Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 31. August 2009, 17.00 bis 18.00 Uhr
Wiederholt:
Montag/Dienstag, 31. August/1. September 2009, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 1. September 2009, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 1. September 2009, 16.00 bis 17.00 Uhr
Zusammenfassung:
Sozialkritische Literatur kann sich herrschender und volkstümlicher Mythen bedienen, ohne kitschig und sentimental zu sein. Miguel Ángel Asturias' Frühwerk „Der Herr Präsident“ ist ein Klassiker der lateinamerikanischen Literatur.
Besprochenes Buch:
Miguel Ángel Asturias : Der Herr Präsident
Playlist:
Ludwig van Beethoven, Sinfonie No. 1
Robert Schumann, Sinfonie No. 4
Jingle Alltag und Geschichte
Vor siebzig Jahren, am 1. September 1939, überfiel das Großdeutsche Reich auf seinem Eroberungstrip durch halb Europa Polen. Der Mob war losgelassen und er benahm sich auch so. Nicht nur tumbe Nazis plünderten und mordeten und hinterließen die Asche von Auschwitz und verbrannte Erde allerorten. Es waren vornehmlich ganz normale Deutsche, die sich nach dem verlorenen Krieg bitter darüber beschwerten, daß sie aus ihrer sogenannten Heimat vertrieben wurden. Wieviele dieser Vertriebenen hatten zuvor dem deutschen Wahn etwas entgegengesetzt?
Doch die Verhältnisse ändern sich. Nach dem Zerfall des Realsozialismus findet der neoliberale Weltgeist womöglich als List der Geschichte doch noch eine Möglichkeit, dort abzukassieren, wo die Vorfahren siebzig Jahre zuvor nach einigen Anfangserfolgen kläglich versagt hatten. Die Presse der osteuropäischen Staaten ist ohnehin schon weitgehend in deutscher oder österreichischer Hand.
Am Mikrofon ist Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
Besprechung von : Miguel Ángel Asturias – Der Herr Präsident, Rotpunktverlag 2009, 338 Seiten, € 24,00
1923 begann ein Schriftsteller einen Roman zu schreiben. Ausgehend von einer Erzählung für einen Literaturwettbewerb in seinem Heimatland schuf er in jahrelanger Arbeit ein Kunstwerk, das eine ganze Generation lateinamerikanischer Schriftsteller beeinflußt hat. Miguel Ángel Astrurias, 1899 in Guatemala geboren, ist vor allem bekannt geworden durch seine Bananen-Trilogie, in der er die Klassenkollaboration der zentralamerikanischen Lumpenbourgeoisie [1] mit US-amerikanischen Obstkonzernen thematisiert.
Sein als „Magischer Realismus“ bezeichneter Stil bezieht die mythische Wirklichkeit der Maya-Indigenas in sein Werk mit ein. Diese Wirklichkeit entzieht sich der rationalen Eindimensionalität eurozentrierten Gedankenguts und schafft eine zweite Ebene des Traums als Ausdruck einer ganz eigenen Realität. Das Wechselspiel beider Ebenen findet sich in einem Frühwerk „Der Herr Präsident“ wieder, das er 1923 zu schreiben begann, aber erst 1946 nach Ende der Diktatur in seiner Heimat veröffentlichen konnte.
„Der Herr Präsident“ ist Mythos und Realität, Fiktion, Traum und historische Wahrheit in einem. Mag sein, daß er an den Diktator Jorge Ubico dachte, der sein Land von 1931 bis 1944 diktatorisch regierte. Und doch zeigt er uns eine überhistorische Person, die nicht nur in jedem Land Lateinamerikas hätte regieren können, sondern auch eine mythische Person, die durch ihr Handeln eigene Realitäten schafft. Es hat etwas von Magie, wenn ein eigentlich kleiner Wicht die Macht hat, seine Untertanen zu korrumpieren und zu manipulieren; aber genau dies macht den Roman aus. Die handelnden Personen dünken sich eigener Wirkungsmacht und sind doch Marionetten eines Puppenspielers. Sie sind jedoch nicht einfach nur dessen Opfer. Jahrhundertelanges Zurechtbiegen der Menschen in den Sozialisationsanstalten Familie, Kirche, Schule und Militär haben aus ihnen auch freiwillige Täter entstehen lassen.
