Benz und Gehrke mit Weizsäcker
Fishing for Celebrities [1]

Kapital und Arbeit

Oberbürgermeister(in)wahl in Darmstadt

Sendemanuskript

 

Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte

Radio: Radio Darmstadt

Redaktion und Moderation: Walter Kuhl

Ausstrahlung am:

Montag, 11. Januar 1999, 17.00 bis 17.55 Uhr

Wiederholt:

Dienstag, 12. Januar 1999, 08.00 bis 08.55 Uhr
Dienstag, 12. Januar 1999, 14.00 bis 14.55 Uhr

Zusammenfassung:

Vorstellung der Kandidaten und der Kandidatin für die Wahl zum Oberbürgermeister (oder zur Oberbürgermeisterin) 1999. Wie vorausgesagt siegte Peter Benz in der Stichwahl, wenn auch knapp, mit 50,8% der abgegebenen gültigen Stimmen. Die eingespielten O-Töne entstammen einer Podiumsdiskussion vom 8. Januar 1999 unter der Leitung des ehemaligen Lokalredakteurs von Radio Darmstadt, Henry Zimmer.

 


 

Inhaltsverzeichnis

 


 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

Am kommenden Sonntag wird bekanntlich der Darmstädter Oberbürgermeister gewählt. Genauer gesagt handelt es sich dabei um den ersten Wahlgang, denn es ist wohl wenig wahrscheinlich, daß Peter Benz [SPD] schon am kommenden Sonntag als Sieger feststeht; er wird sich noch vierzehn Tage länger gedulden müssen.

Nun könnte ich die Wahl Wahl sein lassen, denn zu wählen gibt es wenig; der alte und neue Oberbürgermeister steht ja fest. Denn weder Wolfgang Gehrke [CDU] noch Klaus Feuchtinger [Grüne] und schon gar nicht Ralf Arnemann [FDP] oder Birgitta Bischoff [Liste Europa] haben den Hauch einer Chance. Andererseits bieten die Kandidatin und die Kandidaten genügend Anschauungsmaterial über den Zustand der Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland, und damit auch in Darmstadt.

In der folgenden Stunde werde ich daher diese Fünf anhand ihrer Wahlaussagen vorstellen und im Anschluß daran die Frage formulieren, warum wir eigentlich überhaupt eine oder einen dieser Fünf wählen sollen. Der Kandidat meiner Wahl ist leider (noch) zu jung, um zugelassen zu werden. Offensichtlich ist es so, daß ein Oberbürgermeister mindestens 24 Jahre alt sein muß, was angeblich ein gewisses Maß an innerlicher Reife beweist. Wer einmal eine Sitzung der Stadtverordnetenversammlung verfolgt hat, kann diesen hehren Gedanken gleich in die nächste Mülltonne werfen. Solch einen unqualifizierten Haufen Frauen und Männer habe ich selten in meinem Leben erlebt.

Durch die folgende Sendung führt Walter Kuhl.

 

Vertrauenswürdig

Der 18. März 1871 war das Geburtsdatum eine der spannendsten Revolutionen der Geschichte. Das Volk von Paris vertrieb die bürgerliche Regierung Frankreichs unter Thiers, der Paris entwaffnen und den deutschen Truppen unter Bismarck und Moltke ausliefern wollte. Die Pariserinnen und Pariser gründeten die Commune und wählten ihre Vertreter (leider dann doch keine Frauen) aus den eigenen Reihen. Wie das aussah, schildert die österreichische Gruppe Schmetterlinge in ihrer Proletenpassion. Wer genauer wissen will, was die Pariser Commune war, der oder dem kann ich nur den im letzten Herbst erschienen Roman von Jutta Ditfurth empfehlen. Er heißt Die Himmelsstürmerin[2]

Wählt eher diejenigen, die sich um eure Stimme nicht bewerben.

Ob die Schmetterlinge schon damals, die Proletenpassion ist Mitte der 70er Jahre entstanden, den Klaus Feuchtinger gekannt haben? Weil: eigentlich ist er ja der ideale Kandidat. Bei ihm ist offensichtlich, daß er nicht gewählt werden will und auch nicht gewählt werden soll. Er gibt sich ja auch alle Mühe, die SPD nicht zu verärgern.

"Meine Kandidatur wird von Seiten der SPD nicht als Provokation empfunden", gibt Feuchtinger offen zu; und Peter Benz ist's laut Pressemeldung zufrieden [3]. So nette Anwärter auf seinen Thron mag er gerne. Die GRÜNEN sind halt in die Jahre gekommen und absolut pflegeleicht. Die Pappnasigkeit dieses grünen Oberbürgermeisterkandidaten ist Stadtgespräch; irgendwie tut mir der Mann schon fast wieder leid. Aber eben nur fast.

