Sponsorentafel mit Fernsehbild
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Kapital – Verbrechen

Ballspiele in der nationalen Weltgesellschaft

Sendemanuskript

 

Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte

Radio: Radio Darmstadt

Redaktion und Moderation: Walter Kuhl

Ausstrahlung am:

Montag, 14. Juli 2008, 17.00 bis 18.00 Uhr

Wiederholt:

Montag/Dienstag, 14./15. Juli 2008, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 15. Juli 2008, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 15. Juli 2008, 14.00 bis 15.00 Uhr

Zusammenfassung:

Die Nachbetrachtung zur Fußball-Europameisterschaft in der Schweiz und in Österreich führt zwangsläufig zur Beschäftigung mit dem damit untrennbar verbundenen Kult des Nationalen. Die Begeisterung für die eigene, als super empfundene Nation enthält ein gewisses Maß an Regression und Manipulierbarkeit. Inwieweit das Nationale einen neuen Stellenwert in der globalisierten Welt erhält, wäre noch zu untersuchen. Doch zuvor gehen wir in die Vergangenheit und betrachten die Anfänge der industriellen Gesellschaft.

Besprochenes Buch und besprochene Zeitschriften:

Musikalisch untermalt wurde die Sendung durch Hank The Knife & the Jets.

 


 

Inhaltsverzeichnis

 


 

Einleitung

Jingle Alltag und Geschichte

Die Fußball Europameisterschaft ist vorbei, doch die nächsten globalen Sportereignisse stehen vor der Tür. Zur Zeit radeln einige mehr oder weniger pharmazeutisch aufgepäppelte bezahlte Touristen durch Frankreich [1] und in wenigen Wochen werden in Peking die Internationalen Medikamentenspiele ausgetragen [2]. Nur, damit wir uns richtig verstehen: ich finde nicht das Doping den Skandal, sondern den Leistungssport selbst. Wer auf Leistung setzt, wer fordert, die Athletinnen und Athleten müssen alles aus sich herausholen, nimmt nicht nur aufputschende Mittelchen billigend in Kauf, sondern fördert auch Verletzungen und das taktische Foul. Wenn Leistungssport gesund sein soll und uns allen gepredigt wird, wie gesundheitsfördernd uns sportliche Betätigung tut, dann besagt dies nur eines: wir leben in einer kranken Welt [3]. Denn der Sport soll unsere Leistung fördern, damit wir fit sind für den Profit, den andere daraus ziehen.

Ist schon der Sportgedanke ohne ideologische Verrenkungen nicht denkbar, so wird er zusätzlich durch seine nationale Bestimmung geadelt. Der Wettstreit unter den Nationen hat keinen anderen Sinn als den, künstlich definierte Kollektive gegeneinander aufzubringen. In der folgenden Stunde werde ich daher meine Gedanken zur Fußball-Europameisterschaft entwickeln und hierbei ein Buch und zwei Zeitschriften vorstellen. Am Mikrofon begrüßt euch für die Redaktion Alltag und Geschichte bei Radio Darmstadt Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

 

Einmal gewinnen wollen

Die Fußball Europameisterschaft ist jetzt seit zwei Wochen vorbei und das krampfhaft neu inszenierte Sommermärchen ist dem Fußballkater und einer Regenfront gewichen. Ganz Fußball-Deutschland durfte sich drei Wochen lang austoben und das wirft wieder einmal die Frage auf, weshalb Fußball und Nationalismus so gut zusammen passen. Vielleicht ist die Frage leichter zu beantworten als es scheint. Der moderne Nationalismus ist ein Geschöpf des 19. Jahrhunderts und er vollzog sich parallel zum Aufstieg der Arbeiterbewegung. Spätestens zur Zeit Bismarcks hatte nicht nur die deutsche herrschende Klasse erkannt, daß sich der überall aufkeimende Nationalismus mehrfach nutzen ließ.

