Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 23. November 2009, 17.00 bis 18.00 Uhr
Wiederholt:
Montag/Dienstag, 23./24. November 2009, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 24. November 2009, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 24. November 2009, 14.00 bis 15.00 Uhr
Zusammenfassung:
Übernahme zweier Interviews mit Hermann Knoflacher zu seinem Buch „Virus Auto“.
Jingle Alltag und Geschichte
Die SPD hatte jüngst ihren Parteitag und ihr hessischer Chef Thorsten Schäfer-Gümbel gab schon zuvor den Grundton der Läuterung aus. Er sagte zu dem von seiner Partei eingeführten Sozialabbau unter der Bezeichnung Hartz IV: „Zuerst einmal muss der Name weg.“ Aha, der Name. Und was ist mit dem zugrunde liegenden Konzept? „Dann müssen die Arbeitsmarktreformen deutlich nachjustiert werden.“ Na, dann dürfen wir uns ja schon einmal warm anziehen. Komisch nur, daß Schäfer-Gümbel erst jetzt, nach dem Desaster der verlorenen Wahl, den Mut zeigt, naja, den Namen zu ändern. Wie wär's mit: „Wohlfühlparadies Arbeitsagentur mit eingebauter Hängematte und angeschlossener Sanktionsmaschine“? [1]
Bei der CDU hat man derartige Probleme mit der Läuterung nicht. Obwohl – nach der Bundestagswahl im September hatte Weiterstadts charming star Andreas Storm ein ganz anderes Problem. Das Direktmandat konnte er nicht erringen und auf der Landesliste war er nicht ausreichend abgesichert. Was tun? Wieder Anwalt werden? Iwo! Wo andere zum Arbeitsamt wandern müssen, kennt die Politik für Ihresgleichen einen lukrativen Ausweg. Ein Hesse hilft dem anderen doch gerne. Ein Posten findet sich immer. Diesmal darf er als Staatssekretär bei Franz-Josef Jung, dem Bauernopfer des hessischen Schwarzgeldskandals, dabei mithelfen, mit Arbeitslosen und Sozialem aufzuräumen. Die Qualifikation spreche ich ihm hierfür jedenfalls nicht ab. [2]
Kommen wir zu etwas ganz Anderem. Vergangenen Mittwoch beschäftigte sich ein Symposium im Darmstädter „Haus der Geschichte“ mit den Anforderungen an den öffentlichen Verkehr der Zukunft. Busse und Bahnen, so war dort zu hören, reichen in Zukunft nicht aus, um diesen Verkehr zu bewältigen. Der Verkehr müsse flexibler werden. Eingeworfen wurde die Idee einer Taxi-Flatrate. Man und frau zahlt einen monatlichen Betrag, um sich so oft wie gewünscht innerhalb des Stadtgebiets chauffieren zu lassen. Menschen mit Hartz IV müssen auch hier draußen bleiben, weil die Flatrate im Regelsatz nicht vorgesehen ist. Wer arm ist, muß sich halt weiter in Busse und Bahnen quetschen. Ich finde diesen Vorschlag reichlich provinziell und typisch für eine Geschäftsinteressen verpflichtete Marktlogik. [3]
Dabei gab es schon einmal einen Vorschlag, der schlicht genial war. Der so genial war, daß er die Staus auf der Autobahn aufgelöst und die Zahl der Arbeitslosen auf Null zurückgefahren hätte. Parkplatzprobleme gäbe es nicht mehr und die Feinstaubbelastung wäre reduziert und nicht vergrößert worden. Der Verkehrsexperte Winfried Wolf, der aus Überzeugung lieber mit der Bahn fährt, schlug 1991 vor, in einem Zehnjahresplan eine Bundesrepublik Taxiland zu schaffen. Alle Menschen könnten sich zu erschwinglichen Preisen kommunikativ chauffieren lassen. Der miefige individelle Autoverkehr würde abgeschafft. Es gäbe mehr Luft zum Atmen, Millionen fänden eine neue Beschäftigung, und der Clou war: der Wegbau der Automobilgesellschaft sei auch noch kostenneutral zu erreichen. Seine volkswirtschaftliche Gesamtrechnung hatte Hand und Fuß. Was auch bedeuten könnte: die Städte gehörten wieder den Menschen und nicht den Autos. [4]
Wäre ein solches Konzept einmal ernsthaft diskutiert oder gar umgesetzt worden, dann müßten wir uns heute nicht mit schwachsinnigen Nordostumgehungen und bornierten ICE-Diskussionen herumplagen. Das sind natürlich unerhörte Gedanken, die in den Konzernzentralen der Automobilindustrie, der Ölkonzerne und der ihnen angeschlossenen Industriebetriebe nicht gerne gehört werden. Utopisch sind sie allemal. Wo kämen wir auch hin, wenn alle, egal ob arm oder reich, sich mit einem Daimler chauffieren lassen könnten? Natürlich schadstoffreduziert und mit Tempolimit.
