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Luisencenter Darmstadt

Kapital und Arbeit

Weihnachten naht!

Sendemanuskript

 

Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte

Radio: Radio Darmstadt

Redaktion und Moderation: Walter Kuhl

Ausstrahlung am:

Montag, 7. Dezember 1998, 17.00 bis 17.55 Uhr

Wiederholt:

Dienstag, 8. Dezember 1998, 08.00 bis 08.55 Uhr
Dienstag, 8. Dezember 1998, 14.00 bis 14.55 Uhr

Zusammenfassung:

Kurz vor dem Höhepunkt des Konsumrauschs habe ich einige besinnliche Bücher vorgestellt.

Besprochene Bücher/Zeitschriften:

 


 

Inhaltsverzeichnis

 


 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

Weihnachten naht! Das Fest der Liebe. Na ja, eher wohl das, was im Kapitalismus für Liebe gehalten wird. Alles ist käuflich. Also geht kaufen! Wer nicht kauft, versündigt sich an den heiligen Werten dieser Gesellschaft. Geld, mehr Geld, noch mehr Geld und natürlich Profit. Moral, wozu? Bringt sie etwa Geld ein?

Wahrscheinlich werdet auch ihr nicht darum herum kommen, der alljährlichen heiligen Konsumorgie eure Reverenz zu erweisen. Zu diesem Zweck werde ich in der folgenden Stunde einige nützliche Einkaufstips geben. Nein, es geht nicht um einen High-Tech-Low-Budget-Computer mit 8 Gigabyte-Monitor, 17 Zoll-Prozessor und 400 Megahertz-Festplatte. Oder um eine weitere Dreckschleuder für Deutschlands Straßen. Oder ähnlichen kapitalistischen Unfug.

Ich werde statt dessen heute einige Bücher zu verschiedenen Themen vorstellen. Anfangen möchte ich mit dem Phänomen der Päpstin Johanna, einer Frau, deren historische Existenz weder beweisbar noch widerlegbar ist. Danach werde ich zwei Bücher über die 60er Jahre vorstellen.

Durch die heutige Sendung von Kapital und Arbeit führt Walter Kuhl.

Die für die folgende Stunde von Christoph Jetter und Susanne Schuckmann geplante Sendung über ein Darmstädter Schulprojekt zum 60. Jahrestag der Reichspogromnacht 1938 muß leider entfallen. Sie wird am kommenden Montag um 17.00 Uhr nachgeholt.

 

Ein Skandal …

Besprechung von : Elisabeth Gössmann – »Die Päpstin Johanna«. Der Skandal eines weiblichen Papstes, Aufbau Taschenbuch Verlag, 2. Auflage 1998, 416 Seiten, DM 19,90

Die Geschichte der Katholischen Kirche ist eine Geschichte der Lüge, der Intrigen, der Ränke um den Papstthron und natürlich eine des von der Kirche im Laufe der Jahrhunderte mehrfach legitimierten Massenmordes.

Buchcover Elisabeth Gössmann "Die Päpstin Johanna"Wie ein Gerücht zieht sich durch die Jahrhunderte, es habe im finstersten Mittelalter eine Päpstin gegeben. Eine Frau an der Spitze der Katholische Kirche auf dem Papstthron – undenkbar. Und so ist es auch nicht verwunderlich, daß offizielle kirchliche Quellen alle Anstrengungen unternehmen, das Gerücht von der Päpstin Johanna zu widerlegen. Während auf der anderen Seite diese Anstrengungen geradezu als Beweis herhalten müssen, daß die Kirche etwas zu verbergen hat. Dieses etwas ist die Päpstin Johanna. Zuzutrauen wäre es ihr schon.

Das Papsttum war schon immer auch und vor allem ein politisches Amt, verbunden mit Macht und Reichtum. Wenn ich sagte, daß die Geschichte der Katholischen Kirche auch eine der Intrigen war, dann gilt das für die Besetzung des Amtes des Papstes ganz besonders. Jahrhundertelang stritten adlige Familien in Rom und später in ganz Italien darum, welches Mitglied welcher Familie zum Haupt eines Teils der Christenheit ernannt werden würde.

Dabei kam es nicht auf irgendwelche geistigen oder geistlichen Fähigkeiten an. Entscheidender war die mit dem Papstthron verbundene Machtbasis, die sich ehrgeizige Fürsten nutzbar machen konnten. Daß diese Päpste es mit dem für alle anderen Prister zumindest offiziell gültigen Zölibat nicht so genau nahmen, darf dann auch nicht verwundern. Es war letztlich ein weltlicher Job.

