Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 11. Januar 2010, 17.00 bis 18.00 Uhr
Wiederholt:
Montag/Dienstag, 11./12. Januar 2010, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 12. Januar 2010, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 12. Januar 2010, 14.00 bis 15.00 Uhr
Weitere Ausstrahlungen erfolgten am 15. Januar 2010 bei Radio Dreyeckland in Freiburg und am 23. Januar 2010 bei Radio LoRa in Zürich.
Zusammenfassung:
Leicht überarbeiteter Mitschnitt einer Veranstaltung mit Ingo Niebel am 1. Dezember 2009 in Darmstadt.
Im Anschluß an das Sendemanuskript folgt eine Rezension des Buchs „Das Baskenland“ von Ingo Niebel.
Siehe auch den Artikel von Ralf Streck in Telepolis am 13. April 2010: Spanien: Schließung der Baskischen Tageszeitung war verfassungswidrig.
Jingle Alltag und Geschichte
Am 12. November vergangenen Jahres hatte das deutsche P.E.N.-Zentrum im Darmstädter Staatstheater seinen renommierten Hermann-Kesten-Preis an den spanischen Untersuchungsrichter Baltasar Garzón verliehen. Er erhielt diesen Menschenrechtspreis für seine Ermittlungen zur Folter in Guantánamo, gegen Augusto Pinochet und für die Aufarbeitung der Franco-Diktatur.
Dieser Baltasar Garzón ist in Spanien, insbesondere im Baskenland jedoch auch anderweitig einschlägig bekannt. Unter dem Motto „Alles ist ETA“ geht er rigoros gegen alle diejenigen vor, die sich nicht dem herrschenden antiterroristischen Diskurs gegen die ETA anschließen. Er unterdrückt die Presse- und Meinungsfreiheit, indem er baskische Zeitungen schließen läßt. Er läßt Parteien verbieten und Politiker einknasten, Gewerkschaftshäuser stürmen und Jugendzentren schließen. Die Preisverleihung ist so gesehen ein Skandal.
Aus diesem Grund luden Die Linke Darmstadt, die Freundinnen und Freunde des Baskenlandes, der DGB-Stadtverband und die Rote Hilfe für den 1. Dezember zu einer Informationsveranstaltung mit dem Historiker und Journalisten Ingo Niebel ein. In seinem letztes Jahr im Wiener Promedia Verlag herausgebrachten Buch über das Baskenland vermittelt er ein gänzlich anderes Bild über die baskische Forderung nach Selbstbestimmung und die repressiven Antworten des spanischen Staates als der herrschende Medienmainstream. In der folgenden Stunde hört ihr einen leicht überarbeiteten Mitschnitt der Veranstaltung. Es fragt Uli Franke von der Linken und es referiert Ingo Niebel über das Baskenland und den repressiven Richter Baltasar Garzón. Am Mikrofon ist Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
Meine gesendete Aufzeichnung des Vortrags kann entweder über das Audioportal des Bundesverbandes Freier Radios nachgelesen, angehört oder heruntergeladen werden [link], sie kann aber auch mit dem nebenstehend zu sehenden MP3-Abspielgerät ohne lästiges Herumgefummel mit internen oder externen Software-Playern angehört werden. Wie ihr wollt.
