Geschichte

Was uns die Archäologie zur Entstehung von Klassengesellschaften sagen kann

 

 

SENDEMANUSKRIPT

 
Sendung :
Geschichte
Was uns die Archäologie zur Entstehung von Klassengesellschaften sagen kann
 
Redaktion und Moderation :
Walter Kuhl
 
gesendet auf :
Radio Darmstadt
 
Redaktion :
Alltag und Geschichte
 
gesendet am :
Montag, 16. Dezember 2002, 17.00–18.00 Uhr
 
wiederholt am :
Dienstag, 17. Dezember 2002, 00.00–01.00 Uhr
Dienstag, 17. Dezember 2002, 08.00–09.00 Uhr
Dienstag, 17. Dezember 2002, 14.00–15.00 Uhr
 
 
Besprochene und benutzte Bücher :
  • Spuren der Jahrtausende, Konrad Theiss Verlag
  • Menschen · Zeiten · Räume, Konrad Theiss Verlag
 
 
URL dieser Seite : https://www.waltpolitik.de/herstory/ge_klges.htm
 
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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 : Einleitung
Kapitel 2 : Neolithische Differenzen
Kapitel 3 : Vom Mittelalter zur globalen Welt
Kapitel 4 : Leistungsschau
Kapitel 5 : Veranstaltungshinweise
Kapitel 6 : Schluß
Anmerkungen zum Sendemanuskript

 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

Überall schallt es uns entgegen:

Ihr Kinderlein kommet und kaufet brav ein
seid nett zu den Händlern, gebt her euren Schein
ihr müßt euch beschenken, sonst seid ihr allein
und wer dann kein Geld hat, muß selbst Schuld d'ran sein.

Oder so ähnlich.

Schade nur, daß die CDU dieses Jahr zu Weihnachten keine schwarzen Koffer – natürlich mit Bimbes – verschenkt. Oder daß die SPD die Steuergeschenke nur für diejenigen vorbereitet hat, die ohnehin den Hals nicht voll genug kriegen können. Die Grünen denken schon darüber nach, wen sie im nächsten Jahr mit einem Krieg beschenken können. Und die FDP hat ihre schöne Bescherung ja schon hinter sich.

Frohes Fest, sage ich da nur. Auf allen Kanälen werden wir mit schaurig–schöner Weihnachtsmusik berieselt. Keine Chance, dem zu entgehen. Ist ja auch logisch. Da ja die Musik gespielt wird, die uns dazu bringen soll, bis zum nächsten Werbeblock durchzuhalten, und da Weihnachten die Emotionen so richtig schürt, auf daß wir die Brieftasche öffnen, klingen alle Hörfunk– und Fernsehsender gleichgeschaltet. Allerdings frage ich mich, warum auf diesem Sender, der nicht zum Durchhalten bis zur Werbung auffordern muß, dasselbe Gehirnwäscheprogramm läuft. Ich glaube, ich werde das nie begreifen, warum manche Leute jeden Unsinn für bare Münze nehmen und zu imitieren versuchen. Und so kommt es, wie es kommen muß.

Nicht einmal meine Sendung bleibt hiervon verschont. Doch ich will wenigstens das Unangenehme mit dem Nützlichen verbinden und stelle zwei Bücher vor, mit denen man und frau tatsächlich etwas anfangen kann. Ich meine, Staubfänger sind ja nun nicht so der Renner. Und wer liest schon in Deutschland? Ich will hier gar nicht die PISA–Studie bemühen, die eigentlich nur herausgefunden hat, was alle schon vorher hätten wissen können: das nämlich die Schule eine völlig sinnlose Einrichtung zur Dressur von Analphabetinnen und Nachplapperern ist. Also nützlichen Mitgliedern dieser Gesellschaft. Wie gut, daß es immer noch Menschen gibt, die nicht lebenslänglich für andere, sondern etwas für sich selbst lernen wollen. Für diese Menschen habe ich etwas mitgebracht. Zwei Bücher über Geschichte und Archäologie nämlich.

Vor 100 Jahren wurde in Frankfurt die Römisch–Germanische Kommission gegründet. Damals ging es darum, die Laienarchäologie, die sich meist in den Händen historischer Vereine befand, auf eine allgemein anerkannte wissenschaftliche Grundlage zu bringen. Das hundertjährige Bestehen der Kommission bot nun den Anlaß, eine Bilanz des gegenwärtig verfügbaren Wissens über die archäologische Forschung in Deutschland zu ziehen. Spuren der Jahrtausende heißt der dabei entstandene großformatige Band mit über 500 Seiten und 800 Abbildungen. Für mich Anlaß nachzufragen, was denn der neueste Wissensstand der Archäologie zur Frage der Entstehung von Klassengesellschaften beitragen kann. Ich denke nämlich, daß in diesem Band ein brauchbares Fundament für eine wissenschaftlich solide Betrachtung dieser Frage vorliegt, auch wenn dies gar nicht in der Absicht der Herausgeber dieses Bandes gelegen haben mag.

Während in Spuren der Jahrtausende eher eine Art Basiswissen vorgelegt wird, hat der Begleitband zur Ausstellung Menschen · Zeiten · Räume ein anderes Ziel. Hierin werden die archäologischen Funde und Forschungsergebnisse in Deutschland aus den letzten 25 Jahren anhand ausgewählter Beispiele vorgestellt. Die deutschen Landesarchäologen verbinden hierbei eine Gesamtbetrachtung dieser Ergebnisse, die sie der interessierten Öffentlichkeit präsentieren, mit einer Art Leistungsschau, denn Geld fließt bekanntlich nur, wenn die Leistung stimmt. Und es ist schon beeindruckend, was die Archäologie in den letzten 25 Jahren zutage gefördert hat. Doch zuvor noch ein kleines besinnliches Liedchen. Für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt begrüßt euch Walter Kuhl.