Zum einen vereint die Idee des nationalen Staates mit all seinem mythisch aufgeladenen Brimborium die untereinander verfeindeten sozialen Klassen gegen einen äußeren Feind. Alle stehen zusammen und einige wenige profitieren von den Früchten des Krieges. Zum anderen aber wird den sozial aufgerüttelten Unterklassen ein neues Betätigungsfeld geboten, das auf die Nutzbarmachung von Männlichkeitsidealen und Ehrvorstellungen zielt. Ohnehin lenkt der Nationalismus den Geist ab von der eintönigen Maloche und bietet statt dessen eine in Rituale gestampfte Projektionsfläche für Wünsche und Hoffnungen. Der durch nichts begründete Stolz auf das eigene Land und die imaginierte Feindschaft gegenüber anderen Nationen verdrängt die Alltagssorgen.

Und in der Tat kommt dem modernen Sportgedanken eine ähnliche Funktion zu. Schon Pierre de Coubertin, der Erfinder der modernen Olympischen Spiele, wußte den reaktionären Geist des sich an Nationen orientierenden Sports zu nutzen. Das Motto lautet: "citius, altius, fortius" und es verweist auf die kapitalistische Tugend, sich aufzuopfern, um immer "schneller, höher und stärker" zu werden. Der Leistungssport ist das Spiegelbild einer Gesellschaft, in der sich die Menschen mehr oder minder freiwillig dem Geschwindigkeitswahn unterwerfen. Das Opfer und die Leiden des Hochleistungssports sollen uns dazu animieren, für den Profit der herrschenden Klasse jede Faser unseres Körpers einzusetzen. So gesehen passen Nationalismus und Sport sehr gut zusammen.

Der Fußballsport ist hierbei eine sehr eigentümliche Tätigkeit. Er ist gleichzeitig Mannschafts- wie Individualsport. Ein Mann oder eine Frau, und ein Ball, mehr braucht es nicht. Der rauhe und oftmals gewalttätige Sport der englischen Unterklassen des 16., 17. und 18. Jahrhunderts wurde in den englischen Eliteschulen des 19. Jahrhunderts gezähmt und in allseits anerkannte Regeln gegossen. Herausgekommen ist ein Sportbetrieb, der ironischerweise von der englischen Arbeiterklasse vereinnahmt und um die ganze Welt getragen wurde.

Das hat so keine und niemand geplant und doch erfüllt dieser Sport seinen Zweck. Die Massen begeistern sich für ein zum Teil übles Gegurke und vergessen dabei, wer sie tagtäglich drangsaliert. Es ist schon bemerkenswert, wie schnell sich eine Hartz IV-Gesellschaft in gleichartige nationalistische Kostüme zwängt, Trikots genannt, um gemeinsam mit Inbrunst eigens einstudierte Rituale – seien es Fangesänge, nationalistische Parolen oder andere Choreografien – zu vollziehen. Ein Ritual ist jedoch nichts anderes als die eigene Unterwerfung unter fremdbestimmte gesellschaftliche Zwänge.

Wilhelminentunnel am MittwochabendAls im Halbfinale der Fußball Europameisterschaft zwischen den fußballerischen Kollektiven aus der Türkei und aus Deutschland das schlechtere Team gewann, strömten die Massen in Darmstadt in den Wilhelminentunnel und vollzogen ihre Rituale. Sie grölten "So sind Sieger" und zeigten damit nur, wie sehr sie sich mit den fußballerisch limitierten Underdogs um Ballack und Lahm identifizierten. Wenn man und frau im richtigen Leben tagtäglich einer größtenteils sinnentleerten Tätigkeit nachgehen muß und dabei noch befürchten muß, trotz guter Arbeit entlassen zu werden, dann bleibt einer oder einem nur die Flucht in die Droge Alkohol, der Besuch spiritueller Stätten, das Abhängen vor der Glotze oder die Selbstimagination einer Partygesellschaft.

Man und frau will einmal im Leben zu den Gewinnern gehören: "So sind Sieger." Diese gewinnen eben doch, obwohl sie keine Chance haben. So wie man und frau selbst. Und dann ist der Schritt nicht mehr weit, sich mit der Institution der herrschenden Klasse, also dem Nationalstaat, zu identifizieren und zu grölen: "Deutschland, Super Deutschland". Was an einem Land "super" sein soll, das Millionen Menschen mit Niedriglohnjobs und dem Abbau sozialstaatlicher Errungenschaften in Armut hält und hierbei Kinder mit zynisch genau kalkulierten Hartz IV-Regelsätzen in den Hunger zwingt, begreift wohl nur, wer das Gehirn ausschaltet und in einer autovermieften und feinstaubigen Tunnelröhre feiern geht.

