Wahlwerbung
Wahlwerbung.

Kapital – Verbrechen

Stimmabgabe

Sendemanuskript

Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte

Radio: Radio Darmstadt

Redaktion und Moderation: Walter Kuhl

Ausstrahlung am:

Montag, 12. September 2005, 17.00 bis 18.00 Uhr

Wiederholt:

Dienstag, 13. September 2005, 00.00 bis 01.00 Uhr
Dienstag, 13. September 2005, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 13. September 2005, 14.00 bis 15.00 Uhr

Zusammenfassung:

In der Sendung vom 12. September 2005 sprach ich über die anstehende Bundestags­wahl und die guten wie schlechten Gründe, (nicht) zur Wahl zu gehen. Hierbei verwies ich auf das Standardwerk zur Parlamentarismus­kritik von Johannes Agnoli aus dem Jahr 1968.

Besprochene und benutzte Bücher bzw. Texte:

Pdfbutton Das Sendemanuskript gibt es auch als PDF.

Zur Neoliberalisierung von Radio Darmstadt und seinen Trägerverein und zur Ausgrenzung mehrerer Mitglieder meiner Redaktion seit 2006 siehe meine ausführliche Dokumentation.


Inhaltsverzeichnis


Gedanken zur Wahl 

Jingle Alltag und Geschichte

Wir erleben seltsame Dinge in diesem Land. Da gibt es einen Bundeskanzler, der die Vertrauens­frage stellt, weil er sich seiner Mehrheiten nicht mehr sicher ist. Zwar scharen sich SPD und Grüne fest um ihren Kanzler, aber mit einer manipulierten Abstimmung wird ihm das Vertrauen verweigert und es werden Neuwahlen ausgeschrieben. Der neoliberale Bundespräsident und das Bundesverfassungs­gericht segnen das Vorgehen ab und am kommenden Sonntag haben wir die übliche Wahl der Qual, wo wir denn für die nächsten vier Jahre ein Kreuzchen machen dürfen.

Und dieses Kreuzchenmachen ist echt eine demokratische Anstrengung! Unsere Teilnahme an der bürgerlichen Demokratie besteht allen Ernstes darin, einmal in 1461 Tagen eine halbe Stunde zu opfern, um zwei Striche zu machen. Einen von linksoben nach rechtsunten und einen von linksunten nach rechtsoben – oder welche Variante ihr auch immer hierfür bevorzugen mögt. Das war's dann auch! Eine Stimme, die abgegeben wurde, ist eben unwiderruflich … futsch.

Nur – der Sinn dieser vertrauens­erfragten Veranstaltung ist mir immer noch nicht so recht klar geworden. Alle Umfragen sagen deutlich, daß Gerhard Schröder am kommenden Sonntag keine besseren und erst recht keine vertrauens­würdigeren Mehrheiten erhalten wird, als er sie derzeit noch im Bundestag hätte. Das war allerdings auch schon im Mai sattsam bekannt, als er mit seinem Parteisoldaten Franz Müntefering diesen Coup nach der verlorenen Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen ausgeheckt hatte.

Wir werden wohl nie erfahren, worin das Geheimnis dieses Rätsels besteht. Denn Schröders Truppe wird keine Mehrheit erhalten und uns vorführen, mit welchem Vertrauen er denn jetzt rechnen darf. Ob Angie und ihr schreckliches Kompetenzteam eine ausreichende Mehrheit erhalten werden, müssen wir sehen. Es sah ja einmal ziemlich gut für sie aus. Aber mir ist, ehrlich gesagt, selten eine Partei begegnet, die derart genial ein Eigentor nach dem anderen plaziert, um ja nicht gewählt zu werden. Brutto und netto, die geheim gehaltene Streichliste von Paul Kirchhof, die Ankündigung einer mehrfach verplanten Mehrwertsteuerer­höhung, um nur einige Stichworte hierfür zu nennen. Vor vier Jahren scheitere Edmund Stoiber an der Flut und dem Irak-Krieg. Beides konnte der damals Medienkanzler als big points verbuchen.

Im Nachhinein ist man ja schlauer. Das vorläufige amtliche Endergebnis der Bundestagswahl in der Nacht danach in Verbindung mit den Aussagen der jeweiligen Parteispitzen am langen Wahlabend läßt es erahnen, worin der Coup des Kanzlers liegen könnte. Gehen wir der Reihe nach durch:

Die FDP steht für keine Ampelkoalition zur Verfügung. Die Grünen richten sich auf die Oppositions­bänke ein. Die CDU will mit den rot-grünen Parteien nicht zusammen regieren. Die SPD schließt eine Tolerierung durch die „PDS/ML“ (Zitat Müntefering) kategorisch aus. Was also ist möglich?

Gehen wir einmal davon aus, daß die SPD nicht genügend Überhang­mandate erhält, um die CDU/CSU einzuholen. Dann erhält Angela Merkel den Auftrag zur Regierungs­bildung. Die FDP würde mitmachen, aber nicht mit einer der anderen drei Parteien. Also wird Angie ein Problem haben, überhaupt eine Partei zum Mitregieren zu gewinnen. Die SPD kann einfach taktisch abwarten, denn:

Angies Sondierungen werden nichts erbringen, eine Minderheits­regierung würde nicht toleriert werden. Also geht der Auftrag an den bisherigen Bundeskanzler weiter. Der wiederum ist weder auf die Grünen noch auf die Linkspartei, auch nicht auf die FDP angewiesen. Wenn die CDU an die Macht kommen will, muß sie die Bedingungen des Kanzlers schlucken. Und – voilá, wir haben eine tragfähige Regierung mit ausreichender Mehrheit, also genau das, was der Kanzler erreichen wollte. Der Clou an der Sache ist: die CDU-Blockademehr­heit im Bundesrat wird geknackt. Und: Gerhard Schröder bleibt Kanzler. Wie genau sich SPD und CDU arrangieren werden, wird man/frau sehen. Eindeutig jedoch ist, daß Schröders SPD alle Trümpfe in der Hand behält. Denn: eine baldige Neuwahl wird ganz sicher kein substanziell anderes Ergebnis bringen! Und solange dies der Fall ist (und das kann noch einige Jahre so weiter gehen), wird die Koalition halten, da die CDU auf Verdeih und Verderb an dieses Bündnis gebunden ist.

