Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 24. August 2009, 17.00 bis 18.00 Uhr
Wiederholt:
Montag/Dienstag, 24./25. August 2009, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 25. August 2009, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 25. August 2009, 14.00 bis 15.00 Uhr
Zusammenfassung:
Von der Verlogenheit der beschlossenen Internetzensur zur Vorratsdatenspeicherung musikalisch interessierter Staatsfeinde. Ein Geschäftsmodell mit Arbeitslosen, die Einkaufen gehen dürfen. Buchhalter verwalten ein Ghetto, quälen unzählige Menschen und lassen die Überflüssigen vergasen.
Besprochenes Buch:
Peter Klein : Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt« 1940–1944, Hamburger Edition
Jingle Alltag und Geschichte
Am 18. Juni [2009] beschloß der Bundestag, daß zukünftig Internetseiten mit kinderpornografischem Inhalt gesperrt werden dürfen. So klar das in der Sache klingt, so deutlich ist, daß es hierbei nicht um Kinderpornografie geht, sondern um ein Einfallstor, mit dem das weltweite Datennetz von unliebsamen Inhalten gesäubert wird. Das Internet ist, so wie es sich entwickelt hat, zwar kein rechtsfreier Raum, wie von interessierter Seite immer wieder behauptet wird, aber eben auch ein Raum, in dem Dinge geäußert, gezeigt oder publiziert werden, die der Staatsräson und den Wirtschaftsinteressen abträglich sein können. Diesen Wildwuchs gilt es zu beschneiden; und die beschlossenen geheimen Sperrlisten tragen Züge eines autoritären Rechtsverständnisses.
So hat die staatliche Kommission für den Jugendmedienschutz in einem Modellversuch ein Filterprogramm zugelassen, das ganz offenkundig macht, worum es geht, nämlich politische Inhalte zu unterbinden. So waren beispielsweise im Mai die Webseiten der Piratenpartei, des Chaos Radios, der Nachdenkseiten, ja sogar der Grünen als jugendgefährdend angesehen, nicht jedoch das Erotikangebot der Bild-Zeitung. [1]
Kombiniert mit den Möglichkeiten der Vorratsdatenspeicherung finden wir uns sehr schnell dort wieder, wo andernorts auf dieser Welt das Internet gegängelt, zensiert oder abgesperrt wird, etwa in China, im Iran oder in Aserbaidschan. Aus dem Land zwischen Kaukasus und Kaspischem Meer, dort, wo Berti Vogts die Tugenden des deutschen Fußballs zu predigen versucht, wurde nun bekannt, wozu eine Vorratsdatenspeicherung so alles dienen kann. Beim Eurovision Song Contest hatten es einige Menschen in Aserbaidschan gewagt, für den Song des Nachbarlandes Armenien zu stimmen, mit dem man gerade zwar nicht Krieg führt, aber das immer noch als Feind gilt. Sie erhielten Besuch von der Polizei, weil sie durch ihr Abstimmungsverhalten als Sicherheitsrisiko eingestuft wurden. So schnell kann's gehen. [2]
Nun ist es ja so: Nicht nur in Deutschland, aber eben auch hier, muß man nur das Wort Kinderschänder in den Mund nehmen, um die Rübe-ab-Mentalität hervorzukitzeln. Der emotionale Kick mit der Lust an dem, was man oder frau nicht sagen, nicht zeigen oder nicht tun darf, korrespondiert mit einer Lust am Abstrafen all dessen, was man oder frau ja selbst nicht darf. Beim Strafen sind deutsche Spießer immer zuvorderst dabei; und glaubt mir, es gibt Millionen und Abermillionen hiervon. In meinem persönlichen Nahfeld kenne ich einige erlesene Exemplare. [3]
Ganz emotionslos könnte ich darauf verweisen, daß Betreiber kinderpornografischer Seiten durchaus auch strafrechtlich verfolgt werden können. Wenn dies nicht geschieht, so ist die nun beschlossene Zensurmaßnahme pure populistische Heuchelei. Dies gilt umso mehr, als Kinderpornografie an anderer Stelle keinen Vorwand darstellt, etwa Kirchen und Sportvereine mit einem Stoppschild zu versehen. Wer sich, um die Analogie zur Internetsperre zu beühen, in Zukunft eine Kirche oder einen Sportplatz anschaut, muß nicht damit rechnen, strafrechtlich verfolgt zu werden. Dabei reißen die Meldungen über Mißbrauch an Kindern gerade in diesen Institutionen nicht ab. Kürzlich wurde in München ein Leichtathletiktrainer wegen Mißbrauchs in 215 Fällen verurteilt, kurz darauf gestand ein Judo-Bezirksjugendleiter 224 Fälle. [4]
Sogar der Papst war letztes Jahr gezwungen, sich zu äußern, weil in den katholischen Kirchen der bigotten USA pädophile Pfarrer ihre männliche Macht an Kindern ausübten. Würde eine oder jemand ernsthaft auf die Idee kommen, hier eine Datensammlung durchzuführen, wieviele Fälle bekannt geworden sind, dann müßten Frau Zypries und Frau von der Leyen beschämt feststellen, daß sie ganz offensichtlich am Thema vorbeipolitisiert haben. [5]
Doch keine und niemand käme auf die Idee, bei Kirchen und Sportvereinen Handlungsbedarf zu sehen, obwohl es doch um das vielbeschworene Kindeswohl geht. Auch heute und morgen, und wenn nicht morgen, dann übermorgen, werden irgendwo in Deutschland in Kirchen und Sportvereinen Kinder sexuell genötigt, mißhandelt, vergewaltigt. Wo bleibt der Aufschrei? Insofern scheint mir der Zensurbeschluß des Bundestages ein Ablenkungsmanöver zu sein, das von den realen Mißständen zu virtuellen Gemeinplätzen führt. Vielleicht sollte ich unsere Darmstädter Bundestagsabgeordnete Brigitte Zypries einmal fragen, weshalb ihr das Kindeswohl in Kirchen und Sportvereinen weniger am Herzen liegt als das im virtuellen Raum. Aber wer weiß, ob sie nach der Bundestagswahl überhaupt noch im Bundestag sitzt. So, wie ich sie mit dem Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier vor wenigen Tagen auf dem Karolinenplatz erlebt habe, besteht da wenig Hoffnung. Außer Durchhalteparolen und dröge-anbiederndem Geschwätz war da nichts zu spüren.
