Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 11. Mai 2009, 17.00 bis 18.00 Uhr
Wiederholt:
Montag/Dienstag, 11./12. Mai 2009, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 12. Mai 2009, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 12. Mai 2009, 14.00 bis 15.00 Uhr
Zusammenfassung:
Anstelle von sachlicher Information setzt die Stadt Darmstadt auf eine von Profis gestaltete Werbekampagne, um den Bürgerentscheid gegen die Nordostumgehung am 7. Juni 2009 abschmettern zu können. Vor rund 70 Jahren beschlossen die Bielski-Brüder, den Nazis nicht nur bewaffnet Widerstand zu leisten, sondern zudem auch Jüdinnen und Juden in Polen und Weißrußland zu retten. Die Geschichte der USA ist eine Gemengelage aus Völkermord und ethnischer Salatschüssel [1]. Ein Reiseführer hilft, durch Schottland zu reisen, aber manchmal verwirrt er auch.
Besprochene Bücher:
Playlist:
Gianna Nannini und Leonard Cohen.
Jingle Alltag und Geschichte
In vier Wochen wissen wir, ob die Nordostumgehung in Darmstadt gebaut wird. Oder ob es eine weitere Hängepartie gibt, weil weder die Finanzierung des Projekts noch seine bauliche Umsetzung gesichert ist. Ohnehin handelt es sich hierbei um eine Schmierenkomödie aus der Stadtverordnetenversammlung, in der nur eines sicher ist. Demokratie ist, wenn sich viele verstellen und dann wenige bestimmen, wo es langzugehen hat.
Am Mikrofon ist Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
Ohne Absprache mit den Koalitionspartnern zog Stadtrat Dieter Wenzel Ende April ein Finanzierungskonzept aus dem Hut, das er in der Stadtverordnetenversammlung verlas. Sein Vortrag war akustisch kaum zu verstehen und inhaltlich erst recht nicht nachzuvollziehen. Aber weder die Grünen noch die CDU sollten sich hierüber beschweren. War doch ihr taktisches Abstimmungsverhalten im vergangenen Herbst einfach nur unwürdig. Wer ja sagt und nein meint oder nein sagt und ja meint, hat irgendwie ein Schizophrenie-Problem. [2]
Glaubwürdig ist hingegen die Bürgerinitiative ONO. Sie sammelte mehr gültige Unterschriften, als der amtierende Oberbürgermeister Walter Hoffmann 2005 im ersten Wahlgang an Stimmen erhalten hatte. Ihre Argumente sind klar und nachvollziehbar, auch wenn ich nicht jede Argumentation unterstütze. Richtig ist jedoch: Neue Straßen generieren mehr Verkehr – das ist eine alte Straßenbauerweisheit, und die wird hier keinesfalls außer Kraft gesetzt. Tatsächlich sehen die städtischen Planungen ja weitaus mehr als nur den Tunnel unter dem Bürgerpark vor. Darmstadt soll rundum mit Umgehungsstraßen versehen werden.
Der Martin-Luther-King-Ring soll vierspurig ausgebaut werden und eine Straßenbrücke über die Frankfurter Straße erhalten. Freie Fahrt für freie Joghurtbecher. Hinter den Eisenbahnbrücken über die Gräfenhäuser Straße mündet derzeit die Bundesstraße 3 von Arheilgen aus kommend ein. Auch diese Straße soll verlängert werden und bis zur Heimstättensiedlung reichen. Da fehlt dann nur noch der Anschluß nach Eberstadt.
Die Stadt argumentiert mit steigendem Verkehr und damit, die Belastungen an Darmstadt vorbeiführen und innerstädtische Straßen entlasten zu wollen. Dabei gäbe es auch andere Konzepte. Die bedingungslose Förderung des öffentlichen Nahverkehrs wäre eine nicht nur umweltfreundliche Alternative. Ebenso wäre es durchaus möglich, den nach Darmstadt hineinführenden Anliefererverkehr mit LKWs und Transportern zu bündeln. Weshalb gibt es überhaupt derart viel unnötigen Verkehr? Wo kommt der regelmäßige Stau auf dem Rhönring denn her?
Das liegt zum einen daran, daß das auf kapitalistische Bedürfnisse abgestimmte Transportsystem staatlich subventioniert wird. Hier gilt nicht das Verursacherprinzip, sondern den Marktteilnehmern wird eine Infrastruktur quasi geschenkt. Die Folgekosten hingegen werden der Allgemeinheit aufgebürdet. Angesichts dieser subventionierten Mobilität ist es nicht nur effizient, den Herstellungsprozeß eines Joghurtbechers über das gesamte Europa zu verteilen, ehe der Becher im Kühlregal im Supermarkt auf der grünen Wiese steht [3]. Der marxistische Ökonom Winfried Wolf hat in seinem 2007 bei Promedia erschienen Buch "Verkehr. Umwelt. Klima" den Wahnsinn und die Profiteure dieses öffentlich subventierten und absolut unökologischen Verkehrs benannt. Kein Wunder, daß die hiesige FDP die Nordostumgehung geradezu anbetet.
So stecken in einer Flasche „Cabernet Sauvignon“, die vom Abfüller in Chile zum Großhändler nach Deutschland geschickt werden, gerade einmal 5 Cent Transportkosten [4]. Diesen jeder ökologischen, sozialen, aber auch ökonomischen Vernunft widersprechenden Unsinn fördert die Stadt Darmstadt mit der Subventionierung – und nichts anderes bedeutet ja der Bau der Nordostumgehung – eines rein an Profitinteressen orientierten Durchgangsverkehrs. Ohnehin müssen wir uns fragen, weshalb die Stadt Darmstadt mit dem Bau der Umgehungsstraße den Massenverkehr zur Konkurrenz auf der grünen Wiese am Standort Weiterstadt fördert. Nicht, daß ich jetzt zum Standortfanatiker werden würde. Mir ist es herzlich egal, ob in Weiterstadt oder in Darmstadt eingekauft werden kann. Hier werden nur Kommunen, Lieferanten, Beschäftigte und Konsumentinnen gegeneinander ausgespielt, damit einige wenige den Rahm abschöpfen können.
Betrachten wir die Planungen etwas genauer, und darauf hat schon der ehemalige Bürgermeister Michael Siebert hingewiesen, dann soll die Landgraf-Georg-Straße zu einer innerstädtischen Zubringerstraße vierspurig ausgebaut werden. Offensichtlich geht es hierbei darum, weiteren Verkehr zu generieren, der in Darmstadts Innenstadt fließen soll, damit der lokale Einzelhandel auch etwas vom subventionierten Straßenbau abbekommt.
