Obelisk
Obelisk im Eulbacher Park

Geschichte

Wachtposten zwischen Main und Drina

Sendemanuskript

 

Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte

Radio: Radio Darmstadt

Redaktion und Moderation: Walter Kuhl

Ausstrahlung am:

Montag, 10. Mai 2010, 17.00 bis 18.00 Uhr

Wiederholt:

Montag/Dienstag, 10./11. Mai 2010, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 11. Mai 2010, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 11. Mai 2010, 14.00 bis 15.00 Uhr

Zusammenfassung:

Die nationale Geschichte benötigt zur Sinnstiftung Konstrukte, die zwar nicht wahr sein müssen, aber wirken sollen. Der arische Wahn tobte auch in Prag und der Tschechoslowakei und sorgte für fette Beute. Die Ideologie der (frühen) Stalinzeit erfüllte die Menschen mit einer historischen Mission. Im Odenwald liegen einige Steine herum und verraten uns etwas über ihre Erbauer.

Besprochene Zeitschrift und Bücher:

 


 

Inhaltsverzeichnis


Topinformiert 

Jingle Alltag und Geschichte

Vor einem Monat thematisierte die Redaktion der pharma­kritischen Zeitschrift Gute Pillen – schlechte Pillen in einer Presse­mitteilung den Frühjahrs­putz für den Körper. Mit Überschriften wie den „Organismus fachgerecht entgiften“ läutet die Schlankheitswahn­industrie eine neue Runde im Zurichten der menschlichen Körper auf die Bedürfnisse von Arbeitgebern und Heilsver­sprechern ein. „Wer schnell schlapp mache, mit Blähungen oder häufigen Erkältungen kämpfe, der möge sich – so die Anbieter entsprechender Produkte und Programme – entgiften.“ Doch das sei einfach Unfug, so Gute Pillen – schlechte Pillen, denn derartige Reinhalte­gebote seien entweder widerlegt oder Kurpfuscherei oder würden durch häufigen Gebrauch das Gegenteil von dem bewirken, was versprochen werde.

Offensichtlich gibt es einen Markt und ein Bedürfnis für so viel Scharlatanerie, denn das Leben im Kapitalismus ist für nicht wenige Menschen ein Horrortrip. Wenn wir uns bei all den auf uns einprasselnden Zumutungen nicht wohlfühlen, dann liegt das, so wird uns erklärt, nicht an den Zumutungen, sondern an uns. Inneres Wohlbefinden soll die äußeren Zumutungen abperlen lassen. Und in der Tat – wer sich nicht wehrt, nicht wehren kann, wer unter den Zumutungen leidet, greift gerne zu den Heilsversprechen, um ein wenig an wenigstens innerer Ruhe zu finden. Doch diese innere Ruhe basiert auf Einbildung und ist deshalb brüchig. Weder Pillen noch Entschlackung verhelfen zu einem guten Leben. Sie drücken allenfalls die Bereitschaft aus, auch morgen noch einsatz­bereit zu sein, um mitzumachen im großen Ringelpiez um Macht und Profit.

Zugangsoffenheit, interpretiert von Radio Darmstadt.Gute Pillen – schlechte Pillen ist eine im übrigen sehr empfehlens­werte Webseite im Internet unter der gleichnamigen Adresse www.gutepillen-schlechtepillen.de oder einfacher unter www.gp-sp.de. Alle zwei Monate erscheint eine neue Ausgabe der zugehörigen Zeitschrift.

Warum ich das einen Monat nach Veröffentlichung der Pressemitteilung sage? Nun, wer Sendung für Sendung aufgrund eines Hausverbots eine vorproduzierte CD einreichen muß, kann nicht so aktuell sein wie Markus Lang und Vassiliki Togrouzidou im Politischen Morgenmagazin von Radio Darmstadt, die uns am vergangenen Freitag die „topinformierte“ Meldung verpaßten, daß nun doch Walter Hoffmann der Kandidat der SPD bei der Oberbürgermeister­wahl nächstes Jahr sein werde. Die angebliche „Topinformation“ war zu diesem Zeitpunkt auch schon drei Tage alt, bin ich doch am vergangenen Dienstag­abend einem sichtlich aufgeräumten und zufriedenen Walter Hoffmann auf der Straße begegnet. Ganz Darmstadt wußte davon spätestens am Mittwoch, nur bei Radio Darmstadt benötigt eine solche „Topinformation“ zwei Tage länger. Am Mikrofon ist Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

Lockeres Geplauder am Freitagmorgen

Seit Anfang April 2010 verwöhnen uns Markus Lang und Vassiliki Togrouzidou montags und freitags auf dem Sendeplatz des früheren Radioweckers mit einem Politischen Morgenmagazin. Angereichert mit viel fremdem Stoff bemühen sie sich, ihre Informationen unter die Leute zu streuen. Die Moderatorin, die sich krampfhaft um ein Gute-Laune-Feeling bemüht, könnte ihren Text eigentlich auch singen, keine und niemand würde den Unterschied bemerken. Manche Moderationen sind von einer gewissen Einfältigkeit, etwa wenn nach einem anstrengenden Dreiminüter schon eine „kurze Verschnaufpause“ angesagt wird oder Markus Lang „tief in die Mottenkiste“ greift und anstelle eines banalen Musiktitels einen hier unpassenden Jingle abspielt . Tief blicken läßt auch die Ansage, man und frau werde sich bemühen, beim nächsten Mal „hoffentlich ausgeschlafener als heute“ zu sein. Nun ja, es ist ja auch nicht der Radiowecker, da dürfen Moderator und Zuhörerin ruhig ein bißchen wegnicken.

Genial ist Markus Lang, seit Jahren Vorstandsmitglied des Trägerevereins von Radio Darmstadt und nebenbei auch lokaler Pressesprecher von Greenpeace, wenn er unreflektiert drauflos palavert. So kündigt er in der Abmoderation auch mal als nachfolgende Sendung „die Hörzeitung, die Sie über die aktuellen Ereignisse der vergangenen Woche informiert“, an. Das paßt. Wenn „topinformiert“ der Schnee von vorgestern ist, dann ist „aktuell“ der Zeitungstext der Woche zuvor. Denn in der Hörzeitung werden uns ausgewählte Artikel des Darmstädter Echo der Woche zuvor vorgelesen.

Kein Wunder, daß bei Radio Darmstadt zuweilen nicht nur Konserven „live“ gesendet werden, sondern sogar die Wiederholung des schon gesendeten Nachmittags- und Abendpro­gramms. Denn alles ist „live“ und alles ist „aktuell“, zumal der gehypte Unsinn des Mainstream­journalismus längst die Hirne mancher Sendenden von Radio Darmstadt vollkommen zugekleistert hat.

Kommen wir nun also zum Politischen Morgenmagazin am Freitagmorgen des 7. Mai 2010. Vassiliki Togrouzidou, die manchmal ihren kongenialen Partner fragt, was sie denn so vorbereitet hätten, und dieser ihr antworten muß, das wisse sie doch besser, weil sie selbst es vorbereitet habe, plaudert nach Verklingen der letzten Musikfetzen halb singend (das darf sie, es klingt nur albern) drauflos:

VT : Hallo und einen schönen guten Morgen. Es ist 6 Uhr und 12 Minuten, gleich 13. Und Sie haben Ihr Radar eingeschaltet, Ihr nichtkommer­zielles Lokalradio für Darmstadt und Umgebung, auf 103,4 Megahertz. Hier im Studio mit mir ist Markus Lang. Hallo Markus.

Ich weiß ja nicht, wo die Morgencrew des Senders sich diesen Unfug abgehört hat, aber schon seit einigen Jahren begrüßen sich die Damen und Herren im Radiowecker und ähnlichen Magazinen mehrfach im Verlauf der Sendung. Das nenne ich Verlegenheits­moderation. Freundlicher­weise antwortet der Angesprochene:

ML : Schönen guten Morgen.

VT : Und mein Name ist Vassiliki Togrouzidou. Und wir werden Ihnen jetzt ein wenig über den … auf den neuesten Stand bringen über die Politik in Darmstadt. Es geht um die Oberbürgermeister­wahl und Markus ist topinformiert. Markus, was kannst du uns erzählen?