Die Roten Rosen : Ihr Kinderlein kommet

 

Neolithische Differenzen

Der von der Römisch–Germanischen Kommission herausgegebene Band Spuren der Jahrtausende deckt ein weites Feld ab. Nach einigen methodischen Grundüberlegungen, die jede wissenschaftliche Betrachtung der menschlichen Geschichte beachten sollte, steigt das Werk gleich in die Altsteinzeit ein. Von hier aus geht es chronologisch bis zum Ausklang des Mittelalters; den Schluß bildet eine Betrachtung der natürlichen und vom Menschen geformten Umwelt, weil diese ganz direkt Auswirkungen auf Ernährung und Lebensweise gehabt hat.

Ich möchte mich auf einen Teil dieses Bandes beschränken. Und zwar deswegen, weil er mich angeregt hat, noch einmal völlig neu über die Entstehung von gesellschaftlicher Arbeitsteilung und daher auch über die Entstehung von Klassengesellschaften nachzudenken. Gerade der Abschnitt über den Menschen der nacheiszeitlichen Steinzeit bietet einen historischen Überblick, der eine Lücke in der Geschichtsschreibung schließt, selbst wenn vorerst noch viele Fragen offen bleiben müssen. Aber wir erhalten hier ganz reale und wissenschaftlich vorgefundene Anhaltspunkte dafür, wie die Menschen der ausgehenden Steinzeit ihr Leben organisiert haben. Und ich denke, daß hierbei manch Überraschendes zutage tritt. Zunächst einmal müssen wir uns von der Vorstellung freimachen, daß die Menschen der Steinzeit eher planlos vor sich hin gelebt haben. Ganz offensichtlich ist das Gegenteil der Fall. Mit dem Ende der letzten Eiszeit, also vor etwa 12.000 Jahren, tritt der Mensch als selbstbewußtes und planvoll handelndes Wesen auf die Bühne.

Nun waren es sicherlich noch nicht allzu viele Menschen, die damals in Mitteleuropa gelebt haben. Schätzungsweise bewegten sich so um die 40.000 Menschen auf dem Gebiet des heutigen Deutschland. Diese waren mit einer völlig neuen Situation konfrontiert. Das Eis zog sich zurück, das Klima erwärmte sich. Bisher gejagte Tiere verschwanden, während gleichzeitig immer dichtere Wälder wuchsen. Die Nahrungsmittelbeschaffung mußte also völlig umgestellt werden.

Hier wird schon problematisch, sicher zu ergründen, ob der damit verbundene Wechsel der Lebensweise hin zur einer Sammlerinnen– und Jägerkultur nur typisch für Mitteleuropa war und damit eigentlich nur nachvollzog, was in wärmeren Gefilden ohnehin üblich war. Da organisches Material nur selten noch nachzuweisen ist, dürfte auch der Umfang und die Bedeutung pflanzlicher Nahrung während der Eiszeit schwer zu bestimmen sein. Daher wird diese Frage erst einmal offen bleiben müssen.

Offen bleiben muß derzeit auch die Frage, ob die Jäger und Sammlerinnen der mittleren Steinzeit wirklich voneinander getrennte Gruppen waren. Damit verbunden ist auch die Frage, ob die Arbeitsteilung Auswirkungen auf mögliche hierarchische Verhältnisse innerhalb dieser Gruppen gehabt hat. Und schon gar nicht geklärt ist, ob die Männer zwar jagen durften, aber die Frauen das Sagen hatten; also ob diese kleinen Gesellschaften egalitär oder schon patriarchal organisiert waren. Derzeit lassen sich hierzu keine gesicherten Aussagen machen. Spannend ist die Frage jedoch schon. Immerhin geht es darum, ob es eine andere Form von Gesellschaftlichkeit vor dem Patriarchat gab und ob ein möglicher Übergang zum Patriarchat auch einen Übergang zur gesellschaftlichen Differenzierung bedeutete, der dann Jahrtausende später in festen Klassengesellschaften mündete.

Leider stellen sich die Autorinnen und Autoren des Bandes Spuren der Jahrtausende diese Fragen nicht. Sie bemühen sich fast schon krampfhaft darum, ihre Wissenschaft als ideologiefrei zu kennzeichnen. Dabei kann eigentlich nur die Wissenschaft ideologiefrei sein (also frei von falschem Bewußtsein), die sich gerade derartigen Fragen stellt und die auch einen klaren Standpunkt zur derzeitigen Gesellschaft bezieht. Alles andere verschleiert nur, daß wir in unserem Werte– und Normensystem gefangen sind, ob wir wollen oder nicht. Und das heißt auch, daß ideologische Vorstellungen immer eine Rolle bei sozialwissenschaftlichen Untersuchungen spielen. Wer sich das nicht klarmacht, handelt meiner Ansicht nach unredlich. Insofern finde ich eine Bemerkung wie die folgende zumindest bedenklich:

Die Zweiteilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg führte dazu, dass Teile der wissenschaftlichen Ziele und vor allem manche Deutungen der archäologischen Ergebnisse nicht mehr in allen Punkten identisch waren. In der DDR wurden Versuche unternommen, die Ur– und Frühgeschichte in marxistischem Sinn zu interpretieren. Im Westen dagegen herrschte nach dem Missbrauch des Faches gegenüber allen ideologischen Versuchen starke Zurückhaltung und teilweise strikte Ablehnung vor; hier stand die möglichst präzise Veröffentlichung der Grabungsresultate im Vordergrund [...]. [1]

Als wenn eine kapitalistische Leistungsgesellschaft mit ihrem tendenziell sozialdarwinistischen Menschenbild ideologiefrei wäre. Was die DDR betrifft, müßte ich hinzufügen, daß es begrüßenswert gewesen wäre, wenn dort Marxismus wirklich als Wissenschaft und nicht als Ideologie betrieben worden wäre. Dann hätte sich womöglich bei der Frage der Entstehung von Klassengesellschaften die Überlegenheit der östlichen Wissenschaft gezeigt. So jedoch dient die Erwähnung des Marxismus nur als Popanz, um die eigene Standlosigkeit zu bemänteln.