Wir können uns die Logik der Verantwortlichen auch so veranschaulichen. Das Geschäft auf der grünen Wiese in Weiterstadt boomt – egal ob die Nordostumgehung gebaut wird oder nicht. Um Darmstadt attraktiver zu gestalten, muß Verkehr vermieden werden, der anderen Verkehr daran hindert, Darmstadts Einkaufsmeilen zu erreichen. Die für Darmstadt überflüssigen Transit-LKWs werden umgeleitet, damit einkaufsfreudige Hinterwäldler aus dem Odenwald Darmstadts Innenstadt besser und schneller erreichen können. Die dahinter steckende Logik ist frappierend. Und dann ist auch vollkommen klar, weshalb verkehrliche Alternativen weder angedacht noch gar umgesetzt werden. Wer zum Einkaufen nach Darmstadt gelotst werden soll, soll viel Geld mitbringen. Wer die entsprechend anvisierte Kaufkraft besitzt, fährt nicht mit dem Zug oder Bus, sondern mit einem schick gestylten und mit Abwrackprämie geadelten Neuwagen.
Die Störenfriede, also diejenigen, die nicht als Zielgruppe ausgemacht worden sind, werden hingegen auf irgendwelche Planungen verwiesen, die irgendwann einmal in den nächsten 500 Jahren verwirklicht werden. In der Tat benötigen wir keine Straßenbahn nach Weiterstadt zum Einkaufen bei Segmüller, weil: wer will schon große Möbelstücke mit der Straßenbahn transportieren? Aber ein ausgebautes Autobahnkreuz mit einem mehrspurigen Ringstraßensystem zu allen Großmärkten. Dies ist einer der Gründe dafür, weshalb eine durchaus sinnvolle Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs nie das Stadium der Diskussion überschreiten wird.
Ich sprach vorhin davon, daß die Argumente der Bürgerinitive gegen die Nordostumgehung klar und nachvollziehbar seien, ich der Argumentation aber nicht immer etwas abgewinnen könne. So schreibt die Initiative in ihrem Flyer zum LKW-Verkehr, man und frau könne den Durchgangsverkehr dadurch stoppen, daß die Stadt mittels installierter Kameras das entsprechende Verbot wirkungsvoll überwache. Wohl wahr. Das geht.
Allerdings zeigt die Initiative hier, wie sehr sie der gesellschaftlichen Logik der Totalüberwachung jeglicher menschlichen Lebensäußerung verhaftet ist. Die Kamera- oder Videoüberwachung gilt als Allheilmittel gegen jegliche gesellschaftliche Mißstände und soll die Bewegungsfreiheit der Bürgerinnen und Bürger einschränken. Mittels vordergründig einleuchtender Beispiele sollen wir auf den Leim der Totalüberwachung geführt werden, auch wenn hier ausnahmsweise nicht Pädophile, Drogendealer oder Kinderpornos vorgeschoben werden können.
Das Problem des Kapitalismus-generierten Verkehrs lösen wir nicht mit Verboten und Überwachung, sondern dadurch, uns der Logik einer Autogesellschaft zu entziehen. Wer immer neue Gewerbeflächen erschließt, erschließt sich hiermit automatisch neuen Verkehr. Andernorts liegen Flächen brach. Ohnehin ist nicht einsichtig, warum jede größere Stadt dieselben Dienstleistungen anbieten soll, nur damit im verallgemeinerten Konkurrenzkampf einige auf der Strecke bleiben und wir diesen Quatsch auch noch finanzieren sollen. [5]
Das Darmstadtium mit seinem geplanten Millionendefizit ist derzeit in Darmstadt das einleuchtendste Beispiel für diese Mißwirtschaft. Bezeichnend ist, daß dieser strukturelle Mangel weder bei der Beschlußfassung noch bei der medialen Präsentation vor Baubeginn thematisiert wurde. Denn das ist Demokratie: viele verstellen sich, wenige entscheiden, und wir werden erst gar nicht gefragt.
Statt dessen werden wir von Werbeprofis berieselt. Auf der von der Stadt Darmstadt in Auftrag gegebenen Webseite darmstadt-gewinnt.de werden uns die Vorzüge des neuen Straßenmolochs in schönen, bunten Farben präsentiert. Der Domaininhaber ist die Darmstädter Werbeagentur Profilwerkstatt, dementsprechend werden wir eher mit Werbung als mit sachlich fundierten Informationen gefüttert. So wird uns beispielsweise nach Abschluß der Bauarbeiten versprochen, die Sportanlagen im Bürgerpark zu erneuern und am Ostbahnhof eine Verkehrsdrehscheibe des öffentlichen Nahverkehrs zu erstellen. Luftschlösser. Die Realisierung ist an Finanzmittel geknüpft, und angesichts der jetzigen Wirtschaftskrise sind Prognosen reinste Spekulation.
Hübsch ist die Fragen-und-Antworten-Seite. Werbeprofis stellen die richtigen Fragen, um sie leicht und locker beantworten zu können. Eine genauere Analyse des Wortschwalls zeigt jedoch, daß hier ein Projekt knallhart als alternativlos dargestellt wird, das nur unter den Bedingungen eines deregulierten Marktes keinerlei Alternativen besitzt. Dieser Sachverhalt ist auch als das TINA-Syndrom bekannt, ausgegeben von Maggie Thatcher: „There is no alternative.“ Und wenn wir dieses Mantra hunderttausend Mal gehört und gesehen haben – die Webseite droht uns an, daß dieses Mantra zukünftig auch auf Plakaten und Werbeflyern zu sehen sein wird –, dann glauben wir das auch. Jegliche rationale Argumentation wird damit im wahrsten Sinne des Wortes zugekleistert.
