Geschichte

Tempelwirtschaft

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
In der Sendung vom 27. März 2006 sprach ich über die Gründe der geringen Wahlbeteiligung in Darmstadt, eine frühe neolithische Megalithkultur auf dem Weg zur ersten Klassengesellschaft und die Wirtschaft des Römischen Imperiums.
 
Sendung :
Geschichte
Tempelwirtschaft
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 27. März 2006, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Montag, 27. März 2006, 23.10–00.10 Uhr
Dienstag, 28. März 2006, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 28. März 2006, 09.20–10.20 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Hans Kloft : Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Verlag Philipp von Zabern
  • Klaus Schmidt : Sie bauten die ersten Tempel, C.H. Beck
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/herstory/ge_templ.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Der Souverän ist dumm
Kapitel 2 : Der Ursprung der Zivilisation
Kapitel 3 : Es begann am Nabelberg
Kapitel 4 : Die Reptilgöttin
Kapitel 5 : Antike Sklavenhalter
Kapitel 6 : Schluß

Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Der Souverän ist dumm

Jungle Alltag und Geschichte

Wenn es etwas gibt, was am Ergebnis der hessischen Kommunalwahl interessant ist, dann ist es die hohe Zahl der Wahlabstinenten. Warum wählen gehen? wird sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung gedacht haben. Diese Mehrheit bringt damit zum Ausdruck, daß nicht einmal im kommunalen Bereich, also dort, wo die Menschen zu Hause sind, die bürgerliche Demokratie als die ihrige begriffen wird. Wenn Menschen nur noch ihre Stimme abgeben können, ohne etwas dabei zu entscheiden, dann spielt es wahrlich keine Rolle, ob und wie sie ihre Stimmzettel ausfüllen.

Radio Darmstadt sendete am vergangenen Montag eine Aufzeichnung einer Podiumsdiskussion mit einem jugendlichen Publikum, die in der Woche zuvor im Werkhof stattgefunden hatte [1]. Alle Parteien und Gruppierungen waren darum bemüht zu erklären, daß es wichtig sei, wählen zu gehen, aber sie konnten alle nicht deutlich machen, warum das denn so wichtig sei. Die Politik zieht ihre Projekte so oder so durch, die Wirtschaft bestimmt die Richtlinien und wird dafür nicht gewählt.

Also gehen immer mehr Menschen einfach nicht wählen. Zum einen sehen sie oftmals keinen Unterschied zwischen Partei A und Partei B, vor allem dann nicht, wenn die Wahlversprechen und Slogans alle irgendwie gleich klingen. Die daraus resultierenden großen Koalitionen sagen uns nur, daß Pack sich schlägt und dann auch wieder verträgt. Die finanziellen und sozialen Kosten bleiben dann an uns, dem angeblichen Souverän, hängen. Es gibt jedoch eine zweite Interpretation, die ich euch hier nahelegen möchte.

Früher einmal waren Hörspiele im Radio oder der Krimi von Durbridge oder ein Fußballspiel im Fernsehen ein echter Straßenfeger. Heute ist die Konkurrenz verschiedenartigster Events riesengroß. Die Wahl zwischen privatem Dudelsender A und öffentlich–rechtlichem Dudelsender B entspricht der Wahl zwischen Kino und Pizza, Bierlokal und Wahllokal. Eine Kommunalwahl ist kein herausragendes Ereignis in der Lebensplanung der Menschen mehr. Weder fühlen sie sich repräsentiert noch beachtet.

Sie werden gleichgültig. Und es ist ihnen nicht einmal vorzuwerfen. Denn würden wahlen wirklich etwas ändern können, dann wären sie längst abgeschafft worden. Hieß es einmal ballots statt bullets (also Stimmzettel statt Gewehrkugeln), so drückte sich darin der Klassenkampf des 19. Jahrhunderts aus, der noch zu befrieden war. Diese Befriedung des Klassenkampfs ist so geglückt, daß sich die auf Wahlen basierende Demokratie selbst ad absurdum führt. Und weil das so ist, können wir in Ruhe darüber nachdenken, was wir denn ändern wollen: das Wahlverhalten oder eben Nicht–Wahlverhalten oder die Strukturen, die Menschen derart gleichgültig machen.

Die Wahlforscher haben natürlich ganz andere Gründe für das Nichtwahldesaster gefunden. Der Marburger Politikwissenschaftler Norbert Kersting will zum Beispiel herausgefunden haben, daß das komplizierte Wahlsystem mit dem Kumulieren und Panaschieren gerade in den Großstädten ein Grund für die Wahlmüdigkeit gewesen sei [2]. Das klingt zunächst plausibel. Schließlich leben wir in der Bildungswüste PISA–Deutschland, will sagen: mit Bildung, Wissen und Wahlintelligenz ist es nicht so weit her.

Nun messen die PISA–Studien nicht die Bildung und das Wissen, die erforderlich sind, um der übelsten aller bisherigen Klassengesellschaften ein Ende zu bereiten, sondern die Bereitschaft von Schülerinnen und Schülern, entfremdetes Wissen internalisiert zu haben. Doch der Herr Politologe muß mir dann erklären, wie es sein kann, daß in Darmstadt die Wahlbeteiligung nur um sechs Prozent herunter gegangen ist [von 49,8% auf 43,8%], aber in Baden–Württemberg sogar um neun Prozent [von 62,6% auf 53,7%], obwohl es in Darmstadt einen riesigen Wahlzettel für 71 Kreuzchen gegeben hat, wohingegen es bei der Landtagswahl im Muschterländle nur zwei Stimmen abzugeben gab. Es wird wohl so sein, daß die Entscheidung für zwei Kreuzchen wesentlich komplizierter ist als 71 Kandidatinnen und Kandidaten handverlesen anzukreuzen oder durchzustreichen. Vielleicht liegt das daran, daß Darmstadt eine Wissenschaftsstadt ist und die Wählerinnen und Wähler aus diesem Grund zumindest bei der Wahl 2001 mit rund 60% wahre Panaschier–Weltmeister waren. Also, so richtig einleuchtend ist das Argument des Marburger Politikwissenschaftlers nun wirklich nicht. Es ist offensichtlich eine faule Ausrede.

