Besprechung von : Werner Hörtner Kolumbien verstehen, Rotpunktverlag 2006, 311 Seiten, € 19,80
Kolumbien gilt nicht nur als eines der gewaltreichsten Länder dieser Erde, sondern auch als ein Paradies für Drogenbosse. Und doch bleibt dieses Land meist außerhalb des Fokus der Medien und der Öffentlichkeit, wenn es darum geht, die sozialen und politischen Prozesse zu verstehen, die im Lateinamerika des beginnenden 21. Jahrhunderts vor unseren Augen vonstatten gehen. Während im Nachbarland Venezuela die linksnationalistische Regierung unter Hugo Chávez versucht, den materiellen Reichtum des Landes ein wenig umzuverteilen und wegen dieses Verstoßes gegen die neoliberale Ethik gleich ins Visier der wirtschaftsfreundlichen Medien gerät, wird bei der gewaltsamen Repressionspolitik der kolumbianischen Oligarchie gerne weggeschaut. Dabei erleben wir hier das Laboratorium für eine mögliche gewaltförmige Alternative zu der auf dem lateinamerikanischen Kontinent vorherrschenden Aufbruchsstimmung. Unter der Präsidentschaft von Alvaro Uribe Vélez deutet sich ein Projekt der Inkorporation paramilitärischer Kräfte in den Staatsapparat an, das sicherstellen soll, daß auch im 21. Jahrhundert die Interessen der besitzenden Klassen gewahrt bleiben. So jedenfalls sieht es der österreichische Journalist Werner Hörtner, wenn er schreibt:
Uribes gesellschaftspolitische Visionen gehen in Richtung autoritärer korporativer Staat mit starker Einbindung gremialer Interessenvertretungen, ähnlich dem italienischen Faschismus und dem österreichischen Ständestaat der 1930erJahre. Das Projekt jener paramilitärischen Führer, die nicht den Drogenhandel in den Mittelpunkt ihrer Lebensinteressen stellen, sieht einen ebenfalls autoritären, konservativ katholischen Staat vor, der die nationalen Interessen bei gleichzeitiger Verteidigung des Privateigentums in den Vordergrund stellt. Was läge näher, als diese beiden Tendenzen zu einem einzigen, rechtskonservativen bis faschistoiden Gesellschaftsprojekt zusammenzuführen? [Seite 305306]
Dies ist jedoch nur die eine Seite Kolumbiens, allerdings diejenige, welche an der Macht ist und die eigenen Interessen ungehemmt mit repressiver Gewalt durchsetzt.
Und doch gibt es auch ein anderes Kolumbien, ein Kolumbien, welches Werner Hörtner in seinem 2006 im Schweizer Rotpunktverlag herausgebrachten Buch Kolumbien verstehen gewürdigt wissen will. Denn wenn zehn Millionen Kolumbianerinnen und Kolumbianer 1997 einen Aufruf an alle Akteure der bewaffneten Gruppen unterzeichnen, eine dauerhafte Friedenslösung zu suchen, dann sagt dies nicht zuletzt aus, daß ein Großteil der Bevölkerung Gewalt nicht als probates Mittel zur Lösung sozialer Konflikte betrachtet. Auch wenn dieser Friedenswunsch sicher nicht in jedem Fall eine emanzipatorische Haltung wiedergibt: denn man kann sehr wohl für den Frieden sein und häusliche Gewalt anwesenden, und man kann sich eine "Friedenslösung" wünschen, welche die totale Niederlage des politischen Gegners zur Folge hat.
