Denkzeichen Güterbahnhof 2009
Gedenk­veranstaltung am Güter­bahnhof 2009


Kapital – Verbrechen

Kriege der besonderen Art

Sendemanuskript

 

Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte

Radio: Radio Darmstadt

Redaktion und Moderation: Walter Kuhl

Ausstrahlung am:

Montag, 9. November 2009, 17.00 bis 18.00 Uhr

Wiederholt:

Montag/Dienstag, 9./10. November 2009, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 10. November 2009, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 10. November 2009, 12.00 bis 13.00 Uhr

Zusammenfassung:

Thematisiert werden Kriege der besonderen Art und einiges mehr. Männer gegen Frauen. Deutschland nach dem Ende des Kalten Kriegs. Ein Busenattentat. Bewerbungs­trainings als soziale Kontrolle. Deutsche Deutsche gegen deutsche Jüdinnen und Juden, gegen deutsche Sinti und in Deutschland lebende Roma. Der US-amerikanische Bürgerkrieg.

Vorgestellt und besprochen – Zeitschrift, Broschüre, Buch:

Zwischenmusik:

Shark Taboo : Black Rock Sands

 


 

Inhaltsverzeichnis

 


 

Sie versuchen es halt immer mit Frauen

Jingle Alltag und Geschichte

Der 30. Oktober war ein Tag wie jeder andere. In Erfurt wurde die Christdemokratin Christine Lieberknecht erst im dritten Wahlgang zur Minister­präsidentin Thüringens gewählt. Die schwarzrote Koalition, die über eine sichere Mehrheit im Parlament verfügt, verweigerte der Nachfolgerin des Skifahrers Dieter Althaus die Gefolgschaft. Im dritten Wahlgang mußten Stimmen aus der Opposition aushelfen, um eine Frau als Kandidatin durchzubringen.

Nun könnten mir die Ränkespiele der parlamentarischen Spielwiese egal sein. Ob sich die SPD weiter ins Aus katapultiert, indem sie lieber den Juniorpartner einer Partei der Bourgeoisie abgibt, oder ob sie das Geschäft der Bourgeoisie in trauter Zusammen­arbeit mit Grün und Rot direkt betreibt, ist für diejenigen, die für mehrere Jahre ihre Stimme auf Nimmer­wiedersehen abgegeben haben, allenfalls im Detail interessant. Die bürgerliche Demokratie ist zwar eine historische Errungen­schaft, aber auch eine, die das Geschäft des Kapitals bestmöglich zu befördern hat. Deswegen kriegt die Hypo Real Estate einen dreistelligen Milliarden­betrag und eine Hartz IV-Empfängerin wird entwürdigend angeblafft, weshalb sie noch immer keinen Job habe. Wer blafft schon Bänker an, die Milliarden verbrennen? Das ist doch Sozialneid.

Doch auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist der globale Kapitalismus weitgehend männlich geprägt. Frauen sind weiterhin eine Seltenheit in Führungs­positionen. Nicht daß ich glaube, mit Frauen an der Spitze werde der Kapitalismus menschlicher. Wer sich als Frau hoch­gearbeitet hat, muß ihren Mann stehen, und das heißt, sie muß die Gewähr dafür bieten, das Geschäft des Kapitals mindestens so gut wie ein Mann zu gestalten. Und das ist den Männern allemal suspekt.

Heide Simonis, von 1993 bis 2005 Minister­präsidentin von Schleswig-Holstein, ist erfahren in den Mechanismen der Machtausübung. Sie kennt ihre Jungs und weiß, wie sie ticken. Von der Tagesschau gefragt, meinte sie nur: „Sie versuchen es halt immer mit Frauen.“ Heide Simonis war in vier Wahlgängen an der Männerphalanx in den Reihen von SPD, Grünen und Südschleswig­schem Wähler­verband gescheitert.

Dieser Vorgang ist alles andere als ungewöhnlich. 2004 hatten bei der Diskussion um die Nachfolge von Erwin Teufel als Partei­vorsitzenden und Minister­präsidenten von Baden-Württemberg Teile der CDU mit der expliziten Begründung, keine Frau in dieser Position haben zu wollen, Annette Schavan abgelehnt.

Und doch, so stellen wir neuerdings fest, werden nicht Mädchen, sondern Jungen benachteiligt. Die Mädchen haben ihren Girls' Day – und die Jungs, die 365 Tage im Jahr die Szenerie beherrschen, gehen leer aus. Das muß sich ändern. Die Förder­programme für die vom Patriarchat benachteiligten Jungs sind schon angelaufen.

Willkommen in den besonderen Kriegen des patriarchal reglementierten Kapitalismus. Eine Sendung von Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

 

Weicheier an die Front

Nun ist es ja tatsächlich so, daß in deutschen Schulen Mädchen besser abschneiden als Jungs. Das mag damit zu tun haben, daß selbst heute noch Mädchen von klein auf anders erzogen und zurechtgebogen werden als das zukünftig starke Geschlecht. Die Strebsamkeit in der Schule kann wohl als Produkt einer auf Anpassung getrimmten Erziehung angesehen werden. Hinzu kommen mag, daß Eltern das Märchen tatsächlich glauben, eine bessere Ausbildung fördere die Chancen­gleichheit oder gar „Chancen­gerechtigkeit“, wie das heute so schön ideologisch heißt. Dabei erfahren junge Frauen spätestens zwischen 20 und 30, daß sie dort nicht weiterkommen oder gar gefördert werden, wo Männer Karriere machen. Da nutzt die beste Ausbildung nichts, wenn der Schniepel fehlt.