ML : Ich habe mich zumindestens mal so weit informiert, so weit es mir möglich war. Ob ich topinformiert bin, weiß ich nicht. Geheime Quellen stehen mir leider nicht zur Verfügung. Aber ich versuche mal wieder ein bißchen, Sie zu informieren 


Ein Blick in Darmstadts Lokalzeitung vom Vorvortag hätte hier womöglich weitergeholfen. Oder wird diese Zeitung nicht länger bezogen, nachdem das Freiabo nach zehn Jahren abgelaufen ist? War es dann der Blick in die Frankfurter Rundschau des Vortags, zumal der Darmstädter Lokalteil der Rundschau von der lokalen Konkurrenz produziert wird und deshalb auch erst einen Tag später dort erscheint? Nun ja, wenn man und frau sich nicht topaktuell vorbereitet oder den morgendlichen Informations­vorsprung des Radios vor der Zeitung nutzt, sondern schnell mit Blick auf die Zeitung des Vortags sich zu Sendungs­beginn einen Beitrag zusammen­stoppelt, dann kann schon einmal so etwas dabei herauskommen. Topinformiert eben.

Ganz nebenbei: Die Recherche ist kein Moderations­thema. Das zuhörende Publikum erwartet ganz selbstverständ­lich eine topinformierte Recherche. Wird diese thematisiert, kann im Anschluß an Sigmund Freud davon ausgegangen werden, daß sich hier das Unbewußte Bahn bricht und etwas ausplaudert, was besser nicht gesagt worden wäre. Anders gesagt: wer die Recherche zum Thema macht, hat vermutlich keine eigenen Inhalte und muß sich mit einer Verlegenheits­moderation aus der Patsche helfen. Wobei – wenn ich genauer darüber nachdenke: wenn Zeitansagerinnen und Moderatoren die Recherche zum Thema machen, suggerieren sie ihrem Publikum ein Höchstmaß an Qualität. Derartige Methoden, das Selbstverständliche besonders hervorzuheben, sind aus der Werbung bekannt, etwa beim Waschmittel, das nicht nur sauber, sondern auch rein wäscht. Allerdings ist Werbung im nicht­kommerziellen Lokalradio nicht vorgesehen, doch hier handelt es sich ja nicht um Werbung, sondern um „topinformiertes“ – Blabla.

Wie auch immer: Der Ankündigung einer Topinformation folgt gleich das Dementi. Der Versuch einer Doppel­moderation bricht sich daran, daß hier kein eingespieltes Team miteinander kommuniziert, sondern die Beiden aneinander vorbei ihre Gedanken und Sätze vortragen. Wer den Beiden häufiger zuhört, wird dieses Muster wiedererkennen: Die eine redet, der andere dementiert. Die Hörerinnen und Hörer fragen sich irgendwann, was diese lieblose und unvorbereitete Plauderei denn soll.

Mal sehen (hören), ob sich das Duo in einem halben Jahr eingespielt hat und wie sich das dann anhört.

 

Die Konstruktion der Heimatfront

Besprechung von : Todor Kuljić – Umkämpfte Vergangenheiten. Die Kultur der Erinnerung im postjugo­slawischen Raum, Verbrecher Verlag 2010, 184 Seiten, € 28,00

Als eine unumstößliche Wahrheit geistert der Satz, daß die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, durch das Alltagsbewußt­sein vieler Menschen. Nun ist es tatsächlich so, daß die Sieger oder – um den Gedanken zu erweitern – die jeweils herrschenden Klassen ihre Geschichte als die allgemein­verbindliche zu verordnen suchen und mit der Macht ihrer Propaganda auch durchzusetzen versuchen. Gleichzeitig verhüllt dieser Satz eine zweite Ebene, nämlich die der Abwehr. Wenn das Alltagsbewußt­sein etwas nicht wahrhaben will, weil es die eigene Identität angreift, wird der Satz, daß die Geschichte von den Siegern geschrieben wird, schnell zur Abwehr nicht genehmer Erkenntnisse verwendet. Er wird zum Totschlag­argument, um Diskussionen zu ersticken und den Mainstream zu festigen.

Da Geschichte tatsächlich auch und vornehmlich von den Siegern geschrieben wird, um ein erwünschtes soziales Projekt durchzusetzen, nehmen wir auf lange Sicht nur das auf, was dem damit verordneten Wertekanon entspricht. Nichtsdesto­trotz gibt es neben dem abwehrenden Alltagsbewußt­sein auch eine historische Erinnerung einzelner Individuen, die mit der vorherrschenden Geschichtsinter­pretation nicht kompatibel ist. Dieser Widerspruch zwischen individueller Erinnerung und kollektiver Sinnstiftung kann sowohl reaktionär als auch emanzipatorisch gewendet werden. Die Deutung der Geschichte ist demnach nicht vollständig im Besitz der herrschenden Klassen, sondern kann sehr wohl als Mittel des Widerstandes und der Suche nach Alternativen zum Bestehenden benutzt werden. Die seit Ende der 60er Jahre nicht nur in Deutschland vorzufindende Bewegung der Geschichtswerk­stätten zum Auffinden der „Geschichte von unten“ kann als Ausdruck dieses alternativen Verständnisses betrachtet werden.

Buchcover Todor KuljićDer Zerfall Jugoslawiens und die an bestimmte konstruierte Geschichtsbilder gebundene Sinnstiftung der postjugo­slawischen Staaten Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro und Mazedonien bildet den Hintergrund des vor kurzem im Verbrecher Verlag herausgebrachten Buchs „Umkämpfte Vergangenheiten“ von Todor Kuljić. Die darin vorgelegte Analyse der „Kultur der Erinnerung im postjugo­slawischen Raum“ weist bei genauerer Lektüre über die Grenzen des ehemaligen Jugoslawien hinaus. Der Autor legt darin nicht nur die Geschichtskonstruk­tionen der postsozialistischen Eliten als interesse­geleitete Artefakte dar, sondern verknüpft damit auch allgemeine geschichtsphilo­sophische Fragestellungen. Selbst dann, wenn uns manche Inhalte fremd sein mögen, so ist das Buch gerade wegen seines eher universellen Ansatzes auch für uns und die Identitäts­stiftung einer neoliberalen, postsozialen kapitalistischen Metropole von Bedeutung.

Todor Kuljić, Soziologe und Professor an der Philosophischen Fakultät in Belgrad, hat sich in der Vergangenheit durch Schriften zu Faschismus und Totalitarismus, zu Erinnerungs­kultur und der im ehemaligen Jugoslawien mystifizierten Figur Tito hervorgetan. Mit seinem Buch „Umkämpfte Vergangenheiten“ knüpft er daran an, um zu verdeutlichen, wer mit welchem Interesse selektiv Geschichte schreibt, um einen bestimmten, gesellschafts­politisch erwünschten Diskurs festzuschreiben. Da es sich um sechs ehemalige jugoslawische Teilrepubliken handelt, beschreibt er die Widersprüche, die sich aus den verschiedenen, zum Teil widersprechenden Geschichts­deutungen der postjugo­slawischen Eliten und ihrer intellektuellen Wasserträger ergeben.

Allen diesen Diskursen ist jedoch gemeinsam, daß sie anstelle der Klassenfrage die Nation setzen. Geschichte ist spätestens seit Beginn der 90er Jahre national, ja eigentlich nationalistisch, konnotiert. Mit dieser nationalistischen Geschichts­schreibung werden nicht nur die Deutungsmuster der jugoslawischen, sich selbst als kommunistisch verstehenden Gesellschaft abgelöst. Mehr noch, der jugoslawische Staat mit seinem Übervater Josip Broz Tito wird als antinational und damit den jeweiligen nationalen Interessen feindlich entgegengesetzt. Diese Diskurse sind jedoch nicht ohne Brüche und Widersprüche, und – sie treffen im Alltagsbewußt­sein nicht unbedingt auf die gewünschte Resonanz. Denn das Alltagsbewußt­sein glorifiziert die jugoslawische Vergangenheit als einen Ort der Stabilität und des Friedens, also etwas, was die nun herrschenden Eliten in den 90er Jahren grundlegend zerstört haben.