Am 18. Dezember veröffentlichte seine Partei seine jugendpolitischen Vorstellungen. Auch bei den GRÜNEN ist offensichtlich angekommen, daß gerade Jugendliche zwischen 16 und 25 von dieser Partei nichts wissen wollen. Die GRÜNEN sind längst etabliert und haben ihre Klientel. Sie geben sich zwar jugendlich, aber die Alterserscheinungen sind besonders deutlich bei den Herren von Plottnitz oder Fischer abzulesen. Staatsmännisches Gehabe ist wahrlich kein Grund für junge Menschen, grün zu wählen. Klaus Feuchtinger sagte nun:

Es ist viel wichtiger, mit den Jugendlichen selbst zu sprechen und ihre Erfahrungen kennenzulernen. Ich halte es für wichtig, daß Kinder und Jugendliche nicht aus dem öffentlichen Raum, und damit aus der Wahrnehmung aller Bürger herausgedrängt werden. [4]

Wie sich das damit verträgt, daß er maßgeblich daran beteiligt war, Bastian Ripper aus der grünen Stadtverordnetenfraktion zu werfen, erschließt sich mir nicht so recht. Irgendwie sollten sich die GRÜNEN mal entscheiden, was sie wollen. Für die Kommunalwahl im März '97 brauchten sie ein paar Jugendliche auf ihrer Liste, damit überhaupt ein paar junge Leute grün wählen. Also stellten die GRÜNEN Bastian Ripper auf. Mit Bastian Ripper zu sprechen, schien dann schon etwas schwieriger zu sein; weil der sich nicht von Koalitionsvereinbarungen einseifen lassen wollte. Bastian Rippers Erfahrungen mit der Spargelernte auf dem Hofgut Gehaborn oder den Obdachlosendomizilen unter der Schirmherrschaft von Daniela Wagner wollten sie lieber gar nicht erst zur Kenntnis nehmen.

Und als Bastian Ripper, wie Jugendliche nun mal sind, darauf beharrte, daß das, was skandalös ist, auch so benannt und vor allem geändert werden sollte, warteten die GRÜNEN auf die passende Gelegenheit, ihn abzuservieren. Und das war auch gar nicht schwierig, denn die Staatsanwaltschaft Darmstadt sorgt schon dafür, daß möglichst viele unsinnige Verfahren gegen den stadtbekannten Atomkraftgegner eröffnet wurden. Ich erinnere nur an das Verfahren, daß der umtriebige Staatsanwalt Balß drei Jahre lang akribisch vorantrieb, als er die Störung des öffentlichen Friedens anklagte, weil einige Jugendliche eine Schienensprengung auf den Zufahrtsgleisen zum AKW in Biblis ankündigten; sie erschienen dann mit einer Gießkanne in der Hand. Aber vielleicht hat der gute Herr Balß ja sonst keine Freude am Leben.

Und so kommt es, daß Klaus Feuchtinger zwar nicht die Jugendlichen aus dem öffentlichen Raum drängen will, aber wenn sie dann doch zu unbequem werden, dann muß man ihnen ihre Grenzen zeigen. Also sie ausgrenzen, was in Bastian Rippers Fall hieß, ihn aus der Fraktion auszuschließen und faktisch mundtot zu machen.

O-Ton Henry Zimmer: : Klaus Feuchtinger: Die Jugendgruppen von Umweltorganisationen wie die BUND-Jugend oder die Stadtpiraten wollen mit den Darmstädter Grünen nichts mehr zu tun haben. Die Grünen selbst haben den einzig jungen, rebellischen Stadtverordneten, den sie in ihrer Fraktion hatten, rausgeworfen, weil sie mit einigen seiner Aktionen nicht einverstanden waren. Können die Grünen mit jugendlicher Rebellion nicht mehr umgehen?

O-Ton Klaus Feuchtinger : Also, ich würde sagen, ganz im Gegenteil. Das sind zwei verschiedene Paar Stiefel, ob wir mit Jugendlichen in der Öffentlichkeit umgehen oder ob wir einen Stadtverordneten in den eigenen Reihen haben, der Hausfriedensbruch begangen hat und da auch in dem Zusammenhang verurteilt worden ist, daß wir dann hier auch entsprechende Konsequenzen daraus ziehen müssen, um uns politisch auch weiterhin glaubwürdig verhalten zu können.