Doch zurück zu den Spuren der Jahrtausende. Irgendwann vor wahrscheinlich siebeneinhalbtausend Jahren fand in Süddeutschland ein Übergang zu einer bäuerlichen Lebensweise statt. Anstatt zu sammeln, wurde nun planvoll nicht nur gesammelt, sondern auch vorausschauend produziert. Was nicht heißen soll, daß es zuvor kein planvolles Handeln gegeben hätte. Doch die sogenannte Neolithische Revolution erfaßte nun auch Mitteleuropa. Ausgehend vom sogenannten Fruchtbaren Halbmond mit dem Zentrum im heutigen Syrien und Nordirak vor etwa 11.000 Jahren dehnte sich eine Produktionsweise aus, deren Vorteil darin bestand, aus wenig mehr zu machen. Oder anders gesagt: das planvolle Ausstreuen von Körnern bewirkte einen höheren Ertrag. Je mehr sich die Menschen hiervon abhängig machten, desto unwiderruflicher war der Abschied vom Sammlerinnen– und Jägertum. Ein neuer Abschnitt der menschlichen Entwicklung wurde eingeläutet, mit offensichtlich einschneidenden innergesellschaftlichen Veränderungen.

Diese Veränderung läßt sich archäologisch nachweisen. Und sie fand wesentlich früher statt, als noch vor einigen Jahrzehnten geglaubt wurde. Die Jungsteinzeit begann in Mitteleuropa irgendwann zwischen 6000 und 5000 vor unserer Zeitrechnung; und es nicht einmal auszuschließen, daß weitere Funde diesen Zeitpunkt noch weiter in die Vergangenheit verschieben könnten. Mehrere Kulturen, die nach Keramikmustern benannt werden, folgten aufeinander. Wer jedoch glaubt, darin vorgeschichtliche Völker oder andere gesellschaftliche Einheiten wiederfinden zu können, findet hierfür keine plausible Handhabe. Vielmehr ist es ganz einfach so:

Scherben finden sich bei Ausgrabungen überall und oft sogar überreichlich. Es zerbrachen eben im Laufe der Zeit in den Siedlungen viele Töpfe und wurden durch neue ersetzt. Anderes Werkzeug war beständiger und wurde besser gehütet, so dass weniger davon in den Boden kam. Daher bot sich der Wissenschaft besonders die Keramik als Leitfossil an, um das Neolithikum räumlich und zeitlich zu untergliedern. Etwas irreführend bezeichnete man die keramischen Stilgruppen als Kulturen. Auch wissen die Archäologen nicht genau, welche Personengruppen sich hinter gleichartiger Keramik verbergen, warum bestimmte Gefäße in manchen Gegenden und Zeiten verbreitet waren und in anderen nicht. [...] Forschungen ergaben, dass z.B. die Verbreitungsgebiete der Hausformen, der Steinbeilformen und Feuersteinrohstoffe, aber auch die Art der Haustierhaltung und des Feldbaus in der Regel überhaupt nicht mit jenen der Keramikstile zur Deckung gebracht werden können. Das betrifft auch ihre jeweilige Zeitdauer. Neolithische Kulturen sind also nicht etwa, wie man früher dachte, Völker mit eigener Sprache und gemeinsamer politischer Spitze, sondern kulturelle Einheiten, die man [...] sehr unterschiedlich erklären muss. [2]

Dennoch lassen sich interessante Dinge feststellen. Erstens scheint es eine Trennung der Geschlechter in den Gräbern gegeben zu haben. Ihre jeweiligen Arbeitsgeräte wurden mit ins Grab gelegt, womit wir eindeutige Indizien für eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung besitzen. Weiterhin muß es eine innere Ausdifferenzierung innerhalb dieser Gesellschaften gegeben haben, denn es gibt einige wenige reicher ausgestattete Gräber. Wir müssen zwar immer berücksichtigen, daß wir nur einen Bruchteil der Bestattungen kennen, aber es sollte uns zu denken geben. Es spricht daher einiges dafür, daß hier zumindest der Beginn einer patriarchalen Gesellschaft vorliegt.

Weitere Indizien für den Beginn der Entwicklung gesellschaftlicher Hierarchien sind eingehegte Viehbestände, also individueller Besitz und Reichtum, und etwas eher Unerwartetes: schon ab dem 6. Jahrtausend finden sich Spuren von planvollem, fast schon industriemäßigem Abbau von Bodenschätzen. Es ist kaum anzunehmen, daß eine egalitäre Gesellschaft in einer Art Gemeinschaftsprojekt Bergwerksstollen gräbt oder Hügel nach bestimmten Bodenschätzen Schicht für Schicht abgräbt. Dahinter steckt offensichtlich eine planende Hand – oder mehrere. Die archäologischen Funde lassen darauf schließen, daß hierbei ein schwungvoller Handel stattfand, der sich über mehrere hundert Kilometer erstreckte. Daraus folgt, daß diejenigen, die ihre Hand auf die Bodenschätze legten, seien es Feuersteine, Salz oder Metalle, Reichtum anhäufen konnten. Und wo wir dann auch tatsächlich Besitz und offensichtlich auch Hierarchien vorfinden, überrascht es uns dann nicht, wenn es erste Spuren gewalttätiger, vielleicht sogar kriegerischer Auseinandersetzungen gibt. Erdwerke und Palisaden sind sicherlich nicht ohne Grund gebaut worden. Ob einige dieser Erdwerke auch religiöse Funktionen hatten, ist in der Forschung umstritten. Organisierte Religion ist jedoch ohne hierarchische Gesellschaftlichkeit schwer vorstellbar.