Schon die Frage „Gibt es Alternativen zur Nordostumgehung“ wird eindeutig verneint, obwohl es durchaus praktikable Alternativen gibt. Man und frau muß sie eben auch wollen. Statt dessen lesen wir als Antwort das Mantra eines verbohrten Autofahrerdenkens. Anstatt die Frage der Alternativen global zu denken und zu thematisieren, wird sie nur als eine Frage einer alternativen Trassenführung betrachtet. Logisch, daß die sich darin zeigende Autofahrerdenke nur eine Schnellstraße in Stadtnähe zuläßt, denn wer fährt schon gerne Umwege? Ansonsten werden wir mit Marktblabla zugeschmiert, ehe im letzten Satz die Katze aus dem Sack gelassen wird. Höhere Benzinpreise oder Fahrverbote seien deshalb nicht geeignet, weil sie „erhebliche Nachteile für die regionale Wirtschaft mit sich bringen“ würden. Und aufs Geschäftemachen kommt es hierbei eben ganz alternativlos an – und nicht darauf, Verkehr zu vermeiden. [6]
Die Stadt Darmstadt wirbt für die Nordostumgehung mit einem Informationsblatt namens „Transparent“. Auch dieses Informationsblatt entstammt der hierfür beauftragten Profilwerkstatt. Auf der Titelseite werden uns im Bild vertrauenserheischend Marina und ihre vierjährige Tochter Julia vorgestellt. Der erste Absatz der Titelgeschichte lautet:
„Fest hält Marina ihre vierjährige Tochter Julia an der Hand, als sie ihre Wohnung im Rhönring verlassen. Auto an Auto reiht sich aneinander, ein Lkw rollt donnernd über die Straße. Julia hält sich die Ohren zu – Wohnen im Rhönring ist wahrlich Stress.“
Der letzte Halbsatz ist das einzige, was an diesem rührseligen Absatz stimmt. Der Rest ist Lüge, zu neudeutsch: Fiktion. So arbeiten Werbeprofis. Auf die Wahrheit kommt es nicht an. Julia und Marina leben nämlich in St. Petersburg, wie das Darmstädter Echo berichtet. Oder heißen die beiden gar nicht so? Vermutlich, denn einen erläuternden Begleittext zu den Fotografien von Pavel Losevsky gibt es nicht. Da liegt der Gedanke nicht allzu fern, daß es sich schon beim russischen Original um eine Fotomontage handelt. Das ist nicht verwerflich, beleuchtet jedoch, wie beliebig irgendwelche Werbebildchen erstellt und verwendet werden. Hauptsache billig.
Eine Stadt, die ihre „transparente“ Informationspolitik mit einer Lüge einleitet, hat offenkundig nicht den Anspruch, ihre Bürgerinnen und Bürger wahrheitsgemäß und sachbezogen über die geplante Stadtverschönerung mittels einer Lärmtrasse zu informieren. Ist es das, worin Darmstadt „gewinnen“ möchte – beim Schummeln? Und weshalb, so frage ich mich ganz nebenbei, erinnert mich das an Radio Darmstadt? Vielleicht, weil auch dort zuweilen die Fiktion eine nicht vorhandene Realität bemäntelt?
Die von der Stadt mit der Visualisierung der Streckenführung beauftragte Werbeagentur scheint jedoch nicht so ganz im Bilde zu sein. Ihre 3D-Animation der Nordostumgehung enthüllt, daß der Namenspatron der Oetinger Villa womöglich der Baden-Württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger ist. So kommt zur Lüge auch noch Schlamperei hinzu. Ob dies ein subversiv versteckter Hinweis darauf ist, daß auch beim Bau der Nordostumgehung geschlampert werden soll?
Allerdings sind mittels Steuermitteln finanzierte Lügen wahrlich keine Ausnahme. Das Verwaltungsgericht Darmstadt scheint das auch so zu sehen und lehnte am 14. Mai 2009 eine einstweilige Anordnung gegen diese Werbekampagne ab.
Eiskalt erwischt konterte Baudezernent Dieter Wenzel, es handele sich um ein PR-Produkt. Die fiktionalen Marina und Julia stünden für alle die Darmstädterinnen und Darmstädter, die in der Berichterstattung bislang nicht vorgekommen sind. Wir lernen daraus: zwei Fotomodelle aus St. Petersburg stehen für die Bewohnerinnen und Bewohner des Rhönrings. Unglaublich. Solch ein Schrott wird allen Ernstes auch noch verteidigt, ein Schrott, mit dem die realen Menschen in Darmstadt umgarnt werden sollen. Kaum verwunderlich tauchen weder Julia noch Marina auf der gewinnenden Werbe-Webseite der Stadt Darmstadt auf, etwa unter „Downloads“, sozusagen das ausdruckbare Lügenposter. Ist diese Lüge dann doch zu peinlich? Die die automobilen Wirtschaftsinteressen vertretende Handwerkskammer und die IHK rufen in einer eigenen Initiative zu mehr „Sachlichkeit“ auf. Hat diese Initiative die Stadt folgerichtig etwa dazu aufgefordert, ihre Lügengeschichte nicht zu verteilen, sondern einzustampfen? Hiervon ist nichts bekannt.
Ohnehin scheint das Fotoportal Fotolia in Darmstadt beliebt zu sein. So ziert ein weiteres Foto von Pavel Losevsky eine Werbebroschüre der Darmstädter SPD-Fraktion im Stadtparlament zur „Zukunftsperspektive Wissenschaft und Wirtschaft“. Das ist bestimmt nur Zufall. Betrachten wir uns jedoch die beiden Politiker, die im „Transparent“ zu Wort kommen, etwas genauer, dann müssen wir feststellen, daß Stadtrat Dieter Wenzel und Oberbürgermeister Walter Hoffmann ebenfalls dieser Partei angehören. Ich bin ein Schelm und denke mir etwas dabei.
»» Zum Online-Artikel von Daniel Baczyk : St. Petersburg lächelt für die Nordostumgehung, in: Darmstädter Echo (Onlineausgabe) am 15. Mai 2009.
»» Das bei Pavel Losevsky günstig eingekaufte und verwendete Foto trägt den Titel „Mother with child against St.Petersburg“ und ist auf dem Webportal Fotolia zu sehen.
Die Bürgerinitiative gegen die Nordostumgehung BI ONO hat aufgrund des offenkundig werblichen und nicht sonderlich informativen Charakters der Webseite das Verwaltungsgericht Darmstadt angerufen [7]. Mich würde schon interessieren, mit wie vielen Steuermitteln hier ein Projekt gepuscht wird [7a], das die entscheidende Frage nicht beantwortet: Wozu benötigen wir immer mehr Straßen mit immer mehr Verkehr, anstatt ökologische Konzepte zu entwickeln, die mit weniger Verkehr mehr Lebensqualität ergeben?
Deshalb kann die Antwort auf die Frage am 7. Juni – „Sind Sie dafür, daß der Beschluß der Stadtverordnetenversammlung aufgehoben, also die Trasse nicht gebaut wird?“ – nur „Ja“ lauten.