Dreist wird er mit folgendem Statement, das er auf der Podiumsdiskussion zur Oberbürgermeisterwahl am letzten Freitag losgelassen hat:

O-Ton Klaus Feuchtinger : Ich denke, die Jugend in dieser Stadt hat sehr wohl wahrgenommen, daß wir als Grüne dort, wo Projekte gefährdet sind, sei es die Oetinger Villa oder sei es an anderen Stellen, als Grüne wir immer auf ihrer Seite standen. In Zeiten der schwarz-roten Kooperation war ja schon einmal im Gespräch und auch etwas näher dran, das Schließen der Oetinger Villa und das Umnutzen der Oetinger Villa. Und da hatte es gerade die Szene der Oetinger Villa den Grünen zu verdanken, daß dies nicht eingetreten ist. Außerdem haben wir den Jugendlichen, die sehr viel Mühsal – würde ich einmal sagen – auf sich nehmen, um in Bauwagensiedlungen alternative Lebensformen auszuprobieren, geholfen, daß sie nicht von der Polizei abgeräumt werden sondern auch einen Platz finden, auf dem sie dauerhafte Bleibe haben können.

Das ist natürlich richtig, daß ohne die Grünen die Bauwagenleute wahrscheinlich geräumt worden wären und die Oetinger Villa irgendeinem städtischen Gebäude- und Raumschacher zum Opfer gefallen wäre. Der Witz daran ist jedoch der, daß auf Seiten der Grünen in beiden Fällen eine einzige Person sich ziemlich erfolgreich für beide Projekte eingesetzt hat. Ihr ratet es vielleicht: es war Bastian Ripper. Das heißt, Klaus Feuchtinger versucht hier, die Lorbeeren des von ihm geschaßten Fraktionsmitglieds einzuheimsen. Ein grandioses Demokratieverständnis.

Klaus Feuchtingers ist sicher meilenweit vom Demokratieverständnis der Pariser Commune entfernt, aber so halbwegs revolutionäre Zeiten sind ja auch schon dreißig Jahre vorbei. Soll ich ihm das dann übel nehmen? So scheint Demokratie halt hierzulande verstanden zu werden.

Na gut. – Mit der Demokratie ist zwar nicht so viel los, aber Klaus Feuchtinger hat ja noch einen Trumpf im Ärmel: Sein Slogan heißt: Bitte, bitte, habt Vertrauen zu mir. Aber ja doch, sagt daraufhin der Peter Benz.

Aber ich will gar nicht einseitig sein. Eigentlich muß ich den Klaus Feuchtinger ja loben. Denn schließlich mußten die GRÜNEN ja irgendjemanden aufstellen. Daniela Wagner wollte nicht, Hans-Jürgen Braun mochte sich nicht mit Peter Benz schlecht stellen, und so suchten und suchten die GRÜNEN, bis sie ein Opfer gefunden hatten. Inzwischen ist es dem grünen Kandidaten gelungen, eine eigenständige Begründung für seine Kandidatur vorzulegen:

O-Ton Klaus Feuchtinger : Ich bin nicht angetreten, um für irgendeinen Mitbewerber Wahlkampfhilfe zu leisten. Dafür opfere ich nicht meine Zeit und mache nicht diesen Streß. Ich mache das im wesentlichen aus drei Gründen. Erstens, die Wählerinnen und Wähler sollen die Chance bekommen, einen grünen Oberbürgermeister zu wählen, der sich nicht vom Sowohl-Als auch leiten läßt, sondern der ohne zu zögern alle Prozesse unterstützen und fördern wird, welche die Umweltbelastungen in dieser Stadt reduzieren und die soziale Situation verbessern. Zweitens, wer mich wählt, der stärkt die Grünen in dieser Koalition. Ganz gleich, ob die Stimmen am Ende zum OB reichen werden oder nicht. Drittens, im Wahlkampf vermittle ich den dominanten Anteil der Grünen an der erfolgreichen Politik dieser Koalition. Das mache ich sehr engagiert, das schadet keiner Freundschaft, auch nicht über Parteigrenzen hinweg, und überzeugt hoffentlich auch Henry Zimmer und noch andere in dieser Stadt.

Anfang der 80er Jahre gab es den Satz, die GRÜNEN bräuchten nur einen Sandsack oder einen Besen aufstellen und sie bekämen ihre fünf, zehn, in manchen Städten damals schon fünfzehn Prozent. Vielleicht hätten sich die GRÜNEN besser dieses Gedankens besonnen und einfach einen Sandsack ins Rennen geschickt. Sandsäcke haben nämlich einen Vorteil: sie reden nicht und machen keine Wahlversprechungen. Das hätte sie mir glatt sympathisch gemacht. Aber, wer weiß, möglicherweise haben sie sich gedacht, wenn wir einen Sandsack aufstellen, dann kommt irgendein Komiker noch auf den Gedanken, dann hätten sie doch gleich einen grünen Filzhut aufstellen können. Und solche Assoziationen mögen unsere grünen Stadtverordneten nun wirklich nicht.