Angesichts sich dennoch ändernder Rollenbilder ergibt sich jedoch ein Problem. Wenn Mädchen in Männer­domänen wildern dürfen, wenn Jungs nicht mehr den harten Kerl heraushängen, sondern auch einmal sensibel sein sollen, dann bringt das eine jahrelang mühselig aufgebaute Fassade zum Einsturz. Die Verunsicherung ist groß. Und das darf nicht sein. Die zukünftige Elite unseres Landes darf doch nicht aus Weicheiern bestehen. Folglich sieht der Koalitionsvertrag von CDU und FDP vor, eine eigenständige Jungen- und Männerpolitik zu entwickeln [1]. Die gibt es zwar schon seit zehntausend Jahren, aber die Konkurrenz wirklich qualifizierter Mädchen und Frauen ist einfach zu groß geworden. Dagegen muß mann etwas tun.

Wahrscheinlich ist der Feminismus an der Verunsicherung schuld. Aber den haben die Jungs ja schon halbwegs im Griff, und das nennt sich dann weichgespült und entpolitisiert Gender Mainstreaming. Mit diesem Mainstreaming sollen alle Geschlechter gleichermaßen gefördert werden, vor allem aber die Jungs. Nun ist ja nichts dagegen zu sagen, wenn den Jungs erklärt wird, wie ihre Welt funktioniert und wie sie hiervon profitieren, damit sie sich ihr und den damit verbundenen Männer­bünden, Cliquen und formellen wie versteckten Herrschafts­strukturen verweigern. Damit sie sich hiervon emanzipieren und vielleicht auch einmal akzeptieren, daß sie nicht der Weisheit letzter Schluß sind. Aber das ist wohl weder mit dem Boys1 Day noch beim Koalitionsvertrag gemeint.

Dabei ist die Lösung doch so einfach: schickt die Jungs zum Militär. Dort lernen sie, sich als Männer zu bewähren, dort schließen sie echte Kumpel­freundschaften fürs Leben. Und dann ab nach Afghanistan! Dort warten Millionen Männer und Frauen nur darauf, von echten deutschen Kerls gezeigt zu bekommen, wie man und frau sich vom Patriarchat befreit. Und wenn dann der eine oder andere Tanklaster bombardiert wird und zufällig Anwesende gleich mit, dann macht das nichts. Echte Männer unterdrücken ihre Empathie für diejenigen, die sowieso nichts zählen.

Insofern ist das Ergebnis der Ermittlungen der Bundesan­waltschaft zum Tankwagen-Bombardement voraussehbar. Schon 1999 – beim Angriffskrieg auf Jugoslawien – konnten die höchsten deutschen Strafverfolger nichts Verwerfliches dabei finden, Menschen anderer Staaten in Angst und Schrecken zu versetzen [2]. Und das ist kein Justizirrtum, sondern eine Männerwahrheit.

 

Männliche Kodierung und ein Fußballfest

Besprechung von : Mittelweg 36, Heft 4, August / September 2009, 92 Seiten, € 9,50

Eine Frau in einer Führungsposition ist sicherlich kein emanzipatorisches Vorbild. Es zeigt allenfalls, daß Ausnahmen die Regel bestätigen. In einem Interview mit einer israelischen Kriegsdienst­verweigerin fragte ich vor einigen Jahren nach der Rolle von Golda Meir, der ehemaligen Minister­präsidentin. Keren Assaf, die junge Frau, mit der ich sprach, meinte hierzu:

Golda Meir hätte politisch nicht überlebt, wenn sie sich nicht an den männlichen Codes ausgerichtet hätte. Sie handelte nach den Männercodes und sie verhielt sich in der Politik wie ein General. Sie befehligte eine Politik von Krieg und Aggression. Hätte sie nach anderen Wertmaßstäben gehandelt, hätte sie politisch nicht überlebt. Das war kein Sieg für die Frauen. [3]

Anstelle von Golda Meir könnten wir auch Maggie Thatcher, Hillary Clinton, Indira Gandhi oder Angela Merkel einsetzen. Es mag hier Nuancen im Einzelfall geben. Angie ist sicherlich smart. Aber sie hätte nicht ihren Ziehvater Helmut Kohl beerben und alle Rivalen abservieren können, hätte sie nicht die Härte eines Mannes internalisiert.

Doch lassen wir das. Ein Blick auf Deutschland und seine Befindlich­keiten verrät uns, daß Gleichheit der Geschlechter ein weiterhin fernes Ziel ist, an dem Männer am aller­wenigsten arbeiten. Jeder Fortschritt ist hier mit unsäglichen Mühen, Verleugnungen, Unterstellungen, mit Mobbing und vielen Tränen erkauft. Da ist es eben leichter, sich anzupassen, an passender Stelle rumzugickeln und die Frauen zu dissen, die das Spiel nicht mitspielen. So etwas geschieht überall, aber auch am Steuben­platz 12. Wllkommen in Deutschland, willkommen in der Zivilisation.

Wenn wir in diesem Herbst den 20. Jahrestag des Zusammen­bruchs der SED-geführten DDR begehen, mit all diesen furchtbar aufgemotzten Klischeefilmen, die uns nicht verraten, wie die DDR wirklich war, dann sollten wir nicht vergessen, daß damals, fast ein halbes Jahrhundert nach Ende des 2. Weltkriegs, Deutschland seine volle Souveränität wiedererlangte. Nur dies ermöglichte den Krieg gegen Jugoslawien, nur dies die Verteidigung von Tank­lastwagen am Hindukusch.

Dennoch war die Befreiung der deutschen Seele vom National­sozialismus und der unbeschwerte Umgang mit der eigenen Geschichte an ein anderes Datum gebunden. Die Ironie der Geschichte will es, daß zwei Nichtarier das deutschen Kollektiv von der Last der Vergangen­heit befreiten. Was Debatten in den Medien und Hörsälen des Establishments nicht vermochten, was Roman Herzog und Horst Köhler nicht so recht wecken konnten, geschah am 14. Juni 2006. Ihr erinnert euch?

Am Abend dieses lauen Sommeratages schrie halb Deutschland zweimal befreit auf. Es war beim Gruppenspiel der Fußball-Weltmeister­schaft gegen Polen, in der Nach­spielzeit. Den ersten landesweiten Befreiungs­schrei rief das Tor von Oliver Neuville auf Vorlage von David Odonkor hervor. Sekunden später schrien auch die, die das Tor nicht per Satellit, sondern per DVB-T zu sehen bekamen. Danach waren Deutschland­fahnen der modischste Trendstoff des Universums, und die Innenstädte versanken im bierseligen Hupkonzert.