Wer jetzt denkt, ich würde dafür eintreten, „law and order“ auch in die hintersten Winkel schummriger Gemeindesäle oder Umkleidekabinen hineinzutragen, irrt. Repression ist meine Sache nicht. Die Übel einer kapitalistischen Gesellschaft lassen sich nicht mit Strafen, Sperren oder andere Polizeistaatsmethoden beseitigen, sondern nur mit der Beseitigung des Übels Kapitalismus selbst. Kirchen sind kein Selbstzweck meditativ-spiritueller Menschen, sondern Manifestationen gesellschaftlicher Macht. Sportvereine sind keine kindlichen Tobspielplätze, sondern fördern die Ideologie der Leistung und des Erfolgs zum Wohle des Profits. Die Disziplin und Selbstverleugnung, die dort gelehrt, eingetrichtert und eingeübt wird, läßt sich nachher im Berufsleben prima verwerten. Meint Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
Am 4. August [2009] hatte Aurel J. in seiner Dienstagssendung [bei Radio Darmstadt] eine Abordnung der GFFB zu Gast. Diese Abordnung promotete dort ihren neuen Darmstädter Einkaufs- und Begleitservice. Vergangene Woche wurde dieser Service auch im Darmstädter Echo vorgestellt. Bei dieser GFFB handelt es sich nominell um die „Gemeinnützige Frankfurter Frauen-Beschäftigungsgesellschaft“, weil das Projekt 1994 ursprünglich auf die berufliche Wiedereingliederung arbeitsloser Frauen zugeschnitten war. Ich gehe wohl nicht fehl in der Annahme, daß es sich um eine der vielen Gesellschaften und Projekte handelt, die vornehmlich mit Fördermitteln des Arbeitsamtes die eigene Existenz sichern. Als die Frauenförderung zurückgefahren wurde, mußte man sich umorientieren. Neben der Zentrale in Frankfurt gibt es noch Ableger in Rüsselsheim, Langen, Offenbach, Dietzenbach – und Darmstadt.
Nun klingt das ja erst einmal nicht schlecht: Einkaufs- und Begleitservice. Die hiermit angesprochene Zielgruppe sind Seniorinnen und Senioren, Alleinerziehende oder andere Menschen, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage sind, tägliche Einkäufe oder Arzt- und Behördenbesuche ohne fremde Hilfe abzuwickeln. Da es sich um eine gemeinnützige GmbH handelt, ist ein Gewinnerzielungsinteresse ausgeschlossen. Deshalb kann davon ausgegangen werden, daß hier ein Beschäftigungsmodell entworfen wurde, mit dem Arbeitsplätze von Geschäftsführerinnen und Angestellten auf der Basis der Fremdfinanzierung beispielsweise durch Arbeitsämter geschaffen und gesichert werden. Nun wäre das alles kein größeres Problem, wenn nicht die Frage im Raum stünde, was denn dort gefördert wird.
Aurel J. hatte in seiner Sendung schon den richtigen Riecher. Er frage danach, ob es sich bei den Beschäftigten besagten Einkaufs- und Begleitservices um Ein-Euro-Jobberinnen und Jobber handelt. Die Antwort seiner Gästinnen war gewollt ausweichend. Offensichtlich hat diese prekäre Beschäftigungsform ein Geschmäckle. Und in der Tat stand die GFFB mehrfach in der Kritik von Gewerkschaften und Erwerbsloseninitiativen, weil ihr Geschäft die Vermarktung von Hartz IV-Empfängerinnen und -Empfängern ist. Anders gesagt: die Wiedereingliederung besteht in einer vom Arbeitsamt mittels einer sogenannten „Arbeitsgelegenheit“ eingerichteten Warteschleife. Denn eine qualifizierte Vorbereitung auf den „Ersten Arbeitsmarkt“ dürfen wir beim Einkaufen und Spazierengehen wohl kaum erwarten.
Die ARGE Darmstadt fördert das Projekt des Einkaufs- und Begleitservices seit dem 1. Juli [2009], vorerst bis zum 31. Dezember. Interessant, womit man und frau alles Geld verdienen kann; es gibt doch immer wieder Geschäftsmodelle, die sogar mich überraschen. Diese Arbeitsgelegenheit, genannt Ein-Euro-Job, bringt ja keinen Geldverdienst für die von der ARGE vermittelten Arbeitslosen, denn der eine Euro ist als eine Art Aufwandsentschädigung zu betrachten. Es handelt sich somit um verkappte Zwangsarbeit. In Darmstadt ist die Situation immerhin – noch – so, daß keine und niemand gezwungen wird, eine solche Tätigkeit anzunehmen. Andernorts ist das anders.
Die Kritik an diesem Geschäftsmodell ist hingegen schon älter.
2005 besetzte die Gewerkschaftliche Arbeitsloseninitiative Galida anläßlich des bundesweiten Aktionstages gegen Ein-Euro-Jobs die damaligen Geschäftsräume der GFFB. Schon damals war die Gesellschaft führender Anbieter von Ein-Euro-Jobs in Darmstadt. Die Gewerkschaft ver.di wies damals auf das Problem zunehmender Schmutzkonkurrenz hin. In Frankfurt wurden zu diesem Zeitpunkt arbeitslose Journalistinnen und Absolventen der Geisteswissenschaften als Ein-Euro-Jobberinnen und -Jobber eingesetzt.
Im November 2004 startete nämlich bei der GFFB in Frankfurt ein Projekt mit dem schönen Titel „Erweiterung der fremd-sprachlichen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten in der Rhein-Main-Region“. Mittels dieses Projekts sollte eine mehrsprachige Webseite aufgebaut werden, die jedoch derzeit eher wie eine bessere Spielweise aussieht. Brauchbare Informationen zur Frankfurter Stadtgeschichte werden beispielsweise explizit mittels eines Links auf die Wikipedia bereitgestellt [6]. Kein Wunder, daß die Gewerkschaft schon damals die Nutzlosigkeit des Projektes beklagte.