 

Realistisch

Wolfgang Gehrke ist vielleicht der einzige realistische Konkurrent für Peter Benz. Aber das ist auch alles, was für ihn spricht. Für was er politisch steht, lasse ich ihn lieber selbst sagen. Sein Verhältnis zur Straßenbahn nach Kranichstein sieht er so:

O-Ton Wolfgang Gehrke : Es ist ja eine Frage, wie eine Stadt sich finanziell letztlich darstellt und ob es sich Maßnahmen leisten kann, die über die finanziellen Möglichkeiten einer Stadt hinausgehen. Und das ist die entscheidende Frage bei dieser Frage. Ich selbst fahre fast täglich mit der Straßenbahn. Ist doch gar keine Fage, das ist ein gutes Verkehrsmittel. Ich fahre im Sommer so gut es geht und so häufig wie möglich mit dem Fahhrad. Viele werden mich damit auch schon gesehen haben. Und die Radfahrer selbst können das sicherlich als erste beurteilen, denn ich bin schon seit 25 Jahren Mitglied im Allgemeinen Deutschen Fahrradclub. Das sind für mich ganz wichtige Anliegen. Die darf man nicht vernachlässigen. Aber man muß die Prioritäten richtig setzen. Und man muß sie mit den Mitteln setzen, die man hat.

Was sich eine Stadt seiner Meinung nach leisten sollte, sieht der CDU-Kandidat im Hinblick auf die Feierlichkeiten zum 100-Jahr-Jubiläum der Mathildenhöhe so:

O-Ton Henry Zimmer : Herr Gehrke: Hundert Jahre Mathildenhöhe, was hätten Sie draus gemacht und was hätt's gekostet?

O-Ton Wolfgang Gehrke : Was hätt's gekostet? Auf jeden Fall viel Geld. Aber ich denke, das ist genau einer der Ansatzpunkte, die in dieser Stadt häufig vernachlässigt werden, nämlich es braucht für eine Stadt auch sogenannte Highlights. Und diese Highlights, die muß man sich irgendwo schaffen. Die muß man sozusagen als Verkaufs- und Werbeelement mit einsetzen. Und vor allen Dingen muß man die Potentiale, die eine Stadt hat, also die Möglichkeiten, die eine Stadt hat, in ganz besonderer Weise fördern. Und ich denke, ich kann das beurteilen. Ich habe Abitur in Düsseldorf gemacht

Also man sieht: Lieber das Geld für Jubelfeierlichkeiten und Werbung rausschmeißen als für die Bedürfnisse der Menschen in dieser Stadt. Und sein soziales Christengewissen läßt ihn dazu folgendes sagen:

O-Ton Wolfgang Gehrke : Wenn Sie Wirtschaftsförderung betreiben wollen, wenn Sie auf diesem Gebiet Akzente setzen wollen, Wenn Sie Arbeitsplätze sichern wollen, wenn Sie das Wohnen in einer Stadt attraktiv machen wollen auch für Nicht-Sozialhilfeempfänger, dann müssen Sie ganz andere stadtentwicklungspolitische Maßnahmen ergreifen.

Wolfgang Gehrke läßt sich auf seinem Wahlkampf-Flyer neben dem ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker abbilden. Neben dem Foto heißt es: "Vertrauen muß erlebbar sein." Auch Peter Benz, auf den ich später noch zu sprechen kommen werde, läßt es sich nicht nehmen, im Kalender seiner Wählerinitiative pro Benz neben dem ehemaligen Bundespräsidenten zu posieren.

Richard von Weizsäcker gilt als ein honoriger Mann. In den zehn Jahren seiner Amtszeit von 1984 bis 1994 hat er sich durch eine Reihe staatsmännischer Reden hervorgetan.

Allerdings hat der Menn eine Vergangenheit. Er hat zwar nicht wie Theodor Heuss 1933 dem Ermächtigungsgesetz für Adolf Hitler zugestimmt. Er hat auch nicht wie Heinrich Lübke als Architekt Baracken in Konzentrationslagern entworfen. Richard von Weizsäcker war jedoch von 1962 bis 1966 Mitglied der Geschäftsführung des Chemie- und Pharmakonzerns Boehringer in Ingelheim.

