80 Jahre Oktoberrevolution

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Geschichte
80 Jahre Oktoberrevolution
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Offenes Haus
 
gesendet am :
Sonntag, 9. November 1997, 15.00–17.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Die Oktoberrevolution und ihr Platz in der Geschichte, Pahl–Rugenstein Verlag
  • Sahra Wagenknecht : Antisozialistische Strategien im Zeitalter der Systemauseinandersetzung, Pahl–Rugenstein Verlag
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/send199x/ge_oktob.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Lutz Taufer - Zur Person
Kapitel 3 : Lutz Taufer - Parallelen zwischen 1917 und 1968
Kapitel 4 : Die Oktoberrevolution und ihr Platz in der Geschichte
Kapitel 5 : 9. November
Kapitel 6 : Die Macht lag auf der Straße
Kapitel 7 : Podiumsdiskussion 80 Jahre Oktoberrevolution
Kapitel 8 : Männer-Revolution
Kapitel 9 : Sahra Wagenknecht : Antisozialistische Strategien im Zeitalter der Systemauseinandersetzung
Kapitel 10 : Rosa Luxemburg über die Oktoberrevolution
Kapitel 11 : Gespräch mit Rainer Keil und Friedhelm Spatz
Kapitel 12 : Schlußwort

 

Einleitung

Musik aus Sergej Eisensteins Film Oktober, Länge ca. 4:00

Mit dieser Filmmusik beginnt Sergej Eisensteins Film Oktober, den der AStA der Technischen Universität Darmstadt zu Beginn seiner Veranstaltungsreihe zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution zeigte.

Der 7. November 1917, oder nach dem damaligen russischen Kalender am 25. Oktober, ist das wohl wichtigste Datum dieses Jahrhunderts. Mit der Oktoberrevolution änderte sich erstmals auf dieser Erde etwas grundlegend: die Ausgebeuteten und Entrechteten übernahmen erstmals die Macht. Und seit dem 7. November 1917 arbeiteten alle bürgerlichen Regierungen vereint oder auch unabhängig voneinander auf den Sturz einer Gesellschaft hin, die sich selbst später als sozialistisch oder kommunistisch verstand.

Schon in den ersten Jahren der jungen Sowjetmacht fielen Armeen aus 14 Ländern in Rußland ein. Hitler versuchte 1941 im Alleingang, die Sowjetunion zu zerstören; nach Ende des 2. Weltkriegs folgte dann der Kalte Krieg. Nach 1989 zerfiel dann die Sowjetunion, sicher auch auf äußeren Druck hin. Wer sich aber mit der Geschichte der Sowjetunion und der kommunistischen Bewegung insgesamt beschäftigt, wird nicht darum herumkommen, erklären zu müssen, warum die Sowjetmacht diesem Druck nicht standhalten konnte. Ich will dazu in den nächsten zwei Stunden einige Anregungen geben. Mein Name ist Walter Kuhl.

Einige der in dieser Sendung gespielten Lieder entstammen der Proletenpassion der österreichischen Gruppe Schmetterlinge. Die Proletenpassion entstand Ende der 70er Jahre und reicht von den Bauernkriegen bis zum Faschismus. Inhaltlich geht es hierin hauptsächlich um die Geschichte des Widerstands gegen Ausbeutung und Unterdrückung. Das folgende Lied beschreibt, wie die russischen Bauern von der zaristischen Armee im 1. Weltkrieg verheizt wurden.

Schmetterlinge: Tarnopol, Länge: 1:13

 

Lutz Taufer - Zur Person

Lutz Taufer eröffnete die Veranstaltungsreihe des AStA der Technischen Universität Darmstadt mit einem einleitenden Vortrag zu dem Film Oktober von Sergej Eisenstein, dessen bekanntester Film der Panzerkreuzer Patjomkin war. Oktober war ein die historische Realität verklärender und verfälschender Film.

Ich denke, ich will erst was zu mir selbst sagen. Ich bin ja hier nicht eingeladen als Filmkritiker oder als Literaturwissenschaftler, der zu einem bestimmten Thema, in diesem Fall zum Film Oktober von Sergej Eisenstein etwas sagt. Ich war zwanzig Jahre in Haft als Gefangener aus der RAF. Ich will kurz sagen zu meiner Geschichte, damit es auch etwas verständlicher wird, was mich mit diesen Fragen, diesen Dingen beschäftigt und die Oktoberrevolution. Ich bin geboren am Ende des 2. Weltkriegs, bin aufgewachsen in der Restaurationsperiode, habe mich am 2. Juni 1967 politisiert. Das heißt, das ist der Tag des Anschlags auf Benno Ohnesorg. Es gab davor in der Bundesrepublik eine Friedensbewegung. Diese Friedensbewegung hatte die Überschrift - könnte man so sagen - Friede in Vietnam.
Und statt man in diesem Land, das zwei Weltkriege ausgelöst hat und Auschwitz widerstandslos hat über sich ergehen lassen, dieser Friedensbewegung einer unbelasteten jungen Generation einen Raum gegeben hätte, was eigentlich das Selbstverständlichste gewesen wäre, hat man auf sie geschossen, hat man auf uns geschossen. Also die Schüsse auf Benno Ohnesorg und die Schüsse wenige Monate später auf Rudi Dutschke hätten uns alle treffen können, waren wir alle mit gemeint. Einige Monate später gab es den Vietnam-Kongreß in Westberlin. Auf diesem Vietnam-Kongreß wurde aus der Friedensbewegung Frieden in Vietnam die Parole, die Bewegung Waffen für den Vietcong. Gleichzeitig suchten wir nach Gründen für dieses schockierende und irritierende Verhalten der Auschwitz-Generation, die da nicht zulassen konnte, daß wir Frieden, daß wir diesen Völkermord in Vietnam nicht wollten.

Die Studentenbewegung entdeckte den Marxismus und eine breite Bewegung entdeckte den internationalen Guerillero. Als emanzipatorisches Vorbild wurden die Kleinen, die Schwachen, die einem übermächtigen Gegner Nadelstiche versetzen konnten, gesehen. Aus dieser Suche entstand unter anderem der bewaffnete Kampf, also die RAF, die Bewegung 2. Juni, später die Revolutionären Zellen und die Rote Zora. Lutz Taufer ging Anfang der 70er Jahre ins Sozialistische Patientenkollektiv in Heidelberg.

Man entwickelte einen Krankheitsbegriff. Der Krankheitsbegriff sagte, ein Symptom, ein Krankheitssymptom ist eine Einheit von Protest des Organismus gegen krankmachende Lebensumstände, also auch insbesondere Arbeit, Schule, Familie, Universität usw., also kapitalistische Lebensumstände, und gleichzeitig also nicht nur ein Protest, sondern auch eine Hemmung [?] dieses Protests. Und es geht darum, in Gruppen, in denen man versucht, diesen Krankheitsursachen auf den Grund zu kommen, diesen Protest also nicht gegen sich selbst zu wenden in Form von Magengeschwüren, Kreislaufstörungen und Schlaflosigkeit, oder auch Prüfungsängsten, sondern ihn gegen die bestehenden Verhältnisse zu richten.
Ich will zusammenfassend sagen, daß 68-72, kann man sagen, daß war eine Suchbewegung im Gegensatz zur Linken heute, die oft darauf aus ist, ihre politischen und ideologischen Besitzstände abzuschotten und zu verteidigen. Ich denke nicht, daß darin eine Rettung steckt, eine Perspektive steckt. Ich denke, es sollte wieder der Versuch unternommen werden, andere Erfahrungen zu machen, in andere Erfahrungsbereiche zu gehen. Als Resultat dieser Suchbewegung entstand dann auch Frauenbewegung, bewaffneter Kampf, Kinderladen, antiautoritäre Beziehungen, Wohngemeinschaftsbewegung usw.

Lutz Taufer ging 1974/75 nach dem Tod von Holger Meins in die Illegalität. Er war beim Kommando Holger Meins, das 1975 die deutsche Botschaft in Stockholm besetzte, um 26 Gefangene freizubekommen.