Sollten Schröder und Müntefering das im Mai 2005 ausgeheckt haben, verdienen sie einen Ehrendoktor­titel für politische Soziologie. Aber natürlich sind diese Gedanken in der Nacht zum 19. September 2005 absolut spekulativ.

Edmund Stoiber verriet am 11. Oktober 2005, daß die Regierungs­macht tatsächlich nach den Kriterien kapitalistischen Geschachers verteilt wurde, aber Schröder hat sein Ziel dennoch nicht erreicht. Aber möglich wär's gewesen. Naja, dann merkeln wir uns halt jetzt ein paar Jahre durchs Leben.

Das Fernsehduell zwischen dem Kanzler und seiner Herausforderin zeigte neben dem peinlichen Auftritt der creme de la creme des deutschen Journalismus nur eines: wie quälend diese Wahl ist. Dabei dürfen wir nicht vergessen, daß es gar nicht auf rhetorisch gestylte glänzende Auftritte ankam. Das, was als dröges Herunterleiern von auswendig gelernten Textbau­steinen daherkam und auch so kritisiert wurde, war nämlich die Essenz dieser medialen Veranstaltung. Das Publikum (jedenfalls eine satte Mehrheit) möchte keine Experimente, sondern die Bestätigung dafür, daß die Welt so ist, wie sie ist und wie man und frau sich in ihr eingerichtet hat. Gerd und Angie haben Weltbilder bestätigt und verfestigt und so das Vertrauen in die Demokratie gestärkt. Dieser psychologische Effekt war gewollt und ist alles andere als überraschend.

Ähnlich wenig überraschend war der unkritische Umgang des Kanzlers beim Kurzbesuch des russischen Präsidenten Wladimir Putin vergangene Woche. Warum soll der Kanzler Worte über Tschetschenien oder den repressiven Umgang mit der Pressefreiheit in Rußland verlieren, wenn es ums Geschäft geht? Geld stinkt bekanntermaßen nicht. Menschenleben oder Menschenrechte sind hier in der Tat viertrangig. Sie taugen allenfalls als Druckmittel, um dem Geschäftspartner ein paar wirtschaftliche Zugeständnisse abzuringen.

Dennoch bleibt festzuhalten, daß der Friedenskanzler in Zusammen­arbeit mit seinem Menschenrechts­experten Joschka nicht nur 1999 einen Angriffskrieg gegen Jugoslawien vom Zaun brach, sondern im Rahmen der US-amerikanischen Globalattacke Enduring Freedom seine Soldaten in alle Welt ausschicken konnte. Bis heute wissen wir nicht, was das Kommando Spezialkräfte der Bundeswehr in Afghanistan wirklich treibt und warum Deutschland am Hindukusch verteidigt werden muß. Zu dieser kanzler­vertrauten Friedenspolitik gehört natürlich auch, um des guten Geschäftes willen die Terroreinsätze der russischen Armee in Tschetschenien mit Stillschweigen zu bemänteln.

Letzten Endes ist es bei dieser Bundestagswahl also egal, ob wir wählen und wen wir wählen. Es kann nur schlimmer kommen, und es wird schlimmer kommen. Warum ausgerechnet das schwarzgelbe Gruselkabinett eine bessere Alternative darstellen soll, ist mir ehrlich gesagt schleierhaft. Von 1982 bis 1998 hatten die beiden Parteien sechzehn Jahre lang Zeit, das umzusetzen, was sie jetzt hektisch im Wahlkampffieber versprechen.

Es wäre jedoch verfehlt zu glauben, es ging vor allem um den Abbau der Arbeitslosig­keit. Im Gegenteil – die hohe Arbeitslosig­keit ist äußerst nützlich! Bedeutet sie doch eine objektive Schwächung der lohnabhängig Beschäftigten und der Gewerkschaften als ihrer Interessensver­tretung. Nur mit vielen Arbeitslosen läßt sich ein profitabler Umbau der Gesellschaft bewerkstelligen. Deutschland ist ja kein Drittwelt­land, bei dem mit den Knebeln des Internationalen Währungsfonds oder mit einer Militär­diktatur der Freiheit des Marktes Ausdruck verliehen werden kann. Und deshalb kommt es auf ein vernünftiges Funktionieren der parlamentarischen Demokratie bei uns an.

Die klassische Rollenver­teilung sah vor, daß die CDU den rechten Rand mit abdeckt [1], während die SPD linkes Protest­potential entschärft. Die FDP ist die kleine, aber machtvolle Partei der Klein­bourgeoisie, des Handwerks und der Freiberufler. Als solche ist sie schon objektiv betrachtet keinesfalls an Arbeitnehmer­rechten und Sozialstaatlich­keit interessiert. Guido Westerwelles gewerkschafts­feindliche Äußerungen sind keine Entgleisungen, sondern das Programm dieser Partei.

Bleiben die Grünen. Als Partei der über Selbstaus­beutung funktionierenden Alternativ­betriebe lösen sie in einzelnen Bereichen die FDP als klassischer Ausdruck kleinbürger­licher Interessen ab. Die Partei ist jedoch insofern heterogener, als in ihr viele Illusionen über die Möglichkeit, von unten die Gesellschaft verändern zu können, versammelt sind. Die darin zum Ausdruck kommende Eigen­initiative und Selbst­bestimmung haben sich jedoch im Laufe der letzten anderthalb Jahrzehnte als absolut kompatibel mit dem neoliberalen Programm erwiesen.