In der Biographie Richard von Weizsäcker – Profile eines Mannes, die in den 80er Jahren herausgegeben wurde, schreiben die Herausgeber Werner Filmer und Ernst Schwan:

Dem leidenschaftlichen, impulsiven Unternehmer Boehringer bot Weizsäcker eine Art Korrektiv für unzählige neue Geschäftsideen. Weizsäcker relativierte, durchdachte auch den zweiten und dritten Schritt, war schließlich der Mann, der emotionslos, realitätsorientiert und bedächtig Boehringers Projekte, Vorhaben und Zukunftsvisionen prüfte. Keine wichtige Unternehmensentscheidung fiel ohne Weizsäckers Einwilligung. [5]

Und genau in der Zeit, in der bei Boehringer Ingelheim nichts ohne Wissen und Billigung von Weizsäckers lief, wurde einer der größten Geschäftserfolge dieses Konzerns geboren. Boehringer Ingelheim lieferte das Know How und das Material zur Herstellung eines der Grundlagenstoffe für ein Produkt namens Agent Orange an den US-amerikanischen Konzern Dow Chemical.

Agent Orange wurde vom US-Militär in Vietnam benutzt, um Wälder zu entlauben und ganze Landstriche unbewohnbar zu machen. 57000 Tonnen dieses Gifts wurden von 1962 bis 1970 über Vietnam und Laos versprüht. Krebs, Mißbildungen und Tod sind die Folge. Selbst heute, 25 Jahre nach Beendigung des Vietnam-Krieges sind die Folgen unübersehbar.

1967 notierte ein Boehringer-Mitarbeiter: "Solange der Vietnam-Krieg andauert, sind keine Absatzschwierigkeiten zu erwarten." Bei Boehringer in Ingelheim wußte man natürlich längst, wozu Dow Chemical den Stoff verwendete. Schon in den 50er Jahren war bekannt, daß sich der bei Boehringer Ingelheim hergestellte Stoff auch als chemischer Kampfstoff einsetzen läßt. [6]

Die Herren Gehrke und Benz werden schon wissen, weshalb sie sich neben einem solchen honorigen Mann ablichten lassen, um damit auf Stimmenfang zu gehen. Wie heißt es bei Gehrke so schön: "Vertrauen muß erlebbar sein." Ich weiß ja nun nicht, was die so vertrauensvoll bedachten Vietnamesinnen und Vietnamesen davon halten.

 

Zweifellos

Peter Benz ist unser Oberbürgermeister und wird es auch bleiben; daran kann ja kein ernsthafter Zweifel bestehen. Was hat er uns denn zu bieten? Nun, seine Visionen umfassen die Förderung des Standorts Darmstadt und damit einhergehend die Attraktionen einer lebenswerten urbanen Stadt.

Bei der Eröffnung des Carree vor knapp zwei Jahren brachte Peter Benz auf den Punkt, was er sich unter Urbanität vorstellt: die Förderung von Handel, Gewerbe und Verwaltung. Fehlt da nicht was? Hm …? Genau! Der Mann vergaß, daß es auch Menschen in dieser Stadt gibt, die darin leben wollen. Die sich nicht von seinen Konsumtempeln zumüllen lassen wollen. Die nicht die Einkaufsparadiese bevölkern wollen – oder viele, die das gar nicht erst können.

Aber die sind ja hier ohnehin fehl am Platz. Wer nicht kauft, wer nicht kaufen kann, verhält sich nicht standortgerecht. Für die oder den wird dann auch nicht viel getan. Ein Beispiel gefällig? Nun, nehmen wir Darmstadts Jugendpolitik. Unter der Federführung unseres Oberbürgermeisters wurde das Jugendzentrum in der Heimstättensiedlung geschlossen. Angeblich war kein Geld dafür vorhanden.

Dabei ist das alles eine Frage des Standorts. Geld ist immer da, wenn es darum geht, diese Stadt für all diejenigen attraktiv zu machen, die ihr Geld hier loswerden wollen – und können. Die Millionen, die in die jetzt Central-Station genannte Heag-Halle B fließen, sind ein gutes Beispiel dafür. Und da es um Geld geht, um viel Geld, bekommen Peter Benzens jugendpolitische Vorstellungen auch einen ganz besonderen Sinn. Peter Benz stellt seine jugendpolitischen Vorstellungen unter das Motto Jugend mächtig angesagt. Schauen wir mal, was denn so angesagt ist: Tunnel-Rave, Open Air Festival, Sport, Kneipen, Party, Flohmarkt. Interessant, nicht? Die Kids von heute haben nach seinen Vorstellungen wohl nur Fun und Action im Kopf.