In der vergangenen Stunde hörtet ihr den Mitschnitt einer Informationsveranstaltung mit dem Historiker und Journalisten Ingo Niebel zur Situation im Baskenland. Eine anwesende Gewerkschafterin bemerkte in der anschließenden Diskussion sehr richtig, daß die Justiz es in keinem anderen europäischen Land – vielleicht mit Ausnahme der Türkei – wagen würde, ein Gewerkschaftshaus zu stürmen. Wer das Buch von Ingo Niebel über das Baskenland gelesen hat, versteht, daß es nicht um Terrorismusbekämpfung geht, sondern darum, jede Forderung nach politischer, sozialer und nationaler Selbstbestimmung zu unterdrücken. Sein letztes Jahr im Promedia Verlag erschienenes Buch ist deshalb sehr zu empfehlen. Am Mikrofon war für die Redaktion Alltag und Geschichte Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
Besonders absurd mutet die Verleihung eines Menschenrechtspreises für den spanischen Untersuchungsrichter Baltasar Garzón auch deshalb an, weil seine Verfolgung baskischer Oppositioneller im Schrifttum des internationeln P.E.N. selbst festgehalten und auf der Webseite des deutschen P.E.N. auch zu finden ist. In seiner Case List – January to June 2009 schreibt das International PEN Writers on Prison Committee auf Seite 77 [meine Übersetzung]:
„Am 19. Dezember 2007 wurden die Strafen gegen mehr als 60 Personen verkündet, die terroristischer Handlungen beschuldigt wurden, und zwar für ihre angebliche Unterstützung und Handlungen zugunsten der ETA, einer baskischen bewaffneten Separatistengruppe, darin eingeschlossen 47 Verurteilungen zu Haftstrafen zwischen 2 und 20 Jahren. Darunter befanden sich mehrere Journalisten und Schriftsteller, dabei eingeschlossen diejenigen, welche für die baskische Tageszeitung ‚Egin‘ gearbeitet haben. Der Prozeß begann im November 2005, dauerte 16 Monate und fand in Madrid statt, rund 400 bis 500 Kilometer vom Wohnort der Angeklagten entfernt. Während dieser Zeit mußten die Beschuldigten den Verhandlungen beiwohnen, auch wenn ihr Fall an einem bestimmten Tag nicht verhandelt wurde. Während dieser Zeit war es den Beschuldigten nicht möglich, für ihren Lebensunterhalt zu sorgen, weil sie sich in Madrid aufhalten mußten. Der Prozeß selbst hatte seine Grundlage in einer achtjährigen Untersuchung durch Baltasar Garzon, einem führenden Mitglied der spanischen Antiterrorismusgruppe. Die Beschuldigungen bezogen sich auf mehrere verschiedene Fälle, die zu einem Verfahren zusammengezogen worden waren. (Der Fall Egunkaria, siehe weiter unten, gehörte ursprünglich auch dazu, wurde später jedoch abgetrennt.) Garzon behauptete, daß die ETA nicht nur aus bewaffenten Einheiten bestand, sondern auch aus einem Netzwerk politischer, finanzieller und medialer Gruppen. Einige der Beschuldigten wurden nach der Urteilsverkündung inhaftiert, andere freigelassen, nachdem sie Berufung eingelegt hatten. Beunruhigend ist, daß einige der Beschuldigungen unter Verletzung der internationalen Standards zustande gekommen sein können, die das Recht der Meinungs- und Organisationsfreiheit sicherstellen sollen. Amnesty International geht davon aus, daß einige der Gefangenen dieser Gruppe Gewissensgefangene sind, und untersuchte mit Stand vom Dezember 2007 die gesetzliche Grundlage für diese Entscheidung. Die weiter unten aufgelisteten Fälle wurden dem Internationalen PEN vorgetragen als welche, bei denen es möglicherweise falsche Anschuldigungen gab. Zu diesen Vorwürfen besteht Klärungsbedarf, um in dieser Sache gesicherte Informationen zu erhalten.“
Über welche gesicherte Informationen verfügt das deutsche P.E.N., die besagen, daß bei Garzons Untersuchungen und den darauf aufbauenden Gerichtsverfahren alles mit rechten Dingen zugegangen ist?
Es ist nicht das erste Mal, daß das deutsche P.E.N. durch eine reichlich absurde Personenwahl aufgefallen ist. Für den 7. November 1992 wurde in Darmstadt zu einer Kundgebung auf dem zentralen Luisenplatz aufgerufen, nachdem sich der deutsche Mob im Abfackeln von Migrantinnen und Migranten allzu störend hervorgetan hatte. Als einer der Redner der vom P.E.N. organisierten Veranstaltung war der damalige Darmstädter Oberbürgermeister Günther Metzger vorgesehen. Dieser hatte bundesweit 1983/84 eine gewisse Publizität erlangt, als er auf ziemlich rüde Art und Weise dafür gesorgt hatte, daß eine Gruppe Roma die Stadt verlassen mußte. Laut eines Urteils des OLG Frankfurt von 1985 ist die Äußerung zulässig, Günther Metzger habe das seit 1945 schlimmste Beispiel für Rassismus (in Deutschland) geboten.
Siehe hierzu auch die Dokumentation des Flugblatts Kein Persilschein für Günther Metzger! sowie die Dokumentation „Roma in Darmstadt. Integration auf Widerruf. Oktober 1979 bis Mai 1984“.
Rezension von : Ingo Niebel – Das Baskenland. Geschichte und Gegenwart eines politischen Konflikts, Promedia Verlag 2009, 254 Seiten, € 17,90
Ich hatte, anstatt das Buch selbst vorzustellen, für meine Radiosendung zum Baskenland beschlossen, den Autor den Inhalt selbst vortragen zu lassen. Nun ist nicht jede Leserin oder jeder Leser dieser Seite bereit, eine Stunde lang zuzuhören, obwohl so neumodische Medien wie MP3-Player hier ganz nützlich sind. Politischer Information während einer Bahnfahrt zuzuhören, ist sicherlich sinnvoller, aber auch anstrengender, als im Takt der hinundher hüpfenden Musik mitzuwackeln.