Die Forderung wurde abgelehnt. Es kamen vier Menschen dabei um, zwei von uns, zwei Geiseln haben wir erschossen, was ich heute sehr kritisch sehe. Weil man nicht für bessere Verhältnisse kämpfen kann und dabei Gefangene erschießen.

 

Lutz Taufer - Parallelen zwischen 1917 und 1968

Lutz Taufer entwickelte in seinem Vortrag einige interessante Aspekte zur Parallelität der Ereignisse 1917 und 1968.

Ich war dann zwanzig Jahre von '75 bis '95 im Knast, bin 1995 rausgekommen und 1997 habe ich dann einen Anruf bekommen vom AStA TU Darmstadt. Und die haben mich dann gefragt, ob ich ein Einleitungsreferat zu diesem Film von Sergej Eisenstein Oktober machen möchte. Ich habe etwas gestutzt, habe gefragt, warum denn ich. Und dann sagte - er ist heute nicht hier, mit dem ich da gesprochen habe -, der sagte, ja, ihr habt ja mal was Ähnliches gemacht. Da habe ich mich dann doch etwas gewundert, habe dann darüber nachgedacht und habe mich dann auch bereit erklärt. Habe mich dann gefragt, was war das, was das Ähnliche war.
Und ich denke, es gab tatsächlich bei allen riesigen Unterschieden zwischen dem, was ab 1912/14/17 - je nachdem, wo man anfängt - in Rußland begonnen hat, und dem, was ab '68 oder ab '60 - egal wie man's nimmt - in der Bundesrepublik sich getan hat, gibt es schon ein paar Parallelen. Eine Parallele ist, daß also beide Aufbrüche - wenn ich das mal so allgemein sagen will - ihre Ursachen letztendlich in einem Krieg haben. Im Fall der Oktoberrevolution im 1. Weltkrieg, also eine ihrer Ursachen, auslösende Ursachen im 1. Weltkrieg. Bei uns war es der Vietnam-Krieg; die tiefere Wurzel war der 2. Weltkrieg. Die erstickenden Verhältnisse, in denen uns die Auschwitz-Generation ja festsetzen wollte.
Zweite Parallele ist die, daß das zaristische Rußland 1914, nachdem in der zaristischen Duma, das ist also das zaristische Parlament, das zugestanden wurde nach der Revolution von 1905, die sozialdemokratische Fraktion in seltener Einheit, das waren die seit 1902 gespaltenen Menschewiki und Bolschewiki, die Kriegskredite verweigerten. Daraufhin wurden sie verhaftet, die Presse wurde verboten, die Organisation der Bolschewiki und Menschewiki wurden zerschlagen. Das heißt, es war, nachdem dann in der russischen Arbeiterbewegung die Kriegsbegeisterung, die erstmal da war, abgeklungen war, war ein Vakuum. Und dieses Vakuum hat die städtischen Arbeiter, aber auch die Landarbeiter und die Bauern in diesem Riesenreich dazu gebracht, eigene Strukturen zu entwickeln: die Sowjets und die Fabrikkomitees.

Schmetterlinge: Babouschka, Länge 2:16

Lutz Taufer referierte zu den Parallelen zwischen 1917 und 1968 wie folgt weiter:

Eine Parallele, die für mich sehr wichtig ist, ist die Erfahrung, eine sehr wichtige Erfahrung in meinem Leben, daß wie es ebenfalls aus einem politischen Nichts kommend ... Es gab in Deutschland anders als in Frankreich und Italien, wo es einen wichtigen, einen essentiellen Beitrag gab zur Befreiung vom Faschismus. Also die Résistance, die Resistenzia. In Italien waren am Ende des Krieges, ich glaube, 380.000 Partisanen offiziell registriert. In Deutschland gab's zwar auch Widerstand von kommunistischer, sozialdemokratischer, jüdischer Seite, auch von bürgerlicher Seite.
Aber das hatte also nie die Dimension, daß man in Deutschland sagen konnte, jetzt kann sich hier ein politischer Pol bilden wie in Frankreich und in Italien, der sich berufen kann auf ein antifaschistisches Erbe, das hat es nicht gegeben in Deutschland. Das hat dazu geführt, daß das Bürgertum, das nach '45 erstmal diskreditiert war aufgrund seiner Haltung im Zusammenhang mit der Machtübernahme durch die Nazis, nach und nach sich wieder restaurieren konnten. Und die KPD wurde ja '56 verboten; die SPD dann 1959-61, als sie sich endgültig der Restauration angeschlossen hatte - dort wo in Frankreich und Italien Kommunisten und Sozialisten zugange waren - ein Vakuum hinterlassen hatten. Und in diesem Vakuum entstand dann die außerparlamentarische Opposition.
Das heißt, wir gingen auch aus von ... wir hatten also nichts, woran wir anknüpfen konnten und mußten also ähnlich - wenn man diese Parallele ziehen will -, also ähnlich wie die Arbeiter in Petrograd 1917 nach der Revolution, mußten da aus dem Nichts anfangen. Also für mich war das ein ganz wesentliches, ein wichtiges, ein entscheidendes Erlebnis in meinem Leben, daß wir es geschafft haben, aus dieser bedrückenden Vereinzelung, in die wir hineingesetzt waren - ich kann das jetzt ... diese Situation in der Restaurationszeit nicht näher ausführen, sonst wird das zu lang -, daß wir es geschafft haben, aus eigener Kraft uns daraus zu befreien, eigene politische Werte, kulturelle Werte, subkulturelle Werte aufzubauen, zu erfinden, in Gang zu setzen. Wir haben das gemacht als Suchbewegung, als Bewegung, die immer wieder Grenzen überschritten hat, die immer wieder den Mut hatte, Erfahrungsbereiche zu organisieren außerhalb des vom Establishment oder von der Auschwitz-Generation vorgegebenen Erfahrungsbereichs. Uns dieser Erfahrung - ich spreche jetzt nicht von objektiven Parallelen, sondern rein von dem Bewußtseinssprung, der sich in so einem Übergang von Defensive zu Offensive abspielt in den Köpfen der Menschen, denke ich - ich war ja nicht dabei, ich weiß es nicht, aber nach allem, was ich dazu gelesen habe, denke ich -, der hat sich auch 1917 in Rußland getan.
Warum? Ich will das jetzt ein bißchen ausführen. Es hat also bekanntlich 1905 einen Revolutionsversuch gegeben. Eine Demonstration städtischer Arbeiter zog vor - in Petrograd - das Zarenpalais unter der Führung eines Popen Gapon. Forderte Hilfe, Unterstützung gegen die Kapitalisten, wurde zusammengeschossen. Es gab einen Revolutionsansatz. Und in dieser '05er Revolution bildete sich der Petrograder Sowjet, der Petrograder Rat. Das heißt, es war eine Selbstorganisation der Petrograder Arbeiter. Die Generation - wie soll ich sagen - ging unter, hatte also keine Perspektive. Es entstand eine neue, sehr kämpferische Generation ab 1912 bis 1914, es gab viele Streiks, es gab Barrikaden, ich glaube sogar bewaffnete Demonstrationen. Und das ging bis 1914, August '14, Kriegsbeginn. Es gab ja den Schwur der Sozialistischen Internationale, der Weltkrieg war ja schon viele viele Jahre vorher vorausspürbar. Und es gab also diesen Schwur, wenn ein Krieg angesagt ist, ein Weltkrieg angesagt ist, dann machen wir da nicht mit. Generalstreik usw. Von Deutschland ausgehend, von der deutschen Sozialdemokratie ist das zusammengebrochen.
Auch die russischen Arbeiter, die russischen Linken - von ganz ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, wozu Lenin gehörte - verfielen erstmal dieser patriotischen Kriegsbegeisterung. Bei den Arbeitern hielt das nicht lange an. Das ging dann bis Februar 1917, als am internationalen Frauentag, das ist auch nicht bekannt, finde ich aber sehr wichtig, die Petrograder Frauen - wann ist der internationale Frauentag? Am 8. März, glaube ich - eine sehr militante starke Demonstration machten. Und diese Demonstration war der erste Schritt zur Februarrevolution und später zur Oktoberrevolution.