Bei allem dürfen wir jedoch nicht vergessen, daß hier eine Geschichte von mehreren Jahrtausenden zugrunde liegt. Genauere Untersuchungen müßten erst angestellt werden, um bestimmte historische Entwicklungen hin zu Besitz, Macht und Herrschaft genauer fassen zu können. Das Problem bei der Interpretation liegt immer auch darin, daß wir uns hüten müssen, einen Fund aus dem 6. Jahrtausend mit einem aus dem 4. in einen Argumentationszusammenhang zu bringen. Mögen die damaligen Gesellschaften auch statisch gewesen sein, zumindest, wenn wir unseren Geschwindigkeitsrausch zum Maßstab machen. Entwicklungen hat es dennoch gegeben. Eine Palisade aus dem 4. Jahrtausend beispielsweise sagt uns nichts über die gesellschaftlichen Verhältnisse 2000 Jahre zuvor. Dennoch zeichnen sich Tendenzen ab. Und schon deshalb lohnt eine genaue Lektüre des Abschnitts über die mittlere und die Jungsteinzeit im Band Spuren der Jahrtausende.

Es lag ja nicht an unseren Genen oder am evolutionären Erbe der frühen Savannenzeit, daß aus den Menschen habgierige und egoistische Wesen geworden sind, wie dies von interessierten Kreisen bewußt in Büchern oder Fernsehdokumentationen gestreut wird. Die gesamte Sozio– oder Evolutionsbiologie blendet durchaus gewollt die archäologischen Fakten aus, die ihnen nicht in den Kram passen.

 

Vom Mittelalter zur globalen Welt

Es ist sicher noch zu früh, klare Aussagen zur Entstehung einer ausdifferenzierten Gesellschaft mit Arbeitsteilung und Hierarchien zu machen. Dennoch wird ersichtlich, daß diese Ausdifferenzierung wesentlich früher begonnen haben muß, als bislang geglaubt wurde. Ab wann wir dann von einer Klassengesellschaft, also auch einer Gesellschaft mit Herrschenden und Beherrschten, sprechen müssen, bedarf einer sorgfältigen Auseinandersetzung mit dem nun vorliegenden Fundmaterial und den zugehörigen Forschungsergebnissen.

Allein schon dies macht den Wert des Bandes Spuren der Jahrtausende aus dem Theiss Verlag aus. Hiermit ist es nun möglich, nicht nur wild herumzuspekulieren oder aufgrund vorgefertigter eigener Weltbilder, sondern auf der Grundlage neuester wissenschaftlicher Forschung zu argumentieren. Das nun vorliegende Material stellt sicher vieles in Frage und ermöglicht dadurch einen völlig neuen Blick auf die Frühgeschichte des modernen Menschen.

Doch die Spuren der Jahrtausende sind selbstverständlich nicht vor etwa 5000 Jahren zu Ende. Die in diesem Band versammelte Darstellung des heutigen Forschungsstandes über die Archäologie und Geschichte in Deutschland zieht sich weiter über Kelten, Römer, Germanen bis hin ins Mittelalter. Der reich illustrierte, gut lesbare und trotz meiner kritischen Anmerkungen ganz und gar nicht unwissenschaftliche Band gibt hierüber auf eine Weise Auskunft, die mehr ist als nur grober Überblick. Es werden die historischen Zusammenhänge und damit auch wechselseitige kulturelle Einflüsse sichtbar gemacht. Ein Band übrigens, der sich hervorragend gegen jede Deutschtümelei einsetzen läßt. Selbst wenn der Untertitel Archäologie und Geschichte in Deutschland lautet, so verweist dies nur darauf, daß Funde aus Deutschland vorgestellt werden. Diese werden jedoch selbstverständlich im damaligen europäischen Kontext betrachtet. Alles andere wäre ja auch absurd.

Dennoch hätte ein mehr historischer Blick auf das Ende des Mittelalters nicht geschadet. Wenn wir dessen Ende grob mit dem Jahr 1500 ansetzen und danach die Neuzeit mit Merkantilismus, Handels– und industriellem Kapitalismus beginnen lassen, dann stellt sich schon die Frage, wie es zu diesem Übergang gekommen ist. Leider hat der Autor des zugehörigen Artikels, Karl–Friedrich Rittershofer, den Sprung zu einer globaleren Betrachtung nicht gefunden, wenn er schreibt:

Das Erstarken der Städte und die Weiterentwicklung der Feuerwaffen führten zum Niedergang der Burg als Mittelpunkt der Herrschaft. Die Krisenzeit des 14. Jahrhunderts traf die Bevölkerung des Spätmittelalters in unterschiedlicher Weise: Klimaverschlechterungen bewirkten Missernten, Katastrophen wie die Pestwellen führten zu einem Bevölkerungsrückgang. Dies alles schwächte das agrarisch geprägte System der Grundherren und ihre kleinräumigen Herrschaftsbereiche. Es entstanden nun großräumigere politische Einheiten, die die Grundlagen moderner Staaten bildeten. [3]