Nun benötigt eine Feier der nationalen Besinnungslosigkeit den passenden Anlaß. Anstatt sich über ein gutes Fußballspiel zu freuen und mit anderen Menschen einen warmen Sommerabend gemeinsam zu verbringen, wird die Party nach dem Tor von Fernando Torres abgesagt. Da benötigen die "Super Deutschen" nicht einmal das Kommando eines Vorsängers. Minuten nach dem Abpfiff füllen sich Busse und Straßenbahnen und die uniformierten Kostümträger und bunt angemalten Deutschland-über-alles-Cheerleader schleichen bedröppelt davon.

Wilhelminentunnel am SonntagabendWeshalb eigentlich? Ist die Identifikation mit der Niederlage so groß, daß man und frau die Show für die Wirklichkeit halten muß? Offensichtlich. Der Tunnel blieb leer. Nur einige wenige Menschen, die das Ritual der Selbstinszenierung eines Hypes nicht verstanden hatten, verirrten sich am Spätabend des 29. Juni in die Niederungen unterhalb der Wilhelminenstraße. Manche fragten sich, wo denn die Anderen geblieben waren. Ja, das ist Fußball. So sind eben die Sieger. Sie wissen, daß das Leben am nächsten Tag seinen ganz normalen, knallhart kapitalistischen Gang gehen wird. Da gibt es bekanntlich auch wenig zu feiern.

Die große Show war eben nur eine Show und die Kraft der Selbstimagination war verraucht. Sechzehn Mannschaften gaben nur die Staffage eines Events ab, bei dem es weniger um gute Spiele, schöne Tore oder brilliante Spielzüge ging, sondern um Partystimmung, kollektiven Rausch und nationale Euphorie. Und natürlich um viel, viel Geld. Allein die UEFA hat einen Gewinn von rund 700 Millionen Euro aus den dreieinhalb Wochen Fußball-Faszination gezogen. Wie schon bei der Fußball Weltmeisterschaft 2006 durften auch in Österreich und der Schweiz die öffentlichen Kassen die Voraussetzungen für die Profitmacherei bereitstellen: neue Stadien, neue Verkehrswege, neue Infrastruktur, neue Kommunikationskanäle.

Kommen wir somit zu den fußballerischen Geschehnissen. Jede Show benötigt ihren Anlaß und so muß auch der Fußball regelmäßig seine Tauglichkeit zur medialen Vermarktung erweisen. Sechzehn Mannschaften in einem Endturnier scheinen manchen zuwenig zu sein. Längst gibt es Pläne, die Europameisterschaft auf 24 Mannschaften aufzublähen. Mehr Spiele, mehr Sponsoren- und TV-Gelder, so lautet die einfache Rechnung.

Doch das Endturnier um den Titel kann seinen Zweck nur dann erfüllen, wenn die Langeweile nicht zu groß wird. Solange die Massen in den Stadien und den Fanmeilen großzügig genug sind, auch den einschläferndsten Grottenkick mit La Ola-Wellen oder anderen Selbstinszenierungen zu veredeln, ist das kein Problem. Doch auch diese Massen, die sich in kollektiver Autosuggestion vieles gefallen lassen, sind nicht bereit, jeden Mumpitz mitzumachen. Wir werden in der Zukunft sehen, wie weit sich das Profitrad noch drehen läßt.

Immerhin konnte diese Fußball Europameisterschaft neben dem Kampf um den Ball auch einige spielerische Höhepunkte vorweisen. Diese werden in aller epischen Breite ausgeschlachtet und dienen dazu, dem Publikum neue Projektionsflächen zu bieten. Da wird die Wiederauferstehung des holländischen Offensivfußballs gefeiert [4], als zuerst das italienische und dann das französische Team abgewatscht wird. Kaum ist die Ikone aufgebaut, wird sie gestürzt. Quirlige junge Russen nehmen das gerade noch erfolgreiche Team in Orange nach allen Regeln der Fußballkunst auseinander. Und dieselben Russen müssen nur ein Spiel später feststellen, daß ihr Wirbelwind durch ein spanisches Fußballballett zu einem lauen Lüftchen abgeschwächt wird.