Nachtrag, Februar 2007: Am 28. Januar 2007 gingen die Bürgerinnen und Bürger Frankfurts an die Wahlurnen, um ihre Oberbürgermeisterin Petra Roth im Amt zu bestätigen. An dieser Prozedur beteiligten sich gerade einmal 33,6% der Wahlberechtigten. Das sind mehr als sechs Prozent weniger als bei der bisher am schlechtesten besuchten Wahl, nämlich der zum Europaparlament im Jahre 2004. Offensichtlich war selbst die einfache Frage danach, wer denn in den kommenden Jahren Stadtoberhaupt werden solle, zu kompliziert für das Wahlvolk. Anders gesagt: hier zeigt sich die ganze Absurdität der faulen Ausreden mit beredter Deutlichkeit. Aber wer konfrontiert schon einen universitären Intelligenzler mit den Konsequenzen seines hier offenkundig zu Tage tretenden Unsinns? Vielleicht sollten wir einfach festhalten: warum wählen gehen, wenn das Wahlergebnis ohnehin feststeht und wenn sich auch bei anderem Wahlausgang nichts wesentlich ändern würde?

Solange wir darüber noch ein wenig nachdenken, können wir uns mehrere Jahrtausende in die Vergangenheit entführen lassen, um den Ursprüngen und Auswirkungen der Klassengesellschaft etwas näher auf die Spur zu kommen. Ich werde deshalb etwas über einen jungsteinzeitlichen Kultkomplex und die Wirtschaft des Römischen Imperiums erzählen.

Für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt ist am Mikrofon Walter Kuhl.

 

Der Ursprung der Zivilisation

Besprechung von : Klaus Schmidt – Sie bauten die ersten Tempel, Verlag C.H. Beck 2006, 282 Seiten, € 24,90

Der Ursprung von dem, was wir heute Zivilisation nennen, geschah vor etwa 10–15.000 Jahren im Zuge eines langen Prozesses, den wir mit dem Begriff Neolithische Revolution umreißen. Diese Revolutionierung, also Umwälzung aller Lebensverhältnisse bedeutete den Übergang von altsteinzeitlichen Jäger– und Sammlerinnen–Gesellschaften zu jungsteinzeitlichen schon früh auch patriarchal geprägten Gesellschaften auf der Grundlage von Ackerbau und Viehzucht. Den Ort, wo sich dieser Übergang das erste Mal vollzogen hat, können wir sehr wahrscheinlich relativ genau bestimmen. Es handelt sich um das Übergangsgebiet Nordmesopotamiens zu den langen Bergketten, die sich vom Mittelmeer über Kurdistan bis weit in den Iran hinein ziehen.

Das Ende der Eiszeit führte nicht nur zu einer klimatischen Erwärmung in Europa und dem Mittelmeergebiet. Auch das Klima im vorderasiatischen Raum wurde hiervon beeinflußt. Eine Laune der geomorphologischen Natur wollte es, daß nun an den Bergrücken der riesigen Gebirgsmassive Regen fiel. Die Möglichkeit, Regenfeldbau zu betreiben, bedeutete zwar noch nicht die Wahrscheinlichkeit, daß es auch tatsächlich geschah. Doch die Menschen, die in dieser Gegend umherstreiften, müssen festgestellt haben, daß die Wildgräser, die dort wuchsen, auch systematisch angebaut werden können – und sie taten es.

Wie diese Erkenntnis entstand und weshalb sie Wirklichkeit wurde, wissen wir nicht. Tatsache ist jedoch, daß einige Jahrtausende später sich von Kurdistan und dem Norden Mesopotamiens aus eine Ackerbaukultur verbreitete, die zumindest für Nordafrika, Europa und Vorderasien prägend wurde. Der Archäologe Gordon Childe, der vor siebzig Jahren den Begriff der Neolithischen Revolution erfand, hatte eine bestimmte Vorstellung von diesem Prozeß. Die damaligen Menschen fanden demnach heraus, daß sie bei ihrer Nahrungsmittelsuche nicht auf die Launen der Natur angewiesen waren, sondern selbst in diesen Prozeß eingreifen konnten.

Aus Jägern wurden Viehzüchter, aus Sammlern Ackerbauern. Was so einfach klingt, war in Wirklichkeit ein Prozeß, der Jahrhunderte, vielleicht Jahrtausende benötigt haben wird. Fehlschläge waren genauso wenig auszuschließen, wie Hungersnöte. Wer Getreide anbaut, muß mit Mißernten rechnen, wer sich ein Lebensumfeld gestaltet, in dem er auf Gedeih und Verderb auf eine gute Ernte angewiesen ist, kann nicht mehr einfach umherstreifen und sich woanders ernähren. Archäologische Befunde zeigen zudem, daß der Übergang zur Seßhaftigkeit von ernsthaften Mangelerscheinungen begleitet gewesen sein muß, wobei die Skelette von Frauen hiervon stärker betroffen waren. Die neue Nahrungsgrundlage muß im Vergleich zur eiszeitlichen Ernährung sehr einseitig gewesen sein. [3]

Dennoch führte diese langfristig sicherere Form der Nahrungsbeschaffung zu einem verstärkten Bevölkerungswachstum. Solange genügend Ackerbauflächen zur Verfügung standen oder genügend Vieh gehalten wurde, wird es wenig Probleme gegeben haben. Dennoch ist damit zu rechnen, daß es mehrfach zu Ungleichgewichten kam – die Menschen verhungerten. Wie viele dieser Tragödien stattfanden, wissen wir nicht; aber sie waren unausweichlich.