Das Buch ist in drei Abschnitte aufgebaut, die von der Neubewertung der Vergangenheit über die Erinnerungs­kulturen hin zu einem Vorschlag führen, der Verbrechen der Vergangenheit auf eine Weise zu gedenken, die ein friedliches Miteinander ohne gegenseitige Aufrechnungen und Schuldzu­weisungen ermöglicht. Dabei ist sich der Autor sehr wohl im Klaren darüber, daß derlei unter kapitalistischen Vorzeichen nicht möglich ist. Eine Auseinander­setzung mit der eigenen Vergangenheit muß zunächst bei der eigenen Geschichte anfangen und die eigenen Verbrechen benennen, ehe im zweiten – gemeinsamen – Schritt auch die Geschichte der Nachbarn empathisch begleitet werden kann. Eine Gesellschaft bzw. ein national verfaßter Staat, die im globalen Kapitalismus auf Teilhabe und Profit setzen, ist hierzu nicht in der Lage. Diese nicht unbedingt optimistische Einschätzung darf jedoch nicht, so der Autor, dazu führen, den Dingen ihren Lauf zu lassen.

Geschichtsschreibung zugunsten einer nationalen Sinnstiftung besteht vorwiegend aus Auslassungen. Meist kurze Zeitabschnitte, in denen die als wichtig angesehenen Ereignisse verdichtet erscheinen, dienen als Deutungsmuster für die langen Zeiträume, die von dieser Art Geschichtsschrei­bung ausgelassen werden. Ohne symbolträchtige Orte, Tage und Jahre kommt eine solche Geschichtsschrei­bung nicht aus. Feiertage gliedern den Kalender nicht nur in rhythmische Abschnitte, sondern geben auch den Ton vor, in dem sie zu begehen sind. „Der Kalender ist der symbolische Ausdruck einer erfundenen Geschichte“, sagt Todor Kuljić. [1]

Eine christliche Gesellschaft schafft sich folglich andere Deutungen als eine sich als atheistisch und kommunistisch verstehende. Die Wahl der Feiertage sagt uns also etwas darüber, wie sich eine solche Gesellschaft versteht, wer hiermit integriert und wer ausgeschlossen werden soll. Insbesondere benennen derartige Feiertage auch die Stunde Null, also den Beginn der für das kollektive Bewußtsein so notwendigen Identität. In dieser fetischisierenden Sichtweise geben die Ereignisse die gewünschte Struktur vor, und nicht etwa umgekehrt erwächst aus der Struktur das singuläre Ereignis.

Die Stunde Null ist der Beginn der eigenen Gruppengeschichte, die als nationale, ethnische interpretiert wird. Folglich wird der jugoslawische Diskurs, der sich auf Einheit und Brüderlichkeit sowie die Befreiung vom Faschismus gründete, ersetzt durch verschiedene nationale Geschichten, die Jugoslawien als ein Gefängnis der eigenen nationalen Identität begreifen. Die nationalen Geschichten beginnen daher früher. Der sozialistische Feiertagskalender wird klerikalisiert. Die Befreiung vom Faschismus wird so umgeschrieben, daß auch die Kollaborateure des eigenen nationalen Kollektivs in ein positives Licht gerückt werden können.

Zu den rituell begangenen und symbolisch aufgeladenen heiligen Kalendertagen kommen die Orte der Erinnerung. Die Monumental­statuen der Titozeit werden ersetzt durch die Wallfahrtsorte der nationalen Geschichtskonstruk­tion, etwa das Amselfeld im Kosovo, das Zollfeld in Kärnten oder auch Kirchen und Moscheen. Kampf und Blut bestimmen den interpretatori­schen Rahmen. An die Stelle von Titos Partisanen treten chauvinistische und faschistische Gruppen wie die Tschetniks in Serbien und die Ustaschen in Kroatien. Die Massaker der Partisanen an den Kollaborateuren der deutschen Besatzung oder der nationalistischen Rechten im 2. Weltkrieg werden umdefiniert; die Opfer von damals sind die Helden von heute.

Paradoxerweise wird Jugoslawien als künstliches, weil multinationales Gebilde denunziert, im Gegensatz zu den als natürlich angesehenen Nationalstaaten, deren ethnische Reinheit geradezu notwendig wird, um sich von anderen abgrenzen und einen eigenen erfundenen Sendungs­auftrag definieren zu können. Eine wichtige Rolle im Selbstverständ­nis der postjugo­slawischen nationalen Eliten nimmt der Mythos des Grenzwächters ein. Im Bestreben, sich Europa zugehörig zu zeigen, grenzen sich Serbien vom Osmanischen Reich und Kroatien vom wilden Serbien ab – immer unter der Prämisse der Verteidigung des Abendlandes.

Den historische Rahmen bilden die Kriege zwischen Serbien und Byzanz, später mit dem Osmanischen Reich und noch später die Auseinander­setzungen zwischen der Habsburger­monarchie und dem türkischen Sultanat in Istanbul. Das Selbstverständ­nis als Vorposten des Christentums transportiert einen Antiorientalis­mus, der sich – wenn wir heutige Deutungs­muster auch in anderen Teilen Europas betrachten – zu einer regelrechten Islamophobie ausgewachsen hat. Insofern sind die postjugo­slawischen Nationalstaaten zwar ein interessantes Untersuchungs­objekt über die Wirkungsweise und Mächtigkeit erfundener Identitäten, doch verweist dies immer auch auf uns selbst; und das ist etwas, was das Buch von Todor Kuljić auch abseits der südosteuro­päischen Geschichte so interessant macht. So hält er fest:

Eine in Form einer Erzählung dargestellte Vergangenheit beschreibt in der Regel nicht, was und warum etwas geschehen ist, sondern erklärt vielmehr, was und warum etwas geschehen musste. [2]

Und genau darauf kommt es an. Der Sinn der Geschichte liegt nicht darin, sich von Zwängen zu emanzipieren, sondern den historischen Auftrag aufzuführen. Als diesem Verständnis entgegenge­setztes Problem haben die neoliberalen Eliten und ihre intellektuellen Wendehälse die jugoslawische Episode zwischen 1918 und den 90er Jahren ausgemacht. Die jugoslawische Sinnstiftung beruhte auf einer Klassenmeta­phorik. Da die Arbeiterklasse, zumindest theoretisch, kein Vaterland kennt, bildete der Bund der Kommunisten den ideologischen Schmelztiegel eines Bewußtseins frei von künstlich ethnischen Spannungen. Der Deckel des Tito-Regimes auf dem Ausleben nationaler Befindlich­keiten wurde mit dem Zerfall Jugoslawiens gezielt gelüftet, mit der Folge mehrerer mörderischer Kriege um Land, Ressourcen und die Köpfe der Menschen. Folgerichtig sind die Geschichtskon­struktionen zu einem erheblichen Teil gegen die anderen nationalen Kollektive gerichtet.

Die neuen Eliten definierten sich als anti-antifaschistisch, weil Antifaschismus zum Gründungsmythos Jugoslawiens gehörte. Todor Kuljić vertritt ein antifaschistisches Grundverständ­nis, das frei von nationalistischen und erst recht chauvinistischen Gedanken und Taten ist. Kein Wunder, daß die sich nationalistisch definierenden neuen oder auch nur gewendeten Eliten dem Antifaschismus entsagen mußten. Die Verbrechen der Kollaborateure des Faschismus konnten so relativiert werden, ehemalige Verbrecher rehabilitiert. Die frühere dichotomische Gegenüber­stellung von Revolution und Konter­revolution wird ersetzt durch eine andere Dichotomie, nämlich der zwischen Patrioten und Verrätern, Demokraten und Kommunisten. Die damit beabsichtigte Schwächung der Linken geht einher mit dem Vertauschen von Tätern und Opfern. Zwar dominiert die neue Metaphorik den öffentlichen Diskurs, doch das Alltagsbewußt­sein erweist sich als erstaunlich resistent, zumindest solange, wie individuelle Erinnerungen an vergangene Zeiten sich dieser Deformation entziehen können.

Angenehm ist, daß Todor Kuljić weder den Arbeiterselbstver­waltungs-Sozialismus der Tito-Zeit nostalgisch überhöht noch den nationalistischen Deutungsmustern folgt. Der Versuch, der eigenen Geschichte gerecht zu werden, korrespondiert mit einer schonungslosen Analyse der Ursachen der Verbrechen der letzten zwanzig Jahre. Mag sein, daß der Autor wie der einsame Rufer in der Wüste erscheint, aber sein Ruf ist deutlich und seine Aussagen sind jederzeit fundiert. Ich möchte dieses Buch ausdrück­lich empfehlen, nicht etwa, weil die aus Darmstadt stammende Sonja Vogel es herausgebracht hat, sondern umgekehrt. Ich schätze die Herausgeberin als einen politischen Menschen, bei der es mich nicht verwundert, daß sie ein derart kluges Buch einem deutschsprachigen Publikum nahebringt. Und wie viele wirklich kluge Bücher zum Zerfall Jugoslawiens, den nationalen und Bürgerkriegen der 90er Jahre und dem Aufstieg der postjugo­slawischen, neoliberal gewendeten Eliten gibt es denn?