Die feministische Theologin Elisabeth Gössmann hat in ihrem Buch über Die Päpstin Johanna den Skandal eines weiblichen Papstes genauer erforscht. Ihr ging es weniger darum, den endgültigen Beweis für die tatsächliche Existenz der Päpstin Johanna zu erbringen, sondern anhand der verfügbaren Quellenlage zu erforschen, was beweisbar ist und was nicht. Es ist eine wissenschaftliche Arbeit, die das Prädikat wissenschaftlich in ganz besonderer Weise verdient.

Elisabeth Gössmann ist nämlich nicht hingegangen und hat die Quellenlage so interpretiert, daß eine schon vorher feststehende These nur noch bewiesen werden mußte. Eine solche Vorgehensweise, nämlich die Quellen ziemlich einseitige im gewünschten Sinn zu interpretieren, ist im Wissenschaftsbetrieb eine verbreitete Methode. Aber eben auch eine unwissenschaftliche.

Elisabeth Gössmann hat sich daher damit befaßt, mit welchen Argumenten im Laufe der Jahrhunderte für oder gegen die Päpstin Johanna argumentiert worden ist. Sie hat dabei herausgefunden, daß es in der ganzen Diskussion eigentlich weniger um den Beweis der tatsächlichen Existenz der Päpstin Johanna gegangen ist. Vielmehr wurde die Debatte um die vermeintliche Päpstin dazu benutzt, ein bestimmtes Frauenbild festzuschreiben. Elisabeth Gössmann schreibt dazu:

Um es kurz und bündig vorweg zu sagen: Alle Autoren, die überzeugt sind, erwiesen zu haben, daß eine Päpstin historisch nicht existiert hat, können nur von einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad dieser Nicht-Existenz sprechen. Aber auch diejenigen, die ein wie auch immer beschaffenes historisches Faktum hinter der legendär verfremdeten Erzählung von der Päpstin vermuten, geht es nicht anders. [Seite  17]

Es sei also von vornherein klargestellt, daß diese Untersuchung die Rezeptionsgeschichte [also die Geschichte der Beschäftigung mit dem Thema] der Päpstin-Gestalt und nicht etwa ihre [Geschichtlichkeit] zum Gegenstand hat. Diese Rezeptionsgeschichte allerdings bietet ein so trauriges Bild der Geschichte des offiziell-christlichen Frauenbildes, daß sie dringend aufgearbeitet werden muß […]. [Seite 18–19]

Ich glaube aber, daß mein Unternehmen, die hinter den Päpstin-Debatten stehende Ideologie zu erforschen, auch im Hinblick auf die Gegenwart notwendiger und sinnvoller ist. Geht es doch um das unfreiwillige Eingestehen dessen, was wichtige Chronisten und Kirchenlehrer über das Verhältnis von Frau und Öffentlichkeit, Frau und Amt, Frau und geistlicher Macht gedacht und wie sie ihre Auffassungen begründet haben. Es geht aber auch um das Kapitel »Angst vor der Frau«, das sich in vielen Texten der Päpstin-Rezeption spiegelt. Denn im Grunde ist die Päpstin das Schreckbild der Kirchenmänner, gleich ob von ihrer Existenz oder Nicht-Existenz überzeugt, das zeigt, wohin es kommen kann, wenn man dem »Ehrgeiz« und der »Herrschsucht« der Frauen freien Lauf läßt. [Seite 19]

Um Elisabeth Gössmanns Buch zusammenzufassen: sie arbeitet darin heraus, mit welchen Argumenten hauptsächlich Männer die Monstrosität einer Päpstin herangezogen haben, um ihr frauenfeindliches Frauenbild zu begründen.

Das Buch heißt Die Päpstin Johanna mit dem Untertitel Der Skandal eines weiblichen Papstes. Elisabeth Gössmanns Forschungsarbeit hierzu ist beim Aufbau Taschenbuch Verlag zum Preis von 19 Mark 90 erschienen.

 

… Material für einen Roman

Besprechung von : Donna W. Cross – Die Päpstin, Aufbau Taschenbuch Verlag, 6. Auflage 1998, 566 Seiten, DM 19,90

Wem die Arbeit von Elisabeth Gössmann zu trocken scheint, dem oder der kann ich den Roman von Donna Cross Die Päpstin nahelegen. Donna Cross nimmt das Quellenmaterial und formt damit ihre eigene Version der Päpstin Johanna. Sie erzählt die Geschichte eines Mädchens aus dem Frankenreich, das aufgrund seiner geistigen Auffassungsgabe sich eine Bildung verschafft, die Frauen damals verwehrt wurde.

