Phantomverbrechen, 5. Teil

Beschäftigungsprogramme der Polizei

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Phantomverbrechen
5. Teil
Beschäftigungsprogramme der Polizei
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
Co–Moderation :
Antje Trukenmüller
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 17. August 1998, 17.00–17.55 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 18. August 1998, 08.00–08.55 Uhr
Dienstag, 18. August 1998, 14.00–14.55 Uhr
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/phantom/phant_05.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Sommercamps als Sicherheitsrisiko
Kapitel 3 : Probleme der Öffentlichkeitsarbeit
Kapitel 4 : Dekontaminierendes Aktionstheater
Kapitel 5 : Wer geht hier baden?
Kapitel 6 : Nichtigkeiten aus Eigeninteresse
Kapitel 7 : Von virtuellen Straftaten zur Virtuellen Zitrone
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

AT : Heutiges Thema ist das Anti–AKW–Sommercamp der Darmstädter Stadtpiratinnen. Damit wie jedes Jahr untrennbar verbunden sind die Verbrechen und Vergehen, die die Polizei erfindet. Darum heißt unsere Sendung auch Phantomverbrechen. Durch die Sendung führen heute Antje Trukenmüller und Walter Kuhl.

Tracy Chapman : Material World

 

Sommercamps als Sicherheitsrisiko

AT : Anfang dieses Monats fand das 4. Anti–AKW–Sommercamp der Darmstädter StadtpiratInnen auf dem Gelände eines Wormser Sportvereins statt. Eine Woche lang trafen sich dort etwa 30 Jugendliche und einige weniger Jugendliche aus Hessen und Umgebung. Wie jedes Jahr gehört zu diesem Sommercamp der obligatorische Besuch beim Atomkraftwerk Biblis. In den letzten Jahren fanden vor dem AKW mehrere Aktionen statt.

Vor drei Jahren wurde das Zufahrtsgleis zum Atomkraftwerk mit Gießkannen ... gesprengt. Über dieses Gleis wurden und werden verstrahlte Brennelemente zur sogenannten Wiederaufbereitung nach La Hague und Sellafield gebracht. Umweltschützer in Frankreich und England mußten feststellen, daß die Umgebung der beiden Wiederaufbereitungsanlagen zum Teil hochgradig verstrahlt waren. Außerdem wird die Menge des verstrahlten Mülls dabei um ein Vielfaches erhöht.

WK : Über diese Gleissprengung habe ich schon mehrfach berichtet. Der darmstädter Staatsanwalt Balß hat drei Jahre gebraucht um festzustellen, daß hier der Straftatbestand der Störung des öffentlichen Friedens vorlag. Bastian Ripper wurde deshalb mit einer Geldbuße von 500 Mark verwarnt. Der Skandal um die verstrahlten Brennelemente–Transporte zeigt jedoch, wie notwendig solch symbolische Aktionen waren und sind.

AT : Auf dem zweiten Sommercamp fand eine Sitzblockade vor den Toren des AKWs statt, um den Schichtwechsel zu stören und gegen den "Normalbetrieb" des Kraftwerks zu protestieren. So ein Atomkraftwerk strahlt ja auch im Normalbetrieb. Zwar versichern die Betreiber, daß die Grenzwerte immer unterschritten werden und niemals eine Gefahr für die Bevölkerung vorliegt; aber wie sehr ihnen zu vertrauen ist, zeigen ja auch strahlende Castor– und Brennelemente–Transporte.

WK : Vor elf Jahren führte ein ganz normaler Störfall im Atomkraftwerk Biblis beinahe zum sogenannten GAU, dem Größten anzunehmenden Unfall. Einmal abgesehen davon, daß die Förderung des Urans für Brennelemente die Umwelt und Lebensbedingungen vieler Menschen nachhaltig und unwiderruflich schädigt. Aber das kümmert die Betreiber ja nicht; denn diese Verseuchung und Verstrahlung ist ja weit weg.