Die Tragik liegt darin, daß es für sie keinen Ausweg gibt und daß sich ihr bitteres Schicksal erfüllt. „Der Herr Präsident“ weiß alles und weiß vor allem alles in die richtigen Bahnen zu lenken. Selbstverständlich handelt es sich um Literatur vom Feinsten. Hier werden nicht Textbausteine aneinandergeklatscht, Namen und Orte ausgetauscht, Dialoge umgeschrieben, um Massenware zu produzieren. Es ist kein Zufall, daß selbst zu der Zeit, als Asturias 1967 den Nobelpreis für Literatur erhielt, nur zwei seiner Werke auf Deutsch verfügbar waren [2]. Die soziale Realität der Unterdrückten und die magische Realität der Ausgebeuteten ist keine leicht konsumierbare Trivialliteratur.
Schon die Anfangsszene zieht sich in die Länge, als eine Gruppe sich balgernder Bettler vor den Toren der Kathedrale einen Schlafplatz sucht. Ein vorwitziger Oberst ärgert einen dieser Bettler und findet dabei unerwartet den Tod. Sein Mörder entkommt, aber die Tat fordert Genugtuung. Die Zeugen des Mordes werden bedroht und gefoltert, um die Ermittlungen in eine ganz andere Richtung zu führen und zwei dem Präsidenten nicht genehme Bürger aus dem Weg zu schaffen. Eine derartige Herrschaft benötigt Blutopfer, und die Geschichte entwickelt sich in immer neue Wendungen, bei denen selbst die Häscher des Präsidenten ihres Lebens nicht mehr sicher sein können. Er wiederum hält die Fäden in der Hand, selbst dann, wenn sie ihm zu entgleiten scheinen. „Der Herr Präsident“ weiß alles, und wenn nicht, dann hilft ihm sein Mythos, weil alle glauben, er wisse alles.
Man und frau kann den Roman auch so lesen: der Niedertracht sind keine Grenzen gesetzt, doch manchmal kommt alles anders, als man oder frau denkt.
Jorge Ubico wurde gestürzt. Die nachfolgenden demokratischen Regierungen beschnitten die Macht US-amerikanischer Konzerne. 1954 putschte das Militär mit US-amerikanischer Unterstützung und verandelte das Land fast vier Jahrzehnte lang in ein Schlachtfeld. Ernesto Guevara, der damals noch nicht der „Che“ war, erlebte den Militärputsch mit. Seine Erfahrungen bestärkten ihn darin, daß eine erfolgreiche Revolution das Berufsmilitär durch Volksmilizen ersetzen müsse. Auch Asturias konfrontiert den Herrn Präsidenten mit einer Revolution, aber das ist eine eigene Geschichte. Asturias starb 1974 im Alter von 74 Jahren in Madrid.
„Der Herr Präsident“ von Miguel Ángel Asturias ist im Frühjahr in verbesserter deutscher Übersetzung auf 338 Seiten im Rotpunktverlag zum Preis von 24 Euro erschienen.
Dieser Abschnitt gehörte nicht zum ursprünglichen Manuskript. Er beschreibt das, was die Sendetechnik von Radio Darmstadt aus der zwischen dem Anfangs- und dem Endteil eingefügten klassischen Musik gemacht hat.
An den beiden Sonntagen des 22. Februar und des 26. Juni 2009 wurden die Klassik-Sendungen des Kulturredakteurs Helmut B. mehrfach durch die Sendeloch-Erkennung des Darmstädter Lokalradios verhunzt. Diese Sendeloch-Erkennung ist so eingestellt, daß sie, wenn vierzig Sekunden lang kein Ton vom Mischpult zur Sendeleitung geschickt wird, dies als ein Sendeloch betrachtet. In diesem Fall wird aus einem Pool von hundert (oder mehr) hitverdächtigen Titeln nach dem Zufallsprinzip Musik eingespielt. Um die Hörerinnen und Hörer nicht zu verschrecken, kommt hier Nullachtfünfzehn-Dudelpop zum Einsatz.
Der Schwellwert ist relativ hoch eingestellt, weil sich herausgestellt hat, daß bei einem wesentlich niedrigeren Schwellwert der Detektionsmechanismus nicht zwischen dem Grundrauschen der an die Sendeleitung angekoppelten Computer und einem echten Sendeloch unterscheiden kann. Hier gab es in der Vergangenheit mehrfach wirre Fehlinterpretationen der Maschine, die zu unliebsamen Hörgenüssen auf dem Sender beitrugen.
Die Herren Techniker gehen hierbei vermutlich von sich selbst aus und schließ,en auf Andere. Soll heißen: nie im Leben kämen sie auf die dumme Idee, klassische Musik zu hören, und wenn, dann allenfalls als hochkomprimierte MP3-Datei. Sie hören lauten Rock, vielleicht Hiphop und vor allem Techno aller Art. Diese Musik wird selbstredend immer so laut über den Äther geknallt, daß der Schwellwert nicht einmal in den kühnsten Träumen unterschritten wird.