Was also tun? Linkspartei wählen? Was soll daran besser sein? Ich werde im Verlauf dieser Sendung zwei Stimmen zur Linkspartei bzw. ihrer Vorgängerin, der PDS, zu Wort kommen lassen, die zeigen, daß auch diese angeblich linke Alternative mehr Probleme aufwirft, als sie beantworten kann. Doch zunächst möchte ich mit einem Beitrag von Radio Unerhört Marburg beginnen, der sich mit einem Buch von Johannes Agnoli aus den 60er Jahren beschäftigt. Dieser schrieb das damalige Kultbuch der außerparlamentarischen Opposition, genannt „Die Transformation der Demokratie“. Dieses Buch ist auch heute, nach rund 40 Jahren nach seinem Entstehen, immer noch lesenswert.

Für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt ist am Mikrofon Walter Kuhl.

Jochen Partsch, Grüner Direktkandidat Angela Merkel, designierte Bundeskanzlerin Gerhard Schröder bei Nacht Heinz Schäfer, Direktkandidat Linkspartei FDP Wahlplakat Nazis nein danke Patricia Lips, CDU Direktkandidatin Kasinostraße nachmittags Wahlplakat MLPD Joschka im Grünen Brigitte Zypries preist Otto Schily an Gregor Gysi, Linkspartei CDU auf der Litfaßsäule Die Grünen wollen doch tatsächlich 2008 Biblis abschalten SPD Wahlplakat

 

Die Transformation der Demokratie

Vor der Bundestagswahl: Agnoli lesen! – Leider ist dieser Beitrag als Audiofile nur im internen Bereich des Audioportals des Bundesverbandes Freier Radios zu finden, und zwar hier.

Ein Beitrag von Radio Unerhört Marburg zur Bundestagswahl am 18. September.

Cover Prokla 62Johannes Agnoli schrieb seinen Klassiker 1968 auf dem Höhepunkt der Studenten­bewegung. Seine Thesen fanden damals in der Tat viel Widerhall. 20 Jahre später zog er ein Resumee seiner damaligen Schrift [2]. Die im vorangegangenen Beitrag gestellte Frage, ob die „Transformation der Demokratie“ heute anders geschrieben werden müßte, beantwortete Agnoli 1986 so:

Im Übrigen steht es außer Frage, daß die »Transformation der Demokratie« heute anders geschrieben werden müßte – genauso wie die Bibel, Aristoteles Ethik, Hegels Phänomeno­logie des Geistes, selbstredend Marxens Kapital, Courths-Mahlers Romane [und anderes]. Die Terminologie der T[ransformation] d[er] D[emokratie] wäre anders, auch der Inhalt könnte hie und da anders aussehen. Man wird älter und weiser – also wäre die Argumentation stellenweise schärfer, die Kritik der Politik fiele kompromißloser und erbarmungsloser aus. [3]

Und er fährt fort zu fragen, ob die „Transformation der Demokratie“ nicht inzwischen durch die Verhältnisse widerlegt sei. Doch hierbei, so schrieb Agnoli, müßte nachgewiesen werden, daß wir heute mehr Demokratie hätten als in den 60er Jahren. Womit er beispielsweise meinte:

daß in unserer Gesellschaft die Emanzipation so weit gediehen ist, daß der Abbau des Sozialstaats begleitet wird vom Abbau des Machtstaats und von der Zulassung fälschungsfähiger Ausweise […]. [4]

Die „Transformation der Demokratie“ ist mehr als nur die Analyse des Parlamenta­rismus. Sie ist gleichzeitig Staatskritik und soziologische Studie der Machtinte­gration neuer Eliten. Der folgende Auszug aus dem Werk läßt sich gleichermaßen auf die Integration der Sozialdemo­kratie seit Ende des 19. Jahrhunderts wie auch auf die Einbindung der heutigen Grünen, ja sogar teilweise der neuen sozialdemo­kratisierten Linkspartei anwenden. Johannes Agnoli schreibt:

Verfassungsrechtlich nicht normierbar, nur im Zuge der praktischen Politik zu erzielen ist eine andere Transformation im Parteiensystem, die allerdings eng mit der Verdinglichung der Parteiorgani­sation zusammenhängt. Die Parteien als Organisationen haben im Verhältnis zu ihren Mitgliedern, als Wahlobjekte im Verhältnis zu den Wählermassen einen ebenso ambivalenten Charakter wie das von ihnen gebildete Parlament. Die Ambivalenz wird heutzutage besonders stark von der Notwendig­keit verursacht, soziale Bewegungen und Ansprüche zu organisieren. Der von den Mitgliedern aktiv getragene, oder die Aktivität der Mitglieder programmatisch und praktisch fördernde Verband kann der politischen Betätigung der Massen als Werkzeug dienen. Sofern er – evolutionär oder revolutionär – Veränderungs­tendenzen organisiert, greift er in den Versuch der sozialen Befriedung widersprechend ein und baut die Betätigung seiner Mitglieder und Anhänger zu einer Betetiligung am Entscheidungs­prozeß aus. Ein solcher (demokratischer) Verband stört den gesamten Mechanismus der Herrschaft so empfindlich, daß es für die Herrschenden unumgäng­lich werden kann, ihn zu instrumentalisieren – das heißt seine Führungs­stäbe selbst an den Institutionen der Herrschaft zu beteiligen. Dem kommt fraglos der Drang der Führungs­stäbe entgegen, sich selbst unter Umgehung der breiten Mitgliedschaft in das Herrschafts­system einzubauen […]. Der aus diesem Prozeß entstehende (oligarchische) Verband mediatisiert seine Mitglieder: sie werden zum Werkzeug der Pläne und Interessen der Führungs­stäbe. Die Tendenz zur aktiven politischen Beteiligung wird dadurch neutralisiert. In ihrem Verhältnis zu Mitgliedern und Anhängern kennt die oligarchisierte politische Partei als Kampforgani­sation nur noch das Ziel, deren Zahl zu erhöhen, um damit ihre Machtposition in der Öffentlich­keit und in den öffentlichen Organen auszuweiten und zu festigen. Die Zustimmung der (aus der Beteiligung am Entscheidungs­prozeß ausgeschlossenen) Massen bestimmt den Grad, nach dem die Partei selbst sich an der Verteilung der Machtpositionen (Mandate, Ministerposten – bis hinunter zu den Verwaltungs­posten) beteiligen kann. [5]