AT : Im letzten Jahr wurde ein Stommast am AKW von fünf CampteilnehmerInnen besetzt. Diese Aktion gelang trotz erheblicher Bemühungen seitens der Polizei. Diese überwachte den Campingplatz Tag und Nacht und war mit mehreren Einsatzfahrzeugen und Hubschraubern am Aktionsort. Die BesetzerInnen verließen den Strommast, nachdem ihnen versichert worden war, daß keine Maßnahmen gegen sie ergriffen werden würden. Dennoch wurden sie auf Anweisung der Polizeidirektion in Heppenheim festgenommen und in Heppenheim erkennungsdienstlich behandelt. Pikant dabei ist, daß selbst RWE als Betreiberin des AKWs keine Strafanzeige stellen wollte, da die Stromversorgung zur keiner Zeit gefährdet war.

WK : Die Festnahme der fünf MastbesetzerInnen war nämlich illegal. Da die Polizei die Identität der fünf durch die Vorlage der Personalausweise einwandfrei feststellen konnte, sieht das Gesetz vor, daß eine erkennungsdienstliche Maßnahme wie das Nehmen der Fingerabdrücke und das Photographieren nicht nur unnötig, sondern auch rechtswidrig ist. Über diese gesetzliche Regelung ging die Heppenheimer Polizei jedoch hinweg. Eine der BesetzerInnen klagte gegen die erkennungsdienstliche Behandlung und bekam vor dem Landgericht Darmstadt recht. Wir werden im Verlauf der Sendung allerdings zeigen, daß die Heppenheimer Polizei hieraus nichts gelernt hat und weiterhin gegen Recht und Gesetz verstößt. Sie produziert Phantomverbrechen.

AT : Was dieses Jahr so alles geschah, berichten wir gleich.

Siouxsie and the Banshees : Melt!

 

Probleme der Öffentlichkeitsarbeit

AT : Das diesjährige Anti–AKW–Sommercamp begann wie jedes Jahr mit einer Radtour nach Biblis, um das Gelände rund ums Kraftwerk zu besichtigen. Einige der TeilnehmerInnen kannten das Gelände noch nicht, andere suchten nach einer Inspiration für eine gelungene Aktion. Wir beide begleiteten die Jugendlichen auf dieser Besichtigungstour. Nach wenigen Minuten kam auch die Polizei. Da alles ganz friedlich war, hatte sie nichts gegen die Besichtigung einzuwenden.

O–Ton

WK : Drei Tage später sah sie das ganz anders, aber darüber berichten wir später.

AT : Die Jugendlichen wollten das Informationszentrum des AKWs besuchen, was ihnen allerdings verwehrt wurde. Peter Hinz, ein Mitarbeiter des Infozentrums versorgte sie stattdessen mit Getränken und Vorträgen. Er war sichtlich darum bemüht, die Gefahren radioaktiver Strahlung zu verharmlosen. Allerdings läßt sein sorgloser Umgang hiermit, über den er lässig berichtete, anderes vermuten.

O–Ton Peter Hinz

WK : Die Atmosphäre war entspannt, nur ein Werkschützer machte Photos. Der Film wurde jedoch auf Anweisung eines höherrangigen RWE–Mitarbeiters den Jugendlichen ausgehändigt. Aber warum läßt RWE photographieren? Ich versuchte, vom Photographen eine Auskunft zu erhalten.

O–Ton Photograph

AT : Die Auskunft war nicht sehr ergiebig. Deshalb fragten wir den Pressesprecher des Atomkraftwerks Biblis. Wir erhielten folgende schriftliche Auskunft:

WK : Demonstrationen sind öffentliche Meinungskundgaben. Von den Organisatoren und Teilnehmern wird diese Öffentlichkeit deswegen regelmäßig nicht nur in Kauf genommen, sondern ist bewußt beabsichtigt. Ebeneso beabsichtigte Folge ist, daß die Medien hierüber in Wort und Bild berichten. Wie Sie wissen, berichtet RWE Energie selbst ebenfalls über seine Kraftwerke und Ereignisse um die Kraftwerke. Dazu kann es auch gehören, daß Mitarbeiter oder die Öffentlichkeit zum Beispiel in Standort–Zeitungen über derartige Demonstrationen auch durch Bilder hierüber informiert werden. Vor diesem Hintergrund ist das Photographieren der [...] Demonstration zu sehen.