Klassische Musik unterscheidet sich von dieser technisch formatierten Musik ganz erheblich. Vermutlich haben die Herren Techniker in der Schule beim Thema „Klassische Musik“ ihren I-Pod ausgepackt und den Unterricht damit weggezappt. Anders ist ihre penetrante Ignoranz nicht zu verstehen, auch nach einer berechtigten und inhaltlich fundierten Beschwerde des genannten Kulturredakteurs nichts an ihrer selbstgebastelten Sendetechnik zu verändern. Daß klassische Musik einen vollkommen anderen Dynamikumfang besitzt als die Einheits-Monotonie, dürfte sich auch bis zu den Basteltechnikern im Sendehaus herumgesprochen haben.
Ich habe mir erlaubt, die Aussagen des Kulturredakteurs zu überprüfen, um herauszufinden, weshalb klassische Musik der Sendeloch-Erkennung zum Fraß vorgeworfen wird. Als Ergebnis ist festzuhalten, daß der Schwellwert tatsächlich mit dem Dynamikumfang klassischer Musik kollidiert. Eine leisere Passage im zweiten Satz der vierten Sinfonie von Robert Schumann wurde nicht etwa als gewollt ruhige Musikpassage betrachtet, sondern als Sendeloch. Das Sendeloch mußte umgehend mit Dudelpop abgestraft werden. Wer genau hinhörte, konnte vernehmen, daß sich Dudelpop und die leisen Töne des sinfonischen Konzerts überlagerten. Die Sendeloch-Erkennung ist demnach nicht nur falsch eingestellt, sondern auch simpel gestrickt.
In der Wiederholung wurden sogar fünf angebliche Sendelöcher „erkannt“ und durch Dudelpop ersetzt. Hinzu kam, daß schon in der Erstausstrahlung das Minute 34-Syndrom zum Tragen kam, so daß die konzertante Aufführung durch Dopplung einer Passage in die Länge gezogen wurde. Schwerwiegender ist jedoch der Umstand zu werten, daß die Herren Techniker der Meinung sind, daß leise Passagen grundsätzlich durch einen Expander auf ein Einheits-Lautstärkeniveau gehoben werden müssen. So kann es dann kommen, daß eine leise Passage mit mehr Schmackes über den Sender geblasen wird als das beabsichtigte Crescendo des Komponisten. Daß hiermit nun jede klassische Musik verhunzt ist, bedarf wohl keiner Erklärung. Während es beim Einheitspop egal ist, ob man oder frau ihn leise oder laut hört (laut ist besser), gilt dies nicht bei klassischer Musik.
Daß je nach Wiederholung mal eine und mal fünf Passagen verschlimmbessert wurden, macht die Sache auch nicht besser. Die Verzerrungen bei höhergepegelten Wiederholungen sind ein zusätzliches Ärgernis. Und wenn dann auch noch ein Kanal abfällt und mit halber Lautstärke zu empfangen ist, dann zeigt sich, daß diese Basteltechnik eben genau das ist: Basteltechnik.
In jedem halbwegs professionell arbeitenden Sender hätten diese selbsternannten Techniker nicht einmal die Probezeit überstanden. Vielleicht haben sie sich deshalb als Spielzeug das Lokalradio in Darmstadt gekrallt.
Hier blenden wir uns aus den süßlichen Träumen der Bourgeoisie des 19. Jahrhunderts aus, komponiert von Robert Schumann. Zuvor hörtet ihr den Meister des wuchtigen An-die-Tür-Klopfens, Ludwig van Beethoven, mit seiner 1. Sinfonie. Fordernd tritt hier noch das Bürgertum auf, bevor es im Klassenkompromiß mit Adel und preußischem Herrscherhaus darauf vertrauen konnte, daß das Militär die profitablen Kastanien aus dem Feuer holen werde. Ohnehin ist Musik ein Spiegelbild herrschender Zustände. Die 68er hörten ihre Musik, sie war rebellisch und noch nicht dem kommerziellen Kalkül unterworfen. Ein Jahrzehnt später legte der Punk die hoffnungslose Rebellion frustrierter meist männlicher Jugendlicher bloß.