Wieder Jahrhunderte später entstanden kleinere Zentren, Bauerndörfer, und anschließend größere, die wie Städte nennen können. Doch erst im 4. Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung finden wir Hinweise darauf, daß langsam territoriale Herrschaftsstrukturen entstanden, und mit Beginn des 3. Jahrtausends haben wir fast zeitgleich im Nilgebiet und in Mesopotamien die Entwicklung aggressiver Territorialstaaten vor uns liegen. So zumindest könnte die Geschichte verlaufen sein.

 

Es begann am Nabelberg

Der Archäologe Klaus Schmidt entdeckte 1994 im Grenzgebiet der Türkei zu Syrien einen alten Siedlungshügel, der diesbezüglich neue Fragen aufwirft und möglicherweise das Theoriegebäude, das mit dem Konzept der Neolithischen Revolution von Gordon Childe verbunden ist, ins Wanken bringt. Unter dem Göbekli Tepe, dem Nabelberg, grub er eine jungsteinzeitliche Gebäudestruktur aus, die nicht nur monumental war, sondern ganz offensichtlich von Jägern und Sammlerinnen errichtet worden war. Wie war das möglich? Bedurfte es nicht einer gewissen Arbeitsteilung, Planung und Organisation, also Seßhaftigkeit und Herrschaft, um derartige Monumente zu erbauen? Konnte dieser Komplex von einfachen herumschweifenden Nomaden erbaut worden sein? In seinem jüngst bei Beck erschienenen Buch Sie bauten die ersten Tempel schreibt Klaus Schmidt, wie er den Hügel fand und weshalb er geneigt ist, eine neue Perspektive auf die Neolithische Revolution zu entwickeln.

Doch warum ist dies so wichtig? Was mag uns an einer alten Ruinenstätte so Besonderes begegnen, daß wir – wie Klaus Schmidt es schon vorwegzunehmen scheint – diesen Hügel eines Tages zum Weltkulturerbe erklären werden müssen? Nun, dieser Hügel mag uns eine Antwort darauf geben, wie der Weg verlaufen ist, der aus Steinzeitjägern seßhafte Bäuerinnen und Viehzüchter gemacht hat. Es ist auch eine Antwort auf den Ursprung patriarchaler Gesellschaften und auf die Entstehung von Klassen, Macht und Herrschaft. Denn eine durchorganisierte Gesellschaft, wie wir sie heute vorfinden, ist nicht selbstverständlich. Sie hatte einen Anfang, und dieser Anfang ist nicht in den Savannen Afrikas zu finden, als sich vor rund 3 bis 6 Millionen Jahren Menschenaffen und Menschen evolutionär auseinander entwickelten.

Wir wissen natürlich nicht viel über das Leben der Menschen in der Altsteinzeit. Wir verfügen über ein paar frühe Fußabdrücke, einige Schädelreste, erst später auch über Faustkeile und daraus gefertigte Werkzeuge. Organisches Material ist selten und erst spät überliefert. Wir können daher nur erahnen, wie diese Menschen gelebt haben mögen. Viele Vorstellungen, die in Büchern, Dokumentationen, Filmen oder unserer eigenen Gedankenwelt herumspuken, gehen hierbei von falschen Voraussetzungen aus. Sie versuchen, ausgehend von unserem heutigen Leben, die Lebensverhältnisse der Steinzeit rückwärts zu projizieren. Dabei werden kapitalistische Tugenden wie Warendenken, Gewinnstreben, Egoismus und Aggressivität als selbstverständliche anthropologische Konstante betrachtet.

Diesen rückwärts gewandten Phantasien kommt die moderne Sozio– und Evolutionsbiologie zu Hilfe. Sie bedient sich einiger Forschungsergebnisse zum Verhalten von Affen und anderen Säugetieren, um hieraus sozusagen von der anderen Richtung her Verhaltensweisen von frühen, aber auch heutigen Menschen zu bestimmen und zu erklären. Daß derartige Theorien oftmals Zirkelschlüsse sind, wird meist übersehen. Die Forscherinnen und Forscher betrachten und interpretieren eine Tierwelt in einem vorgegebenen Raster, das der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht unfreiwillig drastisch und selbstentlarvend so darstellt:

Die Soziobiologie beschäftigt sich mit den evolutionären Ursachen und Regeln des Zusammenlebens bei Tieren. Wie bei einer Kaufmanns–Rechnung fragt sie dabei nach dem jeweiligen Kosten–Nutzen–Verhältnis, und zwar getrennt für Männchen und Weibchen, wobei sich der Erfolg für beide über die jeweilige Fortpflanzung feststellen lässt. Damit wird der Nachwuchs zur Währung und die Zahl der Jungen zur Zahlungseinheit. [4]

Nun mögen die Börsenmakler zu Beginn des 21. Jahrhunderts so denken und sich wünschen, daß die ganze Welt sich ihren autistischen Gedankengängen anschließt. Doch die Löwen, um die es in dem zitierten Beispiel geht, wissen nichts von Evolution, Zahlungsmitteln und Gewinnstreben. Und schon gar nichts läßt sich hierdurch für das Verhalten der frühen Steinzeitmenschen herauslesen.

Deshalb springen die Evolutionsbiologen auch am liebsten zu den Affen über und erzählen uns ihre feinsinnig gewonnen Erkenntnisse. Allein, diese sind weder statistisch repräsentativ noch erklären sie wirklich, warum wir uns so verhalten. Es sind reine Analogieschlüsse auf der Basis eines Denkens, daß den Tieren menschliche Verhaltens– und Denkstrukturen unterstellt. Nichts jedoch wäre alberner und im Bezug auf die Menschen der Steinzeit falscher.