AT : Jetzt frage ich mich bloß, warum der Werkschutz dies heimlich aus seinem Dienstfahrzeug macht. Seriöse JournalistInnen treten offen auf. Aber RWE schreibt weiter:

WK : Soweit darüber hinaus unser Werkschutz im Rahmen der Verpflichtung zur Sicherung der Anlage Photographien von Demonstrationen anfertigt, dient dies allein einer Beweissicherung.

AT : Aber ein Beweis wofür?

WK : Frag mich nicht. Einer der Jugendlichen meinte jedoch, er habe im Dienstwagen des Werkschutzes schon ein Polaroid–Fotoalbum gesehen. Auf meine diesbezügliche Anfrage erhielt ich jedoch keine Antwort.

AT : Wir haben im Verlauf des Sommercamps den Eindruck gewonnen, daß, je harmloser der Besuch in Biblis war, desto größer das Polizeiaufgebot und die damit verbundenen Maßnahmen. Als die Jugendlichen zurück nach Worms radelten, wurden sie bis zur Rheinbrücke von einem Streifenwagen begleitet. Als sie einen Abstecher auf einen Campingplatz machten, stieg einer der Beamten aus dem Fahrzeug und fragte den Betreiber des Campingplatzes, ob die Jugendlichen dort zelten würden. Der Betreiber wurde von dem Beamten dazu vergattert, keine Auskünfte über diese Befragung an die betroffenen Jugendlichen zu geben.

WK : Einen Tag später sprach ich mit der 2. Vorsitzenden des Sportvereins. Sie war von der Wormser Kriminalpolizei nach den Jugendlichen befragt worden. Offensichtlich sollte hier Druck ausgeübt werden. Hierzu paßt auch, daß seit dem Tag der Besichtigung Streifen– und Zivilfahrzeuge aus Hessen und Rheinland–Pfalz den Platz des Sportvereins unregelmäßig observierten. Ich fragte die Besatzung eines dieser Fahrzeuge. Sie behaupteten allen Ernstes, daß sie auf Verbrecherjagd wären und sie nicht auf die Jugendlichen angesetzt seien.

AT : The same procedure as every year.

Extrabreit : Polizisten

 

Dekontaminierendes Aktionstheater

AT : In den nächsten Tagen des Sommercamps begannen die AtomkraftgegnerInnen mit der Planung und Vorbereitung der diesjährigen Aktion. Hierzu versammelten sie sich mehrmals zum Plenum.

WK : Bemerkenswert daran fand ich, daß es keine einzelnen oder eine Gruppe gab, die eine fertige Aktion präsentierte, sondern daß alle TeilnehmerInnen des Sommercamps gleichermaßen und gleichberechtigt in den Diskussions– und Entscheidungsprozeß eingebunden waren. Ihr habt vorhin den Polizeibeamten gehört, der in Biblis nach einem Anführer suchte. Die Weigerung, einen zu benennen, hat einen einfachen Grund: Es gab keine Anführer. Deswegen war der Diskussionsprozeß auch ziemlich zäh. Aber eine Aktion ist trotzdem dabei herausgekommen.

AT : Es wurde beschlossen, Bezug zu nehmen auf die jüngsten Skandale durch verstrahlte Atommüllbehälter. Auch an einem derzeit noch im AKW Biblis stehenden Transportbehälter wurde ein sogenannter "Hot Spot" gefunden. Ein Hot Spot ist ein einzelnes Teilchen mit erhöhter Radioaktivität. Erlaubt sind 4 Becquerel pro Quadratzentimeter, bei diesem einzelnen Teilchen wurden etwa 30.000 Becquerel gemessen.