Buchcover Donna Cross "Die Päpstin"Dennoch blieb auch ihr nicht erspart, als Ehefrau brav ihre Rolle als Frau zu spielen, aber sie entscheidet sich, statt dessen als Mönch verkleidet ins Kloster Fulda einzutreten. Was Bischof Dyba wohl dazu gesagt hätte!? Donna Cross schildert den Weg eines einfachen Mädchens auf den Papstthron. Als Päpstin Johanna hätte sie lange regieren können, hätte eine Schwangerschaft sie nicht verraten und der ewigen Verdammnis zugeführt.

Donna Cross ist im Gegensatz zu Elisabeth Gössmann von der Existenz der Päpstin Johanna überzeugt, wie sie im Nachwort zu ihrem Roman ausführlich begründet. Donna Cross schreibt dazu:

Päpstin Johanna zählt zu den faszinierendsten und außergewöhnlichsten Gestalten der abendländischen Geschichte – und zu denen, über die am wenigsten bekannt ist. Die meisten Leute haben noch nie von der Päpstin Johanna gehört, und diejenigen, denen ihr Name geläufig ist, betrachten ihr Leben als Legende. Doch über mehr als achthundert Jahre hinweg – von der Mitte des neunten bis ins siebzehnte Jahrhundert – war Johannas Pontifikat allgemein bekannt und wurde als historische Wahrheit akzeptiert. Im siebzehnten Jahrhundert jedoch unternahmen verschiedene Einrichtungen der katholischen Kirche […] einen gemeinschaftlichen Versuch, die peinlichen historischen Unterlagen über Johanna zu vernichten. Hunderte von Büchern und Manuskripten wurden vom Vatikan eingezogen. [Seite 556]

Ein Problem ist in der Tat, daß auch die der Wahrheit verpflichtete Katholische Kirche nicht davor zurückschreckte, mit der Wahrheit im ureigensten Interesse zu verfahren. So wurden Quellen entsprechend durch erfundene Ausschmückungen oder durch das Auslassen unerwünschter Tatsachen manipuliert. Insofern kann die Päpstin Johanna tatsächlich existiert haben.

Donna Cross' Roman ist natürlich eine fiktive Geschichte. Vieles ist erfunden, manches zurechtgerückt, so wie in jedem guten historischen Roman. Elisabeth Gössmann hat dennoch ihre Schwierigkeiten mit der etwas einseitigen Art, wie Donna Cross die vorhandenen Quellen benutzt. Aber das ist eben die Freiheit des Romans. Jedenfalls, so meint Elisabeth Gössmann,

stimmt im letzten Teil des Romans alles so zusammen, wie es sich in der Geschichte hätte ereignen können. In der römischen Karriere ihrer [Johanna] zeigt die Autorin die Möglichkeiten des Wirkens einer starken Frau, die im patriarchalen Zeitalter nur unter der Maske des Männlichen erreichbar sind. [1]

Der Roman von Donna Woolfolk Cross heißt Die Päpstin. Auch er ist im Aufbau Taschenbuch Verlag - inzwischen in achter Auflage - erschienen und kostet 19 Mark 90.

Und weil uns das Fest der Liebe ja noch bevorsteht, paßt ja auch das nun folgende Stück – irgendwie. [2]

 

Vietnamesische Peperoni

Besprechung von : Tariq Ali – Street Fighting Years. Autobiographie eines '68ers, Neuer ISP Verlag 1998, 295 Seiten, DM 35,00

Es herrscht Aufbruchstimmung im Land. Nach 16 muffigen Kohljahren hat sich eine neue Generation an die Macht wählen lassen. Die neue Regierung hat zwar keine gesellschaftlichen Visionen, sondern betreibt sehr pragmatisch Realpolitik, aber wenn die SPD ihren Wahlsieg mit dem Spruch Regieren macht Spaß feiert, dann ist das eine Einstellung, die unter der kapitalhörigen CDU/FDP-Regierung undenkbar war.

Es ist allerdings ein Aufbruch, der nur wenige verkrustete Strukturen dieser Gesellschaft angeht. Die Grünen haben sich breitschlagen lassen, jeden noch so weit entfernten Ausstieg aus der Atomwirtschaft mitzutragen, während die Anti-AKW-Bewegung auf dem sofortigen Abschalten aller Atomanlagen – und das völlig zu Recht – beharrt.