Dem Buch hätte sicherlich ein kurzer historischer Abriß gutgetan, um die im Text immer wieder­kehrenden historischen Beispiele und Anspielungen einordnen zu können. Vielleicht ist hier an ein spezielles Fachpublikum gedacht gewesen, dem der Einstieg eher leicht fällt. Allerdings denke ich, daß der Autor Todor Kuljić einige grundsätzliche Fragen anspricht, die über den jugoslawischen und postjugo­slawischen Diskurs hinausgehen und die gerade deshalb auch ein allgemeines Publikum erreichen sollten. Zu bedenken ist jedoch, daß hier ein kleiner Verlag mit geringen Ressourcen dem deutsch­sprachigen Raum ein wichtiges Buch zugänglich gemacht hat, so daß mein Wunsch nach diesem historischen Abriß wohl an die Grenzen des Machbaren stößt. Zumal – welche Geschichte mit welcher Interpretation müßte hier in Kürze erzählt werden? Das Buch selbst ist sorgfältig lektoriert und trägt die Handschrift der Herausgeberin Sonja Vogel, was dem Buch zweifellos zugute gekommen ist und es sehr gut lesbar macht. [3]

„Umkämpfte Vergangenheiten“ von Todor Kuljić ist als Hardcover im Verbrecher Verlag herausgekommen; die 184 Seiten kosten 28 Euro.

 

Die Villa des Verbrechens

Besprechung von : Erich Später – Villa Waigner, Konkret Literatur Verlag 2009, 100 Seiten, € 12,00

Prag galt zwischen dem 1. und 2. Weltkrieg als eine recht weltoffene Metropole. Als Hauptstadt der aus dem Zusammen­bruch der Habsburger­monarchie hervorgegan­genen Tschecho­slowakei symbolisierte es die Möglichkeit, daß verschiedene Nationalitäten friedlich zusammenleben konnten. Die Tschecho­slowakei definierte sich territorial und politisch und nicht nationalistisch oder aufgrund einer Volkszugehörig­keit. Tschechinnen und Slowaken lebten zusammen mit Jüdinnen, Ukrainern und Deutschen. Letztere sollten sich als Störfaktor erweisen, die den Nazis den Weg nach Prag ebneten.

Nach der Machtübergabe an die Nazis im Spätjanuar 1933 erhielt Prag eine weitere Funktion. Die Weltoffenheit hatte sich herumgesprochen und so emigrierten diejenigen, die in Nazideutsch­land keine Zukunft für sich sahen, in die Stadt an der Moldau, zumal zum tschecho­slowakischen Selbstverständ­nis die Gegnerschaft zum Antisemitismus gehörte. Dies war den Nazis natürlich ein Dorn im Auge, weshalb sie ihre Volksgenossen im Sudetenland dazu anstachelten, den jungen, Minderheiten respektierenden Rechtsstaat zu destabilisieren. Im Anschluß an das Münchner Abkommen im September 1938 annektierte Nazideutsch­land das Sudetenland und leitete damit die Zerschlagung der jungen Republik ein, die mit der Abtrennung der Slowakei und der Besetzung des tschecho­slowakischen Reststaats im März 1939 vollendet wurde.

Buchcover Erich SpäterAuf dem Frontcover des Buchs „Villa Waigner“ schaut uns ein junger Burschenschafter mit Schmiß im Gesicht an. Es ist Hanns-Martin Schleyer, der im Nachkriegsdeutsch­land zu einer der wichtigsten Persönlich­keiten aufsteigen sollte. Die Grundlagen für seine Karriere hatte er jedoch schon früher gelegt, als er 1931 der Hitlerjugend und zwei Jahre später im Alter von 18 Jahren der SS beitrat. Schleyer gehörte zu den Profiteuren der sechsjährigen Terrorherr­schaft im sogenannten Reichsprotektorat Böhmen und Mähren.

Hanns-Martin Schleyers Bilderbuchkarriere in trautem Verhältnis zum späteren Bundeskanzler Helmut Kohl und dem bayerischen Ministerpräsi­denten Franz-Josef Strauß bildete die tragende Säule des 1974 erschienenen Dokumentarromans Großes Bundesverdienstkreuz von Bernt Engelmann. Während wir heute im offiziellen Geschichts­diskurs an Schleyer nur als das Opfer des Terrors der Roten Armee Fraktion erinnert werden und erinnern dürfen, war Mitte der 70er Jahre seine Nazi-Vergangenheit durchaus Thema. Bezeichnender­weise für das demokratische Klima der 70er Jahre durfte während des Deutschen Herbstes dieses Thema – und daran erinnere ich mich ganz gut, weil ich dort zur Schule ging – nicht an Hamburgs Schulen diskutiert werden. Dabei soll es Menschen in der damals sich als sozialistisch bezeichnenden Tschecho­slowakei gegeben haben, die dem Toten keine Träne nachgeweint haben. Und das kommt nicht von ungefähr.

Bernt Engelmann recherchierte nämlich weiter und stieß dabei auf den letzten Kampfkomman­danten von Prag, dessen SS-Einheit noch kurz vor Kriegsende 41 Menschen, Männer, Frauen und Kinder, ermordet hatte. War Schleyer dieser Kampfkomman­dant? Nach Engelmanns Recherchen war Schleyer der einzige SS-Mann, auf den die Beschreibungen tschechischer Zeuginnen und Zeugen paßten. Otto Köhler schrieb hierüber 1997 in konkret, daß die Familie Schleyer juristisch hiergegen nichts unternahm. Das war vielleicht auch nicht notwendig, denn die offizielle Geschichtsschrei­bung mitsamt der beiden großen angeblich investigativen politischen Zeitschriften ging darüber mit Stillschweigen hinweg.

Von einer anderen Seite nähert sich nun der Historiker Erich Später Schleyers Wirken in Prag. Die Villa Waigner, die seinem Buch den Titel gab, war 1923 von dem jüdischen Ehepaar Emil und Marie Waigner gebaut worden, genauer: sie hatten es wohl bauen lassen. Emil Waigner war bis 1939, so Erich Später, einer der Direktoren der Bank für Handel und Industrie. Diese Bank erregte das Übernahme­interesse der Dresdner Bank. Warum Waigner, der dem gehobenen tschecho­slowakischen Bürgertum angehörte, und seine Frau nicht geflohen sind, ist unklar; die Möglich­keit hierzu wird wohl bestanden haben. Beide wurden von den Nazis 1942 ermordet.

Nach dem Einmarsch deutscher Truppen machte sich in Prag eine regelrechte Goldgräber­stimmung breit. Zu verlockend war es, nicht nur, aber vor allem die jüdische Bevölkerung auszuplündern, ehe man sie in die Vernichtungs­lager transportierte. Zu den immensen Werten, die wohl bis heute den Grundstock so manchen deutschen Vermögens bilden, gehörten Schmuck und Devisen, Betriebe und Immobilien. Gerade um die hochherrschaft­lichen enteigneten Häuser und Villen entbrannte unter den Gefolgsleuten der Nazis, also den Tätern und ihren Claqueuren, ein regelrecht erbittert geführter Kampf. 1944 gelang es Hanns-Martin Schleyer, für sich und seine Frau die Villa Waigner zu ergattern. Er wußte als Angehöriger der deutschen Elite in Prag sehr wohl, wie er an dieses Haus gelangt war und was mit denen geschah, die aus ihren Häusern verjagt worden waren. Aber das scherte ihn nicht, er hatte sicherlich ein reines Gewissen.

Schleyer war ein linientreuer Nazi, daran kann aufgrund seiner Biografie und des Netzwerkes, das ihn nach Kräften gefördert hat, kein Zweifel bestehen. Mit der Säuberung seiner Heidelberger Burschenschaft von jüdischen Mitgliedern erwarb er sich erste Verdienste um den national­sozialistischen Staat. 1938 ist Schleyer Oberscharführer und Mitglied des Sicherheits­dienstes, also des Geheimdienstes der SS, und wird nach Innsbruck versetzt. Im November desselben Jahres kann der neue Rektor der Universität vermelden, daß diese judenfrei sei. Schleyer war zu diesem Zeitpunkt Untersuchungs­führer der Innsbrucker Studentenschaft. Für seine Verdienste erhält Schleyer 1970 von derselben Universität die Ehrendoktorwürde.