 

Der Lackmustest für die Linkspartei

Was ich hier aus der Binnensicht eines deutschen Linken beschreibe, könnte durchaus von Interesse sein, von außen betrachtet zu werden. Wie sehen Menschen, die sich nicht dem neoliberalen Mainstream verpflichtet fühlen, das neue Deutschland? Der britische Historiker und Marxist Perry Anderson hat im Frühjahr dieses Jahres den Versuch unternommen, die Bundesrepublik 20 Jahre nach dem Mauerfall einem internationalen, linken, intellektuellen Publikum verständlich zu machen. Sein in der Zeitschrift New Left Review erschienener Aufsatz A New Germany? leitet in deutscher Übersetzung die Augustausgabe der Zeitschrift Mittelweg 36 aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung ein.

Cover Mittelweg 36Nun ist New Left Review nicht mehr die radikale, inter­nationalistische Zeitschrift, die sie einmal war. In den 60er und 70er Jahren bildete sie einen wichtigen Bezugspunkt der Neuen Linken, zumindest der Neuen Linken, die sich Debatten über die Verhältnisse in anderen Ländern stellten. Auch an New Left Review ist der Zusammen­bruch des Realen Sozialismus und der Siegeszug des Neo­liberalismus nicht spurlos vorbeigegangen. Die Neu­positionierung der Zeitschrift im Jahr 2000 ist mit der Person Perry Anderson verknüpft – und wenn ich den hier erwähnten Aufsatz als Gradmesser der Veränderung betrachte, dann scheint die Zeitschrift politischen Biß gegen eine zurück­gezogene, wenn auch wohl bedachte Analyse eingetauscht zu haben. [4]

Perry Anderson führt uns zu den Veränderungen der 90er Jahre, als das westdeutsche Kapital den ostdeutschen Kuchen schlucken mußte, ohne sich daran zu verschlucken. Die damit verbundenen Veränderungen der politischen Landschaft brachten nicht nur Rot-Grün unter Gerhard Schröder hervor, sondern auch einen spezifisch deutschen Ansatz, Lohnkosten zu drücken und Kriege zu führen, um global präsent zu sein. Anderson weist darauf hin, daß das Thema „soziale Gerechtigkeit“ in Deutschland ein wesentlich präsenteres Moment der politischen Debatte ist als in anderen vergleichbaren Industrienationen.

Auch wenn die Sozialdemokratie unter Schröder mit der Agenda 2010 ein neoliberales Projekt des Kapitals verfolgt habe, so ließen es die politischen Verhältnisse nicht zu, die Daumen­schrauben so anzuziehen wie beispielsweise in den USA oder in Groß­britannien. Das Gerechtigkeits­empfinden von vierzig Jahren DDR mit seiner im Vergleich zur kapitalistischen Reichtums­verteilung relativen Gleichheit, verbunden mit einer Schwächung, aber nicht – wie in den USA und Groß­britannien – Ausschaltung der westdeutschen Gewerkschaften ließ den Durchmarsch der gnadenlosen Markteiferer nur begrenzt zu. Diesem Problem, so Anderson, wird sich auch die neue Regierung stellen müssen, egal welche Koalition die Wahl gewinnt. So schrieb er im Frühjahr.

Hinzu komme, daß es in Deutschland etwas gibt, was anderen Industriestaaten fehle – eine linke Partei, die sich nicht dem politischen und wirtschaftlichen Mainstream zurechne. Der Lackmustest der Regierungs­fähigkeit auf Bundesebene bilde das Bekenntnis zur NATO und zum Krieg in Afghanistan. Die Grünen, eine ehemals pazifistische Partei, seien über das Stöckchen gesprungen, um den Kapitalismus am Kabinettstisch mit verwalten zu können. Die Frage, ob die Linke immun bleibt oder ihre Prinzipien realpolitisch aufgibt, stehe noch zu beantworten.

Mir ist es beim Lesen der Analyse Perry Andersons so gegangen, daß mir manchmal die klare Positionierung gefehlt hat. Sicher, Anderson ist kein Neoliberaler. Aber eine Analyse mit einer klaren Position hätte seiner Darstellung nicht geschadet. So wirkt sein Aufsatz zwar nicht uninteressant, aber irgendwie auch – fade.

 

Als Theodor Adorno mit der Studentenbewegung konfrontiert wurde

Zwei weitere Aufsätze prägen das Augustheft von Mittelweg 36. Da ist zum einen eine Auseinander­setzung Jan Philipp Reemtsmas mit dem Begriff und der Funktion des Helden und zum anderen eine Auseinander­setzung des Historikers Bernd Greiner über Ängste im Kalten Krieg anhand einer mehrteiligen ziemlich skurrilen fiktiven Reportage in der zu Beginn der 50er Jahre in den USA breit rezipierten Zeitschrift Collier's. Allein schon die fiktive Geschichte [5] belegt den Spagat zwischen Paranoia und Kalkül. Wer schürt Ängste wozu? Handelt es sich beim Irrationalismus um eine rationale Form der politischen Meinungs- und Willensbildung? Fragen, zu denen der Aufsatz anregt, Fragen jedoch auch, die über den Kalten Krieg hinausweisen. Manipulation gehört zu Herrschaft dazu. Ängste bedürfen keiner realen Grundlage, es reicht, ein Gefühl der Angst zu erzeugen. Von dieser Prämisse lebt die Kriminalitäts­hysterie der Überwachungs­fanatiker und Bestrafungsneurotiker. [6]

Geärgert habe ich mich über den abschließenden Aufsatz von Wolfgang Kraushaar aus seiner „Protest-Chronik“. So verdienstvoll es ist, verschüttete Ereignisse aus der Zeit der Studentenbewegung wieder ans Licht zu holen, so wichtig ist es auch, danach zu fragen, wie uns diese Vergangenheit analytisch aufbereitet präsentiert wird. Im Augustheft behandelt Kraushaar einen Vorfall aus dem Frühjahr 1969 in Frankfurt, zu dem es eine Vorgeschichte gab. Im Januar dieses Jahres 1969 hatte Theodor Adorno die Polizei gerufen, um das von Studierenden besetzte Institut für Sozial­forschung räumen zu lassen. Der sich darin ausdrückende Bruch mit der sich radikalisierenden Bewegung von Studentinnen und Studenten führte zu einer Konfrontation im Seminar.