Das ist alles nicht falsch, aber unvollständig. Denn die Krise des 14. Jahrhunderts hatte noch ganz andere Folgen. Erstmals bildete sich so etwas wie eine organisierte internationale Arbeitsteilung heraus. In Norditalien und in Flandern entstanden Zentren internationalen Handels; und ausgerechnet zu einer Zeit, als die Agrarwirtschaft tatsächlich in der Krise steckte, wurde Geld als Zahlungsmittel immer wichtiger zum daneben bestehenden Tauschhandel und zur Naturalienabgabe. Diese Umorientierung hatte noch ganz andere Folgen: die langsame Umorientierung der europäischen Landwirtschaft auf marktwirtschaftliche Prinzipien. Inwieweit im 14. Jahrhundert diese Umorientierung Ursache oder Wirkung der Agrarkrise war, wäre eine durchaus spannende Frage. Die Folgen waren jedoch klar: Landflucht oder neue Leibeigenschaft; Auswanderung und globale Eroberungen. Die Stadt war die Keimzelle des entstehenden Kapitalismus; und die Dynamik dieser neuen Wirtschaftsweise mußte den feudalen Rahmen irgendwann sprengen. Gerade hier wäre eine archäologische Betrachtung dieser Dynamik durchaus wünschenswert. Dies vielleicht als Anregung für einen weiteren Band dieser Art.

Spuren der Jahrtausende, ein über 500 Seiten starker Band über die Archäologie und Geschichte in Deutschland, ist im Theiss Verlag erschienen. Er kostet 34 Euro 90 [Einführungspreis bis 31.08.2003, danach € 39,90] und ist, wie ich finde, ein durchaus nützliches und anregendes Weihnachtsgeschenk.

 

Leistungsschau

Von einer etwas anderen Seite aus nähert sich der Begleitband zur vor kurzem in Berlin eröffneten Ausstellung Menschen · Zeiten · Räume der Archäologie in Deutschland. 27 Jahre nach der letzten großen Ausstellung dieser Art, damals mit dem richtungsweisenden Titel Das neue Bild der alten Welt, wurde es Zeit, die Ergebnisse der archäologischen Forschung der vergangenen 25 Jahre zusammenzufassen und der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Mit dieser Ausstellung verfolgt der Verband der Landesarchäologen in der Bundesrepublik Deutschland jedoch auch ein sehr eigennütziges, aber deshalb nicht weniger legitimes Interesse. Gerade in Zeiten, in denen alles der neoliberalen Marktideologie zum Fraße vorgeworfen wird, in Zeiten, in den alles auf seinen Marktwert abgeklopft wird, also in Zeiten, in denen Denkmalschutz vermehrt unter fiskalischen Gesichtspunkten betrachtet wird, schien es dem Verband umso dringlicher, in einer Art Leistungsschau die Bedeutung seiner Arbeit herauszustellen.

So finden sich in der Ausstellung spektakuläre Funde neben in mühevoller Kleinarbeit gefundene Erkenntnisse. Und in der Tat – in den vergangenen 25 Jahren hat sich eine Menge getan. Was damals noch als gesicherte Erkenntnis galt, wird heute vielfach anders gesehen. Allein das ist schon ein Grund, unser Wissen um die Ur– und Frühgeschichte anhand ausgewählter Beispiele zusammenzufassen. Weltbilder ändern sich, aber jedes Weltbild benötigt eigentlich auch eine gesicherte wissenschaftliche Grundlage.

Angesichts dessen, was heutzutage in esoterischen, aber auch in den hiermit verwandten rechten, um nicht zu sagen rechtsradikalen Kreisen beispielsweise über die Kelten und Germanen zusammenphantasiert wird, ist eine nüchterne Bestandsaufnahme des bekannten Wissens sicherlich sinnvoll und notwendig. Nur wird es diese Kreise nicht erreichen. Die Unbelehrbaren lassen sich nicht vom Unsinn ihres Handelns und Tuns mit Argumenten überzeugen.

Der Begleitband zur Ausstellung erspart eigentlich eine Reise nach Berlin. Im Martin–Gropius–Bau ist die Ausstellung Menschen · Zeiten  · Räume noch bis Ende März zu sehen, von Mai bis August dann in Bonn. Vor allem hat ein solcher Band den Vorteil, das Gesehene mit nach Hause nehmen und in Ruhe nochmals betrachten zu können. Und dieser Band hat es genauso in sich wie der vorhin vorgestellte Band Spuren der Jahrtausende. Überschneidungen waren nicht zu vermeiden; das liegt allein schon an der verwandten Thematik.

Dennoch ist der Aufbau dieses Bandes ein gänzlich anderer. Anstelle von übergreifenden systematischen Übersichten über bestimmte Epochen treten hier die Einzelfunde und ihre Interpretation in den Vordergrund. Insofern ist es auch sinnvoll, wenn der Theiss Verlag beide Bände zusammen in einem handlichen Schuber herausbringt. Allerdings hätte der Verlag nicht gerade am Karton sparen sollen. Denn beim Auspacken fiel mir selbiger auseinander, was dazu führte, daß die beiden Bände zielsicher ein gefülltes Getränkeglas fanden und die Papierstapel auf meinem Schreibtisch in eine klebrige Masse verwandelten. Das fand ich dann weniger lustig. Besser aufpassen? Vielleicht. Vielleicht aber auch einfach nur der Tip an den Verlag: den Karton besser kleben.