Schmetterlinge: Hausbau, Länge 1:11

Es war also - das ist wenig bekannt heute -, es ware also eine ganz sehr starke Zeit. Und vor allem hatten die Arbeiter und Bauern und die Soldaten - es war ja eine Bauernarmee, anders als in Westeuropa -, die hatten dieses ganz große Erlebnis, das wir sozusagen im kleinen hatten, daß sie sich befreit hatten von diesem unglaublichen Alpdruck des Zarismus. Das können wir uns, ich kann mir's auch nicht so gut vorstellen. Man kennt das ja nur aus der Literatur. Und was die Menschen damals gefühlt und empfunden haben, das kann man nicht so einfach nachvollziehen, aber es muß also eine ungeheure Befreiung ausgelöst haben in den Menschen. Und sie haben das aus eigener Kraft vor allem geschafft.
Das ist ja für Menschen, die also jahrzehntelang, jahrhundertelang geknechtet und geknutet wurden, und es herrschten in Rußland 1917 noch dieselben Verhältnisse wie 1856, als die Leibeigenschaft abgeschafft wurde; hat sich also nicht sehr viel verändert. Und jetzt hatten diese Menschen plötzlich den ganz starken Eindruck, wir sind jetzt in der Lage, unser Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen, unser Leben so zu organisieren, wie wir das wollen.

Lutz Taufer war sich allerdings bewußt, daß die Parallelen begrenzt waren. In Petrograd entstand so etwas wie eine Doppelmacht - der Petrograder Sowjet bestand als eigenständige Macht neben der bürgerlichen Provisorischen Regierung. Das war 1968 natürlich nicht der Fall. Wie es 1917 in Rußland aussah und es zur Oktoberrevolution kam, werde ich später im Verlauf dieser Sendung zusammenfassen.

Beatles: Revolution, Länge 3:25

 

Die Oktoberrevolution und ihr Platz in der Geschichte

Es sind in den letzten 80 Jahren viele Bücher zur Oktoberrevolution und ihren Folgen geschrieben worden. Es sind zu viele, um sie alle zu erwähnen. Herausstreichen möchte ich dennoch Leo Trotzkis Geschichte der Russischen Revolution und Isaac Deutschers dreibändige Trotzki-Biographie. Auch wenn heute einiges durch die historische Forschung überholt ist, bleiben dies dennoch Standardwerke auf hohem analytischen Niveau zum Verständnis dessen, was damals geschehen ist.

Nachdem nun ganz offensichtlich der Kapitalismus gesiegt hat und daraus der fragwürdige Schluß gezogen wird, dieser sei das bessere Gesellschaftssystem, scheint sich die historische Aufarbeitung, zumindest was den Buchmarkt betrifft, in Grenzen zu halten. Geschichte, insbesondere die Geschichte der Verlierer, scheint sich nicht gut zu verkaufen.

Ich werde dennoch in der heutigen zweistündigen Sendung zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution zwei in jüngerer Zeit erschienene Bücher vorstellen. In der Schriftenreihe der Marx-Engels-Stiftung ist dieses Jahr als Band 29 das Buch Die Oktoberrevolution 1917 und ihr Platz in der Geschichte erschienen. Das Buch enthält die Beiträge einer Konferenz, die der Marxistische Arbeitskreis zur Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung bei der Historischen Kommission der PDS, die Geschichtskommission der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) und die Marx-Engels-Stiftung im März dieses Jahres in Wuppertal veranstaltet haben.

Wenn ich die Überschrift eines der Diskussionsbeiträge herausgreife - Sie war und bleibt die Große Sozialistische Oktoberrevolution! - und dies zum Motto des Buches erkläre, vielleicht zu Unrecht, dann drückt sich darin aber auch das aus, was ich darin gelesen habe. Einerseits eine große Selbstbezogenheit auf einen kleinen Kreis heutiger sozialistischer Theoretiker. Andererseits scheint es mir so, daß die wissenschaftlich arbeitenden Kreise in PDS und DKP noch einiges aufzuarbeiten haben. Ich hatte beim Lesen den Eindruck, als müßten sie sich noch freischwimmen und ihre eigene Position finden. Schaden würde es ihnen jedenfalls nicht, die Arbeiten anderer ideologischer oder sozialistischer Richtungen für sich gewinnbringend zur Kenntnis zu nehmen.

Warum nun erwähne ich dieses Buch in einem Radio, dessen Hörerinnen und Hörer gewiß in ihrer überwiegenden Mehrzahl weder Sympathien für die PDS noch für die DKP haben dürften?

Ich denke, die von mir erwähnte Selbstbezogenheit läßt sich nicht nur in kleinen sozialistischen Zirkeln finden. So wie die einen sich an ihre Oktoberrevolution und ihre ideologischen Gewißheiten klammern, so ist die Scheu davor, sich mit Positionen und geschichtlichen Ereignissen auseinanderzusetzen, die das eigene Weltbild infrage stellen könnten, auf der anderen Seite auch nicht gerade gering. Die Oktoberrevolution ist das wichtigste historische Ereignis dieses Jahrhunderts. Daran geht kein Weg vorbei. Ob sie nun aktuell ist, ist eine andere Frage. Aber die Fragestellung, die die Oktoberrevolution aufgeworfen hat, ist auch heute noch aktuell.

Letztlich geht es um die Frage, wer die gesellschaftliche Macht hat und wie der gesellschaftliche Reichtum produziert und verteilt werden soll. Angesichts von Millionen Hungertoten jedes Jahr, von den Opfern militärischer Auseinandersetzungen und Landminen, und von den vielen anderen unangenehmen Begleiterscheinungen des Siegers der Geschichte, der freien Marktwirtschaft nämlich, denke ich, ist eine historischen Alternative zum bestehenden kapitalistischen System ganz gewiß erforderlich.

Und wer dem Gesellschaftssystem der Sowjetunion und seiner osteuropäischen Satelliten diktatorische Maßnahmen, Unfreiheit, Stalinismus usw. vorwirft bzw. vorgeworfen hat, sollte doch die historischen Realitäten anerkennen. Helmut Dahmer hat in seinem Referat im Rahmen der Veranstaltungsreihe des AStA der Technischen Universität Darmstadt zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution zurecht darauf hingewiesen, daß die stalinistischen Zwangsmaßnahmen zum Tod von etwa 20 Millionen Menschen - möglicherweise auch mehr - geführt haben und daß es dafür keine Rechtfertigung geben kann. Das sind allerdings Zahlen, die der Kapitalismus im Laufe seiner Geschichte locker mehrfach überboten hat. Und jährlich kommen Millionen hinzu. Und das nicht, weil die freie Marktwirtschaft noch nicht richtig, sondern gerade, weil sie so funktioniert, wie sie ist.

Aber um auf das von mir vorgestellte Buch zurückzukommen: Die Oktoberrevolution von 1917 hat ihren Platz in der Geschichte. Daß noch viel aufzuarbeiten ist, macht dieser Sammelband allerdings nur allzu deutlich. Das Buch Die Oktoberrevolution 1917 und ihr Platz in der Geschichte ist im Pahl-Rugenstein Verlag erschienen, hat 272 Seiten und kostet 29 Mark 90.

Das folgende die Sowjetunion heroisierende Lied ist von Ernst Busch. Es verdeutlicht die unreflektierte Treue zum sogenannten Vaterland der Werktätigen und gibt eine Stimmung wieder, wie sie in weiten Teilen der Arbeiterbewegung der 20er Jahre vorgeherrscht hat.

Ernst Busch, Länge 2:19

 

9. November

Hier ist Radio Darmstadt mit dem Offenen Haus. Von 15 bis 17 Uhr werden wir uns heute mit dem 80. Jahrestag der Oktoberrevolution beschäftigen. Der 9. November ist allerdings der Jahrestag einiger anderer Ereignisse.

Am 9. November 1918 wurde in Berlin die Republik ausgerufen, nachdem Arbeiterinnen, Arbeiter und aufständische Matrosen das Kaiserreich gestürzt hatten. Für die Bolschewiki in Moskau und Petrograd schien es so, als würde die deutsche Arbeiterklasse einen weiteren Schritt Richtung Befreiung der Menschheit unternehmen. Heute wissen wir, daß es nicht so war. Die deutsche Mehrheitssozialdemokratie paktierte mit der Militärführung und rechtsradikalen Freicorps, um die revolutionäre Bewegung zu zerschlagen. Neben Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht wurden Tausende ermordet.