In der Gewerkschaftszeitung „M – Menschen machen Medien“ war folgerichtig zu lesen:
Nah am späteren Arbeitsgebiet dran? Kann man von diesen Hartz IV-Jobs nun wirklich nicht behaupten. Teilnehmer sind bereits frustriert. Die Zusatzarbeitsgelegenheit wird mit einem Dumping-Lohn bezahlt. Obendrein gab es einzig leere Versprechungen, die selbst verfassten Texte publizieren zu können. Die geplante Webseite […] ist seit November 2004 „im Aufbau befindlich“, und ist es, ein Jahr später, bei Redaktionsschluss der „M“ immer noch. Klartext: Sie hat nie existiert. Von Mitarbeitern produzierte Texte verschwinden ungelesen in der Schublade oder im digitalen Nirwana. Von einigen Ein-Euro-Jobbern wurde insofern zu Recht beklagt, der Job sei reine Zeitverschwendung: Neun verlorene Monate, danach perspektivlos wie zuvor. [7]
Die Arbeit professioneller Journalistinnen und Werbetexter wurde hier fast unentgeltlich von zu Hilfskräften ohne arbeitsrechtlichen Schutz degradierten Arbeitslosen durchgeführt. Ach ja – natürlich bekommt die GFFB Geld dafür, Hunderte von Menschen monatelang sinn- und perspektivlos von der Arbeitslosenstatistik fernzuhalten. Vor vier Jahren betrug die Pauschale pro Monat pro Person 300 Euro. Nehmen wir einmal realistisch an, in ihren vielen Filialen beschäftigt die gemeinnützige Firma 150 Arbeitslose, dann ergibt das im Jahr 300 Euro mal 150 Arbeitslose mal 12 Monate, also 540.000 Euro. Nicht schlecht! 2006 sprach die Sendung des Südwestrundfunks „Report“ daher zutreffend von einem Millionengrab. [8]
Man und frau muß insofern den fast schon zynischen Humor bewundern, wenn das Einkaufen und Begleiten durch die GFFB als sozialpädagogische Qualifizierung bezeichnet wird.
Nun steht die GFFB mit derartigen meist nutzlosen Tätigkeiten nicht alleine da. Andernorts heißen sie Praktikum, Trainee, Freiwilliges Soziales Jahr. Kostenlos ausbeutbare Arrbeitskräfte sichern nicht nur so manchem Verein das Überleben, sondern auch den Profit von Agenturen, Klitschen, sozialen Einrichtungen und anderen Geschäftsmodellen. Der Grundgedanke ist in der Regel überall derselbe: andere für sich arbeiten zu lassen, ohne die Leistung adäquat zu vergüten. Natürlich wird dann darauf verwiesen, man lerne Personen an oder qualifiziere sie, und das koste eben Zeit und Geld. Tatsächlich jedoch handelt es sich meist um Vollarbeitskräfte, die weder angelernt noch qualifiziert werden, sondern malochen müssen. Es mag Ausnahmen geben. Aber die „Praktikumsrepublik Deutschland“ bzw. die „Generation Praktikum“ sind nicht umsonst eine klar definierte Zustandsbeschreibung eines lukrativen Geschäfts – mit den Illusionen, den Hoffnungen, den Träumen und der zuweilen unglaublichen Naivität der Menschen.
Ich werfe Aurel J. nicht vor, daß er all dies nicht thematisiert hat. Das Offene Haus von Radio Darmstadt ist ein Ort der Selbstdarstellung von Gruppen, Initiativen und Einzelpersonen. Da kommt es häufiger vor, daß dort auch Menschen zu Wort kommen, deren Interesse die Eigenwerbung ist. Kritik ist dann nicht erwünscht. Wenn der zuständige Redakteur dann auch noch ohne vorherige Recherche das Gespräch beginnt, dann wird die Sendung zum Selbstläufer, zum Selbstläufer in eine Richtung, die ich als Gegner der Abzockmentalität nun gar nicht gutheißen kann.
Noch gibt es deshalb Sendungen wie die meine auf diesem Sender. Aber nicht mehr lange. Der Programmrat von Radio Darmstadt hat vor zwei Wochen meinen Sendeplatz ersatzlos und gezielt ab Mitte September gestrichen. Er wollte hiermit Unterhaltungssendungen vor der Absetzung schützen, die in den vergangenen Monaten mehr oder weniger regelmäßig ausgefallen sind. Unterhaltung ist einer Praktikumsrepublik eben viel wichtiger als politische Information. Wenn schon kein Brot, dann wenigstens Spiele.
Die politischen Informationen müßt ihr euch dann woanders herholen. Vor zwei Monaten hatte ich an dieser Stelle das neue Buch von Jurtta Ditfurth vorgestellt [9], es heißt „Zeit de Zorns“. Jutta Ditfurth, in den 80er Jahren Bundesvorsitzende der Grünen, später Stadtverordnete der Ökolinx-Antirassistischen Liste in Frankfurt, Journalistin und Buchautorin, schreibt über die Krise des Kapitalismus, die einen Zustand für den Großteil der Menschheit noch unerträglicher macht, als er ohnehin schon ist. Dabei treibt es sie um, daß das Kapital auch aus dieser Krise gestärkt hervor geht und das Geschäft mit der Ausbeutung und den damit verbundenen tödlichen Folgen neue Dimensionen erreicht. Ihre Hoffnung richtet sich auf eine außerparlamentarische Bewegung, die sich gegen die Zumutungen des Kapitalismus, gegen die Ausbeutung und Erniedringung der Menschen und der Vernichtung der Natur zur Wehr setzt.
Jutta Ditfurth stellt ihr Buch am 7. September im Club Voltaire in Frankfurt vor. Beginn 19 Uhr 30. Der Eintrittspreis beträgt 9 Euro, ermäßigt 6 Euro. Hartz IV-Empfängerinnen und -Empfänger zahlen einen Euro.