Archäologie versteht sich heute als eine interdisziplinär arbeitende Wissenschaft. Nicht unbedingt der Spaten ist das wichtigste Handwerkszeug. Wichtiger scheint fast der umfassende Blick für das zu sein, was die Erde hergibt. Neue Untersuchungsmethoden legen schon vieles frei, bevor ein Spaten angesetzt wird, wie eben bei geophysikalischen Messungen oder Luftbildern. Doch auch andere Disziplinen werden herangezogen – beispielsweise die Physik bei der Untersuchung von Keramiken oder die Botanik bei der Untersuchung von Pflanzenresten; von der DNA–Analyse einmal ganz zu schweigen. Und gerade hier hat sich in den letzten 25 Jahren so einiges getan.

Wer weiß schon, daß Hagen einmal am Äquator lag? Auch Erdgeschichte ist längst eine Aufgabe der Denkmalpflege geworden; die nahegelegene Grube Messel ist logischerweise als Weltkulturerbe Bestandteil des Begleitbandes zur Ausstellung. Gerade die

Messel–Fossilien trugen dazu bei, die Vorstellungen über die Wander– bzw. Verbreitungsgebiete bestimmter Tiergruppen zu präzisieren oder zu verändern. [4]

Womit auch klar ist, daß Funde nur dann sinnvolle Erkenntnisse vermitteln, wenn sie entsprechend präpariert oder restauriert werden können. Daß hierzu eine gewisse finanzielle Grundausstattung vonnöten ist, versteht sich von selbst; dennoch stapeln sich die Funde in den Magazinen der Denkmalbehörden. Es wird mehr ausgegraben, als verarbeitet werden kann. Das hängt natürlich auch damit zusammen, daß in Not– oder Rettungsgrabungen gehandelt werden muß, bevor bestimmte Funde und die Fundzusammenhänge unwiederbringlich verloren sind. Dies führt allerdings auch zu einer möglicherweise verzerrten Erkenntnis der Vergangenheit. Einerseits bieten die durch Erdkabel, ICE–Trassen oder Braunkohlebergbau aufgerissenen Erdschichten eine ganze Menge neuer Erkenntnisse, zum Teil sogar in systematischer Form, etwa wenn entlang eines Schienstrangs Siedlungsstrukturen aufgedeckt werden können. Andererseits handelt es sich um Erkenntnisse, die lokal fokussiert sind und nicht unbedingt verallgemeinert werden können. Hierüber muß sich die Archäologie immer im Klaren sein.

Dies verweist dann auch eigentlich darauf, daß die personelle und finanzielle Grundausstattung eigentlich wesentlich besser sein müßte. Doch ich erwähnte es ja schon. Was sich nicht marktwirtschaftlichen Kriterien unterwerfen läßt, wird zukünftig immer mehr ignoriert werden. Was kostet und nichts nutzt, wird eiskalt abgewürgt. Das ist Neoliberalismus, aber im Grunde genommen nur ganz ordinäres Profitdenken. Ich sage dies auch deshalb so deutlich, nicht, weil ich Ausgrabungen und Denkmalpflege an sich für einen Wert halte, sondern weil ich es für notwendig halte, über das Verständnis der Vergangenheit mehr Klarheit darüber zu erhalten, wie eine andere Gesellschaft als die kapitalistische aussehen kann. Dabei spielt die Frage, wie es zu den heutigen Zuständen gekommen ist, eine nicht unerhebliche Rolle. Tote auszubuddeln, kann ja kein Selbstzweck sein.

Doch ein Begleitband zu einer Ausstellung, die sich daher auch als Leistungsschau versteht, ist alles andere als langweilig. Die vielen relativ kurz gehaltenen und verständlich geschriebenen Aufsätze bieten mannigfaltige Gelegenheiten, sich gezielt zu bestimmten Epochen oder Gebieten Erkenntnisse herauszuziehen. Slawische Gräberfelder sind dann genauso dabei wie keltische Fürstengräber. Was verbindet Römer und Germanen; und warum ist Germanentümelei absoluter Schwachsinn? Die Antwort gibt der Begleitband. Sicher ist, daß zumindest die germanische Oberschicht die römische Kultur zu schätzen gewußt hat.

Erfreulich ist, daß auch die mittelalterliche jüdische Architektur Eingang in den Begleitband zur Ausstellung gefunden hat, weniger erfreulich finde ich, daß die jüdische Geschichte des Mittelalters auf ganzen drei Seiten abgehandelt wird. Ist das alles, was es hier zu sagen gibt? Kann ich mir nicht vorstellen.

Das soll jedoch die Gesamtkonzeption der Ausstellung wie auch des Begleitbandes nicht schmälern. Es kann nur eine schwerpunktmäßige Übersicht sein, die hier präsentiert wird. Aber was heißt hier nur? Vielleicht lasse ich daher am besten Dieter Planck vom Landesdenkmalamt Baden–Württemberg aus dem Vorwort zum Begleitband zu Wort kommen:

Die archäologischen Zeugnisse sind zugleich prägender Bestandteil der vom Menschen gestalteten heutigen Kulturlandschaft. Insbesondere haben die sichtbaren Bodendenkmale, wie beispielsweise mächtige Befestigungen, große Grabhügel oder Ruinenfelder antiker oder mittelalterlicher Bauten einen großen Anschauungs– und Erlebniswert für die Öffentlichkeit. Alljährlich werden diese Anlagen von zehntausenden Menschen aufgesucht, um die historischen Orte und ihre zeitliche Einordnung kennen zu lernen. Darüber hinaus sind alle Bodendenkmale [...] ein Archiv für die historische Forschung. Es gibt Auskunft über Menschen, von denen diese Zeugnisse stammen, über die von ihnen gestaltete Umwelt, über ihre Lebensweise und auch über ihre Glaubensvorstellungen, durch viele Generationen hindurch. Archäologische Funde sind unverwechselbare Zeugnisse der Entwicklung des Menschen. Oftmals sind sie die einzigen Quellen, die über Jahrhunderte, sogar Jahrtausende hinweg vom Dasein des Menschen berichten. [5]

Nun mag die Faszination archäologischer Ausstellungen und Erlebnisparks auch daher rühren, daß unsere angeblich multimediale Spaßgesellschaft geradezu zum Konsum von allem möglichen einlädt, ohne damit auch Sinn zu verbinden. Andere gehen halt ins Konzert oder ins Kino oder besänftigen ihren Frust mit ein bißchen Kaufrausch. Dennoch wird deutlich, daß die Suche nach Sinn eben auch Antrieb ist, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Schade nur, daß daraus so wenige Erkenntnisse für die Zukunft gesucht und gewonnen werden.