Nach der Rebellion kamen Thatcher, Reagan und Kohl. Zwei unterschiedliche Stile prägten die 90er Jahre, der Hiphop und die monotonen Beats des Techno. Während der Techno die freiwillige Unterwerfung unter maschinell gesteuerte Fremdbestimmung zum Ausdruck bringt, enthält der Hiphop eine zwiespältige Botschaft. Das Unbehagen der Underdogs im Land der neuen Spießer wird begleitet von der Reproduktion herrschender Gedanken. Auch die Underdogs wollen ein bißchen Macht ausüben, und sei sie noch so virtuell wie in ihren Texten, in denen Schlampen und Schwule als Zerrbild herrschender verlogener Moral ihren textenden Unterdrückern gegenüberstehen.
Die Musik eines Beethoven und eines Schumann müssen als Ausdruck ihrer Zeit verstanden werden. Sie sind Ausdruck des Aufstiegs und der Etablierung des Bürgertums – und selbstverständlich gegen diejenigen gerichtet, die es auszubeuten gilt. Heute ist klassische Musik Reminiszenz und Bestätigung in einem. Die elitäre Kultur des Bürgertums hat die Massen erreicht und deren Köpfe mit Schauder vor der Hochkultur erfüllt. Gleichzeitig tauchen die Weisen der Romantik in jeder Science-Fiction-Verfilmung als Untermalung pompöser Gewaltorgien wieder auf.
Da haben es die Kids von heute viel leichter. Sie konsumieren die nach dem Baukastenprinzip zusammengesteckten Musikfetzen und predigen sie als das Evangelium, so etwa in den Sendungen der Jugendredaktion von Radio Darmstadt. Der Herr Präsident ist hier im Starkult und der Mystifizierung banalster Kleinkinder-Liedchen angekommen. Vom subversiven Gehalt der Pop- und Rocksongs der 60er Jahre ist hier nichts mehr zu verspüren. Nur noch die Langeweile der Spießer von morgen, die schon heute jeden Quatsch mit sich anstellen lassen und diesen als der Weisheit letzter Schluß verkaufen und anpreisen wie die Würstchen von Hamm und den Grill von Hornbach [3]. Dummheit als Methode, das eigene Denken wird hierbei als humankapitalfeindlich systematisch abtrainiert.
Gegen diese Dummheit ist jede Aufklärung machtlos und deshalb summen die Klügeren und Zynischeren den Wolfsgesang mit [4]. Ganz tolerant. – Am Mikrofon war für die Redaktion Alltag und Geschichte Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
»» [1] Der Begriff „Lumpenbourgeoisie“ entstammt einem Buchtitel von Andre Gunder Frank: „Lumpenbourgeoisie and Lumpendevelopment“, 1972. Er beschrieb mit dem von ihm in Anlehnung an den Marx'schen Begriff des Lumpenproletariats gewählten Neologismus die Rolle und das Verhalten der herrschenden Klassen Lateinamerikas.
»» [2] Siehe hierzu Siegfried Lenz : Miguel Ángel Asturias, in: Die Zeit Nr. 43 vom 27. Oktober 1967.
»» [3] Anspielung auf die Sendung Saturday Night zum „Summer Finishing 2009“. Übertragen wurde ein Grillabend im Hinterhof des Senders, die auf der Sendungsseite versprochenen lokalen Bands waren hingegen nicht zu hören. Hatten sie keinen Bock, für umme zu spielen? Angeblich für alle Vereinsmitglieder gedacht, werden wohl nur die wenigsten davon erfahren haben. So traf sich ein kleiner überschaubarer Kreis von grilligen Sendenden zu Steaks, Würstchen und gegrillten Champignons. Bemerkenswert waren die als redaktionelle Beiträge getarnten Werbeeinsprengsel für eine Darmstädter Metzgerei und einen Baumarkt. Die einen haben wohl die Steaks und die Würstchen zu günstigen Konditionen geliefert, die anderen vielleicht den Grill und die Biertische. Da eine Hand die andere wäscht und Radio Darmstadt der Fiktion der Sendelizenz nach ein „nichtkommerzielles Lokalradio“ ist, dem Werbung und Sponsoring strikt untersagt sind, mußten die wenigen Hörerinnen und Hörer sich diese der Werbung dienenden redaktionellen Beiträge reinziehen. Für ein paar Würstchen verkauft der Trägerverein offenbar wie ein Billigheimer seine Sendelizenz.
»» [4] Daß ich weder zu den Klugen noch zu den Zynischen gehöre, muß ich wohl eigentlich nicht erklären. Die Klugheit der Anpassung und der damit verbundene Zynismus sind einfach nicht meins.
Diese Seite wurde zuletzt am 18. September 2009 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. © Walter Kuhl 2001, 2009. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.
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