Besprechung von : Peter Klein – Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt« 1940–1944, Hamburger Edition 2009, 683 Seiten, € 38,00
Als die Nazis im September 1939 ihre Wehrmacht in den Krieg gegen Polen schickten, wußten sie, wieweit sie gehen konnten. Ihr Tage zuvor mit Stalin abgeschlossener Nichtangriffspakt zog für zwei Jahre die Grenzen ihrer Expansion nach Osten. Der Blitzkrieg gegen eine vollkommen überforderte polnische Armee brachte ihnen nicht nur eine Gebietsvergrößerung, sondern auch Millionen Menschen polnischer und/oder jüdischer Zugehörigkeit ein. Die Verwaltung dieses riesigen Gebietes war eine Aufgabe, die eines entsprechenden Apparates bedurfte. Aus Deutschland zog es daher viele, meist junge, Verwaltungsbeamte, Bürokraten und Nationalsozialisten in das eroberte Polen, das filetiert und nach bestimmten Bedürfnissen zurechtgeschnitten wurde.
Zunächst einmal wurden die nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg an Polen abgetretenen Gebiete dem Deutschen Reich wieder eingegliedert. Hierbei wurden die Grenzen jedoch weiter vorgeschoben. Das Gebiet um Posen, das im Zuge der Aufteilungen Polens Ende des 18. Jahrhunderts Preußen zugeschlagen wurde, bildete den Kern eines neuen Reichsgaus namens Wartheland, während der übrig gebliebene Rest als Generalgouvernement bezeichnet wurde. Der Unterschied zwischen Wartheland und Generalgouvernement war der, daß das Wartheland als reichsdeutsches Gebiet betrachtet wurde, während im Generalgouvernement von Anfang an eine gezielt gegen Polen und Jüdinnen gerichtete Hunger- und Ausmerzpolitik betrieben wurde.
Anfangs wurde das südöstlich von Posen gelegene Łódź dem Generalgouvernement zugeschlagen, doch am 9. November 1939 wurde die Stadt Teil des Warthegaus. Łódź wurde somit nicht nur auf einen Schlag zu sechstgrößten reichsdeutschen Großstadt mit rund 750.000 Bewohnerinnen und Bewohnern, zudem lebten in ihr – wie die Deutschen annahmen – rund 320.000 Jüdinnen und Juden. Diese sollten ins Generalgouvernement abgeschoben werden.
An dieser Stelle setzt die im Frühjahr in der Hamburger Edition des Hamburger Instituts für Sozialforschung erschienene Studie des Historikers Peter Klein ein. Sein Buch stellt die für ein breiteres Lesepublikum gedachte Fassung seiner Doktorarbeit dar. Aus Łódź oder – wie die Nazis die Stadt nach einem General des Ersten Weltkriegs bald zu nennen pflegten – Litzmannstadt liegen umfangreiche Aufzeichnungen über, die sowohl von den deutschen Tätern als auch von ihren jüdischen Opfern handeln.
Die Leistung des Autors liegt nun nicht darin, neue Quellen aufgespürt und ausgewertet zu haben, sondern vorhandene Dokumente, Darstellungen und Augenzeugenberichte neu gruppiert und bewertet zu haben. Seine Argumentation ist jederzeit belegt und schlüssig. Durch seine Re-Interpretation der Vernichtungspolitik der Nazis gelingt es Peter Klein zu zeigen, daß der Machtapparat der Nazis nicht monolithisch den Vollzug der Vernichtung durchsetzte, sondern daß es ein feinverästeltes lokales Netzwerk vor Ort war, das aufgrund eigener Interessen in Łódź bzw. Litzmannstadt ein Ghetto bis 1944 aufrecht erhalten konnte.
Der Autor problematisiert durchaus seine an dern Darstellungen der Täter orientierte Vorgehensweise. Der hierbei zutage tretende bürokratische und – wie sich bald herausstellt – auch buchhalterische Umgang mit der jüdischen Zivilbevölkerung könnte schnell die von den Nazideutschen betriebene Vorgehensweise reproduzieren und den Blick von der Unmenschlichkeit einer bürokratischen Buchhaltung ablenken, also die hiervon Betroffenen noch einmal verschwinden lassen.
Deshalb kontrastiert Peter Klein immer wieder das Bürokratendeutsch mit den tatsächlichen Verhältnissen vor Ort, läßt die von der deutschen Mißhandlung betroffenen Menschen selbst zu Wort kommen, beschreibt, was eine Buchung für mehr als 100.000 Männer, Frauen und Kinder bedeuten konnte. Dennoch liegt das Schwergewicht auf der Geschichte der Täter. Bei der Lektüre zeigt sich nicht nur die Nüchternheit, sondern auch die Unmenschlichkeit reinen Verwaltungshandelns und zahlenfixierter Buchhaltung. Ich denke, dies weist durchaus über die Geschnisse in Łódź, in Nazideutschland und den von den Nazis besetzten und ausgeplünderten Gebieten hinaus.
Von Anfang an terrorisierten die deutschen Besatzer die jüdische wie die polnische Zivilbevölkerung. Polnische Intellektuelle wurden zusammengetrieben und im Wald erschossen, Jüdinnen und Juden wurden durch gezielte Plünderungen, Verbote und Schikanen ihre Lebensgrundlage beraubt. Ein von den Deutschen eingesetzter Judenrat unter Chaim Rumkowski hatte die Durchführung deutscher Ansprüche zu gewährleisten. Die meisten Mitglieder des ersten Judenrats wurden jedoch bald umgebracht, Chaim Rumkowski stand dann bis 1944 einem neu zusammengstellten vor.
Die polnische, vor allem aber die jüdische Bevölkerung des Warthegaus und insbesondere aus Łódź sollte noch im Winter 1939/40 ins Generalgouvernement vertrieben werden. Doch es standen nicht genügend Züge zur Verfügung, die deutschen Besatzer waren mit der Logistik dieses Unternehmens offenkundig überfordert. Hinzu kam, daß der Gouverneur des Generalgouvernements Einspruch erhob, weil er sich außerstande sah, weitere Menschen in seinem Herrschaftsgebiet zu ernähren und unterzubringen. Sein Einfluß war so groß, daß er sich bis 1944 durchsetzen konnte. Zunächst jedoch schien es sich um eine zeitlich begrenzte Problematik zu handeln.
