Besprechung von : Tariq Ali – Piraten der Karibik, Diederichs im Heinrich Hugendubel Verlag 2007, 304 Seiten, € 22,00
Der 1943 im späteren Pakistan geborene Tariq Ali gehört zu den wenigen Autorinnen und Autoren weltweit, die sowohl in der politischen Analyse als auch in der Belletristik zu überzeugen vermögen. Seine autobiografischen Aufzeichnungen Street Fighting Years [1] gehören bei den politischen Referenzen zu den aufregenden 1960er Jahren eindeutig zur Extraklasse. Diese Aussagen gelten umso mehr, als Tariq Ali seine politischen Grundüberzeugungen auch in die postmoderne Ära des allgemeinen Bejubelns globalisiert–
Seit 1991 gilt jedes Gespräch über Widerstand, selbst auf der Ebene der Ideen, vielen als verrückt, störend, pervers und rückwärtsgewandt. Große Teile der ehemaligen Linken wollen jetzt dazugehören. Dieser Wunsch wurde zu einem solch machtvollen Antrieb, dass viele intelligente Männer und Frauen, die früher nach Moskau oder Peking oder Prinkipo oder Coyoacán oder Havanna, Hanoi und Managua, in einigen Extremfällen sogar nach Pjöngjang oder Tirana geschaut haben [2], mittlerweile zu glühenden Anhängern der Neuen Ordnung geworden sind. Die individuelle Psychologie ist natürlich nicht unwichtig, wenn man den totalen Wandel der politischen Ansichten eines Menschen erklären will, aber in diesem Fall ist diese Erscheinung dermaßen verbreitet, dass sie nur als Ausdruck des Rückzugs einer ganzen Gesellschaftsschicht gesehen werden kann. Angesichts der veränderten gesellschaftlichen und politischen Landschaft haben sie das Denken eingestellt. [Seite 13–14]
Tariq Alis neuestes auf Deutsch erschienenes Werk Piraten der Karibik gibt einen gleichermaßen informativen wie politisch überzeugenden Einblick in die Realitäten Lateinamerikas zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Seine Sympathien gelten ganz eindeutig den Piraten Hugo Chávez (Venezuela), Fidel Castro (Kuba) und Evo Morales (Bolivien). Wobei natürlich anzumerken bleibt, daß im Falle des bolivianischen Präsidenten das (auch im englischen Original) schon im Buchtitel vorzufindende Piratentum mehr symbolisch gemeint ist, denn der Titicacasee verfügt bekanntlich über keine Verbindung zur Karibik.
Ich gebe es gerne zu: Tariq Ali trifft mit seinem zuweilen aufblitzenden Sarkasmus genau meine Wellenlänge. Manche ideologisch motivierten Angriffe auf sozialpolitisches Engagement – sei es auf Kuba, in Venezuela oder jetzt neuerdings auch in Bolivien – sind einfach unerträglich. Wie verlogen die Anhänger des zur Ausplünderung Lateinamerikas 1990 in der US–amerikanischen Hauptstadt verkündeten Washington Consensus der neoliberalen Ordnung jedoch wirklich sind, dies macht der Autor auf eine sehr eindringliche wie süffisante Weise deutlich. Wenn Tariq Ali seine Sympathien eindeutig zum Ausdruck bringt, dann sind seine dahinter liegenden politischen Analysen und wirtschaftspolitischen Ausführungen jederzeit wohlbegründet.