Grüne Justizminister bauen neue Knäste, anstatt sozialpolitisch am Abbau der Kriminalität zu arbeiten. Vielleicht liegt das daran, daß grüne Wirtschaftspolitik sich kaum davon unterscheidet, was die Partei der Besserverdienenden verlangt. Unser neuer Bundesinnenminister Otto Schily unterscheidet sich in seinen reaktionären Vorstellungen nur unwesentlich von einem Manfred Kanther; und das heißt, daß auch unter der neuen Bundesregierung das Recht auf Asyl rassistisch gehandhabt werden wird.

Buchcover Tariq Ali "Street Fighting Years"Aufbruch findet nur dort statt, wo sie den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands dient; und auch die Bundeswehr darf sich unter der Führung des grünen Joschka Fischer in aller Welt betätigen – selbstverständlich nur ganz und gar humanitär.

Humanitär ist auch das grüne Ökosteuerkonzept, das von der SPD realpolitisch zusammengestutzt worden ist. Energieschleudern wie Aluminiumwerke und Bonzenkutschen werden gnädig behandelt, während die Ärmeren und Ausgegrenzten dieser Gesellschaft keine Möglichkeit haben, höhere Energiesteuern auf andere Weise zu kompensieren.

Was Aufbruch wirklich bedeutet, konnten wir vor dreißig Jahren weltweit beobachten; und – besser noch – aktiv daran teilnehmen. Die 68er waren weit mehr als eine Studentenbewegung. In Frankreich floh Präsident und General de Gaulle vor dem Generalstreik des Mai '68 in Frankreich. In Italien wurden Fabriken und Häuser besetzt. In Prag war Frühling mit dem einzigartigen Experiment eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz; als könnte Sozialismus jemals etwas anderes sein.

Und in Vietnam wurde dem US-Militär vor Augen geführt, daß es nicht allmächtig ist. Im Januar 1968 besetzten vietnamesische Befreiungskämpferinnen und -kämpfer kurzfristig die US-Botschaft in Saigon. Che Guavara war zwar kurz zuvor in Bolivien ermordet worden, aber sein Mythos beflügelte Menschen in aller Welt.

Über all das und mehr erzählt der pakistanische Internationalist Tariq Ali in seiner Autobiographie Street Fighting Years. 1943 im späteren Pakistan geboren, fiel er schon mit 14 Jahren auf, als er eine Protestdemonstration zum US-Konsulat organisierte. Seine weiteren politischen Aktivitäten als Schüler und Student ließen es geraten scheinen, das Land der Militärdiktatur zu verlassen. Daraufhin emigrierte er 1963 nach England.

Er brauchte einige Zeit, um sich in der ungewohnten englischen Umgebung zurecht zu finden, bis er zu einer der zentralen Figuren der englischen radikalen Linken wurde. Anstatt nun zu versuchen, seine Autobiographie in wesentlichen Punkten zu referieren – was einfach unmöglich ist –, möchte ich einige Passagen aus seinem Buch vorlesen. Sie verdeutlicht, warum der weltweite Kampf gegen den verbrecherischen Krieg der USA in Vietnam zum Kristallisationspunkt einer ganzen Generation werden konnte.

Tariq Ali erhielt 1967 die Gelegenheit, als Teilnehmer einer internationalen Delegation Nordvietnam zu besuchen. In seinem Tagebuch vermerkt er:

Tagsüber war es zu unsicher, in Hanoi zu landen, und ich erlebte das sonderbare Gefühl, über eine unsichtbare Stadt zu fliegen. Hanoi war in Dunkelheit getaucht, als das Flugzeug zur Landung ansetzte. Nichts war zu sehen. […] Plötzlich, gerade bevor das Flugzeug den Erdboden berührte, wurden die Flughafenscheinwerfer eingeschaltet, um die Landung zu erleichtern, und unmittelbar nachdem wir gelandet waren, wurden sie schnell wieder ausgeschaltet. Wir waren in Hanoi angekommen. Im Flugzeug erlosch die Beleuchtung, und wir saßen schweigend in der verdunkelten Maschine. Die Türen wurden geöffnet, doch draußen war ebenfalls alles dunkel. Als sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah ich durch das Flugzeugfenster eine Gruppe von Schatten, die sich auf uns zubewegte. Im Innern des Flugzeuges ließen sie ihre Taschenlampen aufleuchten, damit sie uns erkennen konnten, und hakten auf einer Liste unsere Namen ab. Dann schüttelten unsere Gastgeber uns herzlich die Hand und hießen uns in Vietnam willkommen. [Seite 109]