Arbeitslosigkeit und Lehrstellenmangel – kein Thema für Peter Benz. Einsatz für eine menschlichere Gesellschaft und für Umweltschutz – aber wozu? Brot und Spiele – aber immer! Wie heißt es im Werbefaltblatt für unseren geliebten Oberbürgermeister:

Die Verkürzung der Sperrzeiten unter Peter Benz hat die Innenstadt mit Leben erfüllt. Die gesamte Kneipenkultur ist neu erblüht. Straßencafés und Nachtbars erleben ihre Renaissance. [7]

Also sprach er auf der Podiumsdiskussion:

O-Ton Peter Benz : Meine Damen und Herren! Zunächst zu der einen Frage – Partyhauptstadt. Das ist ein Ergebnis von SWF 3, also vom Südwestfunk 3, in einer Umfrage festgestellt worden. Und wir haben natürlich als Stadt Darmstadt gerne diesen Titel auch aufgenommen und aufgegriffen. Und ich hab vorhin schon mal gesagt: Kneipen, die bis 3 Uhr geöffnet haben möchten, sollen diesen Antrag stellen. Wir haben ne ganze Reihe in den letzten Jahren diese Sperrzeitverkürzung erteilt und haben damit ja auch sehr guten Erfolg.

Oder anders ausgedrückt: das Leben ist zwar nicht schön, aber wir ermöglichen den Kids von heute den möglichst ungestörten Drogengenuß; allerdings nur den erlaubten in flüssiger Form. Wer gut abgefüllt ist, wird auch morgen wieder ein nützliches Mitglied dieser Gesellschaft sein.

Doch halt! Der Mann hat ja auch innovative kulturelle Ideen. Als aufrechter Kämpfer gegen das Graffiti-Unwesen in unserer Stadt hat er letztes Jahr die Einzelhändler aufgefordert, keine Sprühdosen mehr an Jugendliche zu verkaufen. Weil, Graffitis verschandeln das Stadtbild.

Und wo ich gerade bei den von ihm erwünschten Drogen war, paßt doch auch, daß er alljährlich die Automobilausstellung in der Wilhelminenstraße eröffnet. Das harmlosere bei dieser Droge Automobil ist ja noch, daß sie das Stadtbild verschandelt. Öde Straßen, notorisch von Autos zugeparkte Rad- und Fußwege, Gestank und Lärm.

Aber vielleicht drückt sich ja hier das ganz besondere Kunstverständnis unseres Oberbürgermeisters aus. Vielleicht muß ich das Ganze als Collage, als Gesamtkunstwerk betrachten. Urbanität als Kunstform. Eine Kunst, die wir hören und riechen können; deren Anblick uns erfreuen soll; mit der wir interaktiv umgehen können, wenn wir wieder einmal von einem der vielen Autofahrertrottel geschnitten worden sind.

Weniger harmlos ist, das Peter Benzens Droge eine tödliche Waffe darstellt. Sein alljährlicher Werbefeldzug für einen solchen Drogenkonsum ist vielleicht nur dadurch richtig verständlich, daß auch er sich im Werbekalender seiner Wählerinitiative neben dem schon von mir erwähnten Richard von Weizsäcker ablichten läßt. Gibt es da möglicherweise einen Zusammenhang, so von Waffe zu Waffe?

Zum Schluß noch ein Bonmot aus der Satireabteilung seiner Wählerinitiative pro Benz: "Im Dienste der Darmstädter Bürgerschaft", so heißt es da, stehe Peter Benz. Nicht nur, daß er zu bestimmten Zeiten auch persönlich am Telefon zu erreichen ist, nein, der Mann habe die Dienstwege der städtischen Ämter verkürzt.

Wie das aussieht? Ich zitiere: "Die Stadtverwaltung ist auf drei Standorte konzentriert (Innenstadt, Frankfurter Straße, Bessunger Straße)." Für mich mit dem Fahrrad mag das ja noch angehen. Aber es soll Menschen in dieser Stadt geben, die nicht so mobil sind; und zwischen dem Stadthaus auf dem ehemaligen Schlachthofgelände und dem Fuhr- und Reinigungsamt in Bessungen liegen ja schon ein paar Kilometer. Kurzer Dienstweg eben. Aber dafür ist Darmstadt umfassend im Internet präsent. [8]

Alles in allem keine wirkliche Wahlempfehlung. Eigentlich eher ziemlich peinlich.

 

Wortgewandt

Ich will natürlich Ralf Arnemann von der FDP und Birgitta Bischoff von der Liste Europa, sozusagen unserer lokalen FDP, nicht unterschlagen.