Ich glaube ja, hier lag ein ganz großes Miß­verständnis vor. Adorno war nicht der, von dem die Studentinnen und Studenten glaubten, der er sein müsse. Und Adorno mag die Proteste wohlwollend betrachtet haben, aber das radikale An-die-Wurzel-Gehen hatte er sich dann doch eher für theoretische Mußestunden vorbehalten. Und so waren das Zerwürfnis, die Enttäuschung und ein psychischer Knacks ganz unvermeidlich.

Im April 1969 wollte Adorno ganz professoral seine Vorlesung „Einführung in das dialektische Denken“ durchführen, auch wenn er ahnte, daß sein Ruf nach der Polizei Zündstoff bot. Zur Vorlesung kam es jedoch nicht, denn es bestand Diskussions­bedarf. Adorno, bemüht seine Autorität zu wahren, fordert die Anwesenden auf, sich binnen fünf Minuten zu entscheiden, ob die Vorlesung stattfinden soll oder nicht. Als er, um die Diskussion hierüber abzuwarten, herausgehen will, wird er von drei Studentinnen umringt, die ihn mit Blütenblättern bestreuen und dabei ihre Brüste entblößen. Das ist für den Theoretiker zu viel und er verläßt fluchtartig den Hörsaal.

Was Wolfgang Kraushaar daraus macht, halte ich für eine unzulässige Diffamierung der Studenten­bewegung. Es läßt sich darüber streiten, ob diese Bewegung immer die richtigen Mittel gefunden hat, um ihren richtigen und notwendigen Protest zu artikulieren. Hieraus jedoch eine antisemitische Tat zu suggerieren, halte ich für absurd. Einer der beteiligten Frauen, so Kraushaar, ist die ganze Geschichte nach fast vier Jahrzehnten peinlich, und er schreibt:

Über Adornos Biographie habe sie damals so gut wie nichts gewusst. Erst später habe sie verstanden, dass eine derartige Aktion bei ihm als einem vor den Nazis geflüchteten Philosophen jüdischer Herkunft hätte Ängste wecken müssen. Inzwischen sei ihr ganz verständlich, dass die Aktion von dem nach Deutschland zurückgekehrten Emigranten als ein Gewaltakt wahrgenommen werden musste. [7]

Ich erlaube mir die Bemerkung, daß zwischen einem, wie es bei Kraushaar heißt, „Busen-Attentat“ und der Gewalt der Nazibanden doch ein Unterschied besteht. Ein Unterschied, den vielleicht Götz Aly nicht sieht, den jedoch Wolfgang Kraushaar sehr wohl richtig einzuschätzen wissen müßte. Ob die sexualisierte Konfrontation eine Zumutung für den alten Herrn dargestellt hat, ist eine ganz andere Frage, zumal Kraushaars Darstellung nahelegt, daß die drei Studentinnen von ihren männlichen Kommilitonen angestiftet wurden. Damit wären wir eher bei der Frage, was Männer witzig finden und wie sie Frauen für ihren Spaß instrumentalisieren. Mit Naziterror hat das jedenfalls nichts zu tun. Doch Kraushaar setzt, ganz spekulativ, aber wohldosiert, noch einen drauf und schreibt:

Auch wenn es zu der physischen Gewaltanwendung nicht gekommen ist, so könnte die Massivität der öffentlichen Bloßstellung zu einer seelischen Verletzung geführt haben, die ihrerseits ein verursachender Faktor für jenen Herzinfarkt gewesen sein mag, der Adorno schließlich in den Schweizer Alpen zum Verhängnis wurde. [8]

Vielleicht war es auch nur ein Sack Reis, der in China umgekippt ist. Ich frage mich hier, wessen Befindlich­keiten mit einer derartigen Darstellung bedient werden sollen. Wer ist das Publikum, wer der Adressat dieser zugegebener­maßen für Adorno nicht heiteren Geschichte? Nicht einmal ein schlechter Krimi würde sich eine solche Indizienkette erlauben.

Heft 4 der Zeitschrift Mittelweg 36 aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung ist zwar schon im August erschienen, seine Beiträge weisen jedoch über das Haltbarkeits­datum der nachfolgenden Bundestagswahl hinaus. Das letzten Monat erschienene Heft 5 behandelt Arbeitsrecht und Arbeitsrichter, vielleicht auch Arbeitsrichterinnen, befaßt sich mit Hans Magnus Enzensberger im Jahr 1968, und stellt Überlegungen zu Krieg und Genozid an. Ich werde diese Ausgabe in einer meiner nächsten Sendungen näher vorstellen. Das Einzelheft kostet 9 Euro 50, ein Abonnement ist möglich und erwünscht.

 

Für welchen Quatsch immer Geld vorhanden ist

Seit wenigen Tagen wissen wir, was wir schon immer wußten: Bewerbungs­trainings sind Zeit- und Geld­verschwendung. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, eine Forschungs­einrichtung der Bundesagentur für Arbeit, hat das nun herausgefunden. Die großartige Erkenntnis lautet:

Die Teilnahme an Bewerbungstrainings führt […] im Schnitt nicht zu einer nachhaltigeren Integration der erwerbsfähigen hilfebedürftigen Teilnehmer in ungeförderte Beschäftigung.