26. Januar 1967
[…] Zum Mittagessen zurück ins Hotel. Die Kellnerin hat heute eine dekorative Peperonipflanze auf unseren Tisch gestellt. Ich untersuche sie vorsichtig, und tatsächlich, sie ist echt. Während wir Fleisch mit Reis essen, pflücke ich eine Peperoni ab und verspeise sie, um meinen ziemlich gelangweilten Gaumen zu stimulieren. Ich ernte schallendes Gelächter. Die Kellnerin hat mich beobachtet. Bald umringen sie und ihre Kolleginnen unseren Tisch. Ich erweise ihnen nochmals den Gefallen und verzehre schließlich den ganzen Ernteertrag der Topfpflanze. [Seite 114]

27. Januar 1967
Nach Einbruch der Dunkelheit fuhren wir aus Hanoi heraus. Ich hatte mir menschenleere Straßen vorgestellt und einen Fahrer, der uns mit hoher Geschwindigkeit in Richtung Süden beförderte. Doch ich hatte mich sehr geirrt. Auf den Straßen herrscht ausgesprochen reger Verkehr. Das ganze Land scheint unterwegs zu sein. [ebd.]

28. Januar 1967
Wir verbrachten einen weiteren Tag in dieser Provinz. Ich sah die Wunden, die zwei- bis achtjährigen Kindern zugefügt worden waren. Es ist ein schmerzlicher Anblick. Ein Vierjähriger hat einen Arm verloren, doch er ist immer noch vergnügt. Seine Mutter erzählt uns, wie eines Tages die örtliche Schule mit Bomben angegriffen wurde, und beschreibt den Todeskampf der Kinder. [Seite 115]

29. Januar 1967
[…] Mittagessen um 12.30 Uhr. Ausgezeichnete heimische Küche, und zu meiner großen Verwunderung wird eine Platte mit Peperoni vor mich gestellt. […] Ich bin tief gerührt. Plötzlich ein Gewimmel von Kurieren. Van Bang und der Vorsitzende Nguyen Van Truong verlassen den Tisch. Leicht erschüttert kommen sie zurück. Ein neuer Bombenangriff hat begonnen, und unsere Stadtbesichtigung, die am Nachmittag um 14.30 Uhr vorgesehen war, fällt aus. Energisch widerspreche ich, daß wir gehen sollten, doch plötzlich scheinen die Bomben in unserer direkten Umgebung einzuschlagen. Wir können sie hören. Ich plädiere nochmals dafür, daß wir uns in die Stadt begeben sollten, weil dies unsere Aufgabe sei: darüber zu berichten, was bombardiert wird und warum. Van Bang lehnt es ab, uns zu erlauben, daß wir hinausgehen. Der Bürgermeister von Tranh Hoa blickt besorgt. er ist davon überzeugt, daß sie das Stadtzentrum bombardieren. Zwei Stunden später, nach dem Angriff, besichtigen wir die Stadt. Um 14.30 Uhr hätten wir eigentlich im Krankenhaus sein sollen. Um 15.00 Uhr wurde es bombardiert. Mehrere Patienten wurden von den ersten Bomben getötet. Während sie aus dem Krankenhaus herausgetragen und zur Erste-Hilfe-Station gebracht wurden, gab es einen weiteren Angriff, und die Erste-Hilfe-Station wurde völlig dem Erdboden gleichgemacht. Außerdem waren Brandbomben eingesetzt worden, und wir sahen Häuser, wo das Feuer noch schwelte. Frau Nguyen Tri Dinh war gerade rechtzeitig aus ihrem Haus gerannt, um ihr Haus mit der gesamten Einrichtung bis auf die Grundmauern niederbrennen zu sehen. Sie weinte lautlos, als ich mit ihr sprach. […] 200 Wohnungen wurden zerstört. Dang Batao, der Leiter des Roten Kreuzes am Ort, war bei lebendigem Leibe verbrannt. […]

Im Westen kann man sich diese Todesangst unmöglich vorstellen. Es hatte mich nicht besonders berührt, als ich die Flugzeuge direkt über mir hörte, aber das ist zuviel. Hier liegen entstellte Leichen. Hier ist ein Krankenhaus mit dem Rot-Kreuz-Zeichen, das als Ziel ausgewählt und zerstört wurde. Wenn die Schutzräume nicht evakuiert worden wären, wäre die Zahl der Opfer sehr hoch gewesen. Ich suche nach militärischen Zielen. Es gibt keine. Trauer vermischt sich mit Zorn und Wut. Würden die US-Amerikaner heutzutage jemals eine europäische Stadt auf diese Art bombardieren? Nach Ansicht von Washington sind die Vietnamesen offensichtlich keine Menschen. [Seite 117–118]