Daher wurde erwogen, ein Großghettos für die jüdische Bevölkerung von Łódź einzurichten, bis sie abtransportiert werden könnten. Dabei sei darauf zu achten, daß die Jüdinnen und Juden keine Wertsachen versteckten oder unterschlugen. In der Ernährungsfrage war man pragmatisch. Die Jüdinnen und Juden sollten selbst für ihren Unterhalt aufkommen. Mittels vollkommen irrealer Zahlen wurden Geld- und Vermögenswerte im Ghetto vermutet und veranschlagt, die nun durch eine gezielte Lebensmittelzufuhr, also der Androhung vion Hunger, abzuschöpfen seien. Innerhalb weniger Wochen fand innerhalb von Łódź eine riesige Wanderungsbewegung statt, eigentlich eher eine ethnische Säuberung. Durch Razzien und Schießereien beschleunigte die Polizei den Proze0 der Ghettobildung, der Ende April 1940 abgeschlossen war.
Unmittelbar danach wurde eine Ernährungs- und Wirtschaftsstelle Getto unter der Leitung von Hans Biebow eingerichtet. Diese Stelle unterstand der Stadtverwaltung und war dem Zugriff des in Posen ansässigen Reichsstatthalters des Warthegaus, Arthur Greiser, und dem der Berliner Ministerien entzogen. Biebow war ein Bremer Kaffeegroßhändler, den man zunächst unentgeltlich wohl deshalb eingestellt hatte, weil er als Branchenfremder keine eigenen Interessen im Textilgeschäft hatte. Łódź war seit langem ein Zentrum der Textilindustrie. Tatsächlich sollte es sich zeigen, daß Biebow weder korrupt war noch vorhandene Seilschaften bediente, sondern im Interesse der Stadt eigene Aktivitäten entwickelte.
Im Gegensatz zur deutschen Ghettoverwaltung war es Chaim Rumkowski bald klar, daß die deutschen Zahlen über abschöpfbare jüdische Vermögenswerte reine Phantasie waren. Da er zusehen mußte, wie über 150.000 Männer, Frauen und Kinder zu ernähren waren, schlug er recht früh ein Kompensationsgeschäft vor: jüdische Arbeitskraft gegen deutsche Lebensmittellieferungen. In Hans Biebow fand er denjenigen, der aus dieser Idee ein Geschäft zu machen in der Lage war. Hierbei wurde grundsätzlich darauf geachtet, daß keine Reichsmittel für den Unterhalt des Ghettos fließen durften.
Waren die eingeschlossenen Jüdinnen und Juden nicht in der Lage, den entsprechenden Gegenwert abzuliefern, wurden die Lebensmittelrationen ausgesetzt. Ohnehin wurden diese Rationen nach Kriterien bemessen, die dazu angetan waren, allenfalls das nackte Überleben zu gewährleisten, aber nicht einmal das wurde von deutscher Seite aus auch eingehalten. Die Folgen zeigten sich erstmals drastisch im Winter 1940/41, als pro Monat etwa 1.000 Menschen aufgrund von Kälte, Entkräftung, Krankheiten und vor allem dem ewigen Hunger starben.
Ich sprach es schon an, daß die deutsche Besatzungsmacht nicht einheitlich agierte. Neben der traditionellen Ministerialbürokratie, die nach deutschen Regeln arbeitete, weil der Warthegau als deutsches Reichsterritorium galt, gab es die nationalsozialistische Parteiorganisation, die Gestapo mit angeschlossenen Dienststellen und die lokale Stadtverwaltung. In der Frage der Abschöpfung jüdischer Vermögenswerte traten noch das Finanzministerium und die Haupttreuhandstelle Ost auf. Sie alle waren in die Verwaltung des Großghettos involviert, aber es zeigt sich, daß die von Hans Biebow geleitete Ghettoverwaltung federführend war. Obwohl sich sowohl der Reichsstatthalter Arthur Greiser, das Regierungspräsidium, die Gestapo oder Beroliner Ministerien einzumischen versuchten, wurde das Ghetto mitsamt seiner bürokratisch-buchhalterischen Abvwicklung lange Zeit nicht in Frage gestellt.
Auch wenn alle Beteiligten Ämter und Behörden, Parteiorganisationen und Polizeidienststellen vom Antisemitismus durchdrungen waren, war die Vernichtung des Lebens der Łódźer Jüdinnen und Juden zunächst nicht vorgesehen. Das bedeutet nicht, daß das Leben der Eingeschlossenen geschont werden sollte. Solange jedoch keine Lösung des Problems abzusehen war, wohin die Łódźer Jüdinnen und Juden verfrachtet werden konnten, blieben sie an Ort und Stelle und mußten für ihr tägliches Überleben schuften. Hans Biebow war hierbei der Mann, der die hierfür benötigten Aufträge an Land zog. Hierbei fuhr er zweigleisig. Zum einen sicherte er seiner Behörde in größerem Umfang Wehrmachtsaufträge.
Die im Ghetto Eingeschlossenen schneiderten, schusterten und hobelten buchstäblich um ihr Leben, weshalb die Wehrmacht nach anfänglichen Bedenken wegen jüdischer Wertarbeit aufgrund herausragender Qualität hochzufrieden war. Des weiteren gelang es Biebow, auch mit der deutschen Privatwirtschaft Verträge abzuschließen, die finanziell lukrativer als die Wehrmachtsaufträge waren. Die Wehrmachtsaufträge sicherten jedoch den Einsatz vor Ort und wehrten den Einsatz an der Front ab.