Mit dem alten Obrigkeits­staat läßt sich die neue Staatsform allerdings nicht ohne weiteres vergleichen. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß formal gesehen nicht die Führungs­stäbe selbst, sondern die Wähler bestimmen, wie die Zirkulation der Machtzentren vor sich geht und wie die Anteile an öffentlicher Gewalt verteilt werden. […] Die Leerformel­haftigkeit der Konkurrenz und die pragmatische Ausrichtung der konkurrierenden Parteien erinnert freilich an den Schein der Konkurrenz im Konsumsektor und an deren Janusgesicht. Während die Führungs­gruppen untereinander sich einen realen Kampf liefern (denn es geht für sie um reale Machtge­winnung), wird den Wählern lediglich die Illusion eines offenen Wettbewerbs mit der ihm eigen sein sollenden Tendenz zur Qualitätsstei­gerung geboten. In Wirklichkeit wird das politische wie das konsumierende Publikum mit scheinunterschied­lichen Gütern beliefert. Die formale Freiheit der Wahl zwischen einem Ford Taunus und einem Opel Rekord; zwischen einem Ferienaufent­halt in Rimini und Ancona entscheidet über den Marktanteil der Firmen und Hotels. Material liegt ihr Stellenwert für konkrete Freiheitsaus­übung genau so niedrig wie die Freiheit der Wahl zwischen den Parteien A, B und C. Aus der Ähnlichkeit der Parteiprogramme und aus der Gemeinsam­keit des Ziels (Markt- und Machtanteil) ergibt sich die Notwendig­keit, sich den „Methoden der Absatzwerbung“ zuzuwenden. [6]

So kämpfen die Parteien untereinander um die Regierungs­macht und bilden dennoch eine symbiotische Einheit, in deren geschlossenem Kreis der abstrakte Führungs­konflikt ausgefochten werden kann. [7]

Gelingt es dabei tatsächlich in der Orientierung der Bevölkerung und in der politischen, legislativen wie exekutiven Tätigkeit den Antagonismus auszuschalten und gerade durch die Vielheit der Parteien die Friedensinte­gration zu erreichen, so wird das wirkliche Gesicht der Volksparteien des modernen Verfassungs­staates offenbar: sie bilden die plurale Fassung einer Einheitspartei – plural in der Methode des Herrschens, einheitlich als Träger der staatlichen Herrschaft gegenüber der Bevölkerung, einheitlich vor allem in der Funktion, die die Volksparteien innerhalb der westlichen Gesellschaft übernehmen. [8]

Das Ungeheuerliche in dieser Analyse Agnolis liegt darin, daß er keinen funktionalen Unterschied zum Typ der faschistischen Einheitspartei ausmachen kann. Die Art der Ausübung der Herrschaft ist jedoch eine vollkommen andere als im Faschismus, soll heißen: der über den Parlamentarismus vermittelte „soziale Frieden“ ist eben eine andere Form der Klassenherr­schaft. Wie die politische Praxis zwischen den beiden Weltkriegen in Europa oder nach dem Zweiten Weltkrieg in Teilen der Dritten Welt gezeigt hat, sind die Übergänge zwischen friedlicher und gewalttätiger Machtausübung – je nach den Erfordernissen – allerdings fließend.

So wurden auch in den 60er Jahren – übrigens von einer Großen Koalition – die hierzu passenden Notstands­gesetze verabschiedet. Das war den 68ern von damals vollkommen klar, was das bedeutet: Sie sahen hierin ganz richtig einen Angriff auf emanzipatorische Ziele und eine dem entsprechende Politik. [9]

Solange in Deutschland jedoch keine fundamentale Systemoppo­sition diese Technik des sozialen Friedens bedroht, sondern statt dessen Protest und Widerstand über Parteien und Gewerkschaften kanalisierbar sind, ist die hierzulande gewählte Form der Ausübung kapitalistischer Interessen äußerst funktional und muß nicht durch etwas Repressiveres ersetzt werden. Die Linkspartei hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren soweit sozialdemo­kratisiert, daß sie kein prinzipielles Problem bei der Umgestaltung des keynesianischen Wohlfahrts­staates hin zu einer global ausgerichteten neoliberalen Gesellschaft mehr darstellt. Sie vollzieht den Weg der Anpassung, für den die Grünen zweieinhalb Jahrzehnte benötigt haben, im Zeitraffer.