1941 wird Schleyer an das Studentenwerk nach Prag versetzt. Ein Jahr später bricht er seine juristische Ausbildung ab und wechselt in den Zentralverband der Industrie in Böhmen und Mähren. Hinter dem harmlos erscheinenden Namen verbirgt sich das Ausbeutungs- und Terrorregime der deutschen Rüstungswirt­schaft im Protektorat Böhmen und Mähren. Schleyers Tätigkeit hat keine Spuren hinterlassen. Die Vernichtung der Akten vor dem Einmarsch der Roten Armee war gründliche deutsche Wertarbeit. Wirkungslos wird seine Arbeit gewiß nicht gewesen sein, denn 1944 wurde er zum Führer im Reichssicherheits­hauptamt, also der Zentrale des Völkermordes, ernannt.

Erich Später schildert nicht, wie ich hier, in dürren Worten eine biografische Episode im Leben eines wichtigen bundesdeutschen Wirtschafts­führers. Im Gegenteil, er bettet Schleyers Wirken in Prag ein in eine sorgfältig recherchierte und die Zusammenhänge erhellende Darstellung ein. Vielleicht ist seine Schilderung des Lebens im republikanischen Prag ein wenig zu idyllisch geraten. Dafür erhalten wir einen Einblick in die Funktionsweise der Naziherrschaft mitsamt der drastischen Folgen für alle Nichtdeutschen. Mir eröffnete sich hier eine unbekannte Facette der deutschen Geschichte, und ich denke, anderen Leserinnen und Lesern wird es genauso ergehen. Es ist, wie ich daher finde, ein wichtiges Buch, das einmal mehr die Verlogenheit des deutschen Nachkriegsdis­kurses aufzeigt, wonach auch die Deutschen die Opfer Hitlers Diktatur gewesen sein wollen. Hier werden die Profiteure benannt und die Systematik der Ausplünderung gezeigt. So manches arisierte Vermögen dieser Goldgräber­stimmung findet sich auch heute noch in deutschem Familienbesitz.

Erich Später stellt uns in seinem Buch „Villa Waigner“ Hanns-Martin Schleyer und die deutsche Vernichtungs­elite in Prag in den Jahren 1939 bis 1945 vor. Es ist im Konkret Literatur Verlag erschienen, umfaßt 100 Seiten und kostet 12 Euro.

 

Der dialektische Rahmen

Besprechung von : Mittelweg 36, Heft 1, Februar/März 2010, 95 Seiten, € 9,50

Verfolgung und Deportation, Gefängnis und Tod waren Bestandteil des stalinistischen Herrschafts­systems. Es wäre jedoch falsch, den Terror der Stalinzeit der Oktober­revolution oder der Marx'schen Theorie anzulasten, wie dies häufig geschieht. Geschichte ist nicht eindimensional, und erst im Nachhinein sind wir in der Lage zu erklären, warum die Geschichte bestimmte Wendungen genommen hat und andere nicht. Aber a priori, also im Voraus, ist der Lauf der Weltgeschichte nur begrenzt zu bestimmen. Schließlich sind es Menschen, die ihre eigene Geschichte schreiben, wenn auch unter vorgefundenen Bedingungen. Stalins Terrorregime konnte nur dadurch existieren, daß politische Gegner systematisch eingeschüchtert, ausgegrenzt, weggesperrt oder eliminiert wurden. Aber dies war weder in der Marx'schen Theorie noch in der revolutionären Erhebung des Oktober 1917 angelegt.

Die Beschäftigung mit dem Stalinismus hat nach Ende des Kalten Krieges eine neue Dimension gewonnen. Einerseits sind einige, wenn auch nicht alle Archive für die wissenschaft­liche Forschung geöffnet worden, so daß wir mehr über die Entstehung und den Charakter, sowie das Funktionieren des Stalinismus erfahren können. Zum anderen schert eine interessege­leitete Ideologie alle revolutionären Strömungen des 20. Jahrhunderts über einen Kamm und erklärt sie zum Ausdruck derselben verbrecherischen Logik. Die Totalitarismus­theorie treibt diese Infamie auf die Spitze, indem sie sich darum bemüht, angeblich kommunistische mit faschistischen Regimes zu vergleichen und damit auch zu diskreditieren. Die Wirklichkeit ist natürlich vielschichtiger und entzieht sich dem politischen Diktat der Ideologie des Totalitarismus.

Einer derjenigen, der sich im deutsch­sprachigen Raum mit dem Stalinismus auseinandergestzt hat, ist Reinhard Müller. Aus Anlaß seines 65. Geburtstags führte das Hamburger Institut für Sozialforschung Ende Oktober [2009] eine Tagung zu den Perspektiven der Stalinismus-Forschung durch. Einige der Beiträge dieser Tagung sind in der Februaraus­gabe der Instituts­zeitschrift Mittelweg 36 abgedruckt. Reinhard Müller selbst verfaßte einen Aufsatz über die Lebens- und Leidenswege der Münchener Kommunistin Anna Etterer und des Kommunisten Franz Schwarzmüller. Diese biografische Schilderung einer Verfolgung durch die Schergen Hitlers und Stalins gibt einen Einblick in den irrational erscheinenden Charakter des stalinistischen Terrors, der jedoch gerade darüber funktioniert hat, daß seine Opfer sich zum einen nicht wehren konnten und zum anderen in ihren Versuchen, sich zu wehren und zu rehabilitieren, ihren Verfolgern weiteres Material geliefert haben.

Näher eingehen möchte ich auf zwei Aufsätze.

Da ist zum einen der Aufsatz des Historikers Jochen Hellbeck über den Alltag in der Ideologie als Teil des Lebens im Stalinismus. Im Gegensatz zum geradezu zynischen Umgang mit den längst erstarrten Formeln sozialistischer Klassiker in der Spätphase des Realsozialis­mus in der Sowjetunion und in Osteuropa scheint die sozialistische Ideologie gerade in den Anfangsjahren der Sowjetunion eine sinnstiftende Rolle beinhaltet zu haben. Jochen Hellbecks Verständnis von Ideologie fußt nicht auf den verschiedenen marxistischen Theorieansätzen, sondern versucht, die Funktionsweise und Entstehung von Ideologie in lokalen, individuellen Akten der Aneignung und Selbstwerdung zu begreifen. Der Gegensatz zwischen der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft und der jungen Sowjetgesell­schaft wird in folgendem Gedanken deutlich:

Im Gegensatz etwa zur bürgerlichen Ideologie, die auf die Aufrechterhal­tung der bestehenden bürgerlichen Ordnung zielt und sich darum bemüht, transparent und deshalb unsichtbar in den Nischen der bewußten Welt zu operieren, gab die kommunistische Ideologie einen entschiedenen Umgestaltungs­willen zu erkennen, und sie zielte eher auf den bewussten Geist als auf das politische Unbewusste. Dem Einzelnen gegenüber stellte sie sich als totales Bewusstsein dar und appellierte an ihn, seinen subjektiven Geist auf die höchsten Bewusstseins­stufen zu heben. [4]

Um hier nicht mißverstanden zu werden – es ist keineswegs von der nur Eingeweihten zugänglichen Erleuchtung esoterischer Scharlatane die Rede. Wenn wir die von Jochen Hellbeck so definierte kommunistische Ideologie begreifen wollen, um zu verstehen, weshalb sie tatsächlich attraktiv war, dann kann die Antwort nur darin liegen, daß sie dadurch funktionierte, weil sie den oder die Einzelne dazu zwang, die Welt durch ihre Brille zu sehen – und dabei etwas Positives zu erkennen. Diese Arbeit war kreativ und eine Herausforderung, sie entsprach damit dem damals vorherrschenden Zeitgeist, nämlich tatsächlich in der Lage zu sein, die Welt aus ihren (kapitalistischen) Angeln zu hebeln.