Am 9. November 1938 gingen die Nazis in ihrem Vernichtungsfeldzug gegen Jüdinnen und Juden einen Schritt weiter. Daniel Goldhagen faßt zusammen:

Die Täter, hauptsächlich SA-Leute, töteten annähernd hundert Juden und verschleppten weitere 30.000 in Konzentrationslager. Hunderte von Synagogen wurden niedergebrannt und demoliert, fast alle, die von den Deutschen bis dahin noch nicht zerstört worden waren. Schaufensterscheiben von etwa 7500 jüdischen Geschäften wurden zertrümmert, daher die von den Nationalsozialisten benutzte Bezeichnung "Reichskristallnacht".
Und wie reagierte das deutsche Volk auf die Ereignisse? In zahlreichen Kleinstädten wurden die SA-Leute von bereitwilligen Ortsansässigen begrüßt, die die Gelegenheit ergriffen mitzumachen. [...] Ganz normale Deutsche beteiligten sich, ohne daß es einer Provokation oder einer Ermutigung bedurft hätte, an dem brutalen Vorgehen - selbst Kinder und Jugendliche, in vielen Fällen gewiß mit dem Einverständnis der Eltern. Weitere Hunderttausende schauten zu, auch am nächsten Tag, als die Täter die Juden feierlich in Richtung Konzentrationslager marschieren ließen.

Am 9. November 1989 wurden die ohnehin schon löchrigen Grenzen der DDR ganz geöffnet und deren Bewohnerinnen und Bewohner mit Bananen begrüßt. In den Jahren danach wurde das, was an Werten und Ressourcen in der ehemaligen DDR vorhanden war, systematisch unter Federführung der Treuhandanstalt ausgeplündert. Hieß es in der DDR-Nationalhymne noch Auferstanden aus Ruinen, so ließ die freie Marktwirtschaft neue Ruinen zurück, die allerdings, das muß ich der Gerechtigkeit halber sagen, damit verschönert wurden, daß jetzt auch in der ehemaligen DDR Einkaufsparadiese mit schnuckelig gestalteten Fußgängerzonen Einzug gehalten haben.

Bob Dylan: Masters of war, Länge 4:35

 

Die Macht lag auf der Straße

Was geschah nun 1917? - Wie Lutz Taufer schon erwähnte, war es eine Brotdemonstration in Petrograd, mit der der Zarismus in Rußland gestürzt wurde. Am internationalen Frauentag gingen die Frauen von Petrograd auf die Straße, um für Brot und Frieden zu demonstrieren. Beim Versuch, diese Demonstration zu zerschlagen, versagte das zaristische Militär. Der Zar mußte abdanken. Die Macht lag auf der Straße. Es bildete sich eine bürgerliche, die sogenannte Provisorische Regierung, die zwar versprach, den Krieg zu beenden, aber nichts dafür tat. Sie versprach den Bauern Land, aber führte keine Agrarreform durch, um den eigenen Besitzstand nicht zu gefährden. Und es bildete sich eine davon unabhängige Struktur, der Petrograder Sowjet, ein 1905 erfundenes demokratisches Organ der unterdrückten Arbeiter und Bauern.

Es entstand das, was später Doppelherrschaft genannt wurde. Monatelang existierten beide Regierungen nebeneinander her. Aber nicht nur die bürgerlichen Kräfte waren außerstande, die Situation zu ihren Gunsten zu nutzen, auch die wenigen in Rußland lebenden Revolutionäre wußten mit der Situation nichts anzufangen. Lenin traf im April 1917 in Petrograd ein und erklärte, daß die Sowjets die Macht übernehmen müßten: Alle Macht den Räten! Aber seine Organisation, die Bolschewiki, war nur ein kleiner Haufen im Vergleich zu anderen politischen Organisationen. Es zeigte sich jedoch, daß die anderen revolutionären Gruppen viel versprachen und wenig hielten. Keine Regierung, auch keine unter Beteiligung anderer sozialistischer Organisationen wie der Menschewiki, schloß Frieden, keine gab den Bauern Land.

Die einzigen, die beides versprachen und zuguterletzt glaubwürdig blieben, waren die Bolschewiki. Ihre Machtübernahme im November 1917 war daher kein Putsch, sondern geschah mit Unterstützung oder Billigung der größten Teils des russischen Volkes. Und die Bolschewiki verkündeten sofort, daß den Bauern das Land zustehe, welches sie bearbeiteten. Sie versuchten, mit Deutschland Frieden zu schließen und veröffentlichten - und das ist einmalig in der Weltgeschichte - alle Geheimverträge des Zarismus mit ausländischen Mächten. John Reed, ein amerikanischer Journalist, schildert die Eröffnung des 2. Gesamtrussischen Sowjetkongresses in den Abendstunden des 8. November, dem die Bolschewiki die Macht in die Hände gelegt hatten, wie folgt:

Einige von der Front angekommene Soldaten überbrachten die begeisterten Grüße ihrer Regimenter. Und nun stand Lenin vorn, die Hände fest an den Rand des Rednerpultes gekrampft, seine kleinen blitzelnden Augen über die Menge schweifen lassend, wartend, bis der minutenlange, ihm offensichtlich gleichgültige Beifallssturm sich gelegt haben würde. Als er endlich beginnen konnte, sagte er einfach: Wir werden jetzt mit dem Aufbau der sozialistischen Ordnung beginnen. Und plötzlich, einem gemeinsamen Impuls folgend, hatten wir uns erhoben und sangen die Internationale. Ein alter graubärtiger Soldat schluchzte wie ein Kind. Alexandra Kollontai unterdrückte rasch die Tränen. Mächtig brauste der Gesang durch den Saal, durch Fenster und Türen zum stillen Nachthimmel empor.

Allerdings war die Revolution von Anfang an gefährdet. - Wie ich schon erwähnte, fielen 14 ausländische Invasionstruppen in Rußland ein. Das Deutsche Reich erzwang Anfang 1918 den Diktatfrieden von Brest-Litowsk und fiel in die Ukraine ein. Rußland war schon 1914 ein absolut unterentwickeltes Land, allerdings mit hochentwickelten industriellen Zentren in Petrograd, Moskau und im Ural. 1917 betrug die Industrieproduktion jedoch nur noch etwa 1/10 des Wertes von 1914. Die wichtigsten Eisenbahnlinien war zerstört, das Land zum Teil durch deutsche Truppen verwüstet. In den Tagen nach der Revolution konnten erste konterrevolutionäre Putschversuche unterbunden werden. Aber schon bald sah sich die Revolution im Würgegriff ausländischer Mächte und konterrevolutionärer, sogenannter weißer Truppen auf ein Gebiet zurückgedrängt, das nur einen Bruchteil der Fläche des vorrevolutionären Rußlands umfaßte. Die Kornkammer Rußlands, die Ukraine, befand sich in deutscher Hand. Hunger in den Städten war an der Tagesordnung. Getreide mußte zwangsweise auf den Dörfern eingetrieben werden, damit die Städte nicht verhungerten.

Aber die Revolution war nicht am Ende. Leo Trotzki organisierte eine neue, die Rote Armee, der es schließlich gelang, alle Feinde zu besiegen. Allerdings waren es die klassenbewußtesten Arbeiter, die an vorderster Linie standen, kämpften und starben. Nach 3 Weltkriegs- und 3 Bürgerkriegsjahren war Rußland 1920 am Ende. Die Bolschewiki hatten im November 1917 die Macht mit der sicheren Gewißheit übernommen, daß sie nur die ersten sein würden, die die kapitalistische Ordnung hinwegfegen würden. Sie gingen davon aus, daß die deutschen Arbeiter über kurz oder lang ihnen folgen würden und damit das revolutionäre Rußland auch eine industrielle Basis haben würde. Aber dem war nicht so. Die Revolution in Deutschland wurde militärisch zerschlagen, die bayrische und die ungarische Räterepublik überlebten nicht lange.