WK : Auf dem Sommercamp sprachen abends drei Referenten über den Aufstand der Zapatisten in Mexiko, über Globalisierung und die Verflechtungen der Atomwirtschaft. Der Vortrag über die Atomwirtschaft führte zu der Erkenntnis, daß solche als unabhängig angesehene Institutionen wie der TÜV alles andere als unabhängig von den Betreibern der Atomkraftwerke sind.

AT : So kam nicht nur der Gedanke auf, die Umgebung des Atomkraftwerks von Hot Spots zu säubern, sondern gleichzeitig auch noch als Tückischer Überraschungsverein aufzutreten. Die Aktion sah schließlich aus wie folgt: Bewaffnet mit Strahlenschutzanzügen, Wischmops, Schrubbern, Schmierseife und Geigerzähler zogen die AtomkraftgegnerInnen auf die Zufahrtsstraße vor das AKW und begannen mit der Dekontamination der Straße und der vorbeifahrenden Fahrzeuge.

WK : Du sagtest bewaffnet. Sollte etwa der öffentliche Frieden gestört werden?

AT : Nein. Als wir nachher im umgestalteten Infozentrum vorbeigingen, wurden wir von Peter Hinz freundlich mit Cola bewirtet.

WK : Und wie sah das Dekontaminieren konkret aus?

AT : Na, ähnlich, wie die Atomindustrie das macht. Die nehmen einen Lappen und wischen das Teilchen einfach weg. Und so wurden dann auch die Autos eingeseift und wieder abgewischt. Besonders das Geländefahrzeug des Werkschutzes – das war extrem verdreckt und verstrahlt. Das hörte sich dann so an:

O–Ton Dekontaminieren

WK : Und dazu gab es die bekannte Beruhigungspille für die Bevölkerung:

O–Ton

WK : Seltsamerweise wollte die Polizei die Personalien aller Beteiligten haben, obwohl sich jemand freiwillig als Verantwortlicher für die Aktion zur Verfügung gestellt hatte. Noch seltsamer war, daß die Polizei sich weigerte, dieses Aktionstheater als Versammlung im Sinne des Versammlungsgesetzes anmelden zu lassen. Es ist nämlich so: überall in der Bundesrepublik kommt die Polizei bei sogenannten Spontandemonstrationen auf einzelne Leute zu und fragt, wer diese Veranstaltung anmelden möchte. Nur in Biblis herrschen offensichtlich andere Verhältnisse. Der Einsatzleiter verweigerte die Anmeldung. Ich würde sagen, Heppenheimer Landrecht. Ich habe dieses Aktionstheater für die TeilnehmerInnen des Sommercamps anmelden wollen. Dies wurde mir verwehrt. Statt dessen läuft jetzt gegen mich ein Verfahren wegen des Verstoßes gegen das Versammlungsgesetz. Ich freue mich jetzt schon auf den Prozeß hierzu. Die Ermittlungsbehörden werden da nichts zu lachen haben. Hinzu kommt, daß von den meisten TeilnehmerInnen des Aktionstheaters die Personalien festgestellt wurden. Ich würde sagen, hier liegt ein grundgesetzwidriger Eingriff in die Freiheit der Kunst vor.

AT : Nach der Aktion entfernten die Demonstranten die Schmierseife wieder von der Straße. Trotzdem befand es der Werkschutz für nötig, die Straße zuerst von eigenen Mitarbeitern nochmals schrubben zu lassen.

WK : Das bißchen Schmierseife war damit beseitigt. Aber irgendwie gewann ich den Eindruck, daß der Werkschutz seinen Wagenpark einmal ausprobieren mußte.

AT : Als nächstes präsentierten sie ein Betonmischauto und spritzten die Straße ab.

WK : Zuguterletzt testete die Werksfeuerwehr am selben Objekt ihre Wasserschläuche. Die Straße war danach klinisch rein.

Die KünstlerInnen des Aktionstheaters fuhren anschließend wieder nach Worms und wurden nicht mehr von der Polizei behelligt. Am Tag darauf war die Polizei jedoch wieder voll im Einsatz.