Der Begleitband zur Ausstellung Menschen · Zeiten · Räume ist ebenfalls im Theiss Verlag erschienen und kostet ebenfalls 34 Euro 90. [Einführungspreis bis 31.08.2003, danach € 39,90]

Und wer immer noch auf der Suche nach dem Sinn des alljährlichen Bethlehemterrors ist und ein passendes Geschenk für eine geschätzte Person sucht, der oder dem empfehle ich – die nötigen Finanzmittel vorausgesetzt – beide Bände im handlichen Schuber. Repräsentativ und nützlich – Preis: 69 Euro 90 [Einführungspreis bis 31.08.2003, danach € 79,90]. Schaut doch einfach mal bei einer Buchhandlung eures Vertrauens hinein.

Für den etwas schmaleren Geldbeutel und die eher visuelleren Typen, die nicht so gerne lesen, gibt es den großformatigen Kalender Archäologie 2003. Sozusagen das Best Of aus den vielen Fotos und Abbildungen der beiden vorgestellten Bücher. Preis: 19 Euro 90.

 

Veranstaltungshinweise

Jingle Alltag und Geschichte –

mit einigen Veranstaltungshinweisen für die kommende Woche.

Am morgigen Dienstag (oder, falls ihr die Wiederholung hört, dann ist es schon Dienstag) tagt zum letzten Mal in diesem Jahr die Stadtverordnetenversammlung. Hierzu liegen zwei interessante Anträge vor. Rafael Reißer von CDU möchte im Vorfeld der Landtagswahl mal wieder ein bißchen populistischen Unsinn verzapfen und stellt daher den Antrag, endlich die Videokameras zur Überwachung von Drogenhändlern am Kleinschmidtsteg zu installieren. Über seine Motive läßt uns der Landtagskandidat nicht im Unklaren: er möchte das Sicherheitsgefühl der darmstädter Bürgerschaft stärken. Das Gefühl wohlgemerkt, nicht etwa die Sicherheit. Oder anders ausgedrückt: er möchte an der Verbreitung von Illusionen mitwirken und dafür auch noch Steuergelder verschwenden. Das nenne ich wahrlich konstruktive Politik.

Wobei – wir müssen uns natürlich im Klaren darüber sein, wessen Sicherheit immer wieder gefährdet ist. Der biometrische Sicherheitswahn richtet sich bekanntlich gegen alle, die unsere vorherrschende Weltordnung aus verschiedenen Gründen und mittels verschiedener Mittel nicht so toll finden.

Zum Glück gibt es einen weiteren Antrag für die Stadtverordnetenversammlung, der nicht nur ernsthaft ist, sondern uns alle auch zum Nachdenken anregen sollte. Die Offene Liste von PDS und DKP stellt den Antrag, die Hindenburgstraße nach Arvid Harnack oder nach Elisabeth Schumacher zu benennen. Beide gehörten der Widerstandsgruppe Rote Kapelle an und wurden von den Nazis 1942 in Berlin–Plötzensee hingerichtet. Paul von Hindenburg war von 1925 bis 1934 Reichspräsident und ebnete durch die Ernennung von Adolf Hitler zum Reichskanzler den Nationalsozialisten den Weg zur Macht. Schon in den Jahren zuvor setzte er durch das Instrumentarium der Notverordnungen die demokratische Verfassung der Weimarer Republik, die Hindenburg ohnehin ablehnte, außer Kraft.

Wenn immer noch eine Straße nach einem derartigen Reaktionär benannt wird, zeigt sich hier Geschichtslosigkeit im Einklang mit der Befürwortung bestimmter Werte, falls das kapitalistische System einmal in die Krise geraten sollte. Darmstadts Oberbürgermeister Peter Benz, der ja sonst immer so gerne seine antifaschistische Grundhaltung nach außen trägt, hätte schon längst einen derartigen Antrag auf Umbenennung der Hindenburgstraße einbringen können, ja müssen. Ich will lieber nicht wissen, weshalb die darmstädter SPD um diese Frage so einen weiten Bogen macht. Ob es damit zusammenhängt, daß sie jahrzehntelang eine Nazidichterin namens Margarete Dierks hofiert hat?

Am Mittwoch findet in der Stadthalle in Bergen–Enkheim, also in Frankfurt, die Hauptversammlung der IG Farben statt. Die IG Farben, Kriegsverbrecherorganisation der Nazizeit, befindet sich seit über 50 Jahren in der Abwicklung, ohne daß davon viel zu bemerken wäre. Dagegen richtet sich eine Demonstration vor der Stadthalle, die auf morgens 8 Uhr angesetzt ist. Am heutigen Montagabend wird es hierzu ab 20 Uhr eine Informationsveranstaltung im Casino auf dem IG–Farben–Campus im Frankfurter Westend geben.