Ich habe mir lange überlegt, ob ich Ralf Arnemann überhaupt erwähnen soll. Denn selbst Negativwerbung ist Werbung; und Werbung hat die Partei der Besserverdienenden einfach nicht verdient. Sie ist eine der Hauptverantwortlichen für den sozialen Kahlschlag in dieser Republik und es gibt für diese Partei ohnehin schon eine Nachfolgerpartei, nämlich die Grünen. Das Wirtschaftsprogramm der Grünen klingt so, als wäre es von der Westerwelles und Gerhardts inspiriert.

Ralf Arnemann hat sich auf der Podiumsdiskussion zur Oberbürgermeisterwahl am letzten Freitag allerdings auch selbst als inkompetent und ideologischer Schaumschläger vorgestellt.

O-Ton Ralf Arnemann : Und dann zu Goldwell. Na Gott, also ich muß mal sagen. Das ist halt wieder ne Firma, die halt weggeht. Und komischerweise sind immer die Firmen schuld, ne? Natürlich ist's der böse, böse Burda gewesen. Natürlich ist der Chaosladen Bahn der Schuld. Es ist nie die Stadt Darmstadt. Komischerweise ist nie die Stadt Darmstadt schuld, wenn der ICE nicht kommt, ne? Wenn plötzlich irgendwelche Planungen wegfallen, wenn's Weltraummuseum nicht gebaut wird. Es ist nie die Stadt Darmstadt. Überall sonst klappt's mit der Bahn, bloß in Darmstadt net. Überall sonst gelingt es, Firmen anzusiedeln. In Darmstadt ziehen sie weg. Es ist leider immer der böse Andere und nie der zuständige Oberbürgermeister.

Ich nehme hier nur das Beispiel der Deutschen Bahn AG. Durch die von der FDP mitgetragenen Bahnreform hat sich die Bahn zu einem Unternehmen entwickelt, das sich noch mehr und einseitig von der Fläche verabschiedet und voll auf Hochgeschwindigkeit setzt. So unpünktlich wie heute war die Bahn noch nie; und die entsprechenden Hinweisschilder in den größeren Bahnhöfen lassen sich auch als gekonnte Negativwerbung lesen.

Die Automobil-Lobby in Vorstand und Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG wird sich darüber freuen. Ursache ist jedoch der gezielte Personalabbau und über alle Maßen gestreckte Wartungsintervalle, bei denen Zugausfälle und Verspätungen zwangsläufig sind und sein müssen. Und zu einer solchen fahrgastunfreundlichen, aber automobilfreundlichen Haltung gehört eben auch, Interregios zu kappen und den ICE aus Darmstadt abzuziehen. [9]

Das hat nichts damit zu tun, ob der Standort Darmstadt attraktiv ist oder nicht. Wobei es ohnehin egal sein kann, ob dieser Standort für Firmen attraktiv ist. Wollen wir denn eine noch mehr subventionierte und Verkehr erzeugende Firmen in Darmstadt? Ist es das, was die Benzens und Gehrkes unter Urbanität verstehen?

Birgitta Bischoff reiht sich hier fast nahtlos ein.

O-Ton Birgitta Bischoff : Eine Nordost-Umgehung ist auf jeden Fall notwendig. Aber sie ist miteinzubeziehen in einen Generalverkehrsplan.

Ich habe hier den Eindruck, daß die Frau keine Ahnung hat, wovon sie redet. Die Darmstädter Grünen stellten in ihrem Verkehrskonzept für Darmstadt noch 1994 richtig fest:

Als Bundesfernstraße wird eine Nordost-Umgehung nur zusätzlichen Verkehr aus dem Umland und von den Autobahnen anziehen und keineswegs zur Entlastung der innerstädtischen Hauptverkehrsstraßen beitragen. [10]

Von einem Generalverkehrsplan zu fabulieren, der realpolitisch gedacht ohnehin nur auf den Automobilverkehr zugeschnitten ist, ist einfach blauäugig. Da hätte sie besser gleich den Nulltarif im öffentlichen Nahverkehr fordern sollen; das würde nämlich jeden weiteren Straßenneubau überflüssig werden lassen.

Ich finde es bezeichnend, daß auch Birgitta Bischoff bei Jugendlichen gleich an Party und Konzerte denkt. Als hätten die Kids von heute nichts anderes im Kopf – oder hätten das die Politikerinnen und Politiker dieser Stadt so gerne, daß ihre Jugend sich unpolitisch den Kopf zudröhnen läßt? Ich fürchte es fast. Birgitta Bischoffs Sorge gilt daher den passenden Räumlichkeiten für die Musikdroge.