Wenn wir davon ausgehen, daß die sozialen Verhaltensweisen der Menschen in einem Jahrhunderttausende Jahre umfassenden Prozeß langsam entstanden sind, wenn wir weiterhin davon ausgehen, daß es soziale Strukturen sind, die ein bestimmtes Verhalten prägen, dann können wir versuchen, ohne Bezug auf heutige kulturelle Eigenarten das Leben der Steinzeitmenschen aus ihren eigenen Lebenszusammenhängen heraus zu begreifen.

Selbst angenommen, die Sozio– und Evolutionsbiologen hätten Recht damit, daß Alphamännchen, soziale Hierarchien, Konkurrenz und Aggression typisch für Affen, gar Menschenaffen sind, dann ist hieraus nicht zwingend gesagt, daß die frühen Menschen sich genauso verhalten haben mögen. Eher ist anzunehmen, daß die evolutionäre Trennung von Menschenaffen und Menschen auch Unterschiede im sozialen Verhalten bewirkt haben.

Was den Menschen nämlich vom Affen unterscheidet, ist sein abstraktes Denkvermögen, ist die Fähigkeit zur Symbolbildung, die Entwicklung von Sprache. Nun sagen uns die Evolutionsbiologen, das gebe es auch bei manchen Affen. Aber genau das ist der Punkt. Manche Affen mögen Teile dieses wichtigen Unterschiedes gelernt haben, manche jedoch nur dadurch, daß sie von Menschen darin gelehrt und dressiert wurden. Aber es ist eben kein typisches Affenverhalten und auch keines, welches die Jahrhunderte, gar Jahrtausende überdauert (hat).

Menschen, die andere Formen der Kommunikation finden, Menschen, die sich reflektierend miteinander austauschen können, entwickeln auch neue soziale Formen des Zusammenlebens. Daß sich hierbei kooperative Verhaltensweisen durchgesetzt haben, ist durchaus naheliegend. Nur durch Kooperation konnten relativ wenige Menschen in den Weiten der eiszeitlichen Wüsten, Steppen, Berge und Gewässer überleben.

Es gibt Schätzungen, wonach vor etwa 25.000 Jahren in Gesamt–Mitteleuropa gerade einmal zweitausend Menschen gelebt haben [5]. Wären sie aggressiv miteinander umgegangen, hätten sie sich wahrscheinlich selbst ausgelöscht. Erst als sie durch ein vergrößertes Nahrungsangebot die Möglichkeit gefunden hatten, sich rapide zu vermehren, führte Aggression nicht automatisch zum Aussterben der eigenen Art, konnte Aggression tatsächlich ausgelebt werden.

Das soll nicht heißen, daß die altsteinzeitlichen Menschen Pazifistinnen und Pazifisten gewesen wären. Abgesehen davon, daß der Begriff dort keinen Sinn ergibt (Anachronismus), wird es sicherlich Konflikte gegeben haben. In den Weiten der damaligen Welt gab es jedoch genügend Alternativen zum gegenseitigen Abschlachten. Die Welt war groß genug, um sich voneinander zu trennen und eigene Wege zu gehen. Und die Menschen gingen eigene Wege und besiedelten die gesamte Erde mit Ausnahme der Antarktis.

Was haben meine Ausführungen nun mit dem Göbekli Tepe zu tun? Ich denke, eine ganze Menge. Sollte Klaus Schmidt nämlich Recht damit haben, daß es Steinzeitjäger waren, welche die von ihm ausgegrabenen Monumentalbauten errichteten, dann könnte hier eine Manifestation des Übergangs zur Seßhaftigkeit und damit auch zur Änderung aller sozialen Kommunikations– und Lebenszusammenhänge vorliegen.

Ob es nur diesen einen Ort gab oder ob wir noch andere finden werden, bleibt abzuwarten. Aber schon alleine unter dem Göbekli Tepe finden sich genügend Spuren, die bestimmte Aussagen geradezu herausfordern. Wenn Klaus Schmidt von der Errichtung erster Tempel schreibt, dann mag dies provokativ sein. Jäger bauen keine Tempel. Aber ganz offensichtlich handelt es sich hier um Bauten mit eindeutig kultischem Zweck. Und das ist erklärungsbedürftig.

Buchcover Sie bauten die ersten TempelSchauen wir, was der Ausgräber vorgefunden hat. In der untersten Siedlungsschicht, die er ausgegraben hat, findet sich noch keine Keramik. Dies verweist darauf, daß diese Fundschicht etwa 11.000 Jahre alt sein muß, wesentlich älter als alles, was wir an Steinbauten früher Menschen kennen. Und hier finden sich Steinbauten. Zentral scheinen hierbei mehrere ellipsenförmig angelegte Baustrukturen zu sein, die aus mehreren "T"–Trägern bestehen. Tonnenschwere Pfeiler, die ganz offensichtlich eine bestimmte Symbolik besessen haben und die, soweit das feststellbar ist, nicht als Stützen für eine Dachkonstruktion gedient haben. Der Vergleich zu wesentlich späteren Megalithbauten wie etwa in Stonehenge liegt nahe.

Was die Ausgräber jedoch (noch?) nicht vorgefunden haben, sind Spuren von Siedlungsstrukturen. Die vorgefundenen Steinbauten waren keine Wohnhäuser. Sie dienten – und dafür gibt es mehrere Hinweise – kultischen Zwecken. Deshalb spricht Klaus Schmidt auch von Tempeln, wohl wissend, daß der Begriff irreführend ist. Aber eine Funktion, welche an die späterer Tempel heranreicht, werden sie gehabt haben. Und jetzt stellt sich die Frage, warum die damaligen Menschen, die weder Keramik noch Metallwerkzeuge kannten, mindestens 200 tonnenschwere sauber zugehauene Steine in einer bestimmten Ausrichtung aufgestellt haben mögen. Diese logistische Meisterleistung bedurfte sorgfältiger Planung und Unterstützung.