Das Individuum fungiert als eine Art Vermittlungsstelle, in der die Ideologie entpackt und personalisiert wird, wobei das Individuum sich in ein Subjekt mit eigenen, bedeutungsvollen biografischen Zügen verwandelt. Erst indem sie das Individuum aktiviert, wird die Ideologie selbst zu einer lebendigen Größe. [5]

Das hier als Ideologie bezeichnete Selbstverständ­nis der frühen stalinistischen Sowjetunion befähigte und forderte die Menschen darin, das eigene Leben in einen dialektischen Rahmen zu stellen. Das ständige rationale Räsonnieren über die eigene Lebenslage in einer sich ständig ändernden Welt erforderte eine subjektive Arbeit, die etwas anderes darstellt als das Nachplappern ideologischer Versatzstücke im neoliberalen Mainstream von Radio Darmstadt. Das Rationalisieren zunächst unverständlicher Akte der Staatsgewalt war nicht etwa der Versuch, unangenehmen Wahrheiten aus dem Weg zu gehen, sondern vielmehr eine Fähigkeit, den Willkürakten der stalinistischen Terrororgane einen Sinn abzugewinnen. Deshalb sind die Selbstbezich­tigungen im Vorfeld stalinistischer Schauprozesse oder der Appell an Stalin als Garanten der sozialistischen Rechtsordnung gleichermaßen hilflos wie identitätsstiftend.

In der sowjetischen Zwischenkriegsperiode – und vielleicht in Europa insgesamt zwischen den 1920er und 1940er Jahren – war Ideologie im Sinne einer persönlichen Weltanschauung und eines geschärften Bewusstseins der eigenen Biografie konstitutiv für Subjektivität. [6]

Man und frau wollte kein normales, sondern ein, dem Umständen entsprechendes, außergewöhn­liches Leben führen. Heute, so füge ich hinzu, ist ein außergewöhn­liches Leben nur noch in der Scheinwelt der Castings, Adventures, sozialen Netzwerke oder im Hoppen von Event zu Event unter mitwippendem Einpfeifen hämmernder Beats denkbar. Die Welt zu verändern, scheint eher zu bedeuten, soziale Beziehungen durch Technik zu ersetzen, sinnliche Erfahrungen durch Chats und Rumgesimse. Die neoliberale Destruktion sozialer Strukturen macht auch vor dem Bewußtsein der Menschen nicht Halt. Ihr falsches Bewußtsein führt unreflektiert zur Zerstörung der eigenen Persönlich­keit und zur Furcht vor Befreiung vom Elend kapitalistischer Ausbeutung, Entfremdung und Leistungsbereit­schaft. Die dem stalinistischen Ideologieapparat ausgesetzten Menschen waren keine Zombies, sondern von ihrer Mission überzeugt. Die Zombies von heute haben keine Mission; und ihr Groll auf die herrschenden Verhältnisse läßt sich jederzeit für Konsum, Party und Krieg aktivieren. Vielleicht erklärt das ein Stück weit auch den Haß auf die 68er.

Cover Mittelweg 36Der Historiker Reiner Tosstorff befaßt sich in der Literaturbei­lage der Zeitschrift Mittelweg 36 mit dem langjährigen Gegenspieler Stalins, Leo Trotzki, beziehungs­weise genauer: mit verschiedenen Biografien über den bolschewistischen Politiker, der in den Kriegswirren nach der Oktoberrevolu­tion maßgeblich daran beteiligt war, die konterrevolutio­nären Armeen zu besiegen. Eine sich hartnäckig haltende Legende besagt, daß Trotzki, wäre er nicht von Stalin ausgeschaltet worden, gezwungen gewesen wäre, ähnlich drastische Maßnahmen zur Sicherung der Parteiherrschaft zu ergreifen als Stalin selbst. Für diese Überlegung gibt es durchaus Anhaltspunkte, zumal Trotzki die Kommandostruk­turen der von ihm aufgebauten Roten Armee nach Ende des Bürgerkrieges zugunsten des Wiederaufbaus auf die Sowjetwirt­schaft übertragen wissen wollte.

Dennoch ist die Fragestellung nicht seriös, denn sie verkennt die Funktion des Stalinismus. Beim Stalinismus handelt es sich um den Versuch, die ursprüngliche Akkumulation des Kapitals, also den ersten Akt der blutigen Geschichte des Kapitalismus, auf sowjetische Verhältnisse zu übertragen. Der Aufbau der Wirtschaft mit rigorosen Maßnahmen, um aus dem Stand heraus eine leistungsfähige Industrie zu erschaffen, erforderte nicht nur besondere Maßnahmen, sondern auch besondere Männer. Stalin war so einer, Trotzki nicht. Trotzki war kein Mann des Apparates.

Trotzki, und das benennt Reiner Tosstorff richtig, stand nicht für den Terror, sondern für den Widerstand gegen diese Entwicklung. Für Trotzki war Stalin der Totengräber der Revolution. Hierbei handelte es sich nicht um parteipolitische Geplänkel, sondern um fundamental verschiedene Ansichten und Absichten, wie eine Revolution in eine sozialistische Gesellschaft transformiert werden kann, wobei Trotzki nicht zuletzt durch seine eigene Erfahrung mit der stalinistischen Verfolgung zu fundamentalen Ansichten über eine wirkliche sozialistische Demokratie gelangte. Trotzki wurden von einem Schergen Stalins 1940 im mexikanischen Exil ermordet.

Zur Rehabilitierung Trotzkis nach jahrzehnte­langer stalinistischer Verleumdung hat nicht zuletzt Isaac Deutschers zwischen 1954 und 1963 erschienene dreibändige Trotzki-Biografie beigetragen, auch literarisch ein außergewöhn­liches Werk. Eine aufgrund freigegebener Archivalien auf neuen Erkenntnissen beruhende Trotzki-Biografie schrieb Ende der 80er Jahre der französische Historiker Pierre Broué, deren deutsche Übersetzung vor wenigen Jahren vom kleinen Neuen ISP Verlag herausge­bracht wurde. [7]

Während Broué das Material sorgfältig gesichtet hat und seine Argumentation und Darstellung daher als fundiert zu bezeichnen ist, muß die Trotzki-Biografie des sowjetischen Militär­historikers Dmitri Wolkogonow eher als ein antikommunis­tisch inspiriertes Machwerk angesehen werden. Ihm wurde, so schreibt Reiner Tosstorff, vorgeworfen, sein ursprüngliches Manuskript nach dem Zerfall der Sowjetunion so umgeschrieben zu haben, daß alte stalinistische Deutungsmuster wieder zum Vorschein kamen. Vergangenes Jahr nun legte der britische Historiker Robert Service eine weitere Trotzki-Biografie vor, die in der Buchwerbung des Verlags als erste umfassende Biografie außerhalb Rußlands bezeichnet wurde, die nicht von einem Trotzkisten stammt. Hinzuzufügen ist, daß Robert Service mit der Hoover Institution in Stanford, USA, verbunden ist, einem think tank der US-amerikanischen Konservativen.

Reiner Tosstorffs Auseinandersetzung mit der Trotzki-Biografie von Robert Service soll hier nicht im Einzelnen nacherzählt werden. Die darin vorzufindende Absicht, Trotzki als einen selbstverliebten Egomanen zu zeichnen, endet bei Service in der ideologisch motivierten Feststellung, Trotzki sei als eine Art Stalin light zu bezeichnen. Tosstorffs genaue Kritik an dieser Darstellung belegt die Unehrlich­keit der Argumentation, Ungenauigkei­ten in der Darstellung und schwerwiegende sachliche Fehler. Vielleicht mußte Service zu diesen Mitteln greifen, wenn er sein bei einer Präsentation seines Buchs gestecktes Ziel erreichen wollte. Trotzki, so meinte er, würde nach seinem Tod noch weiterleben, so daß er, Service, den Job, Trotzki mit dem Eispickel zu vernichten, nun vollenden wolle. Diese Geschmacklosig­keit charakterisiert seine Trotzki-Biografie wohl am besten.

Nützlich ist Tosstorffs Beschäftigung mit den verschiedenen Biografien auch deshalb, weil ein an der Funktion und Wirkungsweise stalinistischer Herrschaft wirklich interessiertes Publikum einen brauchbaren Einblick in Schriften erhält, die zur Aufklärung beitragen oder – im Falle von Dmitri Wolkogonow und Robert Service – auch nicht.

Aufsätze zum Tod der Schauspielerin Jean Seberg oder zur literarischen Vorwegnahme macht­politischen Zynismus bei Militäropera­tionen im östlichen Kongo runden das Februarheft von Mittelweg 36 ab, das im Buchhandel 9 Euro 50 kostet, aber auch im Abonnement über das Hamburger Institut für Sozialforschung bezogen werden kann. Das im April herausgebrachte aktuelle Heft 2 befaßt sich mit den moralischen Grundlagen der Marktwirt­schaft – also mit der Unmoral.