Spätestens 1941 zeichnete es sich ab, daß das Ghetto längere Zeit bestehen bleiben würde. Der geplante und dann begonnene Krieg gegen die Sowjetunion band alle Transportkapazitäten. Der kurzzeitig erwogene Plan, die Jüdinnen und Juden Mittel- und Osteuropas nach Madagaskar zu verfrachten, war ohnehin kaum mehr als ein Hirngespinst. Allerdings war davon auszugehen, daß die inzwischen auf rund 160.000 Männer, Frauen und Kinder bezifferte Ghettobevölkerung kaum längere Zeit zu ernähren war. so daß es irgendwann dazu kommen mußte, eine endgültige Lösung dieses Problems zu ersinnen. Man reduzierte die Lebensmittel für die Nicht-Arbeitsfähigen drastisch, um die Arbeitsfähigen so ausreichend ernähren zu können, daß die Produktionsziele erreicht werden konnten. Der Judenrat unter Chaim Rumkowski wurde in diese Selektionsaufgabe eingebunden und hatte sie auszuführen.
Ohnehin überließen es die Deutschen häufig der jüdischen Selbstverwaltung, die tödlichen Entscheidungen der Besatzer in die Praxis umzusetzen. Dieses perverse Denken entsprang weniger einer antisemitischen Grundhaltung, das sicher auch, sondern einem ganz banalen bürokratischen Kalkül. Es erschien effizienter, als selbet das Ghetto organisieren zu müssen.
Jede Maßnahme, jede Lebensmittellieferung, jeder Arbeitseinsatz, jeder Auftrag wurde in Biebows Buchhaltung genau registriert und gegengerechnet. Lagen die Juden im Soll, lieferte man weniger Lebensmittel, um mehr Geld und Arbeitsleistung abzupressen, war das Konto ausgeglichen, zeigte es sich, daß es ja mit weniger Lebensmitteln ging. Dennoch waren sich auch Hans Biebow und sein Stab darüber im Klaren, daß eine Mindestversorgung mit Kalorien und Vitaminen aufrechtzuerhalten war, damit die Produktion nicht stockte.
Zwei miteinander verknüpfte Ereignisse zeigten jedoch, daß das Gebilde fragil war und der Massenmord als einzig praktikable Lösung angesehen wurde. Im Herbst 1941 wurde in Berlin diskutiert, 60.000 Jüdinnen und Juden aus dem Altreich ins Łódźer Ghetto zu überführen. Dies hätte die Buchhaltung Biebows genauso durcheinandergebracht wie das Leben im Ghetto selbst. Diese Zahl wurde nach Protesten aus Łódź auf 20.000 reduziert, hinzu kamen jedoch 5.000 Sinti und Roma, die von vornherein in einem eigens abgeriegelten Bezirk des Ghettos eingepfercht werden sollten.
Die Buchhalter der Gettoverwaltung Litzmannstadt stellten hier die Finanzierungsfrage. Die deportierten Sinti und Roma besaßen weder Vermögenswerte noch war ihre Arbeitskraft erwünscht. Das Reich wollte für die finanziellen Belastungen nicht aufkommen. 5.000 Menschen wurden auf 19.000 Quadratmetern eingezwängt und sich selbst überlassen. Die hygienischen Verhältnisse waren noch katastrophaler als die Ernährungslage. Eine Fleckfieber-Epidemie brach aus, die nicht einzudämmen war. Mitte Dezember 1941 wurden die überlebenden Sinti und Roma per Lastwagen nach Kulmhof, polnisch Chelmno, verbracht und dort vergast. Für die deutschen Bürokraten und Buchhalter war dies die einzig denkbare Lösung eines Problems, für das sie selbst gesorgt hatten.
Reichtsstatthalter Arthur Greiser betrieb das Vernichtungslager in Kulmhof nach persönlicher Rücksprache mit Adolf Hitler.
Den Jüdinnen und Juden, die aus dem Altreich, aus Luxemburg, aus Wien und Prag nach Łódź verschleppt wurden, ging es zunächst anders. Sie brachten Vermögenswerte mit, die das Ghettokonto in Biebows Behörde ausgleichen konnten. Die meisten von ihnen waren jedoch zu alt, um die schwere Arbeit in den Produktionsstätten des Ghettos durchzuhalten. Anfang 1942 wurden deshalb erste Transporte von Jüdinnen und Juden zusammengestellt, die in Kulmhof ermordet werden sollten. Die Auswahl der Opfer wurde Rumkowskis Ghettoselbstverwaltung überlassen.
Chaim Rumkowskis Rolle bei der profitablen Nutzbarmachung des Ghettos und der Selektion der ins Gas nach Kulmhof geschickten Jüdinnen und Juden ist Gegenstand kontroverser Wertungen. Die steht mir nicht zu. Ich halte es jedoch für verfehlt, seine angebliche Selbstherrlichkeit und sein autoritäres Gebaren besonders herauszustellen. Derartige Attribute gehörten nun einmal zu seiner Funktion als Judenältester in einer ausweglosen Situation. Welche Wahl hatte er? Er konnte nur hoffen, so viele Menschen wie möglich vor dem Tod zu bewahren, und die Methoden waren ihm nicht freigestellt.
Mehrere Zehntausend Ghettoinsassen wurden bis Mai 1942 auf diese Weise ausgesucht und von den Deutschen ermordet, ihren Opfern dabei abgenommenen Vermögenswerte auf ein Sonderkonto transferiert, das u. a. den Reptilienfonds von Arthur Greiser finanzierte. Obwohl es sich um ein lukratives Geschäft handelte, wurde das Morden zunächst wieder eingestellt. Die Produktion für die Wehrmacht ging vor. Arthur Greisers Stunde sollte jedoch noch kommen.
Im September 1942 sollte hingegen die Produktion weiter ausgedehnt werden. Hans Biebow hatte derart umfangreiche Wehrmachtsaufträge an Land gezogen, daß die vorhandenen Produktionsstätten nicht ausreichten. Er beschaffte Maschinen und Rohstoffe, für den Platz neuer Werkstätten sorgte er auf andere Weise. Während die vorhandenen Wohngebäude kaum Platz für neue Produktionsstätten boten, sollten nun Spitäler zu Werkstätten umgewidmet werden. Kranke, Kinder und alte Menschen wurden zusammengetrieben und nach Kulmhof gebracht. Der praktische Nutzen für die Buchhalter in der Ghettoverwaltung bestand darin, daß die überflüssigen Esser beseitiugt waren und die ohnehin nicht ausreichenden Lebensmittel nun nur noch den Arbeitsfähigen zukamen.