Wie kann das sein? Und weshalb spielen die deutschen Nationalkicker mit dem Fußball Achterbahn?

 

Fußball mit Konzept und System

Besprechung von : Monica Lierhaus (Hg.) – Euro 2008, Verlag Das Neue Berlin 2008, 192 Seiten, € 19,90

Schon wenige Tage nach der Fußball Europameisterschaft hat der Verlag Das Neue Berlin das Buch, nein, er schreibt sogar: das Album zum Event herausgebracht. Alles, was das Fußballerinnenherz begehrt, soll dort zu finden sein. Und in der Tat wird dem Eventcharakter gefrönt. Mit der Herausgeberin Monica Lierhaus gehen wir noch einmal auf Entdeckungsreise und können uns an den rund 400 Fotos berauschen. Etwa wenn Philipp Lahm sein Tor und damit Fußball-Deutschland ins Finale schießt. Etwa wenn Peter Čech fassungslos auf dem Boden kniet und sich fragt, weshalb er einen einfachen Ball nicht festhalten konnte. Etwa wenn Otto Rehhagel ratlos am Spielfeldrand steht und seinen Jungs dabei zusieht, den Titel zu verspielen. Oder wenn Italiens Torwart Buffon artistisch mit Hand und Fuß einen Elfmeter entschärft. Und vieles, vieles mehr.

Wer auf die Sinnlichkeit der Bilder und den Plausch zum Spiel steht, findet hier sein Erinnerungsalbum. Den einen oder anderen Flüchtigkeitsfehler mag man und frau hierbei verzeihen, zumal er leicht zu überlesen ist und kaum sinnentstellend wirkt. Fehler sind menschlich und sie erinnern an die großen und kleinen Patzer, welche die schönsten Szenen doch erst hervor gebracht haben.

Beispiele derartiger Flüchtigkeitsfehler finden sich an verschiedenen Stellen dieses Buchs. So soll Torwart Rüştü das entscheidende Tor im Spiel gegen Kroatien durch einen Torabstoß eingeleitet haben (Seite 58), es war jedoch ein Freistoß mitten aus der eigenen Spielhälfte heraus. Obwohl die Schreibweise der Spielernamen insgesamt erfreulich genau mit allen Sonderzeichen vollzogen wird, fehlt dem tschechischen Spieler Ujfaluši auf Seite 91 sein Hachek. Nur bei den türkischen Eigennamen wird konsequent auch dann ein "i" geschrieben, wo nach den Gesetzen der türkischen Vokalharmonie ein "ı" zu erwarten wäre (außer auf Seite 29 – da ist es richtig!). Allerdings schreibt auf seiner privaten Webseite auch Hamit Altıntop seinen Namen mit punktiertem i. In der Faktenabteilung wird als Torschütze eines der frühesten Tore in einem Spiel für die Europameisterschaft 1996 ein gewisser Christo Stoikow aufgeführt (Seite 191), der natürlich Stoitschkow heißt. Wenn hingegen auf Seite 84 von einem "Stammkepper" die Rede ist, wissen wir wohl alle, was gemeint ist. Portugals Starspieler Christiano Ronaldo soll Decos Tor in der 63. Minute vorbereitet haben (Seite 90), aber das hat er nun wirklich selbst geschossen. Auch mit einzelnen Spielergebnissen gibt es Probleme, die ich bislang nur aus dem Darmstädter Echo gekannt habe. So heißt es auf Seite 100 "Österreich – Kroatien 1:0", obwohl das Spiel genau andersherum endete, und das Siegtor Spaniens im Spiel gegen Griechenland durch Güiza wird erstaunlicherweise der griechischen Mannschaft gutgeschrieben (Seite 121).

Hätten die türkischen und die kroatischen Kicker ihr Spiel als Endspiel des Turniers bestritten, es wäre allein aufgrund der allerletzten Minuten als Jahrhundertspiel in die Fußball-Annalen eingegangen [5]. Erst ist der türkische Torwart Rüştü von allen guten Geistern verlassen und ermöglicht ein Late Minute Tor durch Ivan Klasnić. Kurz darauf zirkelt er mit dem Mut der Verzweiflung einen Freistoß in den kroatischen Strafraum und findet dort seinen kongenialen Partner Semih, dem der Ball vor die Füße fällt und der dann auch noch die schmale Lücke zum Glück findet. Alles im Bild festgehalten.