Besprechung von : Nechama Tec – Bewaffneter Widerstand, Neuauflage: Haland & Wirth 2004, 324 Seiten, € 22,00
Lange Jahrzehnte so gut wie gar nicht bekannt war der bewaffnete Widerstand jüdischer Partisaninnen und Partisanen. In Deutschland änderte sich dies erst Ende der 80er Jahre [8]. Zuvor war das Klischee vorherrschend, die Jüdinnen und Juden hätten sich in ihr Schicksal ergeben und abschlachten lassen. Inzwischen gibt es doch eine Fülle an Literatur, welche dieses Bild eindrucksvoll widerlegt. Wenn auch angesichts mehrerer Millionen Ermordeter die Zahl derjenigen, die sich den Nazis widersetzt, vor ihnen geflüchtet oder versteckt hatten, vergleichsweise gering ist, so ist der damit verbundene Mut sicherlich besonders zu würdigen. [9]
Bis vor wenigen Tagen war im Darmstädter Cinemaxx der Film Defiance – Unbeugsam von Edward Zwick zu sehen. Bemerkenswert fand ich hierbei, daß zumindest die Vorführung, die ich gesehen habe, von gerade einmal fünfzehn Personen besucht wurde. Obwohl es sich um einen kleinen Kinosaal handelte, war die gähnende Leere nicht zu übersehen. Offensichtlich scheint auch das Deutschland des 21. Jahrhunderts immer noch ein Problem damit zu haben, daß die üblicherweise als wehrlose Opfer dargestellten Jüdinnen und Juden auf einmal als selbstbewußt handelnde Akteure erscheinen.
Nicht, daß ich den Film besonders gelungen fand. Ein nach kommerziellen Gesichtspunkten gedrehter Film muß, um das Geld auch wieder hereinzuspielen, Abstriche an den Realitätsgehalt machen und gleichzeitig einer bestimmten formalen Ästhetik genügen. Ein Film, welcher der Vorlage des Buchs von Nechama Tec hätte gerecht werden wollen, hätte differenzierter und nuancierter auf die Lebensrealität im Weißrußland der Jahre 1941 bis 1944 eingehen müssen. Ein Film ist eben ein Film, und insofern er kein Dokumentarfilm ist, erhalten wir bestenfalls eine Ahnung vom gnadenlosen Kampf ums Überleben gegen Naziterror, Wehrmachtsverbrechen und polnische, russische und weißrussische Kollaborateure.
Andererseits ist dem Film zuzugestehen, eine Facette jüdischen Lebens und Widerstandes massenwirksam hervorgehoben zu haben, die so gar nicht ins abgeklärte Weltbild der Spaßgesellschaft paßt. Dies ist seine Stärke.
Der Film hatte mich neugierig gemacht auf das zugrunde liegende Buch von Nechama Tec. Nechama Tec ist eine jüdische Überlebende, die während der Naziokkupation Polens bei einer christlichen polnischen Familie Unterschlupf hatte finden können. 1952 emigrierte sie in die USA und wurde später Soziologie-Professorin an einer renommierten Universität. 1986 traten ehemalige Partisanen und Untergrundkämpferinnen an sie heran, die Geschichte der Bielski-Partisanen zu schreiben. Unter der Führung von Tuvia Bielski gelang es dieser Partisaneneinheit, rund 1.200 Jüdinnen und Juden vor der Vernichtung durch die Nazis zu retten.
Ihr Buch „Defiance“ erschien 1993 in den USA und drei Jahre später als deutsche Übersetzung unter dem Titel „Bewaffneter Widerstand“ im Bleicher Verlag. Nachdem der Psychosozial-Verlag 2003 das dem Judentum verpflichtete Programm des Bleicher Verlages übernommen hatte, gab er in seiner Reihe Haland & Wirth ein Jahr später eine Neuauflage des Buchs von Nechama Tec heraus. Wie ich finde, eine gute Wahl.
„Bewaffneter Widerstand“ ist weder ein Roman noch eine historische Abhandlung. Das Buch entzieht sich einer eindeutigen Zuschreibung und es ist zugleich präzise und differenziert. Nechama Tec hat kein Heldenepos geschrieben; dazu sind ihre Ausführungen zu den Stärken und Schwächen Tuvia Bielskis und seiner Partisaneneinheit zu nuanciert. Ihre Quelle sind die Berichte und biografischen Informationen der Mitglieder der Bielski-Partisanen, angereichert durch Hintergrundmaterial aus Archiven und Veröffentlichungen. Wesentliche Grundlage ihres Buchs sind jedoch die Interviews, die sie mit den damals noch lebenden Mitgliedern der Partisanengruppe geführt hat.
Es sind die Ausschnitte dieser Gespräche, die manch eher nüchternen Ausführungen ein ganz eigenes Flair geben. So entsteht ein Bild von Tuvia Bielski und seinen Mitstreiterinnen und Mitstreitern, das einen Menschen vorstellt, der im richtigen Moment die richtige Entscheidung trifft, der wie wohl kaum ein zweiter in der Lage war, eine bestimmte humanistische Grundidee vorzugeben, und der mit Kriegsende in ein tiefes Loch fiel, weil seine überlebenswichtigen Fähigkeiten in Friedenszeiten nicht mehr gefragt waren. Die Tragik des Tuvia Bielski mag darin liegen, weder in Israel noch in den USA Anerkennung für sein Handeln gefunden zu haben. Er starb 1987, kurz nachdem Nachama Tec ein erstes Interview mit ihm hatte führen können.
Nechama Tec macht in ihrem Buch deutlich, daß kaum eine oder einer derjenigen, die als Partisanen in die undurchdringlichen Wälder Polens und Weißrußlands flüchteten, einen genauen Plan zur Bekämpfung der deutschen Besatzungstruppen besaß. Es ging zunächst und vor allem um das eigene Überleben. Die Größe Tuvia Bielskis liegt darin, erkannt zu haben, daß kleinere Gruppen leichter entdeckt und getötet werden konnten, eine große Gruppe hingegen mehr Menschen eine Überlebenschance bot. Daher nahm er alle flüchtigen Jüdinnen und Juden auf, egal ob Mann oder Frau, Kind oder Greis, bewaffnet oder nicht. Andere nichtjüdische Partisanengruppen nahmen in der Regel nur bewaffnete Männer auf, um beweglich sein zu können. Tuvia Bielskis Handeln war nicht unumstritten, nicht einmal in der eigenen Partisanengruppe. Das Gerede vom unnötigen Ballast, der nicht kampffähig ankam und mitgeschleppt werden mußte, durchzieht das gesamte Buch.
