Staatstheater Darmstadt
Staatstheater Darmstadt

Kapital – Verbrechen

Wenn der Körper eine Stummheit ist

Weitere Stimmen zum Tanztheater

 

Am 30. März 2003 wurde im Darmstädter Staatstheater das Tanztheater Wenn der Körper eine Stummheit ist uraufgeführt. Fünf Jahre später sind die Texte der Vorberichte und Premierenbesprechungen weitgehend wieder aus dem weltweiten Informationsnetz verschwunden. Gefunden wurden im Oktober 2008 noch folgende Besprechungen:

Katharina Mann besprach das Tanztheater für den Radiowecker von Radio Darmstadt am 2. April 2003. Diese Besprechung wird auf dieser Seite dokumentiert. Sie wurde Anfang April 2003 von mehreren freien und nichtkommerziellen Lokalradios gesendet. Auf dem Audioportal des Bundesverbandes Freier Radios befindet sich die Audiofassung der Besprechung.

 


 

Katharina Mann, Radiowecker, 2. April 2003

Anmoderation

»Wenn der Körper eine Stummheit ist«, das ist der Titel der neuen Tanztheater-Produktion von Birgitta Trommler am Staatstheater in Darmstadt. Wie bereits in vergangenen Produktionen setzen sich Birgitta Trommler und ihr Ensemble hier wieder mit einer starken Frauenfigur auseinander: Mit der RAF-Gefangenen Eva Haule. Am vergangenen Sonntag war Premiere. Katharina Mann hat die Aufführung besucht.

Katharina Mann

Wenn eine als Kritikerin ins Theater geht, dann hat sie nicht nur den Anspruch, das gegebene Stück zu beurteilen – und auch beurteilen zu können. – Oft ist auch der Anspruch dabei, den Hörerinnen und Hörern das Stück erklären und näherbringen zu können …

Um es gleich vorneweg und ehrlich zu sagen:
Verstanden habe ich das Stück nicht.
Aber vielleicht kann mensch so ein Stück auch gar nicht verstehen. Vielleicht geht es viel weniger darum, das Stück zu verstehen, als darum, sich das Stück zunutze zu machen, um sich mit Aspekten auseinanderzusetzen, über die eine sonst nicht so nachdenkt.

Ich will versuchen, ein paar Eckpunkte zu benennen: Bedingungen der Entstehung und Produktion. Starke Bilder, die ich in dem Stück gefunden habe. Vielleicht reizt es welche, sich diesen Eindrücken selbst zu stellen.

Quasi »ausgegraben« hat den Stoff eine Kollegin von mir, Regina Heidecke, Redakteurin beim Hessischen Rundfunk. Die wurde über eine Foto-Ausstellung auf Eva Haule aufmerksam. Großes Erstaunen, dass eine Frau, die sich als Kämpferin in der RAF organisiert hatte – also sich entschieden hatte, Gewalt als ein Mittel der Politik anzuwenden – so schöne Fotos machen kann. Aus diesem widersprüchlichen Ansatz entwickelte sich ein Interesse für die Person, persönlicher Kontakt – gar nicht so einfach: zu einer politischen Gefangenen in den Knast – ein Interview fürs Fernsehen …
Und über Gespräche mit Birgitta Trommler, die beiden kennen sich persönlich, eben auch diese Produktion.

Der Theatervorhang ist unten nicht ganz geschlossen. Füße laufen, trappeln, springen über die Bühne. »Die üben schon«, sagt eine Frau im Publikum. Auf einmal merke ich: Es ist schon dunkel im Raum. Wir sind schon mitten drin.
Der Blick nur auf die Füße ist eine eigenartige Perspektive. Eine sehr beschränkte Aussicht auf Rituale, die sich nicht erschließen, nicht zu verstehen sind. Aber starke Dinge müssen das sein: Liebe und Hass, Gewalt und Zärtlichkeit … wie mitten aus dem prallen Leben …