Buchcover Euro 2008Auch das eine oder andere Analytische finden wir vor, etwa wenn uns das spanische, das holländische und das schwedische System, Fußball zu spielen, erklärt wird. Aber all dies beantwortet nicht die Frage, warum die glorreichen Holländer der Vorrunde von einer jungen russischen Truppe vorgeführt werden können, weshalb dieselben Russen vor Spaniens Fußball-Power einknicken, und vor allem nicht, weshalb Deutschlands Kicker das Finale unverdientermaßen erreicht haben. Aber im Fußball zählen Verdienste ohnehin nichts, und die sogenannten "deutschen Tugenden", also die Sekundärtugenden der Spießer und Streber, sind weltweit gefürchtet.

Doch der Reihe nach. Zunächst einmal: auch Spaniens Superkicker hatten ihre Schwierigkeiten. Die schwedische Mannschaft machte ihnen das Leben und das Kontern schwer. Der moderne Konzept- oder Systemfußball, so wie er in Österreich und der Schweiz zelebriert wurde, ist im Grunde ein Konterfußball. Sobald die gegnerische Abwehr kompakt steht, ist kaum ein Durchkommen und damit auch kein Kontern möglich. Das erklärt die Langweile vieler Spiele. Es verliert die Mannschaft, welche als erste einen Fehler begeht. Fehler lassen sich jedoch provozieren. Dabei ist es gut, die Schwächen seines Gegners zu kennen, aber auch die eigenen. Letzteres wird mitunter vergessen, und das geht dann schief.

Wenn wir uns die Qualifikation zu dieser Europameisterschaft vergegenwärtigen, dann haben weder die Holländer, noch die Italiener, und auch nicht die Franzosen berauschend gespielt. Sie haben ihren Stiefel heruntergespielt und sind damit durchgekommen. Diese drei Mannschaften wurden nun zusammen mit den Antifußballern aus Rumänien zusammengelost. Von den Namen her eine Hammergruppe, vom Leistungsstandard her jedoch allenfalls Durchschnitt.

Am besten hatte dies offensichtlich Bondscoach Marco van Basten realisiert. Er wußte um die entscheidende Schwäche seiner Gegner, nämlich in der Abwehr nicht sonderlich stabil zu stehen und vor dem Tor nicht übermäßig erfolgreich zu sein. Ich sage nur: Luca Toni. Was er nun benötigte, war ein schnelles Tor – und sowohl die Italiener als auch die Franzosen taten ihm den Gefallen. Das war der ganze Witz des holländischen Spiels! Einmal in Führung liegend, brauchte man nur noch auf die Kontermöglichkeit zu lauern und sich darauf zu verlassen, daß die pfeilschnellen Spitzen die sich zwangsläufig auftuenden Lücken auch nutzen. Arschawin & Co. fanden den Pferdefuß dieser Spielweise und zerlegten die löchrige holländische Abwehr.

All die Fußball-Herrlichkeit der Holländer gegen die Italiener, der Holländer gegen die Franzosen, der Russen gegen die Schweden, oder der Spanier gegen die Russen, all dies war nur dem Umstand geschuldet, den Raum zum Kontern geschenkt bekommen zu haben. Ohne diesen Raum sahen die Holländer, die Russen und die Spanier ziemlich alt aus. Es ist kein Zufall, daß Spanien gegen Italien ins Elfmeterschießen mußte, nachdem in der regulären Spielzeit kein Tor gefallen war. Es ist die Essenz dieser Spielweise. Und hätte Fernando Torres nicht das Mißverständnis zwischen Philipp Lahm und Jens Lehmann eiskalt und geschickt ausgenutzt, dann hätte es möglicherweise auch im Endspiel die Entscheidung vom Elfmeterpunkt gegeben. Die spanische Mannschaft war zwar um Längen besser, konnte aber aus der deutschen Limitiertheit der Mittel kein entscheidendes Kapital schlagen.