Wir müssen uns ohnehin von der Illusion verabschieden, daß im bewaffneten Kampf unter Partisanen die besseren Menschen zu finden sind. Auch hier finden sich Hierarchien, auch hier gibt es Menschen, die auf Kosten Anderer leben und überleben wollen. Wenn wir den Ausführungen Nechama Tecs folgen, dann scheint es eine Art Zweiklassengesellschaft gegeben zu haben, nämlich diejenigen mit Waffe und die anderen. Wer eine Waffe besaß, besaß auch besondere Privilegien. Ein eher beklemmendes Kapitel ist die Situation der Frauen im Partisanenlager. In gewisser Weise galten sie als Freiwild und sie mußten, um Zugang zu besseren Lebensbedingungen im Lager zu finden, sich einen „Beschützer“ suchen. Diese erzwungene Freiwilligkeit soll jedoch dazu beigetragen haben, daß es keine Vergewaltigung gegeben hat.
Dies ist, auch das sollte deutlich herausgestellt werden, keine Selbstverständlichkeit. Nachdem Wehrmacht und SS im Sommer 1941 die Sowjetunion überfallen hatten, bildeten sich im besetzten Hinterland nicht nur jüdische Partisanengruppen. In der Regel handelte es sich um undisziplinierte bewaffnete Banden mit einem eindeutig männlichen Ehrenkodex. Man nahm sich, was man haben wollte, und nahm dabei weder Rücksicht auf die Zivilbevölkerung noch auf andere Partisanengruppen.
Gerade jüdische Flüchtlinge, die auf der Flucht vor deutschen Nachstellungen waren, wurden Opfer dieser Partisanengruppen. Wenn sie Glück hatten, wurden sie nur ihrer wenigen Habe beraubt. Meist besaßen sie dieses Glück nicht. Schon deshalb war eine große jüdische Partisanengruppe eine Art Lebensversicherung. Erst im Verlauf des Krieges gelang es dem sowjetischen Oberkommando, diese Banden zu disziplinieren und einem russischen Militärbefehl zu unterstellen. Doch die Animositäten zwischen den verschiedenen Partisanengruppen gingen weiter und entluden sich 1943/44 in Kämpfen zwischen sowjetischen und polnischen Einheiten.
Zu den dunklen Kapiteln um Tuvia Bielski gehört sicherlich, daß er als Kommandant für Disziplin sorgen mußte und dabei auch vor der Erschießung von Dissidenten in den eigenen Reihen nicht Halt machte. Allerdings ist dies im Kontext des Krieges und des Kampfes ums Überleben zu sehen. In anderen Partisanengruppen war das Erschießen tatsächlicher oder eingebildeter Feinde, Versager oder mitunter auch nur zufällig in die Schußlinie Geratener an der Tagesordnung. Dem gegenüber waren die Bielski-Partisanen eine geradezu zivile Gruppe, was sicherlich damit zusammenhängt, daß es Tuvia Bielski vornehmlich darum ging, jüdisches Leben zu retten und zu bewahren. Der bewaffnete Kampf gegen die Nazis kam erst an zweiter Stelle.
Nach der Lektüre des Buchs fällt es natürlich leichter, die Szenen des Films von Edward Zwick genauer einzuordnen. Der Regisseur hat sich einige künstlerische Freiheiten herausgenommen, ohne die im Buch geschilderten Ereignisse unzulässig zu verfälschen. Natürlich ist nicht alles so vorgefallen, wie es uns der Film zeigt. Die Panzerszene gegen Ende des Films ist eine actiongeladene Erfindung. Aber sie zeigt uns, daß Widerstand auch gegen Besatzer möglich ist, die mit besseren Waffen und ausgefeilter Logistik als unbezwingbar gelten. Insofern kann ich die Autorin des Buches verstehen, daß sie der filmischen Bearbeitung ihres Werkes positiv gegenübersteht, denn es ist zweifelsohne schwierig zu verfilmen.
Ich finde, dieses 324 Seiten starke Buch gehört auf jeden Fall zur Lektüre einer allseits gebildeten sozialistischen Persönlichkeit, wobei ich mit diesem Begriff nicht den eingegrenzten Horizont der Bildungspolitik der DDR meine. „Bewaffneter Widerstand“ von Nechama Tec ist über den Psychosozial-Verlag in der Reihe Haland & Wirth zum Preis von 22 Euro zu beziehen.
Besprechung von : Alexander Emmerich – Geschichte der USA, Konrad Theiss Verlag 2008, 176 Seiten, € 19,90
Die Wahl des nicht zum weißen Establishment zählenden Barack Obama zum Präsidenten der Vereinigten Staaten hat nicht nur viele Hoffnungen geweckt, sondern unvermeidlicherweise auch den Büchermarkt bereichert. Nun gibt es sicherlich Bücher, die einfach schnell eine Marktlücke abdecken, doch die von Alexander Emmerich in der Reihe Theiss Wissen kompakt herausgebrachte „Geschichte der USA“ gehört nicht dazu. Dieses Buch kann auch ohne den Hype um Barack Obama gelesen und sinnvoll genutzt werden.
Es handelt sich hierbei nicht um ein historisches, politologisches oder gar ökonomisches Grundlagenwerk. Vielmehr versucht es, kompakt auf das Wesentliche reduziert, uns ein Land näher zu bringen, das doch einige merkwürdige Seltsamkeiten pflegt. Seltsamkeiten, auf die wir in Hollywood-Filmen genauso stoßen wie in den Dokumentationen von Michael Moore. Das Land der „unbegrenzten Möglichkeiten“ ist aufgrund seines riesigen Binnenmarktes und seiner globalen wirtschaftlichen Vorreiterrolle auch dann noch das Maß aller Dinge, wenn die kommende Weltwirtschaftskrise zuschlägt. Der Historiker Alexander Emmerich zeigt uns, weshalb das so ist.