Wie haben sich diese Menschen ernährt? Das Leben als Jäger und Sammlerin wird wohl kaum ausreichend Nahrungsmittel bereit gestellt haben, um eine nicht bekannte, aber wohl nicht kleine Anzahl von Menschen, die längere Zeit an einem Ort verweilt haben, zu versorgen. Hier lenkt der Ausgräber den Blick auf die umliegende Hügellandschaft. Es ist nämlich der Raum, in dem die Neolithische Revolution des Ackerbaus seinen Ausgangspunkt fand. Ein Großprojekt wie dieses wird wohl kaum mit einer kleinteiligen Gartenwirtschaft unterhalten werden können. Doch die großen Grasflächen der Umgebung boten im Prinzip alles, was gebraucht wurde. Es bedurfte nur des Gedankens, diese Wildgräser systematisch als Getreide anzupflanzen.

Anstatt daß also die Menschen zufällig oder auch durch Beobachtung von der Jagd zur Zucht und vom Sammeln zum Beackern kamen und dann erst kleinere und größere Siedlungen und viel später erst Steinbauten errichteten, kann es auch ganz anders gewesen sein. Die Menschen der beginnenden Jungsteinzeit kamen zusammen, um gemeinsam ein Projekt durchzuführen, bei dem sie auf Ackerbau und vielleicht auch Viehzucht angewiesen waren. Ob Viehzucht nötig war, kann dahin gestellt bleiben, denn in relativer Nähe zum Fundort findet sich eine Furt im Fluß, die saisonal großen Mengen an tierischem Fleisch versprach. Aber schon die Menschen der Eiszeit ernährten sich vorwiegend nicht von der Jagd. Ohne das gezielte Sammeln von Gräsern und Früchten, von Beeren und Kräutern wäre der Mensch verhungert und ausgestorben.

Fragt sich also, wer die Ernährung der Erbauer der Kultgebäude mit den bis zu 50 Tonnen schweren "T"-Pfeilern gesichert haben mag. Da die Männer wohl die schweren Lasten gezogen und getragen haben werden, müssen die Frauen die Reproduktionsarbeit geleistet haben und den Ackerbau, wenn nicht erfunden, dann doch revolutioniert haben.

 

Die Reptilgöttin

Der Göbekli Tepe ist noch lange nicht ausgegraben. Viele Überraschungen mag er noch bereit stellen. So müssen wir wohl von dem Gedanken Abschied nehmen, daß lange Zeit vor der Errichtung von Städten und der Erfindung des Krieges eine Art Matriarchat existiert hat. Mir geht es dabei gar nicht darum, den Gedanken an ein Matriarchat für Spinnerei zu erklären. Doch die archäologischen Zeugnisse geben wenig Veranlassung, ein derartiges Matriarchat für tatsächlich existent zu halten. Als James Mellaart Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre auf dem Çatal Höyük mitten in der Türkei einen rund 8.000 Jahre alten Siedlungshügel ausgrub, wurden die dort vorgefundenen Spuren als Relikte matriarchaler Kultur interpretiert.

Eine der zentralen Figuren in Çatal Höyük ist in der Interpretation James Mellaarts eine gebärende Göttin. Das Motiv taucht mehrmals auf, jedoch ist das Gesicht immer, sind Hände und Füße oftmals zerstört. Unter dem Göbekli Tepe findet sich das Motiv tatsächlich wieder [6]. Nun ist das dortige Motiv fast 3.000 Jahre älter, dafür aber auch besser erhalten. Die gebärende Göttin stellt sich als ein Reptil heraus und paßt sich somit in den Fundzusammenhang auf dem Göbekli Tepe ein. Dort bilden verschiedene Tiere, mal größer, mal kleiner in den Stein gemeißelt, offensichtlich eine bestimmte Bildersprache, welche für die damaligen Menschen ganz sicher zu verstehen war, deren Sinn sich uns jedoch nicht erschließt.

Bleiben wir zunächst bei der angeblichen Göttin und kehren noch einmal zu den altsteinzeitlichen Jägern und Sammlerinnen zurück. Wenn wir davon ausgehen, daß die sozialen Zusammenhänge relativ egalitär waren, so sagt dies noch nicht unbedingt etwas über die Geschlechterverhältnisse aus. Die vergleichsweise wenigen Funde geben jedoch Anlaß zu der Vermutung, daß Männer und Frauen nicht wesentlich anders behandelt, bestattet und geehrt worden sind. Sieht man und frau vom biologischen Unterschied ab, kann es zwar so gewesen sein, daß jagende Männer eine andere Machtposition hatten als sammelnde Frauen, muß es aber nicht. So liegt zumindest der Gedanke nahe, daß die Verfügungsgewalt über dem Tod, nämlich dem der Tiere, sein Gegenstück findet in der Macht über das Leben, das Frauen in die Welt setzen. Was hier dominiert haben mag, ist ungewiß.

Unter dem Göbekli Tepe finden wir jedoch kaum Spuren der Darstellung von Frauen. Das mag überraschen, weil in den Siedlungen der Jahrtausende später Frauendarstellungen eindeutig sexueller Natur ziemlich häufig sind. Ich halte es für falsch, Frauenbilder, Frauenskulpturen, Frauenstatuetten als Ausdruck matriarchalen Denkens zu begreifen. Wie bei der heutigen Pornografie (aber auch in der ganz normalen sexistischen Werbung) handelt es sich um eine Darstellung von Frauen, die Frauen in einer bestimmten Weise verfügbar zeigen soll. Wenn wir die Darstellungen an späteren Fundorten im Vorderen Orient daher als Ausdruck patriarchalen Denkens begreifen, könnte das Fehlen dieser Darstellungen auf dem Göbekli Tepe zumindest einen Hinweis auf eine noch egalitäre Struktur geben.