Polen war seit den drei polnischen Teilungen im 18. und 19. Jahrhundert bis 1914 Teil Rußlands gewesen. Nach dem Zusammenbruch des deutschen Kaiserreichs wurde Polen wieder unabhängig und versuchte 1920, sich unter Führung von Pilsudski große Teile der Ukraine und Weißrußlands unter den Nagel zu reißen, zumal die Rote Armee den Kampf gegen die weißen, konterrevolutionären Truppen noch nicht gewonnen hatte. Die Rote Armee konnte den polnischen Vormarsch stoppen und Lenin ging davon aus, daß es möglich sei, eine Gegenoffensive über Warschau hinaus bis an die deutsche Grenze zu wagen, in der Hoffnung, daß die deutschen Arbeiter dies als Signal verstehen würden, ihren russischen Genossen zu helfen. Der Marsch auf Warschau war der verzweifelte Versuch, aus der Isolierung herauszukommen und die internationale Revolution noch einmal auf die Tagesordnung zu setzen. Der russische Vormarsch wurde vor Warschau gestoppt, die Rote Armee geschlagen. Ab jetzt war die Revolution tatsächlich auf sich alleine gestellt. Diese sollte fatale Folgen haben.

Ein ganz anderes Problem war das wirtschaftliche Überleben der Revolution. Mit eiserner Disziplin in den Fabriken und der Zwangsrequirierung allen verfügbaren Getreides in den Dörfern konnte verhindert werden, daß die Revolution schlicht verhungerte. Diese Methoden wurden Kriegskommunismus genannt. Als 1920 der Sieg der Revolution gesichert war, war auch abzusehen, daß es so nicht weitergehen konnte. Es mußte eine eigenständige industrielle Entwicklung stattfinden und die Bauern mußten dazu gebracht werden, die Versorgung der Städte zu sichern. Mit Zwang allein war da nichts zu machen.

1921 verkündeten die Bolschewiki daher die Neue Ökonomische Politik. Sie bedeutete im Prinzip nichts anderes als kapitalistische Entwicklung unter kommunistischer Aufsicht. Einige Jahre lang war das Modell erfolgreich. Die Lage entspannte sich, ein bescheidener Wohlstand entwickelte sich, aber auch der Gegensatz zwischen arm und reich nahm krasse Formen an. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die neuentwickelte kapitalistische Klasse auch Ansprüche an die Macht stellen würde.

Stalin löste das Problem Ende der 20er Jahre auf seine Weise mit Massenterror und Millionen Toten, die meisten davon verhungert als Folge der Zwangskollektivierung. Um Stalins Aufstieg und den Stalinismus zu verstehen, müssen aber die Voraussetzungen erkannt und verstanden werden. Ganz sicher ist es der falsche Ansatz zu sagen, daß die Oktoberrevolution zwangsläufig zum Archipel Gulag führte. Im Nachhinein ist es aber auch möglich zu sagen, warum sich genau diese Linie durchsetzte.

Ich werde darauf nachher im Gespräch mit Gästen im Studio zurückkommen. Doch zunächst noch einmal die Schmetterlinge. Lenin mußte nach einer militanten Arbeiterdemonstration im Juli aus Petrograd flüchten und versteckte sich im damals noch zu Rußland gehörenden Finnland. Von seiner Rückkehr handelt das nun folgende Lied.

Schmetterlinge: Jalava, Länge 3:40

 

Podiumsdiskussion 80 Jahre Oktoberrevolution

Es ist jetzt 15 Uhr 55 und Radio Darmstadt setzt seine zweistündige Sendung zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution fort.

Der AStA der Technischen Universität Darmstadt hatte mehrere Referenten zu einer Veranstaltungsreihe geladen, unter anderem Helmut Dahmer und György Dalos. Leider war die Aufnahmequalität so schlecht, daß ich daraus keine Auszüge bringen kann. Am letzten Mittwoch nun diskutierten Helmut Dahmer (Soziologieprofessor in Darmstadt), Robert Steigerwald von der DKP und der Historiker Jörn Schütrumpf (aus Berlin) darüber, ob das in der Sowjetunion denn nun Kommunismus war. Ich lasse die einzelnen Beiträge unkommentiert nebeneinander stehen.

Helmut Dahmer:

Am Ende des Bürgerkriegs blieb die Partei als eine militarisierte Avantgarde ohne Klasse im Alleinbesitz des Politikmonopols in einem isolierten, unterentwickelten und durch den Krieg ruinierten Land übrig. Aus dieser Isolationsnot - die Isolation erwies sich dann als nicht durchbrechbar - machte die Stalinsche Fraktion ihre Tugend mit dem Konzept, also der Phantasie können wir sagen, oder von der Ideologie von der Möglichkeit des Aufbaus von so etwas wie Sozialismus in ihrem vereinzelten Lande.
Es gab in dieser Situation für diese Ein-Partei an der Macht zwei Möglichkeiten. Sie konnten sich aus ihrer Kalamität retten mit dem kurzen Hebel der sowjetischen Wirtschaftsentwicklung und mit dem langen Hebel der Forcierung der internationalen Revolution. Also für diese isolierte, unterentwickelte, quasi sozialistische Insel einen internationalen Entsatz zu schaffen. Denn die konkrete Formel für die Vorstellung, der Kapitalismus sei am Ende, war, wie Lenin viele Male formuliert hat 1917, noch '18, in ein paar Monaten zeigt uns ein Karl Liebknecht eine richtige sozialistische Revolution aussieht in einem Land, in dem die Produktivkräfte weit entwickelt sind, so weit entwickelt sind, um eine Überflußproduktion und das Absterben des Staates zu einer realen Wirklichkeit werden zu lassen. Denn das war die Umschreibung für eine nachkapitalistisch-sozialistische Ordnung.
Die Leistung dieses Bastard-Wirtschaftssystems - ein Ausdruck aus der 20er Jahre-Diskussion -, also einer gemischten Wirtschaft, war die nachgeholte, beschleunigte, terroristische Industrialisierung, der Aufstieg zur zweiten Industriemacht gemessen in Gesamtproduktions-Ausstoßdaten. Es blieb ein unaufholbarer Abstand in der Pro-Kopf-Produktion und in der alles entscheidenden Arbeitsproduktivität. Und die Unfähigkeit, durch Reformen diesen Rückstand aufzuholen, hat zum Kollaps dieses Systems geführt. Man kann also sagen, dieses sowjetische System war weder ein sozialistisches, noch gar ein kommunistisches, weil vom Absterben des Staates, der Klassen, vom Schwinden von Ware und Geld, von Selbstverwaltung keine Rede sein konnte. Der Stalinsche Sozialismus in einem Lande war das Experiment eines terroristischen Nationalkommunismus, also die Entwicklungsdiktatur einer verselbständigten und als Kaste institutionalisierten Arbeiterbürokratie.
Ich erwähne nur nebenbei, daß diese stalinistische Ideologie eine gigantische Verschleißmaschine war zur Zermahlung sozialistischer Hoffnungen, der Hoffnungen ganzer Generationen. Und daß das auf diesem Felde zu einer irreparablen Diskreditierung des gesamten antikapitalistischen Projekts auf lange Sicht geführt hat.