Nun ist ja nicht von der Hand zu weisen, daß Bewerbungs­unterlagen recht häufig aus einem vielleicht mühsam, aber nicht liebevoll zusammen­gestückelten Haufen Papier bestehen. Das mag im Einzelfall mißlich sein, wenn Anschreiben, Zeugnisse und Lebenslauf recht uninspiriert daherkommen. Statistisch betrachtet sieht die Sache jedoch anders aus: Wenn sich auf einen Job 100, 150 oder gar 200 Personen bewerben, dann fliegen schlechte Bewerbungs­mappen dann raus, wenn bestimmte Kenntnisse und Fähigkeiten verlangt werden. Anders betrachtet ist es jedoch auch so, daß kein Bewerbungs­schreiben einen neuen Job kreiert. So betrachtet werden ganze Wälder sinnlos für Schreiben abgeholzt, die keine und niemand liest oder braucht.

Arge DarmstadtDas weiß die Agentur ja auch, die ist ja nicht blöd. Also stelle ich mir hier zwei Fragen. Erstens: weshalb werden Arbeitslose in sinnlose Maßnahmen gesteckt. Und zweitens: weshalb wird eine bekannte Erkenntnis jetzt wissenschaftlich aufbereitet präsentiert? Meine Antwort auf die erste Frage mag überraschen, sie ist jedoch für arbeitslose Männer und Frauen nicht uneinsichtig. Denn die Bundesagentur für Arbeit oder die lokalen Träger für Hartz IV sagen das ja auch: ein Bewerbungs­training ist eine Maßnahme um festzustellen, ob eine Person dem Arbeitsmarkt zur Verfügung steht. Es geht demnach nicht um Papierproduktion, sondern um soziale Kontrolle. Das wird dann in wohlfeile Worte wie Frühaufstehen, täglich anwesend Sein, Kontinuität, Motivation und Arbeitsmoral gepackt, meint aber nichts anderes als Schikane.

Das kann man und frau natürlich nicht laut sagen, weshalb das Kontroll­element einen neckischen Namen erhielt: Bewerbungs­training. Da ich diese Maßnahmen kenne, kann ich beurteilen, was sie bringen. In der Regel außer sinnlos vertaner Zeit – nichts.

Jetzt zur zweiten Frage. Warum wird das nun wissenschaftlich festgestellt? Natürlich kann es sein, daß auch ein Forschungs­institut beschäftigt werden will. Bürokratische Organisationen neigen zur Selbst­beschäftigung. Vielleicht deutet sich hier aber auch ein Paradigmen­wechsel an. Vielleicht haben sich zu viele Firmen über die Tonnen an Papier beschwert, mit denen Arbeitslose bei Strafe des Leistungs­entzugs sie sinnlos bombardieren. Wenn ich die Vorgabe habe, monatlich vier Bewerbungen abzusondern, dann tue ich das auch. Das ist eine reine Beschäftigungs­therapie. Da nicht nur ich das mache, sondern Millionen andere Menschen auch, ertrinken die Personal­abteilungen in einem Wust an Papier, den sie nicht brachen. Das mag der Holzindustrie eine kleine Konjunktur bescheren, ist jedoch ökologisch, sozial und wirtschaftlich Quark. Wir werden sehen.

Solltet ihr also das Angebot eines Bewerbungs­trainings erhalten, könnt ihr nun wissenschaftlich fundiert das Angebot dankend ablehnen. Mal sehen, ob am Groß-Gerauer Weg noch eine oder jemand auf diesem Unsinn besteht.

Doch auch an anderer Stelle zeigt sich, daß die Bundesagentur und ihre lokalen Ableger gewisse Probleme mit der Verwaltung ihrer Klientel haben. Vor anderthalb Wochen berichtete die Frankfurter Rundschau von gravierenden Datenschutz­mängeln. Intimste Daten des "Kunden" genannten Freiwilds konnten von den rund 100.000 Beschäftigten mühelos eingesehen und für persönliche Nachforschungen benutzt werden. Da können wir nur hoffen, in unserem Bekanntenkreis keine derartigen Menschen zu kennen; die wissen dann mehr über uns als wir selbst. [9]

Nun liegt der Verdacht nahe, daß auch die Beschäftigten der ARGE Darmstadt über einen derartigen Zugriff verfügen und umgekehrt die hier gesammelten Daten bundesweit abrufbar sind. Schon am 27. August wurde Sozialdezernent Jochen Partsch in einer Kleinen Anfrage der Stadtverordneten­fraktion der Linkspartei nach der zehn Tage zuvor eingeführten Software gefragt.

Erstaunlich finde ich die Selbstsicherheit der Antwort, mit der Partsch die Bedenken des Haupt­personalrats der Arbeitsagentur in Berlin vom Tisch gewischt hat. Kurz darauf war es ja öffentlich, daß der Mißbrauch mit unseren sensiblen Daten tatsächlich stattgefunden hatte. Frank Gerfelder-Jung, Sprecher der Gewerk­schaftlichen Arbeitslosen­initiative Galida und Vorsitzender des ver.di-Bezriks­erwerbslosen­ausschusses Südhessen, kann daher allen Arbeitslosen nur einen Rat geben: nur noch absolut notwendige Daten preiszugeben und die Weitergabe an Dritte zu untersagen. Denn den Arbeitsagenturen, den Argen und ähnlichen Institutionen ist in Sachen Datenschutz nicht zu trauen. [10]

Bleibt mir noch hinzuzufügen, daß die Darmstädter Sozialhilfegruppe für den 3. Dezember den Sozial­wissenschaftler Christoph Butterwegge zu einem Vortrag eingeladen hat. Das Thema benennt einen politisch und wirtschaftlich gewollten Skandal: „Armut in einem reichen Land“. Diese gewiß interessante Veranstaltung findet statt im Gemeindesaal der Katholischen Kirchen­gemeinde St. Elisabeth am Schloßgarten­platz am Donnerstag, den 3. Dezember, um 19.00 Uhr.