Der in seiner Heimat von den Lakaien der teilweise entmachteten Oligarchie in deren rassistischen Sprachgebrauch als Affe diffamierte Hugo Chávez erscheint hier nicht als das, als was er in der westlichen Presse vorgeführt wird, nämlich als größenwahnsinniger, populistischer Militärmachthaber. Statt dessen verdeutlicht Tariq Ali, wie sehr es dem Präsidenten der bolivarianischen Revolution um die Demokratisierung aller Lebensbereiche geht und gleichzeitig darum, den Erdölreichtum des Landes dafür zu verwenden, die jahrzehntelang zu kurz gekommene Mehrheit der Bevölkerung am Reichtum des Landes teilhaben zu lassen. Alphabetisierungsprogramme und eine durch kubanische Ärzte fachkundig unterstützte Gesundheitsvorsorge sind etwas, was mit den neoliberalen Vorgaben der Profitmaximierung nicht vereinbar sind. Und genau deshalb steht Hugo Chávez im Kreuzfeuer der nicht nur venezolanischen Medien, die sich in der Hand der Verteidiger des Washington Consensus befinden.
Als Teile des Militärs mit Unterstützung der venezolanischen Bourgeoisie, sowie der USA und der EU im Hintergrund, im April 2002 gegen Hugo Chávez putschten, zeigte sich das ganze Ausmaß der Unterstützung für die Symbolfigur einer eigentlich sozialdemokratischen Alternative zum Neoliberalismus. Schon eine konsequent sozialreformerische Politik ist den Profiteuren der herrschenden Weltordnung zu viel. Daß dieselben Reformen für diejenigen, die hiervon profitieren, eigentlich nur das Minimum darstellen, wurde in den Tagen nach dem Putsch vom April 2002 deutlich: Die Menschen strömten in die Hauptstadt, umzingelten den Präsidentenpalast und forderten die Rückkehr ihres Präsidenten. Sie wußten genau, warum sie Chávez wiederhaben wollten, selbst diejenigen, die seine Politik kritisch verfolgen.
Das Volk der barrios, der armen Vorstädte, war in das Regierungsviertel marschiert, um seine bolivarianische Regierung zu verteidigen. Sie taten dies, da sie wussten, dass man Chávez gestürzt hatte, weil er ihnen helfen wollte. Sie hatten verstanden, dass es nun in Venezuela ein komplexes Entwicklungsprogramm gab, das versuchte, das Land von der Oberherrschaft Washingtons zu befreien. Außerdem glaubten sie, selbst die Schwächen der Bolivarianer seien besser als die Stärken der Opposition. Dies war zumindest mein Eindruck, als ich ein Jahr nach dem gescheiterten Putsch mit zahlreichen Menschen sprach, die einen ganz unterschiedlichen sozialen Hintergrund hatten und nicht einmal alle Anhänger von Chávez waren. [Seite 19–20]
Die bolivarianische Revolution Venezuelas, die 1998 mit dem eindeutigen Wahlsieg von Chávez begann, strahlt auf den gesamten Kontinent aus. Kuba, seit über viereinhalb Jahrzehnten durch eine US–amerikanische Handelsblockade wirtschaftlich geschwächt, findet auf einmal einen Verbündeten, der nicht einmal Kommunist ist. Relativ preisgünstiges venezolanische Erdöl fließt nach Kuba, im Gegenzug kann Kuba mit all seiner Erfahrung in Gesundheits– und Bildungsprogrammen dem reicheren südlichen Nachbarn zu etwas verhelfen, wozu unendliche Jahrzehnte hochgelobter westlicher Wirtschaftspolitik nicht einmal ansatzweise in der Lage waren. Denn die Investition in Gesundheit und Bildung lohnte sich für die Bourgeoisie des Landes nur insoweit, als hierdurch ausreichend vernutzbare Arbeitskräfte zur Verfügung standen; der überwiegende Rest der Bevölkerung mochte doch sehen, wo er blieb.
Die Wahlsiege von Kirchner in Argentinien, von Bachelet in Chile, besonders von Evo Morales in Bolivien, von Correa in Ecuador und selbst der des sozialrepressiven Technokraten Alan García in Peru wären ohne die Ausstrahlung der venezolanischen Ereignisse nicht denkbar gewesen. In Mexiko konnte sich zum zweiten Mal nach 1988 die herrschende Klasse im Jahr 2006 nur noch durch massiven Wahlbetrug das Präsidentenamt ein weiteres Mal sichern. Nur in Kolumbien regiert weiterhin das seit den 1950er Jahren existierende politische Kartell, es bedarf hierzu allerdings massiver paramilitärischer Repression. (Brasilien unter Lulas Arbeiterpartei hat sich längst neoliberalisiert und versumpft in der Korruption wie ihre Vorgänger.)