Kommen wir auf das von Monica Lierhaus herausgegebene Euro-Buch zurück. Der Fußball-Reporter Ronald Reng erklärt uns das Geheimnis des Erfolges:

Als Luis Aragonés die »selección« 2004 als Trainer übernahm, hatte er eine klare Idee. Er sah, dass der spanische Fußball im Überfluss über einen Spielertyp verfügte, der sich vom Rest der Welt abhob: kleine, feine Ballspieler. […] Der Zeitgeist schrie, mit so kleinen, körperlich schwachen Spielern, mit so langen Passstaffetten wie Spanien sie spielt, gewinne man heute nichts mehr. Aragonés, so schien es, machte dieser öffentliche Widerstand nur noch sturer.

Nach der WM 2006 verfeinerte er den spanischen Kombinationsstil, und er schaffte die Außenstürmer ab. Der Ball lief nur noch mehr hin und her. Die zweite Halbzeit von Wien [gegen Rußland] war sein Meisterstück. […]

Die Spanier […] hatten etwas erfunden: den Kombinations-Konter. Selbst wenn sie schnell konterten, bauten sie noch ein paar Kombinationen mit Stoppen und Passen ein. Die Lehre des Fußballs sagt, das gehe nicht: langsam zu kontern. Sie konnten es. Sie verbanden das Beste aller Welten. Sie waren auch die beste Defensive dieser Europameisterschaft mit ihrem Offensivspiel: Ballbesitz war ihre Verteidigung. [6]

Bei aller Begeisterung dürfen wir nicht vergessen, daß dieses Spiel nur dann funktioniert, wenn der Gegner es zuläßt. Es stimmt, die spanischen Spieler verfügen über eine Ballfertigkeit, von der Joachim Löw nur träumen kann. Während seine deutschen Jungs nur zwei oder drei direkte Pässe hinbekommen, bevor der Ball zwangsläufig beim Gegner landet, können die Spanier tatsächlich zwanzigmal hin- und herpassen, bis sie die Lücke finden, die sich bei so viel schnellem Ballgeschiebe zwangsläufig öffnet. Und das ist der Grund für das von Ronald Reng festgehaltene Stoppen und Kombinieren. Das Stoppen des Balls ist Ballkontrolle.

Von Joachim Löw wird überliefert, er habe bei Klinsmanns Amtsantritt als Bundestrainer feststellen lassen, wie lange es dauere, bis der Ball von einem zum anderen Spieler wandert. Drei Sekunden waren einfach zu viel. Und das ist richtig. Nur wer agiert, findet die Lücke. Wer jedoch damit beschäftigt ist, den Ball zu kontrollieren und den eigenen frei stehenden Mitspieler zu suchen, hat schon verloren. Also ging Löws Ehrgeiz dahin, diese Zeitspanne radikal zu verkürzen, um vom Reagieren zum Agieren zu gelangen. Zur Zeit sollen es nur noch anderthalb Sekunden sein, bis der Ball weiterrollt. Nur – die schnelle Ballannahme und das schnelle Weiterspielen haben einen Preis: geistige Beweglichkeit und fußballerisches Können.

Die spanischen Spieler hatten beides, und das erklärt zum Teil ihren Erfolg. Bei der deutschen Mannschaft sind hier nur Ansätze vorhanden und diese Ansätze reichen meist nicht einmal für ein ganzes Spiel. Das Spiel gegen Kroatien hat dies klar gezeigt: geistig unbeweglich zu sein heißt, dem Ball bestenfalls hinterherzulaufen, schlimmstenfalls dumm dazustehen. Und genauso ist es gekommen. Das so hoch gelobte Spiel gegen Portugal spiegelte im Grunde genommen den derzeitigen Leistungsstand des deutschen Teams wider. Man war in der Lage, maximal dreißig Minuten lang so viel Druck zu entfalten, um sich einen Vorsprung zu erarbeiten. Die restlichen zwei Drittel des Spiels waren nur noch Ergebnisverwaltung. Man stellte das die eigenen Fähigkeiten überfordernde schnelle, bewegliche Spiel ein und hoffte, damit über die Runden zu kommen.