Siehe hierzu auch das gleichnamige Buch von Christoph Butterwegge, erschienen bei Campus 2009.

 

Lokalkolorit

Der 9. November ist in der deutschen Geschichte kein Tag wie jeder andere. Am heutigen Montag, sofern ihr das Original hört, oder am gestrigen Montag, falls ihr der Wiederholung lauscht, wurde im Darmstädter Klinikum der Erinnerungsort Liberale Synagoge eingeweiht. Vorausgegangen waren Jahre der Ignoranz und des dunklen Wissens darum, daß sich sehr wohl noch Reste der früheren Zierde Darmstadts finden lassen würden. Als im Oktober 2003 bei Ausschacht­arbeiten für einen Neubau auf dem Klinikums­gelände Überreste gefunden wurden, konnte man nicht mehr auf den nagenden Zahn der Zeit hoffen. Immerhin wurde anschließend so gehandelt, daß nun ein neuer Gedenkort zugänglich ist.

Nun bedeutet Erinnerung ja nicht gleich auch Erkenntnis. Mitunter werden ganz neue Spuren gelegt, um die Erinnerung umzuleiten und Fragen gar nicht erst aufkommen zu lassen. So feiert der Kaufhof derzeit sein 130-jähriges Bestehen, obwohl es den Kaufhof doch erst seit 1933 gibt. Vor 130 Jahren hingegen gründete der jüdische Kaufmann Leonhard Tietz in Stralsund ein kleines Textilgeschäft, das später in weitere Städte expandierte und 1928 in Darmstadt das „Mainzer Warenhaus“ übernahm.

Cover der BroschüreZu seiner Bezeichnung „Kaufhof“ kam die Leonhard Tietz AG durch eine Arisierung. Der Sohn von Leonhard Tietz wurde mit der Kündigung aller Kreditlinien erpreßt und trat zurück. Seine Aktien mußte er weit unter Wert an die neuen Mehrheits­eigentümer verkaufen: Commerzbank, Deutsche Bank, Dresdner Bank. Nach erfolgreicher Übernahme riefen die Großbanken zu einer Haupt­versammlung ein und machten mit der neuen Namenswahl die erfolgreiche Arisierung auch nach außen hin deutlich. Zu feiern gibt es demnach nichts.

Erinnert und gedacht werden kann in Darmstadt auch am Denkzeichen Güterbahnhof. Jedes Jahr am letzten Sonntag im September wird der von hier 1942 und 1943 deportierten Jüdinnen, Juden und Sinti gedacht. Dieses Jahr stand die Veranstaltung im Kontext der noch bis Dezember zu sehenden Ausstellung Verstummte Stimmen. Die Initiative Gedenkort Güter­bahnhof Darmstadt hat im September eine neue Broschüre vorgelegt, mit der die Geschichte des Projekts und seiner Umsetzung dokumentiert wird. Auf symbolhafte Weise wurden die Namen der von hier in die Vernichtungs­lager Deportierten in einem Glaskubus verewigt.

2006, in der Nacht nach dem Endspiel der Fußball-Welt­meisterschaft, wird der Glaskubus von einigen Jugendlichen zerstört, die auch andernorts in Darmstadt Glasfronten zerschlugen. Eine Restaurierung des ursprünglichen Zustandes wurde zwar angedacht, aber dann als politische Geste verworfen. So steht das Denkzeichen in einer Weise da, wie sie nur in Deutschland möglich ist. Dokumentiert werden in der 134-seitigen Broschüre neben den Bemühungen, diesen Ort der Erinnerung zu ermöglichen, auch einzelne Reden und das Presseecho. Ich denke, der Spendenpreis von 5 Euro ist hier gut angelegt.

Im November 2007 machte der Zug der Erinnerung in Darmstadt Station. Etwa 5.000 Menschen, davon rund 100 Schulklassen, haben die im Zug gezeigte Ausstellung in Darmstadt gesehen. Der Zug fährt weiter. Am vergangenen Freitag hat der zivil­gesellschaftliche Verein „Zug der Erinnerung“ ein Gutachten veröffentlicht, nach dem die Deutsche Reichsbahn, eine Vorgänger­organisation der Deutschen Bahn AG, umgerechnet mindestens 445 Millionen Euro an den Transporten in die Konzentrations­lager verdient hat. Die Transport­kosten waren den damals Deportierten auferlegt worden. Eine Entschädigung ist bis heute nicht erfolgt und – angesichts des anvisierten Börsengangs – wohl auch nicht vorgesehen.

Bevor die Nazis an die Macht gebracht wurden, war Darmstadt ein florierendes Zentrum nicht nur für Bürokraten und Spießer, sondern auch für Handel und Industrie. Ein Stadt­rundgang der Darmstädter Geschichtswerkstatt Ende September informierte über den Industrie­standort Darmstadt um 1900. Diesen Rundgang vom Luisenplatz durch das Johannes­viertel zum Steubenplatz habe ich aufgezeichnet und werde ihn in einer zweistündigen Sendung am Mittwoch kommender Woche, also am 18. November, von 19.00 bis 21.00 Uhr vorstellen. Voraussichtlich wiederholt wird die Sendung am Donnerstag, den 19. November, ab 10.00 Uhr.

 

Industriekapitalisten gegen Baumwollpflanzer, und die Sklavenfrage

Besprechung von : Udo Sautter – Der amerikanische Bürgerkrieg 1861–1865, Konrad Theiss Verlag 2009, 208 Seiten, € 24,90

Während Bürgerkriege in den neokolonial abhängig gehaltenen Regionen dieser Erde auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts keine Seltenheit sind, ist ein Bürgerkrieg in einem Land der westlich-zivilisierten Welt eher die Ausnahme. Der Bürgerkrieg zwischen den Nordstaaten und den sklaven­haltenden Südstaaten der USA zwischen 1861 und 1865 ist eine solche Ausnahme. Der Historiker Udo Sautter hat hierzu bei Theiss auf 208 Seiten eine knappe, aber das Wesentliche zusammen­fassende Darstellung veröffentlicht. Während es kaum verwundert, daß in den USA eine Fülle an Darstellungen mit kontroversen Wertungen erschienen ist, sind Bücher zu diesem Thema auf Deutsch rar. Vielleicht hat der Wahlsieg Barack Obamas dazu beigetragen, das Interesse an US-amerikanischer Geschichte hierzulande zu wecken.