Sinead O'Connor  Jackie

 

Wer geht hier baden?

AT : Am nächsten Tag hatten einige Sommercamper die kriminelle Idee, in der Nähe vom Atomkraftwerk baden zu gehen. Wir beide haben sie begleitet. Am späten Nachmittag fuhren wir auf dem Weg zum Baggersee am AKW vorbei. Es war wie ausgestorben. Am Baggersee konnten wir die Sonne in den Kühltürmen versinken sehen. Anschließend fuhren wir, wieder am AKW vorbei, zurück nach Worms.

WK : Es war etwa halb elf und somit dunkel, als wir an der Rheinbrücke zwischen Hessen und Worms ankamen. Direkt an der Rheinbrücke ist rechts ein Campingplatz. Auf dessen Zufahrt stand ein Streifenwagen. Als wir nach vorn auf die Straße, die über die Brücke führt, schauten, entdeckten wir einen zweiten. Ein dritter bog hinter uns um die Ecke und schnitt den Weg zurück ab.

AT : Uns war angesichts der bisherigen Vorkommnisse und der Erfahrungen der Sommercamps die Jahre zuvor klar, daß dieser Einsatz uns galt. Frau stelle sich vor: da geht sie zum Baden und wird zu nächtlicher Stunde wie eine Kriminelle behandelt.

Wir wurden von Taschenlampen geblendet und aufgefordert, uns auszuweisen. Als wir nach dem Grund fragten, meinte der Einsatzleiter, es interessiere ihn eben, wer hier im dunkeln so langfährt. Wo wir denn herkämen? Vom Baden, erklärten wir. Könnten wir das auch nachweisen? Einer verwies auf sein Handtuch auf dem Fahrradgepäckträger. Uns kam das ziemlich willkürlich vor, deshalb wiesen wir uns zunächst auch nicht aus.

Der Beamte erklärte daraufhin, er könne das auch ganz anders machen. Beispielsweise hätten doch unsere Fahrräder bestimmt nicht alle die vorgeschriebene Beleuchtung. Er begann ein neues Programm abzuspulen, nahm sich das nächste Fahrrad vor und leuchtete es mit seiner Taschenlampe ab. Natürlich fand er sofort etwas zu beanstanden. Jetzt hieß es: zahlen oder die Personalausweise zu zücken.

WK : Ich ließ mich darauf nicht ein und erklärte, gegen die Maßnahme Widerspruch zu erheben. Die damit verbundene Arbeit, meinen Widerspruch aufnehmen zu müssen, schmeckte dem Beamten, der mir gegenüberstand, überhaupt nicht. Auf die Frage nach meinem Fahrrad entgegnete ich, ich wisse nicht, welches meines sei. Die Beamten hatten auf einmal Probleme, mit denen sie nicht gerechnet hatten.

AT : Gleichzeitig erklärten sie einem anderen Badegast, daß es ihm nicht einmal erlaubt sei, sein Fahrrad zu schieben, weil die Beleuchtung nicht der Straßenverkehrszulassungsordnung entspreche. Ziemlich dreist, finde ich. Selbstverständlich kann ich mein Fahrrad überall da schieben, wo ich auch als Fußgängerin gehen darf.

Einem Beamten rutschte dann heraus, daß es sich nicht um eine allgemeine Personenkontrolle am Uferweg handeln würde, sondern darum, daß wir am AKW vorbeigefahren waren. Mehr noch. Ein älteres Ehepaar kam mit seinen Fahrrädern vorbei. Es wurde weder allgemein kontrolliert noch deren Fahrräder auf die richtige Beleuchtung. Dies war umso interessanter, weil das Rücklicht am Fahrrad der Frau nicht brannte.