Tariq Ali entstammt einer politischen Strömung, dem Trotzkismus, der bei aller Würdigung der Errungenschaften der kubanischen Revolution auch immer den Paternalismus der kubanischen Führung kritisierte, der es verhinderte, daß auf der Karibikinsel die emanzipatorisch intendierte Sozialpolitik durch wahre politische Demokratie ergänzt wird. Der Autor besuchte die Insel daher erst 2005 zum ersten Mal.
Die wirkliche Frage ist:»Was kommt nachFidel?« Oder anders ausgedrückt: Hat der bolivarianische Sieg in Venezuela einfach einen gewissen Viagra–Effekt auf eine alternde kubanische Revolution oder lässt sich mit seiner Hilfe auf den bereits bestehenden Grundlagen aufbauen […]? Je mehr ich umherreise und je mehr Leute ich dabei treffe, desto stärker wird mein Gefühl, dass man dieses Kuba nicht den Abbruchkommandos ausliefern darf, die geduldig in Miami warten, bis ihre Zeit kommt. Das wäre eine Niederlage für den gesamten Kontinent. [Seite 126–127]
Die kubanische Revolution bot einst einem Kontinent neue Hoffnung, der unter dem litt, was Aimé Césaire die»scheußliche Lepra derNachahmungen« genannt hat, aber sie wurde ihrerseits schon bald unter Quarantäne gestellt. Der Bolivarianismus hat nun ihre Isolation endlich durchbrochen. Man kann nur hoffen, dass dies Kuba helfen wird, seinen Anführer zu überleben. [Seite 151]
Venezuelas Bolivarianismus bezieht sich auf die grundlegenden Ideen des antikolonialen Befreiers des Kontinents zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Simón Bolívar. Tariq Ali gibt deshalb eine kurze Einführung in das Leben und Denken des Mannes, unter dessen Führung ein halber Kontinent befreit wurde, um noch im selben 19. Jahrhundert unter die neokoloniale Herrschaft der britischen und US–amerikanischen Interessen zu geraten. Dieser, wie ihn der Autor nennt, frühe Pirat der Karibik, war sicherlich eine schillernde Figur, und wie jede derartige Figur gleichzeitig ein Volksheld und ein Mensch mit Schwächen. Eines der von ihm befreiten Gebiete wurde nach ihm benannt, ein kleines, verarmtes Land im Herzen des südamerikanischen Kontinents. Auch dieses Land besitzt eine bewegte Geschichte, mit über 200 Militärputschen und einer sozialen Revolution, die 1952 in Gang gesetzt, aber von den reformistischen neuen Machthabern recht schnell an die traditionelle Bourgeoisie zurückverkauft wurde. Che Guevaras Idee, einen Guerillafocus ausgerechnet in Bolivien erreichten zu wollen, war von daher alles andere als realitätsfremd. Vielleicht fehlte es einfach nur an Zeit und städtischer Mobilisierung, um den Funken überspringen zu lassen. Die CIA und Teile der bolivianischen Elite erkannten dies und ließen den Che deshalb umbringen. Eine zum Märtyrer stilisierte Ikone war für sie immer noch besser als ein lebender charismatischer Guerillero.