Vordergründig ging es in diesem Bürgerkrieg um die Frage der Abschaffung der Sklaverei. Tatsächlich wurde dieser Krieg jedoch vor allem deshalb geführt, um die Einheit der Union wiederher­zustellen. Wie Präsident Abraham Lincoln einmal bemerkte, sei es ihm hierbei vollkommen egal, ob zur Erreichung dieses Ziels die Sklaverei abgeschafft werde oder nicht [11]. Erst im Verlaufe des Krieges radikalisierte sich seine Position; nach Ende des Bürgerkriegs wurde die Verfassung durch das Verbot der Sklaverei erweitert.

Die Sklaverei war zur Zeit des Unabhängigkeits­krieges im 18. Jahrhundert eine dermaßen selbst­verständliche Institution, daß sie Einzug in die neue Republik mit ihrer Verkündung der Menschenrechte hielt. Das 19. Jahrhundert brachte nicht nur die Expansion des Staatsgebiets nach Westen, sondern auch eine wirtschaftliche Zweiteilung des Landes. Während der Norden sich industrie­kapitalistisch entwickelte und somit auf die Lohnarbeit formal freier Menschen angewiesen war, erblühte im Süden eine auf Sklavenarbeit beruhende Plantagen­wirtschaft. Somit bildeten sich zwei Fraktionen einer Bourgeoisie heraus, die über die checks and balances zwischen Präsident. Senat und Repräsentanten­haus per Klassen­kompromiß die Herrschaft ausübten. Der Kompromiß geriet ins Wanken, als die Bevölkerung im Norden stärker zunahm als im Süden und vor allem der Norden seine wirtschaftliche Überlegenheit ausbildete.

Udo Sautter führt uns nun über diese Vorgeschichte in den eigentlichen Kriegsverlauf ein. Im Grunde genommen war von vornherein das Ergebnis eines solchen Krieges abzusehen, denn der Norden war hinsichtlich Kriegsmaterial, Mannschafts­stärke und Wirtschafts­potential haushoch überlegen. Die Tatsache, daß es vier Jahre Krieges bedurfte, um die Einheit der Nation wiederherzustellen, zeigt jedoch, daß zwischen Theorie und Praxis ein Unterschied bestand. Der Süden konnte sich nämlich erhoffen, Angriffe des Nordens durch eine starke Defensive solange durchzuhalten, bis die Kriegs­stimmung im Norden zusammen­brach und die Teilung akzeptiert werde. Die eher juristischen Fragen, ob eine Sezession zulässig war und wer den Krieg begonnen hat, können wir getrost beiseite lassen. Letztlich ging es nicht um Rechts­prinzipien, sondern um Macht und Wirtschaftspolitik.

Ziemlich klar hat schon Karl Marx in einem Zeitungsartikel für die bürgerliche Wiener Tageszeitung „Die Presse“, erschienen am 25. Oktober 1861, die Triebkräfte und Hintergründe des Bürgerkrieges analysiert.

Einen anderen Zugang zur Thematik zeigt Howard Zinn in seiner bahnbrechenden „Geschichte des amerikanischen Volkes“ auf. Im Gegensatz zur vorherrschenden Geschichts­schreibung betrachtet und analysiert er die Geschichte der USA als „Geschichte von unten“, somit auf seine Weise auch als Klassenkampf. Siehe hierzu meine Besprechung vom 10. Dezember 2007.

Erstaunt hat mich, daß Udo Sautters Buch nicht auf die parallelen Kriege zur Zeit des Bürger­kriegs eingeht, aber das hätte vermutlich den Rahmen gesprengt. Hierzu zählen nicht nur die europäischen Einigungskriege, sondern auch die Invasion französischer, spanischer und britischer Verbände in Mexiko.

Buchcover Der amerikanische BürgerkriegNach Ausbruch der Feindselig­keiten entwickelten sich im wesentlichen zwei Kriegs­schauplätze. Die beiden Hauptstädte Washington und Richmond in Virginia lagen nur 150 Kilometer voneinander entfernt, so daß es durchaus vorstellbar war, den Krieg durch Einnahme der gegnerischen Hauptstadt zu beenden. Somit schützten starke Verbände, die sich weitgehend gegenseitig neutralisierten, die jeweiligen Hauptstädte. Der Krieg mußte daher an anderer Stelle entschieden werden.

Doch zuvor galt es logistische Probleme zu lösen. Die Mannschafts­stärke der US Army belief sich zu Kriegsbeginn auf gerade einmal 16.000 Mann. Neben Freiwilligen­verbänden waren beide Seiten auf eine massenhafte Wehrpflicht angewiesen, was einen starken Eingriff in das individualistische Selbst­verständnis der USA bedeutete. Der weitgehende Stillstand der Kriegshandlungen zu Beginn war dann dem Umstand geschuldet, die neuen Rekruten zu drillen und für taktische und strategische Manöver zu schulen. [12]

Der zweite Kriegsschauplatz lag im Westen, am Mississippi. Durch die frühe Einnahme von New Orleans und die Sicherung des mächtigen Flusses konnten die Unionstruppen nicht nur den Süden teilen, sondern auch die Basis für eine Einschnürung legen. Der von verbrannter Erde, zerstörten Städten und vernichteten Ernten gekennzeichnete Feldzug von General Sherman 1864 von der Westfront zum Atlantik läutete dann – nach Jahren der Entbehrung im Süden – das Ende des Krieges ein.