Allerdings besitzt das Buch erstaunliche Schwachpunkte, die jedoch erst dann auffallen, wenn wir genauer nach den Hintergründen der US-Innen- und Außenpolitik fragen. Leider gibt sich der Autor hier recht konventionell. Die Politik wird laut Buch vom Präsidenten und vom Kongreß bestimmt, als gäbe es keine Lobbyisten und Wirtschaftsverbände, welche die Richtlinien der Politik vorgeben und die dafür sorgen, daß die richtigen Leute an die richtigen Positionen gewählt werden. Das war schon im 19. Jahrhundert so und ist heute einfach evident; umso erstaunter lesen wir hierüber so gut wie nichts. Dabei zeigt die ausgewählte weiterführende Literatur, daß der Autor im Gegensatz zu ähnlichen Werken beispielsweise das bemerkenswerte Standardwerk von Howard Zinn, die „People's History of the United States“, zur Kenntnis genommen hat. Howard Zinns Buch über die USA sollte zum Verständnis der Sozialgeschichte der USA auch hierzulande stärker rezipiert werden.
Andererseits ist festzuhalten, daß der Autor mit traditionellen Geschichtsschreibungen bricht, wenn er seinen Akzent verstärkt auf die kritischen Aspekte der historischen Entwicklung der USA zur einzigen Weltmacht legt. Den Völkermord an den Ureinwohnern benennt er beispielsweise auch als solchen, und er bemerkt in einem Nebensatz, daß der keynesianische New Deal der 1930er Jahre von Franklin Delano Roosevelt letztlich nur deshalb erfolgreich war, nachdem die USA ihre Rüstungsproduktion am Vorabend des eigenen Kriegseintritts erheblich ausgweitet hatten. Eine keynesianische Wirtschaftspolitik funktioniert eben nur unter den Bedingungen der permanenten Rüstungswirtschaft erfolgreich. Die Eskalation des Vietnam-Krieges Mitte der 1960er Jahre muß in diesem Zusammenhang gesehen werden; leider verliert Alexander Emmerich hierüber kein Wort.
Dem Buch fehlt – so gesehen – ein eigener politischer Standpunkt. Es richtet sich an die aufgeklärte Leserin und den neugierigen Leser und ermöglicht es diesen, die Mythen um den amerikanischen Traum zu dechiffrieren. Das ist nützlich und erhellend. Wenn wir zudem bedenken, daß hier ein kompaktes Wissen angeboten wird, sozusagen als erster Einstieg für eine weiterführende Lektüre, dann vermittelt uns der Autor verständlich und kompetent das notwendige Basiswissen. Positiv schlägt wortwörtlich zu Buche, daß der Autor keine antiamerikanische Stereotypen bemüht, sondern uns das Fremde als eine Bereicherung nahebringt.
Anmerken möchte ich, daß mir beim Durchlesen des Buches kein inhaltlicher oder Satzfehler aufgefallen ist, was mich doch ein wenig verblüfft hat, denn dies ist heutzutage im Verlagswesen keine Selbstverständlichkeit. Offensichtlich hat hier eine oder jemand äußerst sorgfältig Korrektur gelesen. So etwas weiß ich zu schätzen. Vielleicht ist der Preis von knapp 20 Euro für die 176 Seiten ein wenig zu hoch bemessen, aber er fällt nicht aus dem Rahmen. „Die Geschichte der USA“ von Alexander Emmerich ist im Herbst vergangenen Jahres im Theiss Verlag erschienen.
Besprechung von : Andreas Neumeier – Schottland, Michael Müller Verlag, 5. Auflage 2008, 768 Seiten, € 22,90
Ein Pfundsbrocken im wahrsten Sinne des Wortes ist der Schottland-Reiseführer von Andreas Neumeier aus dem Michael Müller Verlag. Manchmal frage ich mich, wie man oder frau mit solch einem Brocken durch die Gegend reisen soll, andererseits ist festzustellen, daß die 768 Seiten stabil gebunden sind und einem am Ende des Urlaubs nicht einzeln entgegenfallen. 30 Jahre Verlagserfahrung zahlen sich hier auf jeden Fall aus.
Ohnehin tue ich mich schwer mit dem Reisen außerhalb des europäischen Festlandes. Irgendwie widerstrebt es mir, einerseits den voll und ganz unökologischen Flugverkehr in alle Teile der Welt zu unterstützen, andererseits dann selbst die Maschine zu besteigen. Leider ist die Fahrt mit der Bahn, dem eigenen Auto oder einer Fähre wesentlich teurer als der Flug mit einer Billig-Airline. Auch so eine Absurdität des kapitalistischen Verkehrswahnsinns.
Schottland ist nicht dasselbe wie England, und die Schottinnen und Schotten pflegen hier durchaus einen Unterschied zu machen. Schottisches Geld ist nicht dasselbe wie englisches Geld, und so beginnen die Merkwürdigkeiten schon im Alltäglichen. Wo gibt es sonst einen Staat, der in zwei aneinander grenzenden Regionen zwei verschiedene Geldscheine für denselben Nennbetrag druckt? Nun gibt es eine stark separatistische Strömung in Schottland, und sogar im südlich gelegenen England sollen, so der Reiseführer [10], 60% nichts gegen eine Abspaltung des rebellischen Nachbarn haben. 2010 ist zu dieser Frage eine Volksabstimmung geplant, und wir dürfen gespannt sein, wie die regionale Aufspaltung europäischer Staaten nach dem Zerfall der Sowjetunion, der Tschechoslowakei und Jugoslawiens weitergeht.
Es muß ein besonders drastischer Akt schottischen Selbstbewußtseins sein, direkt neben dem Sommerpalast der englischen Königin aus dem 16. Jahrhundert ein absolut modernes Parlamentsgebäude in Edinburgh zu errichten. Stilsicherheit bei der Verbindung von Alt und Neu scheint ohnehin ein Fremdwort zu sein, wie auch Beispiele aus anderen Städten zeigen. Derartige Bausünden wären in Deutschland undenkbar, dafür gibt es hierzulande andere, beispielsweise eine Nordostumgehung.
Schottland besteht aus verschiedenen Regionen und Eigenheiten. Es gibt die pulsierenden Städte wie Glasgow und Edinburgh, aber auch die ruhigen Highlands oder die windumtoste Inselwelt der Hebriden, Shetland- und Orkney-Inseln. Während die Westküste eher mild und regnerisch ist, präsentiert sich die Ostküste als eher trocken, dafür aber auch kälter, was insbesondere an den nicht wenigen windigen Tagen recht unangenehm werden kann. Temperaturen um die 15 Grad werden hier schon als warm empfunden, weshalb gestandene Männer ihre kurzen Hosen auspacken, um ein bißchen Sonnenbrand zu tanken. Kilt und Dudelsack sind die speziellen Accessoires einer Gesellschaft, die früher einmal durch sein Clan-System geprägt gewesen ist. Wobei das, was wir heute folkloristisch als Schottenrock präsentiert erhalten, aus der schottischen Militärbekleidung des beginnenden 19. Jahrhunderts entstanden ist.