Robert Steigerwald:

Wer Fragen der Bewahrung von Demokratie und bürgerlichen Rechten als Maßstab anlegt und dabei nicht berücksichtigt, daß es in Rußland eine solche Tradition gar nicht gab, an die man hätte anknüpfen können, der begeht bereits einen methodologischen Fehler.
[...] daß die russische Entwicklung nicht verstanden werden kann, wenn man nicht begreift, daß es keinen anderen Weg aus dem Völkergemetzel für die Russen gab als eine Revolution. Keine andere politische Kraft im Land war bereit, Frieden zu schließen, auch nicht die Menschewiki. Das war auch der Hauptgrund dafür, daß die Bolschewiki im entscheidenden Moment eine Übereinstimmung zwischen bolschewistischer Partei und der großen Masse des Volkes hatten, was selbst bürgerliche Ostwissenschaftler heute akzeptieren.
Wir sollten auch über folgende Frage nachdenken: Was sollten denn die Russen machen? Nachdem diese Revolutionswellen abgeebbt sind und sie allein gelassen waren. Was sollten sie machen, kapitulieren? Oder sollten sie versuchen, koste es, was es wolle, in diesem großen Land mit den Bodenschätzen, die ihnen zur Verfügung standen, etwas Neues aufzubauen? Ob das gelungen ist, ist eine andere Frage. Aber zunächst mal, glaube ich, daß es auch den jungen Revolutionären besser erschien und angebracht erschien, nun mal zu zeigen, was man kann. Und nicht zu kapitulieren und zurückzugehen den Weg zum Kapitalismus, zumal ja nachdem, was der Bürgerkrieg gezeigt hat, ein solcher Weg ja noch etwas ganz anderes bedeutete als die Kapitulation. Und in dem Zusammenhang noch eine Bemerkung: so furchtbar der Terror der Stalinzeit gewesen ist, über den wir diskutieren müssen, nicht aus Gründen der Vergangenheit, sondern um die Bedingungen schaffen zu helfen, daß so etwas sich nicht wiederholt. Man darf dennoch nicht vergessen, daß in dieser Zeit aus einem Land des Bastschuhs und des Strohdachs ein Land geworden ist des T34 und der Katjuscha, das dem Hitler das Genick gebrochen hat.

Jörn Schütrumpf:

Die Hauptfrage des Jahres 1917 innenpolitisch ist die Frage des Landes. Wir sind in einem Bauernland, 80% der Bevölkerung in Rußland sind Bauern. Die Arbeiterschaft ist eine äußerst geringe Bevölkerungsgruppe. Von daher ist, glaube ich, einsehbar, daß im 2. Halbjahr 1917 die Auseinandersetzungen, die mit der Februarrevolution in Gang gekommen waren, keineswegs an ihrem Ende waren, sondern eine Radikalisierung, eine weitere Radikalisierung der Revolution, die dort im Frühjahr begonnen hatte, stand in jedem Falle ins Haus. Und zwar sowohl aus der Frage des Krieges - nur, die Novemberrevolution in Deutschland hat gezeigt, wie leicht man Kriege beenden kann und Revolutionen dann den Stachel zieht. In Rußland hätte auch eine Beendigung des Krieges bei nicht gleichzeitiger Lösung der Landfrage die Revolution nicht zum Stoppen gebracht, anders als in Deutschland. Und daß es nun die Bolschewiki waren, die sich an die Spitze dieser Auseinandersetzung stellten und in einer - ja, Gott, was war es, also Lenin fuhr mit der Straßenbahn - war es ein Putsch? Ich habe Probleme mit dem Begriff Putsch, aus dem schlichten Grund. Ein Putsch hat für mich immer den Beigeschmack von Aktionen kleiner Gruppen, die sich nicht in Beziehung zur Mehrheit setzen können. Also die einfach Privatdiktaturen errichten wollen. Das war es im November 1917 für mein Gefühl nicht, denn es standen tatsächliche soziale Fragen an, die gelöst werden mußten, vor allem die Landfrage. Also für mich ist die Oktoberrevolution kein Putsch, auch ohne die Oktoberrevolution wäre eine weitere Dynamik in diese Prozesse hineingekommen.
Auch der Gulag hatte eine ökonomische Funktion. Also, wir haben ja jetzt seit einem halben Jahr die neuesten Forschungsergebnisse auf dem Tisch. Es gab also ab 1934 eine Anweisung an den NKWD, 7-9% der Arbeitskräfte über den Gulag zu stellen. Das war Sklavenarbeit, was die Leute dort leisteten. Und diese Sklaverei war Bestandteil des Wirtschaftssystems. Und zwar bewußt. Es ging nicht mehr um die Verhaftung nach Listen ab einem gewissen Zeitpunkt, sondern es ging um die Erfüllung von Zahlen, die gebracht werden mußten, damit diese Wirtschaft weiter funktioniert.

Und wieder Helmut Dahmer:

Mir leuchtet das überhaupt nicht ein. Wieso sollen wir uns heute, 1997 in Darmstadt bei einer Minoritätenveranstaltung die Schuhe der russischen Bauern anziehen? Wieso haben wir es nötig, uns vor irgendwelchen eurozentristischen Arroganzen zu bewahren? Wieso müssen wir Väterchen Stalin für seinen Sieg über Hitler danken, mit dem er sich vorher verbündet hatte? Wieso müssen wir sagen, also die Russen haben doch eigentlich gemacht, was so irgend drin war, nicht? Und das ist doch eigentlich wunderschön gewesen, wenn auch ein Scherbenhaufen das Resultat war. Also, ich verstehe diese Identifikationen nicht. Wie wir hier sitzen, sind wir weder russische Bauern noch russische Bolschewisten noch sonst irgendwas, sondern Sie sind politisch engagierte Leute, auch die, die hier vorne sitzen. Wir haben so unterschiedliche politische Optionen, verschiedene politische Schicksale; das ist alles Bank, wenn ich das mal sagen darf mit Henry Ford, gegen Henry Ford. Diese ganzen Debatten - Trotzkisten, Stalinisten usw. -, das interessiert keinen Menschen mehr. Da müssen wir sagen, die Geschichte ist darüber hinweggegangen, und zwar die Geschichte der Sieger, zu denen weder die Trotzkisten, noch die Stalinisten, noch sonst jemand gehört hat. Schon gar nicht die Arbeiterbewegung. Also, ich verstehe Veranstaltungen wie heute nicht als Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisrunde oder das sentimentale Andenken an die russischen Bauern mit ihren Filzlatschen und Hakenpflügen und dergleichen, oder an den Großen Vaterländischen Krieg. Sondern ich verstehe das so, daß wir uns hier zusammensetzen und die besten theoretischen Konzeptionen uns in die Erinnerung rufen und alles mobilisieren, was es an historischen Kenntnissen gibt, um zu kapieren, was da abgelaufen ist.

Zum Abschluß dieser Veranstaltungsreihe diskutieren am kommenden Mittwoch Ted Grant, Wolf Dieter Gudopp, Michael Brumlik und Christoph Jünke, ob die Idee des Kommunismus tot ist. Das Ganze findet ab 20 Uhr im Audimax der Technischen Universität statt. Der Eintritt ist frei.

Leonard Cohen: The Partisan, Länge 3:25

 

Männer-Revolution

Um es ganz klar zu sagen: die Oktoberrevolution war hauptsächlich ein von Männern getragenes und von Männern bestimmtes Ereignis. Es stimmt zwar, daß die Frauen von Petrograd im März 1917 den Zarismus stürzten, aber danach spielten Frauen auf der politischen Bühne kaum eine Rolle mehr. Das kann allerdings auch daran liegen, daß - wie so oft - die Bedeutung von Frauenkämpfen in den Geschichtschroniken als unwesentlich übergangen wurden.

Allerdings setzt sich das bis heute fort: dem AStA der Technischen Universität ist es nicht gelungen, eine Frau als Referentin zu gewinnen, immerhin hat er es versucht. Und so werden auch heute in diesen zwei Stunden hauptsächlich Männer zu Wort kommen. Ich begreife dies als einen Mangel; als einen Mangel, der nicht unwesentlich zum Scheitern eines Revolutionsmodells beitrug, das von Marx und Engels über Kautsky und Lenin, über Stalin und Mao Zedong bis zu Che Guevara und Ho Chi Minh von Männern entworfen oder durchgeführt wurde. Und so ist es kein Wunder, daß dieses Revolutionsmodell mit heroischen Männern und machistischer Militanz verbunden ist. Darüber wäre nachzudenken. Besser wäre es natürlich, daran etwas zu ändern.

 

Sahra Wagenknecht : Antisozialistische Strategien im Zeitalter der Systemauseinandersetzung

Das soll jetzt kein gekünstelter Übergang zu meiner zweiten Buchbesprechung heute sein. Das Buch, das ist jetzt kurz vorstellen werde, ist schon vor einigen Jahren erschienen, jedoch dieses Jahr in der 6. Auflage neu aufgelegt worden. Sahra Wagenknecht untersucht in ihrem Buch Antisozialistische Strategien im Zeitalter der Systemauseinandersetzung, warum das kommunistische Modell gescheitert ist. Sie legt dabei keinen Wert auf innere, sozusagen dem sozialistischen System innewohnende Faktoren, die zum Scheitern geführt haben könnten. Vielmehr betrachtet sie den äußeren Druck der imperialistischen Mächte auf die Sowjetunion und deren Satellitenstaaten.