Das Taktieren Lincolns in der Sklavenfrage hatte Gründe. Zum einen schlossen sich nicht alle sklaven­haltenden Staaten der Sezession an und mußten folglich durch Zugeständnisse in der Sklavenfrage davon abgehalten werden, es sich anders zu überlegen. Aber auch im Norden war die Stimmung gegen die Sklaverei nicht so eindeutig. Hätte Lincoln im Wahlkampf 1860 die Abschaffung der Sklaverei zu seinem wichtigsten Ziel erklärt, er wäre nicht gewählt worden. Ohnehin kam seine Wahl vor allem deshalb zustande, weil die konkurrierende Demokratische Partei in einen Nord- und einen Südflügel gespalten war.

Nicht unerwähnt läßt Udo Sautter das Geschäftsgebaren von Teilen der Südstaaten­bourgeoisie. Anstatt das Steuer­aufkommen zugunsten der eigenen Kriegsführung zu vermehren, machten manche Pflanzer lieber Geschäfte mit dem Feind und verkauften ihre Baumwolle im Norden. Die immer drückender werdende Steuerlast hingegen wurde der ohnehin verarmten Bevölkerung aufgebürdet. Wenn es um Profite geht, laufen die Geschäfte auch mit dem Feind bestens. Im Ersten Weltkrieg galt dies für Krupp, im Zweiten für Opel und Ford. [13]

Der Krieg endete mit einer totalen Niederlage des Südens. Dessen Wirtschaft lag vollkommen danieder. Die nachfolgende Reconstruction wurde im Süden als Demütigung empfunden, zumal Unionstruppen das Land besetzt hielten und ehemalige Sklaven wählbar wurden. Doch die Bourgeoisie des Südens fand Wege, sich hiervon zu befreien, spätestens dann, als Rutherford Hayes 1876 die ihm fehlenden Wahlmännerstimmen durch das Versprechen ködern konnte, die Besetzung des Südens zu beenden. Er hielt sein Versprechen. Weiterhin wurden Gesetze erlassen, die den rechtlosen Status der schwarzen Bevölkerung im Süden wiederherstellen sollten. Erst die Bürger­rechts­bewegung der 1960er Jahre sollte hieran etwas ändern.

Udo Sautters Buch über den amerikanischen Bürgerkrieg ist eine solide Zusammen­stellung, welche die militärischen, politischen und wirtschaftlichen Aspekte in der vom Buchumfang her gebotenen Knappheit in ausreichender Weise darlegt. Es ist im Theiss Verlag zum Preis von 24 Euro 90 erschienen.

 

Ankündigung einer Widmung

Jingle Alltag und Geschichte

In der vergangenen Stunde hörtet ihr meine Anmerkungen zu Frauen an der Macht, zu zwanzig Jahren neuerer deutscher Geschichte, zu Bewerbungs­trainings und ungesicherten Daten im Arbeitsamt, zu Erinnerungs- und Gedenkorten, sowie eine Buchvorstellung zum Bürgerkrieg zwischen den Nord- und den Südstaaten der USA. Kommende Woche Mittwoch hört ihr meine Aufzeichnung eines Stadtrundgangs der Darmstädter Geschichts­werkstatt, und bis in zwei Wochen werde ich sicherlich wieder interessante Themen finden.

Für das Dezember-Magazin der Redaktion Alltag und Geschichte habe ich eine Beschäftigung mit einem interessanten Text von Herbert Marcuse vorgesehen. Er heißt Repressive Toleranz und führt zu erstaunlichen Schlüssen. Ich werde diese Sendung dann dem Kulturredakteur Rüdiger G. widmen. Er kann sich bis dahin ja schon einmal überlegen, weshalb. Am Mikrofon war für die Redaktion Alltag und Geschichte Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

 

ANMERKUNGEN

 

Mittels eines Klicks auf die Nummer der jeweiligen Anmerkung geht es zur Textpassage zurück, von der aus zu den Anmerkungen verlinkt wurde.

 

»» [1]   Pikanterweise steht diese Förderabsicht im Abschnitt „Gleichstellung“.

»» [2]   Siehe hierzu meine Dokumentation Warum ein Angriffskrieg kein Angriffskrieg sein darf.

»» [3]   Siehe hierzu meine Sendung Keren Assaf über New Profile vom 22. April 2002.

»» [4]   Schärfer wird die Neuausrichtung der Zeitschrift von Boris Kagarlitzki kritisiert: The suicide of New Left Review [2000].

»» [5]   Mit dem Titel „Preview of the War We Do Not Want“.

»» [6]   Die Mentalität des Blockwarts ist auch im 21. Jahrhundert nicht ausgestorben, sondern im Gegenteil immer wieder neu aktivierbar.

»» [7]   Wolfgang Kraushaar : Aus der Protest-Chronik, in: Mittelweg 36, Heft 4/2009, Seite 98–92, Zitat auf Seite 91.

»» [8]   Kraushaar Seite 92.

»» [9]   Siehe hierzu: Datenschleuder Arbeitsagentur im Online-Angebot der Frankfurter Rundschau am 29. Oktober 2009.

»» [10]   Die Pressemitteilung ist auf dem Blog der Galida zu finden.

»» [11]   Interessant ist die bei Udo Sautter auf den Seiten 145–146 zu findende Interpretation, daß diese Egal-Haltung ein taktisches Manöver gewesen sein soll, um „im richtigen Augenblick“ die Sklaven­befreiung verkünden zu können.

»» [12]   Auf diesem Umstand machte schon Friedrich Engels aufmerksam (MEW, Band 15, Seite 401–405). Udo Sautter rezipiert Engels' Freund Karl Marx an anderer Stelle.

»» [13]   Daß sich auch im Norden Kapitalisten und/oder Spekulanten am Kriegsgeschäft bereicherten und nach Kriegsende den Süden auszuplündern suchten, paßt in diesees Bild. Hehre Motive in einem Befreiungs-, Verteidigungs- oder Menschenrechts­krieg finden zu wollen, ist albern.

 


 

Diese Seite wurde zuletzt am 5. Mai 2010 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. ©  Walter Kuhl 2001, 2009, 2010. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

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