Geistige Beweglichkeit ist nämlich anstrengend; du mußt permanent das gesamte Spiel überblicken und dich auf deine Mitspieler verlassen können. Wenn jedoch Lukas Podolski seine Abwehraufgaben vernachlässigt oder er gar davon freigestellt wird, dann muß Philipp Lahm eine Doppelschicht fahren. Und das geht auf die Dauer nicht gut. Das erklärt den Aussetzer beim zweiten türkischen Gegentor, das eine Co-Produktion der Unfähigkeit von Metzelder, Lahm, Mertesacker und Lehmann gewesen ist, und auch das Siegtor im Finale.

Köstlich übrigens die Kommentierung dieser Szene aus dem Halbfinale gegen die Türkei im ZDF. Ausgerechnet Ex-Schiedsrichter Urs Meier läßt sich zu der Bemerkung herab, Philipp Lahm hätte die Flanke nach innen durch ein taktisches Foul verhindern müssen. Ein Schiedsrichter, der das Foul predigt! Und dann kommt Fußballlehrer Jürgen Klopp, der gleich darauf erklärt, das Foul wäre gar nicht notwendig gewesen, hätte Metzelder den Raum dicht gemacht.

Das ist alles richtig, vergißt jedoch das Wesentliche: der moderne Systemfußball lebt davon, daß die Spieler, wie es so schön heißt, das "Spiel lesen" können. Dazu bedarf es nicht nur geistiger Beweglichkeit, sondern auch das Vertrauen darauf, daß die anderen mitdenken. Das erfordert wiederum Konzentration über mindestens 90 Minuten – und daß ein Spiel 90 Minuten und noch einige Minuten mehr dauert, hat die türkische Mannschaft der Fußballwelt eindringlich vor Augen geführt.

Fassen wir zusammen: die spanische Nationalmannschaft hat den Titel gewonnen, weil sie die beste war. Sie war die beste, weil sie die notwendige spielerische Ballfertigkeit mit der genauso notwendigen gedanklichen am besten herstellen konnte. Der Kombinations-Konter ist eine mögliche Antwort auf die Defensivstrategien derer, die sich auf keine gedanklichen Experimente einlassen wollen. Der Konter funktioniert dadurch, daß der Ball ruhig läuft und nicht hektisch nach vorne gedroschen wird. Hektiker verlieren den Ball und wundern sich dann, daß sie ausgekontert werden. Das deutsche Überfallkommando hatte eine einzige gute Szene, und die dauerte dreißig Minuten. Das reicht, um im Konzert des Durchschnitts für Euphorie zu sorgen. Aber es reicht nicht zum Titel.

Zum Glück. Denn sonst hätten wiederum Tausende eine Tunnelorgie gefeiert und geglaubt, sie seien "Super Deutschland". Super ist an Deutschland nichts. Und es wird Zeit, sich darauf zu besinnen, daß auch ein Sieg über die Zumutungen des Kapitals ein Grund zum Feiern sein könnte. Vielleicht macht das sogar noch viel mehr Spaß, fernab von verkrampften, neurotischen Ritualen.

In der Juni/Juli-Ausgabe der Gewerkschaftszeitung ver.di Publik berichtet Uwe Reepen über drei Verkäuferinnen, die einen Arbeitsgerichtsprozeß gegen den Textildiscounter KiK gewonnen haben. Die Artikelüberschrift drückt den Sachverhalt treffend aus: So sehen Siegerinnen aus. Für die betroffenen Frauen bedeutete dieser Sieg Lohnnachzahlungen bis zu 10.000 € für die letzten Jahre. Allerdings werden derartige Erfolge nicht in einer muffigen Tunnelröhre abgefeiert.

Die Feiern der einen sind das Leid der anderen. Beides versammelt der frisch nach der Europameisterschaft von Monica Lierhaus herausgebrachte Band Euro 2008 aus dem Verlag Das Neue Berlin. Es umfaßt alles, was wir zur Euro einmal gewußt haben und vielleicht schon wieder vergessen haben, und noch so manch nützliches mehr. Rund 400 Fotografien auf 192 Seiten geben einen sinnlichen Eindruck von einer Party, die dann doch noch im letzten Moment gestoppt wurde. Der Band kostet 19 Euro 90.