Diktatoren kamen und gingen, Bergarbeiter, Gewerkschafter und Bauern gingen auf die Straße, besetzten Minen und Straßen. Bis zum Oktober 2003 hatte die kleine bolivianische Bourgeoisie das Heft dennoch in der Hand, regiert wurde das Land jedoch eher aus der US–Botschaft. Als die Erdgasreserven privatisiert und damit verschleudert werden sollten, kam es zur Revolte. In altbekannter Manier wurde der Protest mit Panzern und Soldaten unterdrückt, doch dies entfachte erst recht einen Widerstand, der zum Sturz des Präsidenten führte. Zwei Jahre später wurde Evo Morales zum Präsidenten gewählt und seine erste offizielle Handlung nach seiner Wahl bestand im Flug nach Havanna. Auf dem Rückweg machte er in Caracas Halt. Die Staatsoberhäupter aller drei Republiken wissen aus einer langen Geschichte von Neokolonialismus und Konterrevolution, daß sie aufeinander angewiesen sind, wenn sie im Interesse der Mehrheit ihrer jeweiligen Bevölkerungen regieren wollen.
Wie im Falle Venezuelas handelt es sich in Bolivien nicht um eine Revolution nach kubanischem Vorbild, sondern um eine Form radikalsozialer Demokratie, die gegenwärtig allerdings für den WC [Washington Consensus] und seine Institutionen völlig unannehmbar ist. [Seite 117–118]
Tariq Ali nennt diese Piraten der Karibik ironisierend Die Achse der Hoffnung. Angesichts auch im postmodernen 21. Jahrhundert weiterhin bestehender internationaler Ausbeutungsstrukturen und damit verbundener sozialer Ungleichheit könnte hier das Laboratorium zu finden sein, der auch den Menschen der Ersten Welt zeigt, daß Widerstand alles andere als zwecklos ist.
Das Buch ist in der Absicht geschrieben, der Desinformationskampagne der internationalen Medien etwas entgegenzusetzen. Deshalb nimmt die Auseinandersetzung mit den Schreiberlingen der herrschenden Wirtschaftsordnung einen breiten Raum ein. Immer dort, wo Tariq Ali den medial kolportierten Unsinn gegen den Strich bürstet und sarkastisch kommentiert, wird deutlich, wo das Herz des Autors zu finden ist. Diese Passagen machen ebenso wie die verschiedenen Textanhänge deutlich, daß weder Hugo Chávez noch Evo Morales populistische Diktatoren sind. Ganz im Gegenteil – sie sind allemal demokratischer als die vormals herrschende Elite und jetzige Opposition.
So entwirft Tariq Ali in einem Anhang zum Buch mit der Biografie von Teodoro Petkoff das Bild eines ehemaligen venezolanischen Revolutionärs, der längst seinen Frieden mit den herrschenden Verhältnissen gemacht hat, und er führt die lügenhaften Reportagen der als seriös geschätzten Tageszeitung Le Monde vor. Er gibt zwei Interviews mit venezolanischen Militärs wieder, die verdeutlichen, wie sehr die Unzufriedenheit mit den verkrustet–
Ergänzt wird der Band durch eine Rede von Evo Morales, die er direkt nach dem Sturz des damaligen bolivianischen Präsidenten im Oktober 2003 hielt, sowie durch die Rede von Hugo Chávez vor den Vereinten Nationen im September 2005. Beide Reden zeichnen sich dadurch aus, daß hier keine Phrasen gedroschen oder Banalitäten abgesondert werden, wie es kennzeichnend für den politischen Stil des vorherrschenden Konsenses ist, sondern beide Politiker deutlich machen, auf wessen Seite sie stehen. Auf der Seite der Piraten. Kapitän Charles Johnson bezeichnete 1724 die damaligen Piraten als "Helden der See, Geißel der Tyrannen und der Habsucht und tapfere Freiheitskämpfer" [Seite 8]. Ohne die Piraten des 17. und 18. Jahrhunderts verklären zu wollen, so steckt hierin doch der aufklärerische Gehalt des Buches.
[1] Meine Besprechung dieses 1998 auf Deutsch erschienenen Buchs bei Radio Darmstadt ist leider derzeit nicht online.
[2] Hierbei bezieht sich Tariq Ali auf Sozialistinnen und Kommunisten verschiedener Provenienz.
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