Denn wer hat diese Monumente gebaut? Klaus Schmidt weist vollkommen zurecht darauf hin, daß diese Säulenellipsen und die damit verbundenen Mauerwerke keinesfalls zu einem klar definierten Zeitpunkt stattfanden. Es kann durchaus sein, daß sich der Bauprozeß über Jahrhunderte hinzog. Zeit war keine knappe Ressource, es gab ja damit kein Geld zu verdienen. So kann es durchaus sein, daß relativ kleine Gruppen aus einem Umkreis von durchaus rund 200 Kilometern zu bestimmten Zeiten am Göbekli Tepe versammelten, um einen bestimmten Kult zu begehen und dafür diese "T"–Stücke zu errichten. Dann wäre dieser Fundort womöglich gar als der Ort des Übergangs von der Alt– zur Jungsteinzeit zu sehen. Das erklärt zwar nicht das Warum?, aber doch die Bedeutung des Ortes. Am Göbekli Tepe traf sich, so vermutet der Ausgräber, eine weiträumig verstreute Kultgemeinschaft.

Dieser Ort hat jedoch zusätzlich eine symbolische Bedeutung. Klaus Schmidt und sein archäologisches Team haben auf diesen tonnenschweren "T"–Pfeilern Abfolgen von Tierdarstellungen und abstrakten Zeichen entdeckt. Auch wenn der Begriff Hieroglyphenschrift diesen Fund nicht treffend wiedergeben mag, so handelt es sich womöglich doch um eine Art Symbolsystem, das in einer bestimmten Abfolge betrachtet, eine eindeutig definierte Bedeutung offenbarte. In gewisser Weise ist der Begriff Lesen durchaus angebracht. Die Zeichen wurden betrachtet und interpretiert und somit in das Gedankensystem der damaligen Menschen eingefügt. Somit konnte die Ungenauigkeit der mündlichen Überlieferung geschärft und der damit ausgedrückte Zusammenhang über mehrere Jahrhunderte relativ unverändert weitergegeben werden.

Vielleicht müssen wir uns das so vorstellen, daß mit jedem Zeichen eine bestimmte Geschichte abgerufen wurde.

Überhaupt müssen wir davon ausgehen, daß gedankliche, soziale, kommunikative und technologische Entwicklungen in sehr sehr langen Zeiträumen zu denken sind. Im Vergleich zur Altsteinzeit ist der Fortschritt immens, im Vergleich zu den späteren Klassengesellschaften des Zweistromlandes war es eine langsame Entwicklung.

Klaus Schmidt führt uns in seinem Buch Sie bauten die ersten Tempel systematisch in den Fundort auf dem Göbekli Tepe ein. Jeder "T"–Pfeiler wird gebührend und ausführlich dargestellt, dabei versucht sich der Autor behutsam an einer ersten Interpretation. Positiv herauszustellen ist, daß sich der Ausgräber ernsthafte Gedanken um die Möglichkeiten und Grenzen der Interpretation macht; so verliert sich die Darstellung nie in nicht haltbare Spekulationen. Vielmehr warnt der Autor eindringlich davor, mit unserer Gedankenwelt neolithische Spuren zu betrachten. Der Göbekli Tepe bietet uns genügend Stoff zum Nachdenken über die Ursprünge von Sozialstrukturen, Organisationsformen und ersten hierarchischen Elementen.

Viele Fragen sind offen, Fragen, die vielleicht nie geklärt werden können. Wer waren diese Menschen, was trieb sie an, einen derart aufwendigen Kult zu betreiben? Und warum schütteten sie diesen Kultplatz sorgfältig mit Steinen und Erde zu, als sie ihn nicht mehr benötigten, als sie seßhaft geworden waren? Das rätselhafte Heiligtum der Steinzeitjäger vom Göbekli Tepe ist der Gegenstand des überhaupt angenehm zu lesenden und reichlich illustrierten Buches Sie bauten die ersten Tempel von Klaus Schmidt. Es hat 282 Seiten und ist bei C.H. Beck zum Preis von 24 Euro 90 erschienen.

 

Antike Sklavenhalter

Besprechung von : Hans Kloft – Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Verlag Philipp von Zabern 2006, 124 Seiten, € 39,90

Viele Jahrtausende nach den Tempelbauern vom Göbekli Tepe entstanden und vergingen viele kleinere und größere Reiche. Ein Grundprinzip vorkapitalistischer Gesellschaften ist das weitgehende Fehlen intensiver Wirtschaftsformen. Reichtum und Macht entstanden durch Expansion. Nur durch ständige Vergrößerung konnte die Reproduktion zunächst eines Stadtstaates, später eines Territorialstaates gesichert werden. Sklavinnen, später auch Sklaven wurden gezielt geraubt oder durch Kriege erbeutet. Das Erobern weiterer Gebiete brachte die Verfügung über größere Ländereien, aber auch über Bergwerke und vor allem über Menschen ein. Raub und Mord sind seit der Erfindung des Besitzes und der damit verbundenen Macht die Grundkonstante sozialer Gesellschaften. Aber es ist falsch, sie als anthropologische Konstante zu betrachten.

Das Römische Imperium ist eine solche Geschichte ständiger Expansion. In der spätrömischen Republik eroberte Caesar Gallien und brachte dabei wahrscheinlich eine Million Menschen um. Schon vorher hatte Pompeius den Vorderer Orient annektiert und Augustus schloß dieses Werk mit der Niederlage Kleopatras bei Actium ab; ihm fiel hierbei Ägypten zu. Seither gehörten alle Gebiete des Mittelmeerraumes zu Rom. Doch noch im 1. Jahrhundert unserer Zeitrechnung expandierte das Imperium, wenn auch nur in kleinen Schritten. England kam hinzu, Teile Germaniens und am Ende des Jahrhunderts das halbe Rumänien mit seinen Gold- und Silberbergwerken. Danach herrschte mehr oder weniger Stillstand.