Der Schottland-Reiseführer von Andreas Neumeier faßt all dies zusammen und besticht hierbei durch seine Detailliebe, die den Vorteil besitzt, auch zu jedem wirklich noch so kleinen Winkel eine Information zu erhalten. So gelingt es dem Autor, auch der unerquicklichsten Einöde noch einige reizvolle Momente abzugewinnen. Dafür sagt er auch klar, was sich anzuschauen lohnt und wann dies einfach nur verschwendete Zeit ist. Erkauft wird dies durch eine zuweilen irritierende Unübersichtlichkeit, zumal das Kartenmaterial mit der Detailgenauigkeit des Textes nicht korrespondiert. Soll heißen: das, was der Text beschreibt, läßt sich auf den Übersichtskarten nicht immer finden. Manchmal befindet es sich auch am falschen Ort. Ich hoffe nicht, daß meine Stichprobe, die Gegend um die Erdölstadt Aberdeen, repräsentativ für den gesamten Band ist.
So beschreibt der Autor eine tiefe Schlucht direkt am Meer, die Bullers of Buchan, als fünf Kilometer südlich einer Kleinstadt namens Cruden Bay gelegen. Tatsächlich liegt diese Felsformation nördlich des Ortes und lohnt insbesondere bei schönem Wetter den Ausflug. Eine Freundin hat mir von dort atemberaubend schöne Bilder brütender Vögel zukommen lassen. Ohnehin ist die Vogelbeobachtung neben Golf und Angeln der Briten liebster aktiver Freizeitspaß. Hier bietet sich ein Spaziergang zum südlich von Stonehaven gelegenen Dunnottar Castle an, das 1990 als Kulisse für eine Hamlet-Verfilmung gedient hat. Der Autor erwähnt ausdrücklich die auf dem rückwärtigen Felsen zu sehenden Nistplätze von Möwen und Puffins. Unverständlich ist mir, weshalb das südlich angrenzte Vogelreservat Fowlsheugh mit seinen viel ausdrucksvolleren Beobachtungsmöglichkeiten unerwähnt bleibt.
Während Andreas Neumeier lobenswerterweise für Edinburgh, sozusagen das Heidelberg Schottlands [11], einen Fahrradverleih angibt, um Stadt und Umgebung mit dem Drahtesel zu erkunden, fehlt ein solcher Service für Aberdeen. Ob dies daran liegt, daß es solcherlei in der Granitstadt an der Ostküste nicht gibt? Vielleicht liegt es auch nur daran, daß es dort zu gefährlich ist, wie ein Blick in ein lokales Online-Forum verrät.
Nützlich wäre der durchaus vorhandene Hinweis auf die innerstädtischen Buslinien, wenn nicht das lokale Verkehrsunternehmen aus Rationalisierungsgründen die Liniennummern und Fahrwege geändert hätte. Ohnehin handelt es sich bei diesem Unternehmen um den weltweit größten privaten Anbieter im öffentlichen Nahverkehr. Die Methoden dieses Unternehmens scheinen – sagen wir mal vorsichtig – sehr robust zu sein. Die Beschäftigten können vor einer Übernahme nur gewarnt werden [12]. Immerhin legt sich Edinburgh eine neue Straßenbahnlinie zu, nachdem ein bewährtes System in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts einfach plattgemacht wurde [13]. Dasselbe Schicksal ereilte die Doppelstock-Trams in Aberdeen 1958.
Angesichts der Fülle an Informationen, die der Reiseführer verströmt, und der Vergänglichkeit manch brauchbarer Hinweise ist es ein sinnvoller Service, wenn wir die einschlägigen Internetadressen im Buch schon vorfinden. So lassen sich Daten aktualisieren und nicht mehr vorhandene Buslinien leicht ausmachen.
Zu jedem Reiseführer aus dem Michael Müller Verlag gehört eine Einleitung, bestehend aus Basisinformationen über Land und Leute, Feiertage und Eßgewohnheiten, oder über das Geldwechseln. Leider verrät uns der Autor nicht, daß sich das Geldwechseln nicht ganz so einfach darstellt, wie es der Band beschreibt. Manche Banken wechseln nur, sofern man oder frau dort ein eigenes Konto besitzt. Auch wäre ein Verweis auf die Eigentümlichkeiten eines vollständig deregulierten öffentlichen Nah- und Fernverkehrs nicht unnütz. Wer durch England oder Schottland mit dem Bus oder der Bahn zu reisen gedenkt, sollte frühzeitig buchen. Nicht etwa der überfüllten Busse oder Bahnen wegen, sondern weil die Ersparnis erheblich ist. Deregulierter Verkehr bedeutet jedoch auch: Busse und Bahnen machen sich gegenseitig Konkurrenz. Busfahren ist meist preisgünstiger und dauert auf Überlandfahrten nicht einmal länger.
Damit komme ich zum historischen Teil des Reiseführers. Die Geschichte Schottlands beginnt früh, zumal die römischen Invasoren Schottland nie unterworfen haben. In der Regel wird behauptet, die keltischen Stämme hätten sich nicht unterwerfen lassen. Ich habe da eine andere Theorie. Wenn wir bedenken, daß eine ganze römische Legion die Grenze zwischen dem Atlantik bei Marokko und dem Roten Meer bei Ägypten zu bewachen hatte, gleichzeitig aber mehrere Legionen in Britannien stationiert waren, dann scheint es mir wahrscheinlicher zu sein, daß die Legionäre nach Schottland zum Töten Üben geschickt wurden. Leibhaftige Gegner ersetzen jeden Pappkameraden. So gestählt, ließen sich die Legionäre überall erfolgreich einsetzen. [14]
Wie auch immer – im 2. Jahrhundert unserer Zeitrechnung regierte zwischen 117 und 138 der römische Kaiser Hadrian, zu dessen Lebzeiten der bekannte Hadrianswall erbaut wurde. Sein Nachfolger hieß Antoninus Pius. Auch dieser ließ einen Wall, nur etwas weiter nördlich, errichten. Dieser Kaiser bekommt vom Autor des Buches ein zusätzliches „i“ spendiert und heißt deshalb Antoninius, während seinem Wall im Gegenzug ein „n“ geklaut wird, weshalb er Antoniuswall heißt. Insgesamt betrachtet erhalten wir dennoch einen brauchbaren ersten Einstieg in die wechselvolle schottische Geschichte, ganz ohne Highlander.
Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Meine Detailkritik verdrängt, daß der Schottland-Reiseführer insgesamt als ein solides Werk betrachtet werden kann. Der Teufel steckt jedoch im Detail, und so wäre dem Band vielleicht eine kritische Überprüfung zu wünschen. Vielleicht für die sechste Auflage. Der Schottland-Reiseführer von Andreas Neumeier aus dem Michael Müller Verlag umfaßt 768 Seiten, eine Fülle von Karten und Abbildungen, und kostet 22 Euro 90.
Jingle Alltag und Geschichte
In der vergangenen Stunde sprach ich über die Nordostumgehung, über bewaffnete jüdische Partisanen in Weißrußland, über die Geschichte der USA, und besprach zum Schluß einen Reiseführer zu Schottland.
In der kommenden Woche am Mittwoch, den 20. Mai, werden in der Bessunger Knabenschule Bommi Baumann und Christof Meueler ihr Buch „Rausch und Terror“ vorstellen. Bommi Baumann wurde Mitte der 70er Jahre durch sein Buch „Wie alles anfing“ bekannt; eine sehr persönliche und historisch nicht immer korrekte Darstellung seines Weges in die Berliner Stadtguerilla. Das Buch wurde umgehend beschlagnahmt und verboten, konnte jedoch nach öffentlichem Protest wieder erscheinen. „Rausch und Terror“ sei, so der Rotbuch Verlag, eine Darstellung der Geschichte von 1968 bis zum Afghanistankrieg als ein Kampf gegen die eigene Nüchternheit. Ich werde das Buch voraussichtlich in einer meiner kommenden Sendungen besprechen. Die Veranstaltung mit Bommi Baumann und Christof Meueler findet am 20. Mai um 20 Uhr in der Bessunger Knabenschule statt.
Ich danke der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt für ihre Unterstützung bei der Produktion dieser Sendung. Das Manuskript zu dieser Sendung findet ihr in den nächsten Tagen auf meiner Webseite: www.waltpolitik.de. Im Anschluß folgt eine Sendung der Kulturredaktion von Radio Darmstadt. Am Mikrofon war für die Redaktion Alltag und Geschichte Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
»» [1] Im US-amerikanischen: Salad Bowl.
»» [2] Siehe hierzu: Harald Pleines : Die Nordostumgehung ist durch, in: Darmstädter Echo am 1. Oktober 2008. Frank Schuster und Silke Rummel : Knappe Mehrheit für Jahrzehnte-Projekt, in: Frankfurter Rundschau am 1. Oktober 2008. Harald Pleines : Alles nur ein großes Mißverständnis?, in: Darmstädter Echo am 29. April 2009.
»» [3] Das Google-Wissen verbreitet, daß so ein Joghurtbecher 8.000 Kilometer Autobahnfahrt hinter sich habe, bevor er ins Kühlregal kommt. Gibt es hierzu eigentlich auch eine seriöse Quelle?
»» [4] Winfried Wolf : Verkehr. Umwelt. Klima, Seite 282.
»» [5] Damit meine ich die Prestigebauten wie Kongreßzentren, Wellnessbäder, Sport- und Eventarenen, nicht jedoch gesellschaftlich nützliche Dienstleistungen wie Schwimmbäder, Bibliotheken oder Kinderspielplätze, die zur Finanzierung der Prestigebauten systematisch zurückgefahren werden.
»» [6] Ich befürworte weder höhere Benzinpreise noch ähnliche kapitalistische Marktmechanismen, um hiermit Probleme jeglicher Art zu lösen. Finanziell bestraft werden hiermit letztlich Konsumentinnen und Konsumenten, die relativ wenig an der Misere ändern können. Die Logik, die dahintersteckt, ist das Verursacherprinzip. Wer Auto fährt, sei für den Verkehr verantwortlich. Dabei wird unterschlagen, daß die gesamte Verkehrsinfrastruktur auf die Bedürfnisse des Kapitals zugeschnitten ist. Die privaten Nutzerinnen und Nutzer derselben haben die Wahl, diese zu nutzen oder buchstäblich auf der Strecke zu bleiben. Daß höhere Energiepreise mit Rekordgewinnen der Energiekonzerne einher gehen können, sollte uns zu denken geben.
»» [7] Und ist damit erstinstanzlich gescheitert.
»» [7a] Laut einer Auskunft des Baudezernenten Dieter Wenzel an die Stadtverordnete Ellen Schüßler hat der gesamte Werbespaß 112.880,67 Euro gekostet. Davon erhielt die Werbeagentur „Profilwerkstatt“ 67.886,77 Euro für die Webseite, eine Werbebroschüre, Plakate usw.; weitere 44.993,90 Euro gingen an die Firma Maila Push GmbH zwecks Visualisierung der geplanten Nordostumgehung für die Werbewebseite der Stadt. Siehe hierzu auch den Artikel von Klaus Honold : Kampagne der Stadt kostet 112 880 Euro im Darmstädter Echo am 25. Mai 2009.
»» [8] Beispielhaft ist hier zu nennen: Ingrid Strobl : Sag nie, du gehst den letzten Weg [1989]. Chaika Grossmann : Die Untergrundarmee [1993].
»» [9] Was keinesfalls heißen soll, alle diejenigen, die nicht bewaffnet gekämpft haben, negativ zu bewerten.
»» [10] Andreas Neumeier : Schottland, Seite 46.
»» [11] Der Vergleich stammt nicht von mir, sondern von einer Freundin, die in Schottland studiert hat.
»» [12] Christian Wolmar : Mitchell in charge: the axeman cometh to Marsham Street, 16. März 2005.
»» [13] Bezeichnenderweise soll die neue Straßenbahnlinie Edinburghs Innenstadt mit dem Flughafen verbinden. Die Zufahrtsstraßen sind häufig verstopft und der Transport per Doppelstockbus stößt an seine organisatorischen Grenzen.
»» [14] Siehe hierzu meine Besprechung des Buchs „Grenzen des Imperiums“ von Margot Klee in der Sendung Mythen, Grenzen, Revolutionen am 25. September 2006.
Diese Seite wurde zuletzt am 31. Mai 2009 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. © Walter Kuhl 2001, 2009. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.
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