Peter Klein stellt in seinem Buch über „Die Gettoverwaltung Litzmannstadt 1940–1944“ heraus, daß zentrale Direktiven zum Massenmord lokal vor Ort immer auch der Durchsetzungsmöglichkeit bedurften. Arthur Greiser konnte erst dann die Auflösung des Ghettos und den Transport seiner Bewohnerinnen und Bewohner nach Auschwitz durchsetzen, nachdem Himmler zum Reichsinnenminister ernannt wurde und Greiser das Personal vor Ort zu seinen Gunsten ausgetauscht hatte. Hierbei galt es allerlei bürokratische Widerstände zu überwinden. War zunächst noch daran gedacht, das Łódźer Ghetto in ein Konzentrationslager umzuwandeln, so zeigte ein interner Untersuchungsbericht, daß die Produktion alles andere als profitabel sein würde. Das Vorrücken der Roten Armee im Sommer und Herbst 1944 bis zur Weichsel beschleunigte die Absetzbewegung nach Westen und den Abtransport der Jüdinnen und Juden von Łódź nach Auschwitz.
Peter Klein zeigt uns zudem ein fein verästeltes Netzwerk des Terrors und der Ausbeutung bzw. Ausplünderung der jüdischen, aber auch der polnischen Bevölkerung. Es bedurfte keiner Befehle von oben, um aktiv zu werden, und auch die lokalen Akteure vor Ort schreckten vor Massenmord nicht zurück, wenn er ihnen gelegen kam. Seine Interpretation ist allerdings auch als ein Gegenentwurf zu der verbreiteten These zu sehen, daß sich der Antisemitismus zur Massenvernichtung hin den Umständen entsprechend radikalisierte. Eher ist hier an eine bürokratische, ja eigentlich buchhalterische Logik zu denken, auch und gerade weil sich andernorts die fanatischen Antisemiten austoben durften.
Zwei Dinge fehlen mir in diesem von mir ausdrücklich zur eigenen Lektüre empfohlenen Buch. Zum einen überläßt es die vorgelegte Mikrostudie den Leserinnen und Lesern, selbst Schlüsse auf den buchhalterischen Umgang mit der Gesundheit und dem Leben anderer Menschen zu ziehen. Ich will das nicht kritisieren, nur anmerken. Peter Kleins akribische Auseinandersetzung mit der rechungsmäßigen Verfügung über Leben und Tod weist meiner Ansicht nach über den Nationalsozialismus hinaus.
Wenn ich den deutschen Faschismus als Spezialfall kapitalistischer Rationalität und Unmenschlichkeit betrachte, dann sehe ich auch heute das wirtschaftliche und politische Management als Exekutoren eines profitablen Geschäfts, bei dem Menschen nur als Objekte der Ausbeutung zählen. Allerdings zeigt das Beispiel der Gettoverwaltung Litzmannstadt, daß diese Manager nicht Tausende Kilometer von den Schauplätzen ihrer Entscheidungen schalten und walten, sondern vor Ort sehr genau mitbekommen haben, was das, was sie entschieden, für Folgen hatte. Sie wollten es so.
Darüber hinaus steckt diese den Menschen als Obkekt betrachtende Radtionalität auch im ganz normalen Umgang einer Zivilgesellschaft. Wer seine Mitmenschen danach betrachtet, ob es sich rechnet und lohnt, mit ihnen Umgang zu pflegen, oder ob sie stören und man sie besser aussoriert, abschiebt oder ihre Rechte und ihre Existenz anderweitig mißachtet, wer so denkt und handelt, wandelt auf demselben Boden einer Ausgrenzungslogik wie diejenigen, die den Massenmord an den europäischen Jüdinnen und Juden, Sinti und Roma vorbereitet und durchgeführt haben.
Dies zum einen. Zum anderen ist mir auch nach der Lektüre des Buches nicht klar, worin das besondere Interesse der buchhalterischen Ghettoverwaltung bestanden hat. Das Leben der Jüdinnen und Juden von Łódź war den deutschen Tätern gleichgültig. Profit warf der Arbeitseinsatz der Ghettobevölkerung nachweislich nicht oder nur in geringem Maße ab. Zwar erlangte die Produktion für die Wehrmacht durchaus einige Bedeutung, aber sie stand immer in Konkurrenz mit anderen Betrieben, die zum Teil, aber nicht immer, auf der grenzenlosen Ausbeutung anderer Jüdinnen oder Zwangsarbeiter basierte. Anders gesagt: die Versorgung der Wehrmacht hing nicht am Ghetto von Łódź. Ich hatte gehofft, der Autor hätte in seiner Zusammenfassung diesen Aspekt noch einmal besonders beleuchtet, aber dem ist nicht so.
Peter Klein macht deutlich, daß es den lokalen Akteuren gelang, das Ghetto bis 1944 aufrecht zu erhalten. Das nicht, weil man und ganz selten auch frau die Jüdinnen und Juden vor der Vernichtung schützen wollte. Vielleicht ist es eher so, daß sich hier ein buchhalterisch-bürokratischer Apparat soweit verselbständigt hatte, daß er aus purem Eigeninteresse das Ghetto als Produktionsstätte am Leben erhielt. Die Alternative hätte den Einsatz als Soldat im Krieg bedeutet. Selbst wenn die Löhne und Gehälter in der Regel nicht allzu üppig waren und sonstige materielle Vorteile gering, so darf nicht übersehen werden, daß das eigene Leben an dem der produktiv gehaltenen Jüdinnen und Juden hing. Die wiederum konnten nur hoffen, nicht in die Gaskammern und Gaswagen deportiert zu werden, bevor die Deutschen den Krieg verloren.
