemeinschaft "Geschichte vor Ort Darmstadt", der Arbeitskreis ehemalige Synagoge Pfungstadt, sowie der GEW Stadtverband Darmstadt, und der DGB Starkenburg.

Diese Sendung wird wiederholt, und zwar in der Nacht von Montag auf Dienstag um 23.00 Uhr, am Dienstagmorgen nach dem Radiowecker um 8.00 Uhr und noch einmal am Dienstagnachmittag um 14.00 Uhr. Für die Menschen, die meinen, das wirkliche Leben geschehe im Kino, folgt im Anschluß an diese Sendung über Aamir Ageeb und den Zivilisationsmüll, der unter anderem in Lufthansa–Maschinen entsorgt wird, Cineastica, eine Sendung der Kulturredaktion von Radio Darmstadt. Am Mikrofon war Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Wolfgang Knöbl : Zygmunt Bauman, die britische Soziologie – und Maggie Thatcher, in: Mittelweg 36, Heft 6/2005, Seite 85–92, Zitat auf Seite 85

[2]   Zygmunt Bauman : Verworfenes Leben, Seite 12–13

[3]   Bauman Seite 189

[4]   Bauman Seite 47

[5]   Bauman Seite 66

[6]   Bauman Seite 72

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 18. Juni 2006 aktualisiert.

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©  Walter Kuhl 2001, 2006

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