Johannes Agnoli baut folgerichtig auch gegenüber denjenigen Stimmen vor, die im Grundgesetz prinzipiell Möglichkeiten zu einer Verpflichtung des kapitalistischen Eigentums zugunsten sozialer Allgemeininteressen erkennen wollen. Er schrieb hierzu 1986:

Das Volk hört sich an, was der Palast verkündet und führt das Verkündete aus: Krieg, Frieden, Aufrüstung, Steuerzahlung, Entwicklungs­hilfe, Sozialstaat, dessen Abbau und einiges mehr. Hierin hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten nicht viel geändert. Und es ist auch nicht so, als ob diese Zustände im geschichtlichen Widerspruch zum Grundgesetz stünden. Die »Väter des G[rund]g[esetzes]« waren alles andere als demosorientierte Idealisten, denen dann später normen­brechende Politiker gefolgt wären. Sie wußten vielmehr, was sie taten und was sie wollten (und zum Teil nur wollen durften): eine demokratische Verfassung durchaus, eine echte und wirkliche Demokratie – mit dem demos [Volk] vor der Tür und in der Wahlkabine, das kratein [Herrschen] fest im Palast. [10]

Woraus nicht folgt, daß unsere Demokratie eine Scheindemo­kratie ist. Es ist eine sehr eingeschränkte Form von Demokratie einer bestimmten historischen Epoche unter bestimmten gesellschaftlichen Herrschaftsverhält­nissen. Daß Demokratie auch etwas vollkommen anderes sein könnte, steht dem nicht entgegen. Aber diese umfassendere Form von Demokratie ist in einer kapitalistischen Gesellschaft nicht möglich.

Johannes Agnolis „Transformation der Demokratie“ ist übrigens in einer Neuauflage im Konkret Literatur Verlag erhältlich. Ich empfehle: selbst lesen!

Wahlplakat Linkspartei Karin Weber, MLPD Direktkandidatin Die CDU verspricht 1000 Arbeitsplätze weniger Einsame SPD Plakate Oskar Lafontaine sucht Fremdarbeiter Angela Merkel im Höhenflug Gerhard Schröder, Frauenschwarm Dirk Niebel, FDP, verspricht Arbeitsplätze Runde CDU Versprechen Wahlplakat Linkspartei Kommerz und SPD Patricia Lips, CDU, fährt Auto Karin Weber sammelt Stimmen für die MLPD Gerhard Schröder bizzlt Trau der FDP auch nachts nicht

 

Wenn die PDS mitregiert

Winfried Wolf, sozialistischer Linker aus Baden-Württemberg seit Ende der 60er Jahre, saß von 1994 bis 2002 für die PDS im Deutschen Bundestag. Er war deren verkehrspoli­tischer Sprecher im Parlament, sorgte 1996 für die Abberufung des deutschen Botschafters in Haiti wegen dessen rassistischer Sprüche, und engagierte sich gegen die Aufrüstung der Bundeswehr zu einer weltweiten Interventionsarmee und damit auch gegen die seither mit deutscher Beteiligung geführten Kriege. Winfried Wolf trat im Mai 2004 aus der PDS aus. Er schrieb hierzu [11]:

Die PDS, die einmal eine Hoffnung für Zehntausende Sozialistinnen und Sozialisten auf ein konsequentes Engagement gegen Arbeitslosig­keit, Umweltzer­störung und Kriegstreiberei darstellte, ist heute zum Hindernis bei der Entwicklung von emanzipato­rischem Bewusstsein geworden. Sie ist in Programmatik und Praxis im negativen Sinn in der kapitalistischen Gesellschaft „angekommen“ – indem sie dort, wo sie mitregiert, die Bereicherung weniger mitbetreibt und den Raubzug bei den Millionen sozial Schwachen mitorganisiert. [12]

Wenn die sich heute Linkspartei nennende PDS sich als Wahlalter­native gegen den Neoliberalismus präsentiert, dann hofft sie offensichtlich auf die Vergeßlich­keit ihrer Wählerinnen und Wähler. Besonders deutlich wird die tatsächliche Politik der PDS alias Linkspartei dort, wo sie an der Regierung beteiligt war oder ist – in Mecklenburg-Vorpommern und in Berlin. Für diejenigen, die mit dem Gedanken spielen, diesmal der Linkspartei ihre Stimme zu geben, fasse ich aus dem Austritts­chreiben von Winfried Wolf einige prägnante Geschehnisse heraus, die den wahren Charakter der Partei deutlich machen. Da, wo sie im Agnoli'schen Sinne mitregieren will, kennt sie keinen Kompromiß und keine Schweinerei, die sie nicht mittragen würde. Beispiele gefällig?

In ihrem im Oktober 2003 verabschiedeten Parteipro­gramm bekennt sich die Partei positiv zum Ziel der ungehemmten Profitmaxi­mierung. Nun ist Papier geduldig, aber Gregor Gysi hat im Sommer 2002 bei einem Besuch der New Yorker Börse demonstrativ klargemacht, was das heißt: Die Börse sei „eine geniale Erfindung des Kapitalismus“. So beginnt Politikfähig­keit, die – wie Winfried Wolf selbst erleben konnte – auf Parteitagen mit undemokratischen Methoden seitens des Parteiapparates durchgesetzt wurde.

1999 äußerte sich der damalige PDS-Bundesgeschäfts­führer Bartsch nach einem China-Besuch positiv zur Umweltschleuder Transrapid und zur ökologischen Katastrophe Drei-Schluchten-Stausee. In Berlin orientiert der von der PDS mitgetragene Senat auf den Bau eines neuen Großflug­hafens und betreibt bei den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) eine Politik des Outsourcings und der Privatisierung. Löhne werden gedrückt, Beförderungs­tarife erhöht und der Vorstand belohnt sich für diese gute Tat mit einem fetten Honorar. Und daß ausgerechnet Gregor Gysi 2002 über die Miles&More-Affäre gestolpert ist, war kein Zufall. Er wußte es besser, aber die Beteiligung an der Macht korrumpiert eben.

Ende 2002 wird Berlins kommunaler Stromver­sorger an einen schwedischen Konzern verscherbelt. Berlins Wirtschafts­senator Harald Wolf, PDS, der Nachfolger von Gysi in diesem Amt, fordert schon Anfang 2003 eine höhere Mehrwert­steuer. Dafür war Berlin Vorreiter bei der Abschaffung der Lernmittelfrei­heit, strich das Sozialticket im öffentlichen Verkehr und trat aus dem Arbeitgeber­verband im Öffentlichen Dienst aus. Die PDS-Senatoren Gysi und Flierl legten zudem die Grundlagen zu einer privaten Elite-Universität.