WK : Noch interessanter war, daß acht Polizeibeamte nicht in der Lage waren, die Personalien von sechs Personen zu überprüfen. Antje und ich haben uns mit unserer Verweigerungshaltung durchgesetzt. Und zwar zurecht, denn alles in allem erwies sich die Personenkontrolle als willkürlich und durch keine rechtliche Regelung gedeckt. Nach mehrfachem Nachfragen erhielt ich dann aber immerhin eine Rechtsgrundlage: §18 HSOG (also das hessische Gesetz für Sicherheit und Ordnung). Paragraph 18 stellt die rechtlichen Grundlagen für eine Personenüberprüfung. Danach müssen Verdachtsmomente für eine Straftat vorliegen. Sonst ist es unzulässig, sich auf diesen Paragraphen zu berufen.

Ein Grund könnte sein, daß sich für die Polizei erfahrungsgemäß Straftaten an dem Uferweg ereignen, weswegen sie dort auch nächtliche Radler kontrollierten könnte. Allerdings kontrollierten sie nicht das ältere Ehepaar. Zudem ging es ja ganz offensichtlich darum, daß wir zum Baden am AKW vorbeigefahren sind. Sich auf die Gefährdung des AKWs in Biblis zu beziehen, könnte ein weiterer Grund sein. Rechtlich ist es so, daß auch Kontrollen in der Nähe gefährdeter Objekte durchgeführt werden können, wenn der Verdacht besteht, es könnten Straftaten entweder gegen das AKW oder gegen seine Beschäftigten geplant sein.

Aber auch dies scheidet hier aus. Alle bisherigen Aktionen der Darmstädter StadtpiratInnen am AKW Biblis in den letzten Jahren konnten allenfalls als Ordnungswidrigkeiten bewertet werden. Sie wogen also strafrechtlich etwa so schwer wie falsches Parken. Ordnungswidrigkeiten hingegen rechtfertigen laut Paragraph 18 jedoch keine Personenkontrolle.

Heute mittag sprach ich mit Herrn Lenhart von der Polizeidirektion Heppenheim darüber. Seine Interpretation war die: die Polizeibeamten gingen vom Verdacht einer Straftat aus. Es war zwar immer so, daß die Staatsanwaltschaft die eingeleiteten Verfahren im Rahmen des Anti–AKW–Sommercamps als Ordnungswidrigkeit heruntergestuft hat; aber die Polizei ging zunächst von einer möglicherweise geplanten Straftat aus – und deshalb sei die Personalienfeststellung durch den schon genannten Paragraphen 18 HSOG gerechtfertigt gewesen. Herr Lenhart meinte aber auch, daß der Einsatzleiter von Anfang an nicht darum hätte herumreden sollen, daß die Personalienfeststellung mit unserem Vorbeifahren am AKW zusammenhing.

Allerdings wird mir ja wohl auch die Heppenheimer Polizei nicht einreden wollen, daß eine strafbare Gefährdung für den Betrieb des AKWs durch radelnde Badegäste vorliegen könnte, die sich 10 Kilometer vom AKW entfernt kurz vor ihren Zelten befinden.

Wie unsicher das Vorgehen rechtlich war, beweist ja auch die Tatsache, daß zur Durchsetzung dieser Maßnahme angedroht wurde, die Fahrräder auf ihre Fahrtüchtigkeit zu überprüfen. Hier wäre vielleicht Staatsanwalt Balß gefragt, ob hier der Tatbestand der Nötigung vorliegen könnte. Herr Lenhart meinte dazu aber auch, wenn die Beleuchtung fehlerhaft gewesen sei, hätten wegen eines Bußgeldes auch die Personalien festgestellt werden müssen.

Grotesker wird die Angelegenheit zusätzlich dadurch, daß die Beamten nicht einmal alle Personalien überprüft haben, sondern sich plötzlich ohne erkennbaren Grund wieder verzogen.

AT : Dieser Fall zeigt, mit welch windigen Tricks versucht wird, eine rechtliche Grundlage für polizeiliche Maßnahmen zu schaffen. Geschickt interpretiert, läßt sich so natürlich alles rechtfertigen.