Ja, wo kämen wir da hin? Die seit einem Jahrhundert verordnete Automobilisierung nzw. Automobilmachung der Gesellschaft ist nämlich ein mörderisches Geschäft. Die Zahl der Verkehrstoten mag hierzulande gesunken sein, weltweit betrachtet sieht das schon anders aus. Von den Folgen der Verletzungen, der Rußpartikel oder der mit dem Automobilismus geförderten Hetze rede ich schon gar nicht. Der österreichische Verkehrsplaner Hermann Knoflacher hat dieses Jahr ein Buch mit dem Titel „Virus Auto. Die Geschichte einer Zerstörung“ herausgebracht. In einem Interview mit der Zeit sagte er: „Wir ziehen uns mehr oder weniger freiwillig in abgedichtete Häuser mit Lärmschutzfenstern zurück, um den Außenraum dem Krach, dem Staub und den Abgasen der Autos zu überlassen“
Sein Buch war Anlaß für zwei Interviews von Radio Dreyeckland in Freiburg und Radio Orange in Wien, die ihr in den nächsten fünfzig Minuten hintereinander hören werdet. Ich verabschiede mich schon mal. Am Mikrofon war für die Redaktion Alltag und Geschichte Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
Die beiden Interviews mit Hermann Knoflacher können entweder über das Audioportal nachgelesen, angehört oder heruntergeladen werden, sie können aber auch mit dem nachfolgend zu sehenden MP3-Abspielgerät ohne lästiges Herumgefummel mit internen oder externen Software-Playern angehört werden. Wie ihr wollt.
Das von Radio Dreyeckland in Freiburg geführte Telefoninterview findet sich hier.
Das bei Radio Orange in Wien geführte Studiogespräch findet sich hier.
»» [1] Siehe hierzu das Interview von Werner Kolhoff mit Thorsten Schäfer-Gümbel, am 12. November in der Online-Ausgabe des Darmstädter Echo zu finden: Schäfer-Gümbel: „Zuerst muss der Name Hartz IV weg“.
»» [2] Kurz darauf stolperte sein Minister über die Tanklaster von Kundus, aber dies schadete der Karriere von Andreas Storm nicht.
»» [3] Siehe hierzu Harald Pleines: Busse und Bahnen allein reichen nicht, in: Darmstädter Echo (online) am 20. November 2009.
»» [4] Winfried Wolf : Brüder, zur Sonne, zum Daimler. Die Gesetzmäßigkeit der Bundesrepublik Taxiland (BRT), in: SoZ (Sozialistische Zeitung) Nr. 13 vom 20. Juni 1991, Seite 10. Winfried Wolf : »Brüder, zur Sonne, zum Daimler«. Ein Plädoyer für die »Bundesrepublik Taxigesellschaft (BRT)«, in: junge Welt, Nr. 130 vom 7./8. Juni 1997, Dossier Verkehrspolitik, Seite III–IV.
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