Dafür schenkte der Senat das stadteigene Gebäude mit dazu gehörigem Gelände in 1a-City-Lage den Betreibern, die sich aus den führenden und reichsten deutschen Konzernen rekrutieren. [13]

Also den notleidenden Konzernen DaimlerChrysler, Allianz, Eon und ThyssenKrupp. Doch der Gipfel ist ein milliardenschwerer Megadeal:

Als großangelegte Beraubung öffentlicher Kassen bzw. der Steuerzahlenden muss dann die Entscheidung des SPD-PDS-Senats bezeichnet werden, Bürgschaften in Höhe von mehr als 21 Milliarden Euro der faktisch bankrotten Berliner Bankgesellschaft zu übernehmen – eine Zeche, die die Bürgerinnen und Bürger Berlins noch bis zu 30 Jahre lang zahlen müssen. Hier wurde auch die Funktion der PDS zur Einbindung von Protest deutlich. [14]

Dieser Deal muß natürlich finanziert werden, was den Austritt aus dem Arbeitgeber­verband im Öffentlichen Dienst ausreichend erklärt. Entsprechend feierte auch die PDS den abgeschlossnen Tarifvertrag mit der BVG, der Lohnverzicht und die Streichung des Urlaubsgeldes vorsieht. Wer soviel Armut produziert, benötigt natürlich auch keine Verbraucherschutz­zentralen mehr. Konsequent strichen SPD und PDS, diesmal in Mecklenburg-Vorpommern, letztes Jahr die Zahlungen, die Verbraucherschutz­zentrale mußte Insolvenz anmelden. Das hier eingesparte Geld steht dann für den Großauftritt der weltweiten herrschenden Klasse beim G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm (in Mecklenburg-Vorpommern) zur Verfügung. Daß die PDS eigentlich auch keine Antikriegspartei ist, macht Winfried Wolf in seinem Austritts­schreiben ebenso deutlich. [15]

Joschka sinniert über den nächsten deutschen Krieg Gegen Genfood Urlaub mit der SPD Andreas Storm, CDU Direktkandidat Hol mir mal ne Flasche Bier sonst streik ich hier Oskar Lafontaine für die Linkspartei Neue Energien Wahlplakat Linkspartei MLPD Wahlplakat Der Rentenexperte der Versicherungslobby Gerhard Schröder, noch Bundeskanzler Brigitte Zypries, SPD Direktkandidatin SPD Wahlplakat Die Grünen wollen weg vom Öl Karin Weber, MLPD

 

Basiswissen zu Gysi und Lafontaine

Einen etwas anderen Schwerpunkt ihrer Kritik an der Linkspartei setzt die Ökologische Linke um Jutta Ditfurth und Manfred Zieran [16]. Anhand mehrfacher Äußerungen, Auftritte und politischen Handelns zeigen sie, daß sowohl Oskar Lafontaine wie auch Gregor Gysi schon immer gute Sachwalter des nationalstaat­lich organisierten deutschen Kapitals waren. Insbesondere die Fremdarbeiter-Ausfälle des Linkspartei-Frontmanns Lafontaine waren keine Ausrutscher. Als Ministerpräsi­dent des Saarlands forderte er schon 1989 die Abschaffung des Asylrechts und war 1992 stolz darauf, im Dunstkreis der Pogrome von Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen zum Asylkompromiß von CDU, SPD und FDP beigetragen zu haben.

Denn Ausländerfeindlich­keit, so Lafontaine, entsteht durch Zuwanderung, und deswegen sei der Staat verpflichtet zu verhindern, daß Familienväter und Frauen arbeitslos würden, weil ja die bösen Fremdarbeiter ihnen die Arbeitsplätze wegnehmen würden. Einmal abgesehen vom patriarchalen Weltbild des Emanzipationsex­perten Lafontaine, bei dem Frauen die Staffage der Familienväter bilden, sind es doch wohl das Kapital und seine staatlichen Agenten, welche Arbeitsplätze vernichten und alleinstehende Mütter im Regen stehen lassen – in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern bekanntlich mit freundlicher Unterstützung der PDS. Daß Lafontaine für Flüchtlings­lager in Nordafrika eintritt oder die Folterandrohung eines stellvertretenden Polizeipräsi­denten in Ordnung findet, paßt durchaus ins Bild eines ordnungs­liebenden deutschen Sozialdemo­kraten, den das Schicksal auf der Liste der Linkspartei PDS wieder an die Macht spülen soll. Doch nationalistische Töne sind auch aus dem ostdeutschen Teil dieser Linkspartei zu hören.

Christine Ostrowski beispielsweise, stellvertretende Bundesparteivor­sitzende und Vorsitzende der PDS Dresden, kungelte regelmäßig mit dem rechten Rand. So war sie 1993 begeistert davon, mit dem Funktionär der verbotenen Nationalen Offensive Überein­stimmungen „bis hin zum Wortlaut“ festgestellt zu haben. Der Vorzeige­sozialist Gregor Gysi fand das gar nicht schlimm und hielt ihren Rücktritt für überflüssig. Wer so national ist, wird belohnt: Christine Ostrowski wurde 1998 in den Bundestag gewählt.

Prompt erklärte sie, die PDS müsse sich zur »Stimme des Protestes« auch ausländerfeind­licher Bauarbeiter machen. [17]

Da fragt sich, warum so viele von der neoliberalen Rot-Grün-Regierung enttäuschte Menschen sich Gedanken über ein Kreuzchen für die Linkspartei machen. Steht sie nicht auf der Seite der kleinen Leute, ist sie nicht gegen Hartz IV und dem damit verbundenen Sozialraub? Nun ja, vielleicht in Worten, aber in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern setzt sie das damit verbundene Programm brav um. Und was die kleinen Leute betrifft – die finden mitunter auch das Verständnis für ausländerfeind­liche Sprüche ganz in Ordnung.