O-Ton Birgitta Bischoff : Was Darmstadt für Jugend brauchen würde, wie gesagt, Wünsche der Jugend, ist eine große Stadthalle mit Großkonzertcharakter. Kann selbstverständlich, muß nicht nur von den Jugendlichen benutzt werden. Das kann ganz Darmstadt. Was diese Jugendlichen auch mokiert haben, das ist, daß sie nachts durch die Stadt laufen müssen, daß hier keine Busse fahren. Wir haben zum Beispiel in Regensburg jetzt, ich habe das gerade im Darmstädter Echo gelesen, ein Minibussystem. Das wäre doch etwas einzuführen. Herr Feuchtinger von den Grünen könnte das mit Sicherheit unterstützen. Dann könnte man einiges wegkriegen von der Straße. Wir können auch sicherer unsere Jugendlichen in der Stadt abends um zwölf Uhr irgendwo hingehen lassen. [11]

Der Witz an ihrer Nachtbusidee ist, daß ein gewisser Bastian Ripper diese Idee schon vor sieben Jahren öffentlich aufgebracht hat, geschehen ist allerdings seither nichts.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte

Wen also wählen? Weder Birgitta Bischoff noch die vier männlichen Kandidaten machen eine besonders gute Figur. Benz wird sicher gewählt werden, wenn auch erst im zweiten Wahlgang. Feuchtinger ist natürlich der ideale Kandidat, allein schon um die SPD zu ärgern. Gehrke ist voll auf dem Standort-Trip und sollte die passende Antwort bekommen: er wird am Standort Darmstadt durchfallen. Arnemann hat sich selbst disqualifiziert: Phantasten, die von 3000 Arbeitsplätzen faseln, wo 180 zu retten sind, nämlich beim Bahnausbesserungswerk, sollten mit Luisenplatzfegen nicht unter fünf Jahren bestraft werden. Und Birgitta Bischoff ist vielleicht europäisch, aber irgendwie naiv. Engagiert, aber keine Ahnung.

Das Ärgerliche ist, daß es genau die Attribute sind, die Frauen gerne zugeschrieben werden. Aber nüchtern betrachtet paßt sie zu ihren vier männlichen Mitbewerbern. Ich hoffe, daß in fünf Jahren mein Wunschkandidat zur Wahl antritt. Und dann werden diese Fünf nichts zu lachen haben. [12]

Viel Spaß mit dieser Wahl wünscht Walter Kuhl.

 

ANMERKUNGEN

 

Mittels eines Klicks auf die Nummer der jeweiligen Anmerkung geht es zur Textpassage zurück, von der aus zu den Anmerkungen verlinkt wurde.

 

»» [1]   Montage aus der Oktober-Seite eines Wahlkampf-Kalenders der Initiative pro benz und einem Wahlkampf-Flyer von Wolfgang Gehrke.

»» [2]   Es folgt ein Ausschnitt aus der Proletenpassion der Schmetterlinge.

»» [3]   Leider sind die Fundstellen im Originalmanuskript nicht vermerkt.

»» [4]   Siehe Anmerkung 3.

»» [5]   Zitiert nach: Otto Köhler – Wenn das der Führer wüsste, in: Konkret 9/84, Seite 38–39

»» [6]   Ebenda.

»» [7]   Wahlkampf-Flyer der Initiative pro benz: Darmstadt hat Zukunft. Jugend mächtig angesagt!

»» [8]   Wahlkampf-Flyer der Initiative pro benz: Darmstadt hat Zukunft. Im Dienste der Darmstädter Bürgerschaft.

»» [9]   Die Auseinandersetzungen um den ICE-Halt in Darmstadt schlugen insbesondere 2007 und 2008 hohe Wellen, als es um die Frage ging, wem man und frau den Lärm einer neuen ICE-Trasse schlucken läßt.

»» [10]  Ich muß die das Zitat enthaltende grüne Umweltbroschüre bei Gelegenheit einmal wieder ausgraben. Solange siehe auch die Webseite der Bürgerinitiative Ohne NordOst-Umgehung.

»» [11]  Der Redebeitrag wurde grammatikalisch leicht angepaßt, denn hier geht es nun gewiß nicht darum, Birgitta Bischoff, eine Schwedin, in ihrem Gebrauch der deutschen Sprache vorzuführen.

»» [12]  Anstelle von Bastian Ripper trat Michael Siebert an – und wurde auch nicht gewählt. Siehe hierzu meine Seite zur OB-Wahl im Jahr 2005.

 


 

Diese Seite wurde zuletzt am 22. März 2008 aktualisiert. Links auf andere Websites bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. ©  Walter Kuhl 1999, 2001, 2008. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

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