Kolumbien verstehen das bedeutet zunächst einmal eine Aufarbeitung der Geschichte eines zerrissenen Landes. Um diese Geschichte tatsächlich zu verstehen, bedarf es eines Standpunktes, der die innere Dynamik des Prozesses bloßlegt, also eines Standpunktes, der sich nicht dem Geschichtsbild der herrschenden Klasse unterordnet. Dies ist gewiß ein Vorzug des Kolumbien
Nun ist Gewalt ein wesentlicher Bestandteil jeder kapitalistischen Gesellschaft, weil es sich erwiesen hat, daß das angeblich so freie Ausbeutungsverhältnisses nicht gerne freiwillig eingegangen und schon gar nicht ertragen wird. Der gewaltsame Prozeß der ursprünglichen Akkumulation des Kapitals wurde schon von Karl Marx schonungslos aufgedeckt. Und so findet jede kapitalistische Gesellschaft bis heute Methoden formaler und informeller Herrschaft, welche die zukünftigen Lohnsklavinnen und sklaven dazu nötigt, sich freiwillig in den Dienst der guten Sache zu stellen. Dennoch ist die Gewaltförmigkeit dieses Prozesses in der kolumbianischen Geschichte außergewöhnlich und daher erklärungsbedürftig.
Schon der Kampf um die Unabhängigkeit zeigte, daß die zukünftig herrschenden Klassen zwar einerseits mehr am von Spanien dominierten Ausbeutungskuchen partizipieren wollten. Für den Kampf um diesen Kuchen benötigten sie jedoch eine kämpfende Armee, welche sie aus der von ihnen selbst ausgeplünderten Bauernschaft rekrutierten, so daß es nicht verwundert, daß sie nicht gewillt waren, den für sie Kämpfenden einen angemessenen Anteil an der neuen Machtverteilung zuzugestehen. Auch dieses Phänomen ist nicht einmalig; in Kolumbien ging man jedoch den Weg, die auszubeutenden Klassen systematisch von der Macht fernzuhalten. So kämpften die verschiedenen Fraktionen der herrschenden Klassen gleichzeitig gegeneinander um die Macht und zusammen gegen den Klassenfeind. Was fehlte, war der Weg einer politischen Transformation hin zu einer formalen Demokratie, welche den Ausgebeuteten und Unterdrückten zumindest rudimentäre Mitbestimmungsrechte einräumte.
Und das lassen sich die Unterdrückten auch nicht ewig gefallen. Dies mag im Laufe eines nun zweihundertjährigen Prozesses die Besonderheit Kolumbiens erklären, soziale und politische Auseinandersetzungen mittels Gewalt auszutragen. Wobei es hier ganz klar eine Asymmetrie gibt: die herrschenden Klassen verfügen über das Gewaltmonopol und wenden es an. Die einzelnen Phasen dieser Gewaltgeschichte lassen sich sehr gut in Werner Hörtners Buch nachvollziehen. Ab den 1960er Jahren kommt hier eine neue Komponente hinzu, nämlich der organisierte bewaffnete Widerstand in Form von Guerillaeinheiten. Dies wiederum führte zu einer weiteren Eskalation, weil der Staat nicht in der Lage war, dieser Herausforderung angemessen entgegenzutreten. Das Ergebnis dieser Eskalation ist das Erscheinen paramilitärischer Kräfte, die sich im Laufe der Jahre verselbständigten und jetzt an Macht und Reichtum des Landes beteiligt sein wollen. Unter der Präsidentschaft Uribes entwickelt sich nun das Projekt, mittels organisierter öffentlicher Demobilisierung der paramilitärischen Einheiten diesen die Möglichkeit zu eröffnen, ganz offiziell zu geachteten Mitgliedern der herrschenden Klassen aufzusteigen.