31. Januar 1967
Wir besuchen noch weitere Dörfer in Tinh Gia. Noch mehr Greueltaten. Noch mehr Grausamkeiten. Zivile Ziele sind die Zielscheiben der US-Kriegstreiber. Das sind keine Fehler oder Unfälle. Es ist die systematische und absichtliche Bombardierung der gesamten Bevölkerung. [Seite 121]

Eine Woche später verließ ich Vietnam. Es war eine prägende Erfahrung; eine Erfahrung, die ich niemals vergessen kann. Der Kampf hatte seinen Höhepunkt noch nicht erreicht, aber ich zweifelte nicht daran, daß das, was ich gesehen hatte, die gewaltigste Widerstandsbewegung war, die in den schmutzigen Annalen des Imperialismus verzeichnet ist. Viele Jahre später sprach ich mit einem altgedienten kommunistischen Führer in Indien. Er beschrieb ein Treffen mit Ho Chi Minh im Jahre 1964, zwei Jahre vor meiner Reise. Die Inder baten Ho Chi Minh um eine Erklärung, warum die Kommunistische Partei Indochinas, die ungefähr zur gleichen Zeit gegründet worden war wie die Kommunistische Partei in Indien, Erfolg gehabt hatte, während sie in Indien gescheitert waren. Der Vietnamese hatte gelacht und geantwortet: "In Indien hattet ihr Gandhi. Hier bin ich Gandhi!" Diese Bemerkung war ernster, als man es sich damals vorstellen konnte. [Seite 131]

Soweit das Tagebuch von Tariq Ali über seinen Aufenthalt in Nordvietnam 1967. Tariq Alis Autobiographie Street Fighting Years vermittelt eine Einsicht in die bewegten, zum Teil revolutionären Zeiten Mitte und Ende der 60er Jahre. Nicht nur in Vietnam, sondern auch in England, in Paris, in Berlin, in Prag und auch in Bolivien.

Tariq Ali hat viel von dem sozusagen live erlebt und besitzt zudem die Fähigkeit, dies auch noch literarisch ansprechend und gleichzeitig spannend zu erzählen. Als ich während der Frankfurter Buchmesse mich am Stand des Verlages mit dem Vertreter des Neuen ISP Verlags unterhielt, versuchte er mich davon zu überzeugen, daß dies ein Buch sei, das ich unbedingt lesen müsse. Ich war zunächst skeptisch, aber als ich einmal damit anfing, konnte ich nicht wieder aufhören.

Es ist ein Geschichtsunterricht, wie er in keiner Schule und auf keiner Universität gelehrt werden würde. Und solch ein Buch ist umso wichtiger in Zeiten, in denen einige der Kämpferinnen und Kämpfer von damals ihre Turnschuhe ausgezogen haben und auf dem besten Weg sind, die Bundeswehr in aller Welt genauso für den Frieden kämpfen zu lassen, wie es die US Army in Vietnam tat.

Die Autobiographie von Tariq Ali heißt Street Fighting Years. Sie ist im Neuen ISP Verlag erschienen und kostet 35 Mark.

 

Das Vorrecht der Jugend

Besprechung von : Gerhard Fels – Der Aufruhr der 68er. Zu den geistigen Grundlagen der Studentenbewegung und der RAF, Bouvier Verlag 1998, 286 Seiten, DM 45,00

Was soll ich mit einem Buch eines Lehrers und Schuldirektors anfangen, der die 68er zum Teil als seine Schülerinnen und Schüler erlebt hat? Mit welch seltsamen Gedankenverwicklungen wird ein solcher Mensch sich einem Phänomen nähern, das er auch als Revolte gegen sich selbst hat erfahren müssen?

Gerhard Fels hat in seinem Buch Der Aufruhr der 68er versucht, die geistigen Grundlagen der Studentenbewegung und der RAF zu erforschen. Herausgekommen ist eine Schrift, in der er versucht, seinem doch wohl eher konservativen Lesepublikum nahezubringen, was die 68er bewegt hat, welche Theoretiker welchen Einfluß auf sie gehabt hatten, und warum man diese ganze Studentenbewegung aus einer gewissen Distanz mit etwas mehr Ruhe und Gelassenheit betrachten kann.