Der seinerzeit weltgrößte Chemiekonzern I.G. Farben hatte während der Naziherrschaft zehntausende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter für sich schuften lassen und Tausende von ihnen durch Arbeit vernichtet. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerschlugen die Alliierten das Unternehmen, wodurch BASF, Bayer, Hoechst und einige kleinere Firmen entstanden. Die Liquidationsgesellschaft I.G. Farben i.A. sollte die Gläubiger und Zwangsarbeiterinnen des einstigen Weltkonzerns ausbezahlen und sich dann auflösen. Doch dies haben die Vorstände und Aufsichtsräte der Firma jedoch seit über einem halben Jahrhundert verhindert – und werden dafür auch noch gut bezahlt. Daher beantragt der Dachverband der Kritischen Aktionäre zur Hauptversammlung des Unternehmens am 18. Dezember in Frankfurt, daß die bislang so erfolgreich tätigen Aufsichtsräte durch drei prominente Vertreter ehemaliger Zwangsarbeiter ersetzt werden sollen.

Die Liquidatoren (also der Vorstand) und der amtierende Aufsichtsrat der I.G. Farben verkünden im Geschäftsbericht 2001 immerhin, es sei ihr "Ziel, die Abwicklung spätestens im Jahre 2004 zu beenden." Ob und wann sie die jüngst gegründete Entschädigungs–Stiftung der Firma mit nennenswerten Mitteln ausstatten wollen, lassen sie jedoch im Dunkeln. Angesichts dessen, daß die Firmenleitung die Auflösung des nazifreundlichen Konzernes schon seit Jahrzehnten verspricht, sei – so die Kritischen Aktionäre der Firma – eine Lösung nur von einem entsprechend neu besetzten Aufsichtsrat zu erwarten. Für den Morgen des 18. Dezember kündigen daher überlebende Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter, Kritische Aktionäre und zahlreiche antifaschistische Organisationen eine Demonstration vor der I.G. Farben Hauptversammlung an, die erneut in der Stadthalle des Frankfurter Vororts Bergen–Enkheim abgehalten wird. Ziel der Proteste ist die sofortige Auflösung des Unternehmens und die Auszahlung seines gesamten Restvermögens an die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter. Also, Mittwochmorgen, 8 Uhr.

Am Donnerstag beschäftigt sich eine Veranstaltung in der Oetinger Villa mit einer rechten Musikszene, die sich zwischen Mythos und Ästhetik bewegt und zuweilen auch chartfähig wird. Industrial und Dark Wave gelten zwar eher als düster, doch die darin verbreiteten Mythen sind nicht ohne Tradition und die Ästhetik nicht ohne Ideologie. Lyrik und Performance transportieren antidemokratische und antiemanzipatorische Motive, die von einer boomenden unkritischen Szene nicht nur toleriert, sondern auch akzeptiert werden. Zu diesem Thema ist im Unrast Verlag ein Buch erschienen, das die vielschichtige Rezeption rechter Ideologien in der Independent–Szene thematisiert. Darin werden unterschiedliche Motivationen der Akteure vorgestellt, aber auch die durchaus vorhandenen Kontakte zur extremen Rechten. Auf der Veranstaltung werden die Autoren darüber hinaus die Schwarze Szene vorstellen und dabei insbesondere auf ihre rechten Labels, Bands und Publikationen eingehen. Natürlich wird hierbei auch das Phänomen der Neuen Deutschen Härte beleuchtet.

Ich würde mir wünschen, wenn sich unsere Musikredaktion hiermit einmal kritisch auseinandersetzen würde. Bis dies einmal geschieht (man und frau soll die Hoffnung ja nicht aufgeben), empfehle ich den Besuch der Veranstaltung am kommenden Donnerstag um 20 Uhr in der Oetinger Villa.

Wir sehen also, daß rechte undemokratische Meinungen, Positionen und Ideologien durchaus gesellschaftsfähig sind und neben einer kritischen Aufarbeitung auch bekämpft werden müssen. Aufgearbeitet werden sollte vielleicht auch die Vergangenheit gewisser darmstädter Spitzenpolitiker. Nicht nur, daß die beiden Herren Andreas Storm und Walter Hoffmann dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien 1999 zugestimmt haben, nein sie waren auch so freundlich, dem russischen Kriegsherrn Wladimir Putin zuzujubeln. Die einzig logische Konsequenz eines anständigen Politikers besteht bekanntlich darin, am Sessel festzukleben. Moral, in der Politik gar – Fehlanzeige. Jubel, Jubel, Jubel, und dabei nicht das Kaufen vergessen!

 

Schluß

Diese Sendung wird am Dienstag um Mitternacht, sowie nach dem Radiowecker um 8 Uhr und noch einmal am Nachmittag um 14 Uhr wiederholt. Anregungen, Fragen und Kritik könnt ihr wie immer auf unterschiedliche Weise loswerden. Entweder ihr sprecht eine Nachricht auf meine Voice–Mailbox bei Radio Darmstadt auf; die Telefonnummer lautet (06151) für Darmstadt, und dann die 87 00 192. Oder ihr schickt mir ein Fax an die 87 00 111. Oder eine Email an geschichte@alltagundgeschichte.de. Das Sendemanuskript dieser Sendung wird demnächst auf meiner Homepage verfügbar sein: www.waltpolitik.de. Auf Radio Darmstadt geht es jetzt weiter mit Heinerkult, einer Sendung der Kulturredaktion. Am Mikrofon war Walter Kuhl.

 

 

ANMERKUNGEN

 

[1]   Spuren der Jahrtausende, Seite 16–17
[2]   Spuren der Jahrtausende, Seite 116–117
[3]   Spuren der Jahrtausende, Seite 445
[4]   Menschen · Zeiten · Räume, Seite 95
[5]   Menschen · Zeiten · Räume, Seite 17

 

 

Diese Seite wurde zuletzt am 28. Januar 2006 aktualisiert.
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