Sahra Wagenknecht macht - so auch der Untertitel - zwei Taktiken im Kampf gegen die sozialistische Welt aus. Zunächst, nach dem Ende des 2. Weltkriegs, wurde gegen die Sowjetunion der sogenannte Kalte Krieg geführt. Es sollte ein von den USA koordinierter politischer und militärischer Druck ausgeübt werden, dem das sozialistische Lager nicht standhalten würde. Das Konzept war auf die Dauer nicht durchführbar, spätestens dann, als die Sowjetunion über eigene Atomwaffen verfügte.

Die historisch darauf folgende zweite Strategie war die Entspannungspolitik. Durch wohldosierte politische und wirtschaftliche Zugeständnisse sollte das sozialistische Lager aufgeweicht, gegeneinander ausgespielt und schließlich so geschwächt werden, daß auch in diesen Ländern der Kapitalismus wieder Einzug halten konnte. So ist es ja auch geschehen.

Sahra Wagenknechts Buch ist anregend, aber leider auch ziemlich eindimensional. Sie behauptet eine weitestgehend einheitliche Linie im - wie sie sagt - imperialistischen Staatenblock; und der Übergang zu einer Art Verschwörungstheorie ist nicht weit. Ich denke, der Entspannungspolitik lag mehr als nur eine Strategie zur Vernichtung des Kommunismus zugrunde; sie war auch, vielleicht sogar hauptsächlich, als wirtschaftliche Osterweiterung vor allem der westeuropäischen Staaten und Wirtschaften gedacht.

Das Buch von Sahra Wagenknecht ist im Pahl-Rugenstein Verlag erschienen, hat 183 Seiten und kostet 19,80.

Allerdings - ihre Thesen haben durchaus einen Hintergrund: die Oktoberrevolution setzte bei vielen antikapitalistischen und antikolonialen Bewegungen Energien frei; Rußland bzw. die Sowjetunion wurde zum Hoffnungsträger so mancher Rebellionen. Und so gab es dann auch eigenständige, aber natürlich vom Erfolg der Oktoberrevolution inspirierte Revolutionen bis in die 70er Jahre hinein: in China, in Jugoslawien, auf Cuba und in Nicaragua. Daß die kapitalistischen Mächte hier nicht tatenlos zusehen würden, ist offensichtlich.

Ton Steine Scherben: Die letzte Schlacht gewinnen wir, Länge 4:20

 

Rosa Luxemburg über die Oktoberrevolution

Bevor ich mit Friedhelm Spatz und Rainer Keil von der DKP über die Bedeutung der Oktoberrevolution sprechen werde, möchte ich das Wort an Rosa Luxemburg übergeben. Rosa Luxemburg verfolgte die Ereignisse in Rußland aus dem Gefängnis in Breslau, in dem sie zu Ende des 1. Weltkriegs interniert war. Sie schrieb ein Manuskript, aus dem später ausgiebig gegen die Oktoberrevolution, die Bolschewiki und die entstehende Sowjetunion zitiert wurde. Ich habe einige wichtige Passagen zusammengefaßt - das Wort hat nun Rosa Luxemburg:

Auszug aus einem Manuskript von Rosa Luxemburg [Gesammelte Werke, Band 4, 332-365]

Lenin sagt: Der bürgerliche Staat sei ein Werkzeug zur Unterdrückung der Arbeiterklasse, der sozialistische - zur Unterdrückung der Bourgeoisie. Es sei bloß gewissermaßen der auf den Kopf gestellte kapitalistische Staat. Diese vereinfachte Auffassung sieht vom Wesentlichsten ab: Die bürgerliche Klassenherrschaft braucht keine politische Schulung und Erziehung der ganzen Volksmasse, wenigstens nicht über gewisse eng gezogene Grenzen hinaus. Für die proletarische Diktatur ist diese Schulung und Erziehung das Lebenselement, die Luft, ohne die sie nicht zu existieren vermag.
Gerade die riesigen Aufgaben, an die die Bolschewiki mit Mut und Entschlossenheit herantraten, erforderten die intensive politische Schulung der Massen und Sammlung der Erfahrung. Die stillschweigende Voraussetzung der Diktaturtheorie im Lenin-Trotzkischen Sinn ist, daß die sozialistische Umwälzung eine Sache sei, für die ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, das dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider - oder je nachdem: zum Glück - nicht so. Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden hätte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die völlig im Nebel der Zukunft liegt.
Was wir in unserem Programm besitzen, sind nur wenige große Wegweiser, die die Richtung anzeigen, in der die Maßnahmen gesucht werden müssen - dazu vorwiegend negativen Charakters. Wir wissen so ungefähr, was wir zu allererst zu beseitigen haben, um der sozialistischen Wirtschaft die Bahn frei zu machen. Welcher Art hingegen die tausend konkreten, praktischen großen und kleinen Maßnahmen sind, die auf jedem Schritt zu ergreifen sind, um die sozialistischen Grundsätze in die Wirtschaft, in das Recht, in alle gesellschaftlichen Beziehungen einzuführen, darüber gibt kein sozialistisches Parteiprogramm und kein sozialistisches Lehrbuch Aufschluß. Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen: Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein.
Dann ist es klar, daß der Sozialismus sich seiner Natur nach nicht verordnen läßt. Er hat zur Voraussetzung eine Reihe Gewaltmaßnahmen - gegen das Eigentum zum Beispiel. Das Negative, den Abbau, das kann man dekretieren, den Aufbau, das Positive, nicht. Sonst wird der Sozialismus vom grünen Tisch eines Dutzends Intellektueller dekretiert.
Niemand weiß das besser, schildert das eindringlicher, wiederholt das hartnäckiger als Lenin. Nur vergreift er sich völlig im Mittel. Dekret, diktatorische Gewalt der Fabrikaufseher, drakonische Strafen, Schreckensherrschaft, das ist der falsche Weg. Der einzige Weg zu dieser Wiedergeburt: die Schule des öffentlichen Lebens selbst, uneingeschränkte breiteste Demokratie, öffentliche Meinung. Gerade die Schreckensherrschaft demoralisiert.
Der Grundfehler der Lenin-Trotzkischen Theorie ist eben der, daß sie die Diktatur der Demokratie entgegenstellen.
Es ist die historische Aufgabe des Proletariats, wenn es zur Macht gelangt, anstelle der bürgerlichen Demokratie sozialistische Demokratie zu schaffen, nicht jegliche Demokratie abzuschaffen. Sozialistische Demokratie beginnt aber nicht erst im gelobten Lande, wenn der Unterbau der sozialistischen Wirtschaft geschaffen ist, als fertiges Weihnachtsgeschenk für das brave Volk, das inzwischen treu die Handvoll sozialistischer Diktatoren unterstützt hat. Sozialistische Demokratie beginnt zugleich mit dem Abbau der Klassenherrschaft und dem Aufbau des Sozialismus. Sie beginnt mit dem Moment der Machteroberung durch die sozialistische Partei. Sie ist nichts anderes als die Diktatur des Proletariats.
Jawohl: Diktatur! Aber diese Diktatur besteht in der Art der Verwendung der Demokratie, nicht in deren Abschaffung; in energischen, entschlossenen Eingriffen in die wohlerworbenen Rechte und wirtschaftlichen Verhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft, ohne welche sich die sozialistische Umwälzung nicht verwirklichen läßt. Aber diese Diktatur muß das Werk der Klasse und nicht einer kleinen, führenden Minderheit im Namen der Klasse sein.
Alles, was in Rußland vorgeht, ist begreiflich und eine unvermeidliche Kette von Ursachen und Wirkungen. Deren Ausgangspunkte und Schlußsteine sind das Versagen des deutschen Proletariats und die Okkupation Rußlands durch den deutschen Imperialismus. Es hieße von Lenin und Genossen Übermenschliches verlangen, wollte man ihnen auch noch zumuten, unter solchen Umständen die schönste Demokratie, die vorbildlichste Dikatur des Proletariats und eine blühende sozialistische Wirtschaft hervorzuzaubern. Sie haben durch ihre entschlossene revolutionäre Haltung, ihre vorbildliche Tatkraft und durch ihre unverbrüchliche Treue dem internationalen Sozialismus wahrhaftig genug geleistet, was unter so verteufelt schwierigen Verhältnissen eben zu leisten war.
Das Gefährliche beginnt dort, wo sie aus der Not eine Tugend machen, ihre von diesen fatalen Bedingungen aufgezwungene Taktik nunmehr theoretisch in allen Stücken fixieren und dem internationalen Proletariat als das Muster der sozialistischen Taktik zur Nachahmung empfehlen wollen.
Wir alle stehen unter dem Gesetz der Geschichte, und die sozialistische Politik läßt sich eben nur international durchführen. Die Bolschewiki haben gezeigt, daß sie alles können, was eine echte revolutionäre Partei in den Grenzen des historisch Möglichen zu leisten imstande ist. Sie sollen nicht Wunder wirken wollen. Denn eine mustergültige und fehlerfreie proletarische Revolution in einem isolierten, vom Weltkrieg erschöpften, vom Imperialismus erdrosselten, vom internationalen Proletariat verratenen Lande, das wäre ein Wunder.
In dieser Beziehung waren die Lenin und Trotzki mit ihren Freunden die ersten, die dem Weltproletariat mit dem Beispiel vorausgegangen sind. Sie sind bis jetzt immer noch die einzigen, die mit Ulrich von Hutten ausrufen können: Ich hab's gewagt!
Das ist das Wesentliche und Bleibende der Bolschewiki-Politik. In diesem Sinne bleibt ihnen das unsterbliche geschichtliche Verdienst, mit der Eroberung der politischen Gewalt und der praktischen Problemstellung der Verwirklichung des Sozialismus dem internationalen Proletariat vorausgegangen zu sein und die Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit in der ganzen Welt mächtig vorangetrieben zu haben.
In Rußland konnte das Problem nur gestellt werden. Es konnte nicht in Rußland gelöst werden, es kann nur international gelöst werden. Und in diesem Sinne gehört die Zukunft überall dem Bolschewismus.