Buchcover Gerhard Fels "Der Aufruhr der 68er"Ein solches Buch macht durchaus Sinn, denn einige dieser 68er sind heute an den Futterkrippen der Macht angekommen. Damit muß sich sein Leserkreis abfinden, damit muß er sich arrangieren. Aber dafür ist es eben notwendig, diese 68er und ihr Gedankengut zu verstehen. Und für den Autor Gerhard Fels ist es dabei wichtig zu vermitteln, daß es sich um eine Jugendrevolte gehandelt hat und daß die Revoltierenden von damals heute wieder nützliche Mitglieder dieser Gesellschaft sind.

Ich gebe ja zu, daß meine Besprechung dieses Buchs polemisch ist. Aber in folgender Passage des Buches ist deutlich der Lehrer zu hören, der verständnisvolle Lehrer vielleicht, aber auf jeden Fall ein Lehrer, der seine Schülerinnen und Schüler letztlich nicht ernst nimmt. Er schreibt:

Jede Jugend leistet sich ungehemmt ihre Aversionen, weil sie allzu sehr um das eigene Selbstbewußtsein ringt. Von den Eltern konnte sie es nicht erlangen, denn die galten ihr als diskreditiert. Also assimilierte man einen Grundstock an Überzeugungen von einigen wenigen Hochschullehrern, die den Vorzug besaßen, mit nichts etwas zu tun gehabt zu haben, was man haßte. Man schrieb ihrer Position einen umso größeren Wahrheitsgehalt zu, je entschiedener sie dem gehaßten Bestehenden widersprachen. Die Wahl folgte also dem jugendlichen Grundmuster der Radikalität. Übernahm man diese Lehren, erhielt man ein Überlegenheitsbewußtsein, das auf keine andere Weise erreichbar schien. Man glaubte, sich an die Spitze einer welthistorischen Entwicklung gesetzt und in dieser Gewißheit genau bestimmen zu können, was zukunftsträchtig war und was nicht. Das eine galt es zu befördern, das andere zu bekämpfen. [Seite 98]

Jugendliche Allmachtsphantasien sind eine notwendige Durchgangsphase zur Selbstakzeptanz. Diese Phase der Allmachtsgefühle kann beträchtlich gestreckt werden, wenn eine Utopie sie ihrer Berechtigung versichert – und der Gegner sich als zäh erweist. [Seite 99]

Es ist ein Vorrecht der Jugend, aus vermittelten Vorstellungen zu leben, da das Maß eigener Erfahrungen notwendig gering ist. Es ist der Fluch der Jugend, in vermittelten Vorstellungen befangen zu bleiben, wenn sie ihnen verheißungsvoll erscheinen. Dann können sie so prägend werden, daß sie eigene Erfahrungen verhindern. [Seite 170]

Ich möchte seine jugendpolitischen Weisheiten damit abschließen. Festzuhalten ist: Gerhard Fels begreift Radikalität als ein notwendiges Durchgangsstadium von jungen Menschen, bis sie begriffen haben, wie der Hase läuft und wo sie ihren Platz innerhalb der kapitalistischen Leistungsgesellschaft finden können.

Er begreift nicht, daß nicht nur Jugendliche ein anderes Leben als dieses für erstrebenswert halten und halten müssen, weil der allgemeine Wahnsinn dieser Gesellschaft ja eigentlich nun wirklich nicht zu ertragen ist. Da er dies nicht zugeben kann, muß er zu seinen ideologischen Konstrukten Zuflucht nehmen.

Teile dieses konservativen Unfugs hätten auch von meiner Mutter stammen können, als sie noch hoffte, mich auf den rechten Weg zurückholen zu können. Tja, scheint nicht geklappt zu haben.

Seine Leserinnen und Leser werden ihm jedenfalls geneigt zustimmen, da er ihnen ein plausibles Weltbild über den revolutionären Aufbruch vor 30 Jahren geliefert hat. Sie können nun wieder in Ruhe schlafen.

Das Buch von Gerhard Fels heißt Der Aufruhr der 68er; es ist im Bouvier Verlag erschienen und kostet 45 Mark.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte

Zum Schluß der heutigen Sendung möchte ich kurz noch ein paar Bücher erwähnen, die ich im Verlauf dieses Jahres besprochen hatte und die ich als Weihnachtsgabe empfehlen kann.