Das Buch von Ingo Niebel überzeugt schon deswegen, weil er einen konsequent parteiischen Standpunkt einnimmt. Als Historiker interessieren ihn die Geschichte des Konflikts im Baskenland, seine Akteure und sein Verlauf. Als Journalist tippt er nicht Pressemeldungen leicht umformuliert ab oder plappert irgendeine Mainstream-Meinung nach, sondern recherchiert selbst. Der parteiische Standpunkt ergibt sich bei der Suche nach einem emanzipatorischen Subjekt, das er in der abertzalen (links-unabhängigen) Bewegung im Baskenland verortet. Daher kann er die repressive Politik des spanischen Staates, die in demokratischem und rechtsstaatlichem Gewand daherkommt, genauso erkennen wie die eindimensionale Vergeblichkeit eines bewaffneten Kampfes (der ETA), dem eine klare politische Strategie fehlt. Die Lektüre des Buches versetzt uns in die Lage, den verlogenen Betroffenheitsdiskurs von Politik und Medien genauso zu durchschauen wie die sich dahinter verbergenden Interessenlagen. Er verlangt von seinen Leserinnen und Lesern nicht weniger, als den vorgelegten Standpunkt anzunehmen. Denn nur so ist „das baskische Labyrinth“, so der Titel des 1983 erschienenen Klassikers von Josef Lang, einigermaßen zu durchschauen.
Die nationale Frage, die das Baskenland aufwirft, kann fast ein Jahrhundert nach den einschlägigen Schriften von Rosa Luxemburg und Wladimir Iljitsch Lenin ohnehin nicht mehr in der bei beiden klassisch formulierten Weise beantwortet werden. Sie ist – angesichts veränderter, verschärfter und historisch obsoleter Rahmenbedingungen – ohnehin nur als Übergangsstrategie bis zu einer globalen nachkapitalistischen Gesellschaftsordnung sinnvoll zu behandeln. Die herrschende imperialistische Gewalt läßt einzelnen Nationen wohl kaum eine andere Wahl, als zu versuchen, eigenständig der Dynamik der kapitalistischen Walze zu widerstehen. Ob und inwieweit das überhaupt möglich ist (etwa in Tschetschenien, Kurdistan oder Palästina), ist eine ganz andere Frage. Ingo Niebel zeigt nun, daß auch die abertzale Linke im Baskenland nicht unbedingt die Loslösung von Spanien propagiert. Solange jedoch die nachfranquistische, polizeiliche Besetzung des Baskenlandes anhält, linke Organisationen und Medien verboten sind und der Kampf gegen den Terrorismus zur Maxime politischen Handelns zählt, wird es keine politische Lösung des Konfliktes geben. Ob eine solche seitens des spanischen Staates gewollt ist, darf – das belegt das Buch eindrucksvoll – bezweifelt werden. Die baskische Frage lenkt so gesehen von anderen sozialen Konflikten ab und ermö,glicht so der herrschenden Klasse ihr profitables Unternehmen.
Das Baskische ist jedoch nicht nur Nation, sondern auch Kultur und Sprache. Ohne in einen romantischen, reaktionären Kulturalismus verfallen zu wollen, sollte doch angemerkt werden, daß die baskische Sprache im europäischen Kontext etwas Einzigartiges darstellt. Daß in der Verwendung dieser Sprache ein politischer und sozialer Sprengstoff verborgen liegt, hat jedoch nichts mit ihren jahrtausendealten Wurzeln zu tun. Aber vielleicht ist es besser, eine politisch-soziale Kultur gründet sich auf eine Sprache, als auf Blut und Boden, Rasse, Religion, Ehre und/oder Mission. Ingo Niebel hat das Kunststück fertig gebracht, in einem kurzen Exkurs die Grundlagen dieser Sprache so zu erklären, daß auch weniger Sprachbegabte etwas davon haben. Dies habe ich bisher noch nirgends so vorgefunden.
Das Buch ist – wie ich schon im Sendemanuskript angedeutet habe – auf jeden Fall eine Empfehlung wert.
Diese Seite wurde zuletzt am 15. April 2010 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. © Walter Kuhl 2001, 2010. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.
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