Da fragt sich erst recht, was denn das kleinere Übel ist. Übel sind die Wahlalter­nativen allemal. Aber eigentlich ist es auch egal, wen wir wählen, denn eines bekommen wir bestimmt: die Fortsetzung der bisherigen Politik unter verschärften Bedingungen. Im Finanzmini­sterium werden angeblich schon die ersten Pläne für die Zeit nach der Wahl gewälzt, auch wenn Hans Eichel das dementiert. Doch erinnern wir uns: Kaum waren nach der letzten Wahl die Stimmzettel gezählt, entdeckten die rot-grünen Finanzexperten ein Steuer- und Haushaltsloch nach dem anderen. Klar, sie waren alle so mit dem Wahlkampf beschäftigt, daß ihnen dies wochenlang zuvor einfach entgangen war. Da ist doch die CDU um Angela Merkel ehrlicher: sie erzählt uns wenigstens, womit wir in den kommenden Jahren gequält und zur Kasse gebeten werden sollen. Eines möchte ich dennoch zu bedenken geben. Wer ein Kreuz abliefert, stimmt dem Übel zu. Egal welchem. Das ist vielleicht dann doch eine Frage der Selbstachtung.

 

Zwei Veranstaltungshinweise

Jingle Alltag und Geschichte

– heute mit einigen Betrachtungen zur anstehenden Stimmabgabe für die Bundestags­wahl am kommenden Sonntag. Eine Wahlempfeh­lung gebe ich nicht. Wer seine Stimme abgibt, hat ein schweres Kreuz zu tragen, wer keine Stimme abgibt, sollte sich nach Alternativen umschauen. Diese Welt ist einfach viel zu wichtig und das darin produzierte Elend viel zu groß, um sie den neoliberalen Autisten oder ihrem parlamentarischen Anhang zu überlassen. Wie auch immer – am Sonntag wird Radio Darmstadt ab 18.00 Uhr direkt aus der Centralstation von der Wahlauszählung berichten. Natürlich auch im Internet mit unserem LiveStream.

Doch bevor ihr wählen geht oder auch nicht – hier noch zwei Veranstaltungs­hinweise für die kommende Woche:

Am Dienstag, 13. September [2005], denken und diskutieren Gewerkschaften über den Tag hinaus. Im Rahmen einer gleichnamigen Veranstaltungs­reihe wird ab 17.00 Uhr der Frage nachgegangen, ob die globalen Konzerne die Demokratie abschaffen. Lassen wir einmal die Frage beiseite, ob die Demokratie eine spezielle Veranstaltung zur gesellschaftlichen Organisierung kapitalistischer Herrschaft ist, und hören dabei vielleicht lieber dem Referenten Josef Esser von der Uni Frankfurt und seinem Koreferenten Armin Herber vom Opel-Betriebsrat aus Rüsselsheim zu. Worum es bei der Veranstaltung und der anschließenden Diskussion gehen soll, steht in der Einladung so:

Der demokratische Sozialstaat ist eine der großen gesellschaft­lichen Errungenschaften, an denen Gewerkschaften einen erheblichen Anteil hatten. Heute jedoch werden unter dem Deckmantel der Reform zentrale Stützpfeiler dieses Sozialstaats ausgehebelt. […] Für Gewerkschaften wird es immer wichtiger, über den Tellerrand des Tagesgeschäfts hinauszusehen und konkrete Perspektiven für soziale Gerechtigkeit in dieser Gesellschaft zu entwickeln.

Ob damit auch gemeint ist, die enge Bindung an die neoliberale Sozialdemo­kratie aufzugeben, wird nicht verraten. – Diese Veranstaltung findet im internationalen Begegnungs­zentrum der TU Darmstadt, dem Georg-Christoph-Lichtenberg-Haus in der Dieburger Straße 241, in der Nähe der Fasanerie statt. Eigentlich ist zu dieser Veranstaltung eine Anmeldung vorgesehen, aber vielleicht nehmen das die Veranstalter – die Kooperations­stelle Wissenschaft und Arbeitswelt Darmstadt und die IG Metall – nicht ganz so genau. Noch einmal der Termin: am morgigen, oder wenn ihr die Wiederholung hört, am heutigen Dienstag um 17.00 Uhr.

Und noch ein zweiter Veranstaltungshinweis für den kommenden Freitag: Zu einem kolumbianischen Theaterstück mit anschließender Diskussion über die Menschenrechts­situation in Kolumbien laden die Peace Brigades International, Regionalgruppe Rhein-Main, amnesty international und Katholische Hochschulge­meinde Frankfurt für Freitagabend um 19 Uhr 30 in den Räumen der KHG Frankfurt in der dortigen Beethovenstraße 28 ein.

Gerhard Schröder Kasinostraße Vinyl Angie Rolling Stones

 

Die Wahl zwischen Alkohol und Marihuana

Laßt mich zum Abschluß dieser Sendung noch einmal auf die Protagonisten des Wahlkampfes zurückkommen, auf Gerhard Schröder und Angela Merkel. Nicht, daß die beiden wirklich eine Alternative darstellen würden. Im Gegenteil – auf eine sehr unter­schwellige Weise transportieren sie den Drogenkonsum in die Gesellschaft, um die von ihnen vermittelten Sorgen des Alltags erträglicher zu gestalten.