Clash : Know Your Rights

 

Nichtigkeiten aus Eigeninteresse

WK : Soweit unser Bericht vom Anti–AKW–Sommercamp der Darmstädter StadtpiratInnen. Aber wir haben noch über ein weiteres Phantomverbrechen zu berichten. Wobei die Tat hier auch tatsächlich geschah, aber weder die Polizei noch die Darmstädter Staatsanwaltschaft ein Interesse daran haben, sie zu verfolgen. Wie ich schon mehrfach berichtet habe, hat ein Beamter der Schloßwache in der Nacht vom 22. zum 23. November letzten Jahres [1997] einen 16–jährigen Jugendlichen aufgegriffen und geschlagen. Der Jugendliche reichte bei der darmstädter Polizei eine Dienstaufsichtsbeschwerde ein und die Staatsanwaltschaft sah sich gezwungen, in dem Fall zu ermitteln. Es geht hierbei um Körperverletzung im Amt.

AT : Nachdem die Akten gemütlich monatelang im Schrank Staub gefangen hatten, stellte die Staatsanwaltschaft erwartungsgemäß das Verfahren gegen den Beamten am 14. Juli [1998] ein. Anzeigen gegen Polizeibeamte enden in der Regel ergebnislos, obwohl Insider davon ausgehen, daß die Dunkelziffer bei Polizeiübergriffen etwa das zwei bis dreifache der tatsächlich gestellten Anzeigen beträgt.

WK : In der genannten Novembernacht lag der Jugendliche wehrlos und vollkommen friedlich am Boden. Er war beim wilden Plakatieren erwischt worden. Der Polizeibeamte stand über ihm und versuchte, ihm in den Bauch zu treten. Dann schlägt er die Rückseite seiner Stabtaschenlampe auf die Schulter des Jugendlichen. Er brüllt dabei, er würde dem Jungen am liebsten der Schädel einschlagen. Zuletzt haut er ihm die Taschenlampe gezielt auf den Mund.

AT : In dem Moment erscheint zum Glück das Polizeiauto mit der Kollegin dieses Beamten und das Ganze geht dann etwas friedlicher ab. Das Polizeipräsidium Darmstadt weist nun die Dienstaufsichtsbeschwerde mit den folgenden Worten zurück:

WK : Die Einstellung erfolgte nach umfassender Würdigung der Gesamtaktenlage, wonach dem Beamten ein strafrechtlich zu ahndendes Verhalten nicht angelastet werden konnte. Der Beamte hat weder durch den bei der Festnahme angewendeten rauhen Ton den Tatbestand der Beleidigung, noch durch das Heben der Stablampe zur Verhinderung evtl. Tätlichkeiten Ihrerseits den Tatbestand der Bedrohung noch den der versuchten Körperverletzung im Amt erfüllt. Die von dem Beamten durchgeführten Maßnahmen waren aufgrund der nächtlichen Begegnung aus Gründen der Eigensicherung erforderlich und verhältnismäßig. Aufgrund meiner Ausführungen verstehen Sie sicherlich, daß das Verhalten des Beamten nicht zu beanstanden war und als unbegründet zurückgewiesen werden mußte.

AT : Soweit die darmstädter Polizei. Mit der Grammatik scheint sie es nicht so zu haben. Der letzte Satz lautete nämlich: "daß das Verhalten des Beamten [...] als unbegründet zurückgewiesen werden mußte." Ein ziemlich kurioser Fall einer Freud'schen Fehlleistung.

WK : Ich werte dies als ein Eingeständnis und stelle folgendes fest:

  1. Wer von der darmstädter Polizei geschlagen wird und sich dagegen nachträglich wehrt, kommt damit erstens nicht durch und wird zweitens auch noch verhöhnt.
  2. Die darmstädter Staatsanwaltschaft hat der Polizei dieser Stadt mit diesem Beschluß die Lizenz zum Zuschlagen erteilt. Jeder Beamte darf ab sofort aus Gründen der Eigensicherung im Vorgriff auf möglicherweise oder auch nicht eventuell auftretende Geschehnisse zuschlagen und sich anschließend damit rausreden, nur die Hand gehoben zu haben.
  3. Die Staatsanwaltschaft hat sich nicht einmal die geringste Mühe gegeben, den Widersprüchen in der Darstellung des Opfers und des Polizisten nachzugehen. Hierzu wäre sie verpflichtet gewesen. Ganz offensichtlich lag kein Interesse an der Aufhellung dieses Vorfalls vor. Oder liegt nur Hilflosigkeit vor? Ich sprach vorhin mit einem Vertreter der Staatsanwaltschaft. Er meinte: "was sollen wir denn machen, wenn sich zwei Aussagen widersprechen und keine Zeugen des Vorfalls existieren?" Meine Antwort ist:
  4. und letztens: Ich erwähnte vorhin kurz die Hartnäckigkeit des Staatsanwaltes Balß, wenn es um die Verfolgung von Nichtigkeiten geht. Denselben Biß hat die Staatsanwaltschaft ganz offensichtlich nicht, wenn es um höhere Rechtsgüter wie eine Körperverletzung im Amt geht.

AT : Der Skandal ist offenkundig. Staatsanwaltschaft und Polizei arbeiten Hand in Hand an der Vertuschung einer Straftat.

 

Von virtuellen Straftaten zur Virtuellen Zitrone

Jingle Alltag und Geschichte

WK : Zum Schluß der heutigen Sendung verleihe ich die Virtuelle Zitrone. Ausnahmsweise werde ich hiermit keine journalistische Glanzleistung mit geistigen Niemandsland ehren. Aus Anlaß des Anti–AKW–Sommercamps erhält die Stadt Worms meinen beliebten Preis. Denn Worms besitzt ein Fahrradnetz, das ich beispielhaft nennen möchte. Zwei Teilnehmerinnen des Sommercamps gelangs es, sich mit dem Fahrrad auf eine Schnellstraße zu verirren, weil das zugehörige Schild Autostraße gut getarnt zwischen des Ästen eines Baums hing.

Absolut genial fand ich auch folgende Variante. Gut ausgeschildert begann ein hervorragend ausgebauter Fahrradweg, der abrupt nach 10 Metern endete. Es ging weiter über heftiges Holperpflaster, auf dem auch noch Autos parkten. Daß man anschließend nicht nach rechts abbiegen durfte, erfuhr man per Verbotsschild erst, wenn man schon auf der Schnellstraße angelangt war. Ein gefahrloses Umkehren war dann nicht mehr drin. So erbost wie nach dem Einkaufen mit dem Fahrrad in Worms habe ich dich noch nie erlebt.

AT : Das virtuelle Radwegnetz der Stadt Worms ist einfach eine Frechheit. In Worms sind RadfahrerInnen wie überall VerkehrsteilnehmerInnen zweiter Klasse, aber selten wird dies so deutlich demonstriert. Deshalb ist die Virtuelle Zitrone völlig verdient.

WK : Einer der Referenten auf dem Anti–AKW–Sommercamp war der PDS–Bundestagsabgeordnete Winfried Wolf. Er sprach dort über die Globalisierung und die Folgen für Mensch und Umwelt. Den dort gehaltenen Vortrag senden wir am kommenden Montag ab 17.00 Uhr [1]. Für heute verabschieden sich Walter Kuhl ...

AT : ... und Antje Trukenmüller. Wir beide werden am übernächsten Montag, also am 31. August, ebenfalls ab 17 Uhr die Kehrseite des american dream darstellen. Wir berichten über Rassismus in den USA, über politische Verfolgung und den versuchten Justizmord an Mumia Abu–Jamal. [2]

Die Toten Hosen : Auf dem Kreuzzug ins Glück / Alles wird gut

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Zu dem Vortrag und der Sendung gibt es kein Sendemanuskript, nur eine kurze Inhaltsangabe.
[2]   Die Sendung mußte aufgrund eines Fahrradunfalls (nicht in Worms!) entfallen.

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 5. Juni 2006 aktualisiert.
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