Der Stalinist 

Das langjährige Vorstandsmitglied des Trägervereins von Radio Darmstadt namens Günter Mergel ließ es sich nicht nehmen, der hessischen Landesmedienanstalt zu verklickern, was für ein übler Stalinist ich sei. Hierzu benutzte er als Tarnadresse ein ansonsten gänzlich unbekanntes Darmstädter Institut für Faschismus­forschung. Sein Vorstands­kumpel Benjamin Gürkan übernahm unbesehen diese wohldosierte üble Nachrede und verbreitete sie weiter, wie mir ein Vereinsmit­glied berichtete. So wird bei Radio Darmstadt Politik gemacht, vollkommen unabhängig von den Fakten, dafür mit viel Inbrunst. Benjamin Gürkan, der seinen eigenen Worten nach niemals still steht und – so füge ich als rein subjektive Anmerkung hinzu – wohl deshalb auch nicht zu einer inneren Ruhe findet, sitzt für die SPD im Weiterstädter Stadtparla­ment und versucht sich neuerdings in Medienkompetenz­projekten mit Schulkindern. Dort sollte er besser nicht so herumschreien wie im Sendehaus von Radio Darmstadt[8]

 

Wachtposten eines Imperiums

Besprechung von : Egon Schallmayer – Der Odenwaldlimes, Konrad Theiss Verlag 2010, 160 Seiten, € 19,90

Vor rund zweitausend Jahren überschritten römische Armeen den Rhein, um die germanischen Wälder und ihre Bewohnerinnen und Bewohner bis hin zur Elbe dem Imperium Romanum zu unterwerfen. Die Anlage einer römischen Stadt bei Waldgirmes deutet darauf hin, daß die Römer ihre Eroberung als soweit gesichert ansahen, daß sie sie als Provinz zu organisieren begannen.

Wie wir alle wissen, ging das Unternehmen schief, auch wenn der Verlust der drei Legionen des Varus das Reich nicht allzusehr erschüttert haben mag. Die römischen Legionen zogen sich hinter Rhein und Donau zurück. Dennoch scheint das Bedürfnis vorhanden gewesen zu sein, den Zugang zu den Alpenpässen und ins gallische Südfrank­reich dauerhaft zu sichern, so daß in der 2. Hälfte des 1. Jahrhunderts langsam, aber stetig damit begonnen wurde, das Vorfeld von Rhein und Donau militärisch zu integrieren. Der nächste Schritt bestand zu Beginn des 2. Jahrhunderts in der Errichtung des Limes. Gegen 110 oder 115 wurde der Limes im Odenwald zwischen Main und Neckar angelegt, der etwa ein halbes Jahrhundert später noch einmal vorverlegt wurde.

Buchcover Der OdenwaldlimesDer Landesarchäologe Egon Schallmayer hat in sein völlig überarbeitetes und bei Theiss herausge­brachtes Buch über den Odenwaldlimes die archäologischen Erkenntnisse der letzten Jahre eingearbeitet. Er behandelt darin nicht nur die Geschichte der römischen Grenz­sicherung, sondern auch die Geschichte der Erforschung dieser nur noch in Spuren sichtbaren Anlage. Zudem, und dies macht den besonderen Reiz dieses Bandes aus, läßt er uns den Odenwald­limes vom Main bei Obernburg und Wörth bis hin zum Neckar bei Bad Wimpfen und Kochendorf erwandern

Die von ihm vorgeschlagene Wanderroute orientiert sich am Limes-Wanderweg. Die Gesamtstrecke von rund 80 Kilometern hat der Autor in zwölf auch einzeln begehbare Tagesabschnitte unterteilt, so daß jede und jeder selbst entscheiden kann, ob er oder sie einen Tagesausflug unternehmen oder den ganzen Weg entlanggehen möchte. Entlang der Strecke befinden sich sichtbare, in Grundzügen restaurierte, noch nicht ergrabene oder auch nur vermutete Reste von mehr als 80 Wachttürmen und 20 Kastellen verschiedener Größe und Aufgaben­stellung. Die Wegbeschrei­bung ist geradezu penibel genau, was jedoch auch notwendig ist, um den mitunter eher als Trampelpfad zu bezeichnenden Weg zu finden.

Allerdings stellt sich die Erkenntnis dieser geradezu detailverliebten Genauigkeit erst im Nachhinein so richtig ein, wenn der begangene Weg mit der Beschreibung im Buch nochmals abgeglichen wird. Egon Schallmayers Vorgabe besteht im Erwandern von Nord nach Süd; wer (wie ich) in umgekehrter Richtung geht, muß sich in die Wegbeschrei­bung eindenken, was dann zum Problem wird, wenn eine Wegstrecke gar nicht begehbar ist, wie dies tatsächlich im Wildgehege südlich des Eulbacher Parks der Fall ist. Hier ist dem Autor bedingt ein Vorhalt zu machen, denn diese Sperrung, die auf den sehr genauen dem Buch beigefügten Karten nicht verzeichnet ist, ist nicht erst nach Drucklegung des Buches eingetreten.

Ich habe die Probe aufs Exempel gemacht und bin vom Numeruskastell Würzberg zum Eulbacher Park und wieder zurück gewandert. Auch wenn alle Kastelle demselben prinzipiellen Grundriß folgen, so bestanden entlang des Limes an Größe verschiedene Einheiten. Ein Numeruskastell bot Platz für eine Besatzung von rund 160 Mann. Im Nordabschnitt des Odenwald­limes standen sie im Abstand von knapp sechs Kilometern und bildeten mit Schreibstuben, Waffenkammern, Getreidespeichern und Werkstätten die Versorgungs­basis der im Abstand von meist weniger als einem Kilometer errichteten Wachtposten. Selbstverständ­lich gehörte zu einem Kastell ein römisches Bad, denn den Luxus der römischen Zivilisation sollten die Legionäre auch in den dunklen und naßkalten Wäldern nicht vermissen.

Das Numeruskastell Würzberg liegt auf dem Bergkamm oberhalb von Michelstadt und ist sowohl mit dem Auto als auch mit dem Bus zu erreichen. Im Sommer gibt es an Wochenenden sogar eigens Busverbindungen mit der Möglichkeit, das eigene Fahrrad mitzunehmen, so daß der Odenwald­limes, wenn auch nicht vollständig, auch erfahrbar ist. Die Grundmauern der Badeanlage auf dem Würzberg wurden wiederher­gestellt und geben so einen kleinen, aber durchaus anschaulichen Eindruck vom Leben auf der Höhe. Die Fernsicht auf das den Wachtposten und Kastellen vorgelagerte Terrain war wohl wichtig, wobei es weniger auf die Abwehr eines herannahenden Feindes ankam und mehr darauf, den Warenverkehr zwischen dem römischen und dem germanischen Gebiet zu kontrollieren.

Die angesproche Schautafel.Aufgrund der Erhebung des Limes zum Weltkulturerbe wurde die Beschilderung erneuert und mit aussagefähigen Texten versehen. Die Beschreibung auf dem Würzberg läßt die Besucherin jedoch rätseln, da zu zwei Abbildungen die beschreibenden Texte vertauscht wurden. Derartige Vertauschungen sucht man und frau im Wanderbuch über den Odenwald­limes vergebens, auch wenn bei einer Lagekarte, nämlich beim Numeruskastell Lützelbach, die Nord-Süd-Ausrichtung umgepolt dargestellt wird. Während der nächste Wachtposten mit der von der Reichs-Limeskommission vor rund einhundert Jahren vergebenen Nummer 10/25 ausgegraben wurde und zu besichtigen ist, sind die beiden nächsten Türme bislang nicht lokalisiert und in ihrer Existenz nur vermutet worden. Wachtposten 10/22 wiederum ist der Besucherin oder dem Wanderer zugänglich und weist als Besonderheit einen ebenerdigen Zugang auf. Üblicher­weise waren die Wachttürme nur mittels einer Leiter zum ersten Stock zu betreten.

Der folgende Wachtturm wurde nicht ausgegraben und befindet sich in einem abgesperrten Wildgehege. Und hier fangen die Probleme an, denn der eingezeichnete und beschriebene Wanderweg vom Wachtturm 10/22 zum Eulbacher Park führt durch genau dieses Wildgehege und ist daher nur in Teilen begehbar. Statt dessen spaziert man oder frau entlang eines alten Grenzweges mit einigen hübschen Grenzsteinen bis zur vielbefahrenen Bundesstraße 47 und muß sich dort erst einmal orientieren, wohin es denn nun weitergeht. Schwieriger wird es, wenn wir der von Egon Schallmayer empfohlenen Route in umgekehrter Richtung, also vom Eulbacher Park in Richtung Numeruskastell Würzberg folgen, denn hier weist uns kein Schild den Weg.