Schon 1998 machte sich Stefan Raab ein wenig über den damaligen Kanzlerkandi­daten Gerhard Schröder lustig, der während des Wahlkampfs eine Flasche Bier gefordert hatte. Passend dazu hing vor kurzem ein Wahlplakat in der Kasinostraße mit einem visionär in die Welt schauenden Friedenskanzler. Sein Blick fiel auf das daneben hängende Plakat einer Brauerei. Angela Merkel hingegen scheint ein besonders kompetentes Kompetenzteam zu besitzen, denn anders ist es nicht zu erklären, daß mit „Angie“ von den Rolling Stones ein Song bei ihren Wahlveran­staltungen zu hören ist, das auf seine Weise den Genuß von gerauchten Drogen beschreibt.

Ähnlich wie Ronald Reagan [ein Vorbild von Angela Merkel], der einst Bruce Springsteens bitterböses Vietnam-Veteranenlied „Born in the USA“ nur aufgrund des Titels als vorbildlich-positiv-patriotisch lobte, will die CDU nun Angela Merkel mit einem zugegeben wunderschönen Musikstück assoziieren, das von leeren Taschen, Ziellosigkeit und in (Marihuana-) Rauch aufgegangenen verlorenen Träumen handelt.

… schreibt Wolf-Dieter Roth am 24. August [2005] in Telepolis [18]. Marcus Hammerschmidt schreibt am 5. September [2005] an gleicher Stelle:

Manche sind angenervt davon, dass sie jetzt schon wieder Waschmittel einkaufen und sich zwischen Dash und Persil entscheiden sollen, obwohl die alte Packung doch noch für ein Jahr gereicht hätte. Den meisten ist eh alles scheißegal. So richtig verdenken kann man es ihnen nicht, wenn Wahlen im Wesentlichen Annahme­stellen sind, bei denen man im Austausch für zurückgebrachte Pfandflaschen neues Leergut erhält. Drinnen, im Supermarkt, macht die Wirtschaft Kasse, gleichgültig, ob draußen grünes, braunes oder weißes Glas hin und her verschoben wird. Wer unter diesen Umständen gern wählt, hat seine Wahlberechti­gung eigentlich gar nicht verdient, weil er dem Lego-Alter noch nicht entwachsen ist. […]

Aber die Deutschen, immer bereit, etwas Schlechtes durch etwas noch Schlechteres zu ersetzen, würden nach dem Verschwinden der Sachwalter nur auf die Idee verfallen, dass doch einer regieren muss, und den starken Mann herbeisehnen, der alles mal so richtig aufräumt, sie eingeschlossen. [19]

Buchcover Angela MerkelAn dieser Stelle folgte eine improvisierte Buchbe­sprechung von: Nicole Schley – Angela Merkel, aus dem Knaur Taschenbuch Verlag. Hiervon liegt keine schriftliche Fassung vor.

Gibt es eine Alternative? Es gibt immer eine Alternative. Etwas Besseres als das Schlechte, etwas weniger Übles, als zwischen mehreren Übeln entscheiden zu müssen, gibt es allemal. Aber solange wir immer wieder aufs Neue bereit sind, unsere Stimme abzugeben, um uns anschließend zu wundern, warum wir so stumm sind, solange werden die Verhältnisse so sein, wie sie sind. Es liegt an uns, diese Verhältnisse zu legitimieren oder sie zu verändern. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte auf Radio Darmstadt war Walter Kuhl. [20]

 

ANMERKUNGEN
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»» [1]   Gerd Wiegel : Die Union und der rechte Rand. Zur Strategie der CDU/CSU-Fraktion im Umgang mit Parteien der extremen Rechten, 2002 herausgegeben von der PDS-Bundestagsfraktion.

»» [2]   Johannes Agnoli : Zwanzig Jahre danach – Kommemorativab­handlung zur »Transformation der Demokratie«, in: Prokla 62, März 1986, Seite 7–40 [im Folgenden: Agnoli 1986].

»» [3]   Agnoli 1986, Seite 36.

»» [4]   Agnoli 1986, Seite 40, Anmerkung 14.

»» [5]   Johannes Agnoli : Die Transformation der Demokratie, Seite 34–35 [im Folgenden: Agnoli Transformation].

»» [6]   Agnoli Transformation, Seite 37.

»» [7]   Agnoli Transformation, Seite 38.

»» [8]   Agnoli Transformation, Seite 40.

»» [9]   Vgl. beispielsweise: Dieter Sterzel (Hg.) : Kritik der Notstandsgesetze. Mit dem Text der Notstandsverfassung [1968].

»» [10]   Agnoli 1986, Seite 29

»» [11]   Winfried Wolf : Warum ich aus der PDS austrete [21. Mai 2004].

»» [12]   Wolf Seite 1 (des Originals).

»» [13]   Wolf Seite 7.

»» [14]   Wolf Seite 8.

»» [15]   Wolf Seite 9–10.

»» [16]   Vergleiche hierzu: Ökologische Linke : Die »Linkspartei«: Alles für Kapital + Vaterland – Für Linke nur Lug + Betrug [August 2005] mitsamt zugehörigen Quellenangaben

»» [17]   Ökologische Linke, Seite 2.

»» [18]   Wolf-Dieter Roth : „All die Träume, die wir einst hatten, sind in Rauch aufgegangen!“, in: Telepolis vom 24.8.2005.

»» [19]   Marcus Hammerschmitt : Ein Schulterzucken geht durch das Land, in: Telepolis vom 5.9.2005.

»» [20]   Die Sendung wurde mit einem Zusammen­schnitt dreier Songs über Gerhard Schröder und zu Angela Merkel beendet: Die Gerd Show / Der Steuersong, Stefan Raab feat. DJ Bundeskanzler / Ho mir ma ne Flasche Bier, Rolling Stones / Angie.


Diese Seite wurde zuletzt am 22. September 2010 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. Text und Fotos ©  Walter Kuhl 2001, 2005, 2010. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

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