Das Römische Imperium war nur eines mehrerer ähnlicher Gebilde. Im Osten hatte es zunächst mit den Parthern, später mit den Persern zu tun. Auch diese Reiche konnten nur durch Expansion bestehen, weshalb die Kämpfe an der Ostgrenze des Römischen Imperiums hart und verlustreich waren. Die Möglichkeiten zu einer weiteren Ausdehnung waren begrenzt, wie Augustus beim Verlust der Legionen des Varus schmerzhaft erfahren mußte. Dennoch konnte sich das Reich im Westen noch bis ins 5. Jahrhundert halten, im Osten einige Jahrhunderte länger.

Buchcover Die Wirtschaft des Imperium RomanumWodurch wurde dieses Imperium nun zusammengehalten? Der Historiker Hans Kloft geht dieser Frage in seinem bei Zabern erschienenen Band Die Wirtschaft des Imperium Romanum nach. Er legt seinen Schwerpunkt auf die Darstellung der antiken Warenaustausch– und Geldverhältnisse und vergibt sich hiermit meiner Meinung nach die Chance, das Grundprinzip antiker Gesellschaften angemessen darzustellen. Nun ist es sicher richtig, daß das Römerreich nur mit immensem finanziellen Aufwand erhalten werden konnte. Doch woher stammte dieser Reichtum?

Wie in jeder Klassengesellschaft muß der Reichtum erarbeitet werden. Es sind also die unmittelbaren Produzentinnen und Produzenten, welche die Grundlage für die Aneignung des Mehrprodukts liefern. Von den etwa 50 Millionen Bewohnerinnen und Bewohnern des Römischen Imperiums waren etwa 15 bis 20% versklavt. 80 bis 90% der Gesamtbevölkerung lebten auf dem Land. die durchschnittliche Lebenserwartung lag bei 25 Jahren. Somit gab es weite Teile des Imperiums, die weitgehend auf Selbstversorgung basierten, und andere wichtige Regionen, die das Überleben der großen Städte wie Alexandria oder Rom sicherten. Es wird beispielsweise überliefert, daß sechs Großgrundbesitzer die Hälfte der alten Provinz Africa besessen haben sollen [7], was auf eine Einkommenskonzentration wie in einem neokolonialen Drittweltland schließen läßt.

Doch bei aller Unterschiedlichkeit der wirtschaftlichen Basisdaten in den verschiedenen Regionen des Imperiums läßt sich festhalten, daß Wenige viel besaßen und sehr freigiebig mit ihrem Vermögen umgingen. Dafür lebte der Großteil der Bevölkerung am Existenzminimum.

Ein Grundproblem der Darstellung liegt in der Orientierung des Autors an modernen wirtschaftswissenschaftlichen Begriffen. Man und frau wird der römischen Wirtschaft sicher nicht gerecht, wenn ihr unterstellt wird, nach Kriterien wie Markt oder Standortfaktoren zu funktionieren. In seinem Bemühen, die Funktionsweise einer agrarisch orientierten Großraumwirtschaft einem modernen Publikum näherzubringen, schleichen sich mit den Begriffen auch die damit verbundenen Bedeutungen ein. Doch das Römische Imperium war nun einmal keine kapitalistische Gesellschaft. Selbstverständlich achtete jeder gute Händler auf seinen Profit, aber wesentliche Elemente einer durchkapitalisierten Wirtschaft fehlten.

Weder gab es eine verallgemeinerte Warenproduktion, weil in weiten Teilen des Imperiums weitgehend Subsistenzwirtschaft ohne nennenswerte Marktorientierung betrieben wurde. Zudem ist massenhafte Sklavenproduktion keine freie Lohnarbeit; und diese freie Lohnarbeit gab es allenfalls in bestimmten Nischen. Wenn Hans Kloft sogar von regulärer Wanderarbeit spricht, dann ist dies eine saisonale Erscheinung, um die Zusatzarbeit während der Ernte zu erbringen. Doch die wirtschaftliche Grundlage der marktorientierten Landwirtschaft war weitgehend Sklavenarbeit.

Ein Letztes: die römische Wirtschaft war weder innovativ noch technologisch fortschrittlich. Es gab zwar einzelne Maschinen und durchaus pfiffige Lösungen, aber sie wurden nie systematisiert und fortentwickelt. Die römische Wirtschaft war so gesehen eine stagnative Wirtschaft. Sie hatten einen großen Schub erfahren durch die Expansion der beiden Jahrhunderte um die Zeitenwende, weil hierbei neue Gebiete in die im Vergleich hierzu progressive römische Wirtschaft einverleibt wurden. Danach jedoch gab es keine neuen Impulse zur Ausdehnung der Wirtschaft und damit zum Florieren Roms.

Angesichts dessen, daß drei Viertel des gesamten Staatshaushaltes für Militärausgaben verwendet wurden, war dies auf Dauer eine problematische Entwicklung. Im 3. Jahrhundert zeigten sich daher die ersten Risse im Imperium, als durch den Druck von Außen die fehlenden inneren Triebkräfte sichtbar wurden. Ohne Soldaten und damit verbundene neue Expansion war das Römische Reich auf Dauer jedoch nicht zu halten. Und so kollabierte es folgerichtig im 4. Jahrhundert.

Im expansiven, aber nicht intensiven Charakter der römischen Wirtschaft liegt das Grundproblem jeder vorkapitalistischen Gesellschaft verborgen. Es wäre vielleicht sinnvoll gewesen, wenn uns Hans Kloft genauer mit der Struktur einer solchen antiken Sklavenhaltergesellschaft vertraut gemacht hätte. Er hingegen verlegt sich von der Produktionssphäre eher auf die Distributions und Zirkulationssphäre, von der materiellen Produktion (die er kursorisch durchaus erwähnt) also auf Handel und Geld.