Vom Kastell Eulbach ist so gut wie nichts zu sehen, denn es wird von besagter Bundesstraße zerschnitten. Wer mag, kann dem Eulbacher Park einen Besuch abstatten und dort von einzelnen Fundstellen entführte und zur Anschauung wiedererrichtete römische Steinhaufen bewundern. Auch einzelne Grenzsteine vom gerade erwanderten Grenzweg sind zu besichtigen. Der Eulbacher Park mit seinem Englischen Garten wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts von einem der Erbacher Grafen angelegt. Zu dieser Parkanlage gehörte selbstverständ­lich das Spiel mit der Antike und so bestaunen wir einen aufgerichteten Obelisken, den es so nie gegeben hat und der aus Steinen des Numerus­kastells Würzberg kompiliert wurde.

Ein Trampelpfad führt uns nun auf der westlichen Seite entlang des Wildgeheges wieder zurück zum Ausgangs­punkt. Wer sich Zeit bei der Besichtigung nimmt und nicht schnurstracks im Sauseschritt den Wald durchwandert, kann für den hier beschriebenen Teilabschnitt einen Tagesausflug veranschlagen.

Insgesamt macht das Buch zur Wanderung entlang der römischen Grenze zwischen Main und Neckar mit dem passenden Titel „Der Odenwaldlimes“ einen soliden und einladenden Eindruck. Etwas anderes wäre vom Autor Egon Schallmayer auch nicht zu erwarten gewesen. Es handelt sich um ein Buch, das auch gut auf der Wanderung mitzunehmen und vor Ort zu konsultieren ist, denn die Hardcoveraus­gabe fällt auch bei häufigem Aufschlagen nicht auseinander. Dieses empfehlens­werte Buch umfaßt 160 Seiten und ist im Theiss Verlag zum Preis von 19 Euro 90 erhältlich.

 

Eine Spende für die Demokratie

Jingle Alltag und Geschichte

In der vergangenen Stunde hörtet ihr eine Reise von den ausgegrabenen Wachtposten am Main zu den ideologisch nachgebildeten Exemplaren an der Drina, beziehungs­weise in umgekehrter Reihenfolge. Besprochen habe ich hierbei das Buch „Umkämpfte Vergangenheiten“ von Todor Kuljić zum Geschichtsverständ­nis und zur Erinnerungskultur in den postjugo­slawischen nationalistischen Republiken, erschienen im Verbrecher Verlag. Weiterhin ein Buch über den Naziterror während der Okkupation der Tschecho­slowakei zwischen 1939 und 1945 von Erich Später mit dem Titel „Villa Waigner“ aus dem Konkret Literatur Verlag. Sodann die Februaraus­gabe der Zeitschrift Mittelweg 36 zu Perspektiven der Stalinismus­forschung. Und schließlich das historisch sorgfältig untermauerte Wanderbuch „Der Odenwaldlimes“ von Egon Schallmayer aus dem Theiss Verlag.

Das neue Hinterhofstudio.Wenn die Sendetechnik es zuläßt, wird diese Sendung wiederholt, und zwar in der Nacht von Montag auf Dienstag entweder direkt nach den Deutschlandfunk-Nachrichten um 23.00 Uhr oder eine Stunde später. Und dann noch zweimal am Dienstag, nämlich um 8.00 und um 14.00 Uhr. Das Manuskript zur Sendung werde ich in den kommenden Tagen auf meine Webseite stellen: www.waltpolitik.de. Sollte auch diese auf CD eingereichte Sendung wieder einmal zu spät begonnen haben oder zu früh enden, mittendrin gestört oder zu langsam abgespielt werden, oder was auch immer den Spielkindern in diesem Sender so einfallen mag, dann dürft ihr euch ruhig bei eurer zuständigen Landesmedienanstalt in Kassel beschweren. [9]

Beschwerden bei Radio Darmstadt sind nämlich sinnlos, weil sie ignoriert werden. Radio Darmstadt bzw. sein Trägerverein Radar e.V. haben sich ohnehin vom Landgericht Darmstadt bestätigen lassen, daß sie willkürlich ein Hausverbot gegen Menschen aussprechen dürfen, die nicht nach ihrer Pfeife tanzen, sondern sich kritisch mit den Vorgängen im Verein und seinem Lokalradio auseinandersetzen.

Dabei ist es um den Sender nicht gut bestellt, muß er doch sein großzügig ausgebautes Sendehaus verlassen und in ein Hinterhof­studio umziehen. Die Finanzierung dieses Umzugs scheint nicht einmal gesichert zu sein, denn auf der Mitgliederver­sammlung des Vereins am vergangenen Freitag wurde dazu aufgefordert, bei Baumärkten und sonstwo betteln zu gehen, um das Material für den Umzug und den Aufbau neuer Senderäume zusammenzu­bekommen. Ich kann hier meiner Verwunderung nur Ausdruck verleihen. Solange ich Vorstandsmit­glied dieses Vereins gewesen bin, funktionierte a) die Technik und b) waren Geldsorgen nie Thema. Aber das ist wohl der seit vier Jahren wehende frische Wind im Sendehaus, der in der Einladung zu besagter Mitgliederver­sammlung den Mitgliedern so verkauft wird:

Radar e.V. und das von ihm betriebene Lokalradio Radio Darmstadt sind wichtige Säulen einer demokratischen Gesellschaft und Medienlandschaft.

Zu ergänzen wäre: Unter Zuhilfenahme von Haus- und Sendeverboten, Kündigungen und Vereinsaus­schlüssen. Ob es diese Sendung in Zukunft noch geben wird, entscheidet der Programmrat von Radio Darmstadt, der der Redaktion Alltag und Geschichte schon einmal vorsorglich Sanktionen für den Fall angedroht hat, daß sie nicht zum Rapport auf der Programmrats­sitzung antanzt. Nun würde ich ja gerne als Sprecher meiner Redaktion dieser Sitzung beiwohnen, aber das vom Programmrat vehement begrüßte Hausverbot hindert mich daran. Tja, das ist eben die Demokratie im Sendehaus. Man fordert etwas ein, was man selbst verhindert, um dann abstrafen zu können. Wenn ihr diese Demokratie gut findet, dann solltet ihr fleißig spenden, damit aus dem Umzug in die Vereinsfunk­räume vielleicht doch noch etwas wird.

Zum Abschluß gibt es aus dem Audiopool des Bundesverbandes Freier Radios noch einen Vogel der Woche. Am Mikrofon war Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

 

ANMERKUNGEN

 

Mittels eines Klicks auf die Nummer der jeweiligen Anmerkung geht es zur Textpassage zurück, von der aus zu den Anmerkungen verlinkt wurde.

 

»» [1]   Todor Kuljić : Umkämpfte Vergangenheiten, Seite 16.

»» [2]   Kuljić Seite 83.

»» [3]   Marginale Ungereimtheiten bleiben, die November­revolution 1917 auf Seite 113 ist natürlich die Oktober­revolution (julianischer Kalender!).

»» [4]   Jochen Hellbeck : Alltag in der Ideologie. Leben im Stalinismus, in: Mittelweg 36, Heft 1/2010, Seite 19–32, Zitat auf Seite 24.

»» [5]   Hellbeck Seite 25.

»» [6]   Hellbeck Seite 30.

»» [7]   Siehe hierzu meine Besprechung in meiner Sendung Die Kunst des Aufstands am 8. November 2004.

»» [8]   Siehe hierzu die Artikel Eigene Redaktion in der Schule in der Wormser Zeitung (online) am 30. April 2010 und Kopfhörer auf, Mikrofon voraus in der Bürstädter Zeitung (online) am 29. April 2010. Für das Herumschreien im Sendehaus finden sich gewiß genügend Zeuginnen und Zeugen, die mit dieser Methode zwischen 2005 und heute ihre unliebsame Bekanntschaft gemacht haben.

»» [9]   Erstaunlicherweise kam es diesmal zu keiner Störung.


Diese Seite wurde zuletzt am 6. Juni 2010 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. ©  Walter Kuhl 2001, 2010. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

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