Das Ghetto Litzmannstadt wurde im Sommer 1944 aufgelöst, seine Bewohnerinnen und Bewohner nach Auschwitz verschleppt und dort umgebracht. Chaim Rumkowski wurde im August 1944 in Auschwitz ermordet.
870 Mitglieder eines Außenkommandos, sowie 30 Kinder und 80 Erwachsene, die sich vor den Deportationen verstecken konnten, überlebten und wurden im Januar 1945 von der Roten Armee befreit. Rund 190.000 Menschen, die ins Ghetto verschleppt oder dort eingeschlossen waren, starben an Entkräftung, Hunger, Zwangsarbeit und Krankheiten oder wurden ermordet.
Hans Biebow konnte zunächst in Deutschland untertauchen, wurde jedoch von einem Überlebenden erkannt und von den Allierten nach Polen ausgeliefert. Er wurde 1947 zum Tode verurteilt und gehängt.
Arthur Greiser wurde von US-amerikanischen Truppen in Bayern gefangengenommen und später nach Polen ausgeliefert. Er wurde 1946 zum Tode verurteilt und gehängt.
Peter Kleins Buch über „Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt« 1940–1944“ ist im Frühjahr in der Hamburger Edition zum Preis von 38 Euro erschienen.
Jingle Alltag und Geschichte
Ihr hörtet in der vergangenen Stunde Anmerkungen zur Internetzensur in Deutschland und zu einem Geschäftsmodell mit Arbeitslosen in Darmstadt. Meine Vorstellung des Buchs „Die »Gettoverwaltung Litzmannstadt« 1940–1944“ von Peter Klein zeigt die Abgründe buchhalterischer Genauigkeit, bei der den Tätern das Schicksal ihrer genauestens erfaßten Opfer vollkommen gleichgültig ist. Wer stört, wird ermordet, wer überflüssig ist, darf verhungern.
Diese Logik ist dem Kapital immanent, und doch bedurfte es einer besonders radikalisierten Stimmung in Deutschland, um den Massenmord kaltblütig zu exekutieren. Als die Mörder merkten, daß sie im Falle eines verlorenen Vernichtungskrieges doch noch zur Verantwortung gezogen werden könnten, begannen sie, ihre Spuren zu verwischen. Dies nannten sie die Aktion 1005. Der Historiker Jens Hoffmann hat hierüber das im Konkret Literatur Verlag herausgebrachte Buch „Das kann man nicht erzählen“ geschrieben. Bei Radio Corax in Halle wurde das Buch als besonders empfehlenswert besprochen. Diese Besprechung hört ihr gleich.
Zuvor noch ein Hinweis und mein Schlußwort.
Am morgigen bzw. – bei Wiederholung dieser Sendung – am heutigen Dienstagabend zeigt die DKP im „Linkstreff Georg Fröba“ um 19.30 Uhr den Film „Der Mann hinter Adenauer“. Die rechte Hand des ersten deutschen Bundeskanzlers hieß Hans Maria Globke. Er war von 1953 bis 1963 Staatssekretär im Bundeskanzleramt. Seine Sporen verdiente er sich als Verfasser des offiziellen juristischen Kommentars zu den NS-Rassegesetzen. Die ursprünglich für Dienstagabend geplante Lesung mit dem ehemaligen DKP-Vorsitzenden Herbert Mies muß aus gesundheitlichen Gründen ausfallen.
Am Mikrofon war für die Redaktion Alltag und Geschichte Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
Die Besprechung des Buchs „‚Das kann man nicht erzählen – Aktion 1005‘ – Wie die Nazis die Spuren ihrer Massenmorde in Osteuropa beseitigten“ wurde im Anschluß gesendet. Sie ist entweder auf dem Audioportal des Bundesverbandes Freier Radios anzuhören bzw. downzuloaden oder mit nebenstehendem Player anzuhören. Länge: 12:40 Minuten.
»» [1] Siehe hierzu den Artikel von Jens Berger: Jugendschutz und politische Zensur, in: Telepolis am 26. Mai 2009.
»» [2] Siehe hierzu die Meldung von Peter Muehlbauer : Wie Aserbaidschan die Vorratsdatenspeicherung nutzt, in: Telepolis am 19. August 2009.
»» [3] Anspielung auf die Vorgänge bei Radio Darmstadt seit 2006, siehe hierzu auch meine Dokumentation.
»» [4] Siehe hierzu die Meldung von Peter Muehlbauer : Noch mehr Kindesmissbrauch im „rechtsfreien Raum“ Sportverein, in: Telepolis am 20. August 2009.
»» [5] Siehe hierzu beispielsweise die Meldung: Papst „tief beschämt“ über pädophile Priester, zu finden bei Focus Online vom 15. April 2008. Der Vatikan mußte zugeben, daß im vergangenen halben Jahrhundert 1,5 bis 5% aller Geistlichen in Kindesmißbrauch verwickelt waren. Selbst wenn wir hier keine Dunkelziffer einbeziehen, dürfte es sich quantitativ und qualitativ um eine andere Dimension handeln als die Fälle, die als Begründung einer Internetzensur herhalten müssen. Zu den Zahlen des Vatikans siehe Peter Mühlbauer : Hauptsache unter der Fünf-Prozent-Hürde, in: Telepolis am 1. Oktober 2009.
»» [6] Der auf dem Screenshot im Text zu sehende Link führte am 24. August 2009 auf die Adresse „http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Geschichte_von_Frankfurt_am_Main&print“.
»» [7] Gitta Düperthal : Billige Konkurrenz, in: M 11/2005.
»» [8] Thomas Dauser und Beate Klein: Wer verdient an den Ein-Euro-Jobs?, Report Mainz 12. Juni 2006.
»» [9] Siehe hierzu das Manuskript meiner Sendung Über die Grenzen des Bestehenden hinaus vom 29. Juni 2009.
Diese Seite wurde zuletzt am 2. Oktober 2009 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. © Walter Kuhl 2001, 2009. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.
Die Wiedergabe der Audiodateien wurde mit dem Easy Musicplayer for Flash realisiert.
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/kv/kv_bhalt.htm
Zur vorangegangenen Sendung
Zur nachfolgenden Sendung