Auch hier lassen sich interessante Erkenntnisse gewinnen. Der jährliche Staatshaushalt lag bei etwa einer Milliarde Sesterzen, wobei eine Umrechnung in Euro oder Dollar sicher ein problematisches Unterfangen wäre. Rund 100 Millionen Sesterzen gingen jährlich über den internationalen Handel, hauptsächlich mit Indien, verloren. Dieser enorme Verbrauch an Münzgeld benötigte also Nachschub. Verschiedene Kaiser kamen auf hierzu verschiedene Ideen.

Nero zum Beispiel ließ einige reiche Männer liquidieren, um sich deren Vermögen zur Sanierung der Staatskasse anzueignen. Trajan führte Krieg in Dakien (also Rumänien) und gegen die Parther. Hierdurch konnte die Gold– und Silberzufuhr gesteigert werden. Solange die Bergwerke genügend Münzmaterial lieferten, konnte der Gold– und Silbertransfer zum Kauf von Luxusgütern weitergehen. Wir sollten hierbei nicht die Verschwendungssucht der antiken herrschenden Klasse einfach verteufeln und als unmoralisch hinstellen, wie dies zeitgenössische Dichter und Schriftsteller des öfteren taten.

Es kann gut sein, daß der Luxus der Herrschenden ein wichtiger Bestandteil des antiken Wirtschaftssystems waren. Oftmals wurden reiche Männer für gewaltige Bauprojekte herangezogen und es kann gut sein, daß dies ein Geschäft auf Gegenseitigkeit war. So erhielten die engsten Vertrauten des Kaisers großzügige Summen, welche sie benutzen konnten, um sich in die Wirtschaft einzelner Regionen einzukaufen. Man und frau könnte glatt geneigt sein, dieses Prinzip als eine Art antiker Wirtschaftsförderung zu begreifen. Doch wie heute ist dabei natürlich eine ganze Menge Geld in die eigene Tasche geflossen. Dennoch muß der Wirtschaftskreislauf auf der Zirkulationsebene weitgehend bis ins 3. Jahrhundert funktioniert haben.

Überhaupt ging es beim Geld– und Warenaustausch nicht um kleine Summen. Die großen Städte wollten versorgt sein, und so wurden riesige Menschen an Getreide, Öl und Wein angeschifft. Die Kornkammern lagen in Ägypten, Nordafrika und Sizilien. Neben landwirtschaftlichen Produkten waren auch Handwerk und Gewerbe weit verbreitet. So gab es durchaus Massenproduktion in riesigen Produktionsstätten, so daß beispielsweise in einem einzigen Töpferofen über 30.000 Gefäße unterschiedlicher Größe und Art auf einmal hergestellt werden konnten. Andererseits waren viele Gewerbe als Kleinbetriebe organisiert, mit einem Besitzer und mehreren Gesellen. Neben Lohnarbeit gab es auch Sklavenarbeit und eine Art Frondienst. Manche dieser Ausbeutungsformen koexistierten nebeneinander und gingen fließend ineinander über.

Hans Kloft hat mit seinem Buch über Die Wirtschaft des Imperium Romanum mehr eine Art Übersicht als eine fundierte Analyse abgeliefert. Wer sich einen Eindruck vom Funktionieren der römischen Wirtschaft der Kaiserzeit verschaffen möchte, ist hiermit gut bedient, wer jedoch tiefer greifende Erkenntnisse erwartet, sollte noch weitere Literatur zur Hand nehmen. Das 124 Seiten umfassende großformatige Buch ist vor kurzem im Verlag Philipp von Zabern zum Preis von 39 Euro 90 herausgekommen.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte –

heute mit der Darstellung neuerer Erkenntnisse zur Neolithischen Revolution und zur Funktionsweise der römischen Wirtschaft. Die hierbei besprochenen Bücher waren

Diese Sendung wird wiederholt, und zwar in der Nacht von Montag auf Dienstag um 23.00 Uhr, am Dienstagmorgen um 8.00 Uhr und noch einmal am Dienstagnachmittag um 14.00 Uhr [8]. Das Manuskript dieser Sendung werde ich in den nächsten Tagen auf meine Homepage hochladen: www.waltpolitik.de. Kommende Woche werden auf diesem Sendeplatz meine Kolleginnen Cornelia Roch und Monika Kanzler–Sackreuther mit der Sendung Gegen das Vergessen aus der gleichnamigen Redaktion zu hören sein. Hier geht es weiter mit Äktschn!, einer Sendung der Kulturredaktion von Radio Darmstadt. Am Mikrofon war Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Hinter den Spiegeln am 20. März 2006, 17.00 Uhr
[2]   Darmstädter Echo 27. März 2006
[3]   Gerd–Christian Weniger : Projekt Menschwerdung, Seite 131. Hierbei handelt es sich um ein ungewöhnlich intelligentes Buch über die Menschwerdung des Menschen.
[4]   Matthias Glaubrecht : Seitensprünge der Evolution, Seite 181. Meine Besprechung dieses wissenschaftlich arg platten Buches findet sich im Manuskript zur Sendung Gesundheit und Biologismus vom 13. Februar 2006.
[5]   Wighart von Koenigswald : Lebendige Eiszeit, Seite 164
[6]   Klaus Schmidt : Sie bauten die ersten Tempel, Seite 54; man/frau vergleiche mit Seite 96–97
[7]   Hans Kloft : Die Wirtschaft des Imperium Romanum, Seite 38. Nero hatte sich diesen Besitz dann gewaltsam angeeignet.
[8]   Technisch bedingt gab es eine weitere Wiederholung gegen 9.20 Uhr, wodurch die dritte Wiederholung am Dienstagnachmittag (Beginn ca. 15.30 Uhr) durch die nachfolgende Sendung um 16.00 Uhr abrupt abgeschnitten wurde.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 20. September 2009 aktualisiert.
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