Der Vorhang hebt sich und gibt den Blick frei auf eine Bühne, die eingegrenzt ist durch schwere Stahlgitter. Oben hängt eine Bahnhofsuhr. Die zeigt Realzeit an. Vorne über der Bühne läuft ein Laufband. Da sind aufgelistet Schlagzeilen des politischen Geschehens von Anfang 1986 bis Anfang 2003. Eva Haule wurde im Sommer 1986 in Rüsselsheim in einem Eiscafe verhaftet.
Zwischen diesen beiden »Zeitmessgeräten« entwickelt sich ein Teil der Spannung dieses Stücks: Die Zeit in Stunden und Minuten, die mal schnell läuft, mal langsam – wie Uhren das halt so tun, das kennen wir alle. Und dazu das Laufband, wo die Jahre nur so »vorbei rasen«. So ähnlich beschreibt auch Eva Haule ihr Zeitempfinden unter den Bedingungen der langen Gefangenschaft.

Gezeigt werden in dem Stück andere politische Kämpferinnen und Kämpfer oder Gestalten aus den Büchern, die Eva liest, die in ihrer Phantasie anfangen, ihre Zelle zu bevölkern.
Die Inszenierung eines Traums von Größe und Schönheit, aber auch Stärke, persönlicher Integrität … – wie lässt sich das in Worten ausdrücken? Das Bild ist so viel stärker: Eva, die sich einen großen Bogen weißen Materials – irgend etwas zwischen Papier und Stoff – zusammenfältelt und sich damit drapiert und ausstaffiert. Wie eine Frauengestalt aus dem klassischen Drama.
Dazu die zweite Eva-Gestalt mit einem Kleid aus Ballonseide, das von einem Theatergebläse aufgeblasen wird. Wie in einer Wolke. Und eben so ein Prinzessinenkleid. Und alles in diesem Weiß …

Dann kommen Schließer und nehmen den Evas ihre Kleider weg. Eine Szene der Demütigung und Erniedrigung, die schmerzhaft lange andauert.

Später erhalten die Evas rote Kleider. Die Farbe von großer persönlicher Ausstrahlung und Stärke. Sind diese Insignien nur zu erhalten nach der »Prüfung« durch die Erniedrigung?

Besonders gut gefallen hat mir persönlich das Bild von den Büchern, die Eva in ihrer Zelle erhält, die sich in ihren Händen zu Musikinstrumenten verwandeln. Kleinere Bücher werden zu Castagnetten, mit denen sie einen wilden Flamenco tanzt. Und der Atlas ein Akkordeon, mit dem sie sich in einer mehr schunkelnden Tanzmelodie wiegt und dabei die Seiten zieht wie die Bälge des Akkordeons.

Hier ist auch ein Bindeglied zur Ballettmusik von David Moss und Ali N. Askin. Die Freiheit der Komposition als ein Teil von Evas Streben nach unbedingter persönlicher Freiheit.
Zur Musik ist zu sagen, dass sie einfach da ist. Absolut stimmig. Wie dran gewachsen.
So ähnlich ist sie wahrscheinlich auch entstanden: Gewachsen.

Abmoderation

»Wenn der Körper eine Stummheit ist« – Tanztheater von Birgitta Trommler im Kleinen Haus des Staatstheaters. Eine Kritik von Katharina Mann für Radio Darmstadt.

Die nächste Vorstellung ist am kommenden Samstag, 5. April [2003], um 19.30 Uhr.
Diese Vorstellung ist besonders interessant, denn im Anschluss wird im Foyer eine Ausstellung eröffnet mit Fotos von Eva Haule. Diese Ausstellung wird zu sehen sein bis zum 25. April.
Weitere Vorstellungen sind am Sonntag, 6. April, und am Samstag, 19. April, jeweils um 19.30 Uhr im Kleinen Haus des Staatstheaters.

 


 

Diese Seite wurde zuletzt am 31. Oktober 2008 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. ©  Walter Kuhl 2001, 2003, 2008. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

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