Die Auszüge aus dem Manuskript von Rosa Luxemburg sprach Antje Trukenmüller.

Schmetterlinge: Winterpalais, Länge 1:47

 

Gespräch mit Rainer Keil und Friedhelm Spatz

Für alle, die hier die Sendeschleife erwarten: seit anderthalb Stunden sendet das Offene Haus einen historischen Rückblick zum 80. Jahrestag der Oktoberrevolution. Ich begrüße jetzt Rainer Keil und Friedhelm Spatz von der DKP, der Deutschen Kommunistischen Partei. Die DKP ist ja 1968 gegründet worden, nachdem ihre Vorgängerorganisation, die KPD, 1956 verboten worden war. Die DKP hat sich ja ganz bewußt in die Tradition des sowjetischen Kommunismus gestellt und war - ich sage es einfach mal salopp - jahrelang inhaltlich wie finanziell von der SED abhängig. Seit 1989, so habe ich den Eindruck, hat sich bei euch einiges getan; und so bin ich dann auch gespannt, wie ihr heute zur Sowjetunion, zum Stalinismus, aber vor allem zur Oktoberrevolution steht.

Es gibt kein Manuskript der folgenden Live-Diskussion. Über die Fragestellung informiert der folgende Auszug aus einem zur Vorbereitung auf die Diskussion dienenden Fax an Rainer Keil und Friedhelm Spatz.

Hier kurz, wie ich mir das morgige Gespräch vorstelle: Nachdem ich etwa anderthalb Stunden eine Einführung zur Oktoberrevolution gegeben habe, möchte ich mit euch darüber reden, ob die Oktoberrevolution zwangsläufig zum Stalinismus geführt hat (was ich nicht so sehe). Das wird auch meine einleitende Frage sein.

Vieles wird nur kurz angerissen werden können - was ich dann auch schon getan haben werde. Interessant ist dabei, so denke ich, die Situation 1920/21.

a) der Krieg gegen Polen 1920 und der Versuch, die Revolution nach Westen zu tragen. Verzweiflungsakt oder legitimes revolutionäres Verhalten? (Wozu es ja noch die Parallele am Ende des 2. Weltkriegs gibt.) Nach der Niederlage an der Weichsel sah es ja so aus, als müßte die junge Sowjetmacht doch den Sozialismus in einem Land einführen. Oder welche Handlungsalternativen bestanden in der Außenpolitik. Stalin hat ja in China eine geradezu katastrophale Politik betrieben; und Maos Rebellenarmee hat ja nur deswegen gesiegt, weil sie sich Stalins Politik nicht unterworfen hat.

b) die Fortsetzung des Bürgerkriegs gegen Kronstadt 1921. Waren die Anarchisten in Kronstadt tatsächlich ein konterrevolutionärer Haufen, und wenn ja, ist damit das Gemetzel zu legitimieren? Gibt es nicht eine Parallele zu

c) das Fraktionsverbot während des Parteitags 1921? Wurde damit nicht der Grundstein für jede antidemokratische Politik gelegt?

d) die NEP. Konnte das gutgehen, kapitalistische Ausbeutungs- und Aneignungsformen unter kommunistischer Herrschaft? War Stalins terroristische Lösung die einzig denkbare oder gab es realistische andere?

e) wer unterstützte 1920/21 die Revolution? (Erschöpfung des Landes und seiner Menschen; 6 Jahre erlebte Gewalt; Hunger; katastrophale Versorgungs- und Produktionsbedingungen; etc.) Lag hier nicht auch der Grundstein für eine Politik, in der die Partei im Namen der Klasse ohne und gegen die Klasse Politik machte?

f) zum Abschluß: war es trotz allem legitim, im November 1917 die Macht zu übernehmen?

Das wird sich in einer knappen halben Stunde nicht beantworten lassen. Mir ist es aber wichtig, die Bedingungen zu reflektieren, unter denen Stalins Politik eine Chance hatte, sich durchzusetzen. Wobei Stalin für ein Politikmodell steht, er hat ja breite Unterstützung gehabt. Eine Theorie à la Personenkult (Chruschtschow) reicht als Erklärung ja nicht aus.

Zusätzlich noch einige vorbereitete Notizen:

Situationsbeschreibung: Gewonnener Bürgerkrieg, unbeliebt aufgrund der Methoden, keine Alternative, innerparteilicher Richtungsstreit, Kronstadt als Fanal, Versorgungslage/Wirtschaftspolitik.

Isaac Deutscher schreibt in seiner Trotzki-Biographie:

Hätten die Bolschewiki jetzt freie Wahlen zugelassen, so würden sie fast mit Sicherheit aus ihrer Machtstellung hinweggefegt worden sein. [...] Nach dem bolschewistischen Regime konnte nur die äußerste Verwirrung kommen, der die offene Konterrevolution auf dem Fuß gefolgt wäre. Die Partei Lenins ließ es nicht zu, daß das hungernde und innerlich erschütterte Land sie mit dem Stimmzettel entmachten und sich selbst in ein blutiges Chaos stürzen würde. [Band I, Seite 472-473]

 

Schlußwort

Es ist kurz vor 5; wir müssen das Gespräch an dieser Stelle leider abbrechen. Ich hoffe, wir konnten einige Denkanstöße geben. Erschöpfend ist ein solches Thema weder in einer halben noch in diesen gesamten letzten zwei Stunden zu behandeln gewesen.

Als Gäste im Studio waren Friedhelm Spatz und Rainer Keil von der DKP. Die Sendung gestaltet und moderiert hat Walter Kuhl, aus dem Manuskript von Rosa Luxemburg las Antje Trukenmüller, die übrigen Zitate las Günter Mergel, der auch an der Technik saß.

Musik aus dem Film von Sergej Eisenstein Oktober, Länge ca. 4:00

 

Diese Seite wurde zuletzt am 17. März 2006 aktualisiert.
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