Da wäre zum einen das Buch von Susanne Kappeler über Pornographie. Sie analysiert darin aus feministischer Sicht, warum diese Gesellschaft und vor allem die Männer in dieser Gesellschaft Pornographie zur Herstellung eines bestimmten Frauenbildes brauchen. Das Buch von Susanne Kappeler ist im Verlag Frauenoffensive erschienen und kostet 26 Mark 80 [3].

Sehr beeindruckt hat mich auch das Buch von Swetlana Alexijewitsch über Tschernobyl. Sie läßt darin die Menschen, die in der Umgebung des Atomkraftwerks in der Ukraine und in Weißrußland leben, zu Wort kommen. Swetlana Alexijewitschs Chronik der Zukunft dürfte das eindringlichste Plädoyer gegen die Nutzung der Kernenergie sein. Das Buch ist im Berlin Verlag erschienen und kostet 32 Mark [4].

Eine wissenschaftliche Untersuchung ist das Buch von Jürgen Stock und Arthur Kreuzer mit dem Titel Drogen und Polizei. Darin wird ausführlich der Umgang der deutschen Polizei mit Drogen und Kriminalität beschrieben. Wer noch Argumente benötigt um nachzuweisen, wie sinnlos die offizielle Drogenpolitik ist, findet sie hier. Es ist ein Buch, das vor allem der Darmstädter Polizei ans Herz zu legen wäre. Die einzig logische Schlußfolgerung aus dieser wissenschaftlichen Untersuchung, die vom Institut für Kriminologie an der Universität Gießen veröffentlicht wurde, ist, damit aufzuhören, den Konsum und den Verkauf bislang illegalisierter Drogen zu kriminalisieren. Das Buch ist im Forum Verlag Godesberg erschienen und kostet 78 Mark [5].

Spannend zu lesen ist der Roman von Jutta Ditfurth über die Pariser Commune von 1871. Die Heldin des Buches ist eine stockreaktionär erzogene deutsche Landadlige, die durch Zufall in das revolutionäre Paris gelangt und dabei für sich eine Lebensperspektive entdeckt, die den Rahmen einer langweiligen Ehe im Hochadel sprengt. Das Buch von Jutta Ditfurth heißt Die Himmelsstürmerin und ist im Verlag Marion von Schröder erschienen.

Und als letztes möchte ich von Winfried Wolf das Buch CasinoCapital empfehlen. Er beschreibt darin die Lebenslügen dieser kapitalistischen Gesellschaft und analysiert, welche Folgen für Mensch und Umwelt mit Globalisierung und Profitdenken verbunden sind. Seine These ist, daß die Wirtschaftskrisen in den Tigerstaaten, in Rußland und in Lateinamerika der Vorbote eines größeren Crashs sein könnten. Möglicherweise – und das ist auch der Untertitel seines Buches – besteht die Ironie darin, daß der Crash auf dem Golfplatz der Reichen und Mächtigen beginnt. Das Buch von Winfried Wolf ist im Neuen ISP Verlag erschienen und kostet 24 Mark 80 [6].

Abschließend noch ein Programmhinweis. Die für heute vorgesehene Sendung von Christoph Jetter und Susanne Schuckmann über ein Darmstädter Schulprojekt zum 60. Jahrestag der Reichspogromnacht am 9. November 1938 wird am kommenden Montag um 17.00 Uhr nachgeholt.

Durch die heutige Weihnachtsfolge von Kapital und Arbeit führte Walter Kuhl. In Kürze folgen die Lokalnachrichten von Radio Darmstadt. Abschließend spiele ich eine Weisheit von Pat Benatar zum Weihnachtsfest, der großen Konsumorgie und der damit verbundenen Liebe in der tannenbaumgeschmückten Weihnachtszeit. [7]

 

ANMERKUNGEN

 

Mittels eines Klicks auf die Nummer der jeweiligen Anmerkung geht es zur Textpassage zurück, von der aus zu den Anmerkungen verlinkt wurde.

 

»» [1]   Elisabeth Gössmann: Die Päpstin Johanna, Seite 407–408.

»» [2]   Pat Benatar – We Live for Love.

»» [3]   Siehe meine Besprechung vom 30. November 1998.

»» [4]   Siehe meine Besprechung vom 29. Juni 1998.

»» [5]   Siehe meine Besprechung vom 13. Juli 1998.

»» [6]   Siehe meine Besprechung vom 9. März 1998.

»» [7]   Pat Benatar – Love is a Battlefield.

 


 

Diese Seite wurde zuletzt am 13. März 2008 aktualisiert. Links auf andere Websites bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. ©  Walter Kuhl 1998, 2001, 2008. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

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