Hierbei erscheint der Drogenhandel und die Entstehung einer auf den Anbau und Export illegalisierter Drogen spezialisierten Ökonomie geradezu folgerichtig. Es läßt sich zeigen, daß die Paramilitärs erst die Schmutzarbeit für die Narco
Unmoralisch hingegen ist eine Gesellschaftsordnung, die Menschen gezielt unter Drogen setzt oder dies zuläßt, um sie besser verwerten und sozial kontrollieren zu können. Die Tatsache, daß Präsident Uribe in seiner politischen Vergangenheit mit Drogenbossen paktiert hat und heute der beste Freund der USA ist, sollte eher zu denken geben. Die Anwesenheit der USamerikanischen Drogenbekämpfungsbehörde DEA in Kolumbien sollte nicht etwa dazu verleiten anzunehmen, daß den USA an einer wirksamen Anti
So sehr der Autor auch die wirklich mannigfaltigen und beeindruckenden Friedensinitiativen von unten in das Blickfeld rückt, so dürfen wir nicht die traurige Realität des Landes vergessen. Neben Afghanistan dürfte Kolumbien das Land mit den meisten Binnenflüchtlingen sein, vertrieben von der Gewalt, den Exekutionen, den Massakern der Paramilitärs, der staatlichen Repressionsorgane und manchmal auch der verschiedenen Guerillaorganisationen. Es wäre fatal anzunehmen, daß eine sich sozial definierende Guerillabewegung per se emanzipatorisch handelt. Gerade in einem Land mit einer langen Gewalttradition wie in Kolumbien scheinen die Guerilleros und Guerilleras diese Gewalt allzu sehr verinnerlicht zu haben, so sehr jedenfalls, daß es ihnen unmöglich scheint, alternative soziale und politische Ansätze zu akzeptieren. So waren dann sowohl Friedensinitiativen wie indigene Gemeinschaften mehrfach Opfer von Guerillaaktionen. Es wäre interessant zu erfahren, wie die politische Partizipation in den von der Guerilla kontrollierten Zonen aussieht.
Die von der Guerilla ausgehehende Gewalt sollte jedoch nicht den Blick dafür verstellen, von wem die Gewalt in der Regel ausgeht und wer davon profitiert: und das ist nun einmal hauptsächlich die sich über die neureichen Drogenparamilitärs neu zusammensetzende Oligarchie des Landes. Einzelne multinationale Konzerne wollen wir hier nicht vergessen, weil sie davon profitieren, wenn aktive Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter eingeschüchtert oder ermordet werden etwa Nestlé oder Coca Cola. [2]
Es ist bis heute lebensgefährlich, sich politisch jenseits des erwünschten Konformismus zu engagieren. Auch wenn die Zahl der politischen Morde zurückgegangen ist, was Werner Hörtner im übrigen einsichtig als Teil des paramilitärischen Projekts erklärt, so ist die Zahl von 25.000 Ermordeten zwischen 1985 und 1995 eine klare Aussage zum Willen der Bourgeoisie des Landes, die Macht um jeden Preis zu erhalten.
Hilft das Buch also, Kolumbien zu verstehen? Ich denke, die Frage kann eindeutig bejaht werden. Was vielleicht fehlt, sind die sozialpolitischen Auseinandersetzungen in den Großstädten, da Werner Hörtner den Schwerpunkt auf den ländlichen Raum Kolumbiens legt. Allerdings merkt er an, daß die Paramilitärs inzwischen systematisch ein Stadtviertel nach dem anderen in ihre Gewalt bringen und damit auch in den Großstädten die Luft zum freien Atmen nehmen. Aber diese Luft ist in Bogotá ohnehin ein ökologisches Problem, dessen sich die Bürgermeister mit originellen Methoden wie einem halben autofreien Sonntag anzunehmen versuchen. Bei manchen der vom Autor geschilderten umweltpolitischen Maßnahmen scheint es sich mir jedoch eher um typische neoliberale Ideen zur Attraktivierung innerstädtischer Einkaufsmeilen zu handeln.
Kolumbien verstehen von Werne r Hörtner kann als aktueller und fundierter Ersatz für das seit langem vergriffene Buch Kolumbien von Klaus Meschkat, Petra Rohde und Barbara Töpper [3] angesehen werden.
[1] Siehe hierzu: Alfred W. McCoy : Die CIA und das Heroin, Zweitausendeins 2003
[2] Mehr auf der Webseite zur Coca
[3] Klaus Meschkat, Petra Rohde, Barbara Töpper : Kolumbien. Geschichte und Gegenwart eines Landes im Ausnahmezustand, Verlag Klaus Wagenbach 1980
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