 

Kollektive im Umbruch

Besprechung von : Mittelweg 36, Heft 2/2008 und 3/2008, 97 bzw. 100 Seiten, jeweils € 9,50

Der Nationalstaat entstand mit dem Aufstieg des Bürgertums und ist untrennbar verbunden mit dem globalen Siegeszug des Kapitals. Das Kapital fand im Nationalstaat seinen idealen Partner, der ihm mit Kanonenbooten und universellen westlichen Werten half, sich die gesamte Erde untertan zu machen. Nichtsdestotrotz stößt der Nationalstaat dort an seine Grenzen, wo er den weltweit vagabundierenden Kapitalströmen mitunter hilflos ausgesetzt ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg können wir nicht nur die Verallgemeinerung nationalstaatlicher Gebilde in den postkolonialen Gebieten feststellen, sondern auch die Herausbildung supranationaler, ja sogar weltumfassender Organisationsstrukturen. Dennoch behält der Nationalstaat auch im 21. Jahrhundert seine Bedeutung; er verschwindet nicht.

Cover Mittelweg 36Der Soziologe Ulrich Bielefeld betrachtet nun in der Juni-Ausgabe der zweimonatlich erscheinenden Zeitschrift Mittelweg 36 das Verhältnis von Nation und Weltgesellschaft. Er beginnt seinen Aufsatz mit folgenden Worten:

Wenn von Gesellschaft gesprochen werden kann, war im alltäglichen wie akademischen Gebrauch bis vor nicht langer Zeit eine bestimmte nationale Gesellschaft gemeint. Auf der Ebene nationaler Gesellschaften ließen sich Institutionen verorten, Sozialstrukturen beschreiben, Öffentlichkeiten erfassen, dort konnte Recht gesetzt und gesprochen sowie Politik gemacht werden, nicht zuletzt wurden hier Wahlen durchgeführt, wurde Gesellschaft demokratisiert und Herrschaft überhaupt legitimiert. Trotz aller tatsächlichen oder behaupteten Ortlosigkeit moderner Individuen definierte die nationale Gesellschaft ihre Zugehörigkeit. Sie ist und bleibt die Quelle menschlicher Zugehörigkeitsgefühle, nicht nur für die kurze Zeitspanne international ausgetragener Sportveranstaltungen. [7]

Auch wenn wir uns mit unterschiedlich ausgeprägter Inbrunst zu den verschiedensten Anlässen als Deutsche, Engländer, Französinnen, Türken oder Spanierinnen definieren mögen, so geht doch der Trend dahin, beim Begriff der Gesellschaftlichkeit den nationalen Rahmen zu verlassen. In der Weltgesellschaft erfahren wir das globale Zusammenleben in veränderter Form. Wir nehmen die Welt vermittels überall präsenter Medien quasi in Echtzeit auf und haben zumindest intellektuell und ideell den Rahmen der nationalen Staatsgrenzen längst überschritten. Dennoch besitzt die Weltgesellschaft nicht das, was ihr nationales Pendant auszeichnet. Sie hat keine Form außerhalb ihres Geschehens. Sie ist zwar da, aber ihr fehlt die Essenz. Wir können ihre Phänomene beschreiben, sie mit Attributen belegen, aber sie besitzt keine einklagbare Gestalt.

Allerdings war schon die national verfaßte Gesellschaft mehr Fiktion als Wirklichkeit. Insbesondere ihre mythische Überhöhung schweißte zwar ihre Staatsbürger zusammen, aber damit waren oftmals nicht alle in den Grenzen des Nationalstaats lebenden Menschen gemeint. Neben dem rationalen Projekt der Nation als Gefäß für eine weltweit operierende kapitalistische Fraktion herrscht hier der blanke Irrationalismus vor. Menschen werden nach ihrer imaginierten Ethnizität ein- oder ausgeschlossen, bevorzugt oder vernichtet. In den Worten von Ulrich Bielefeld:

Solange Nation und Nationalstaat als höchste mögliche soziale Form ([so] Émile Durkheim), als höchster Wert ([so] Max Weber) oder als Substanz des Sozialen wie des Politischen galten, wurde Gesellschaft ausschließlich als nationale begriffen. Die Nation wurde als soziale und politische Form des Zusammenlebens vorgestellt, ihre Existenz wurde behauptet und realisiert. In der Nation fand sich die Gemeinschaft, lebten die Familien, entwickelten sich Institutionen, in ihr differenzierten sich Recht, Politik, Wirtschaft und andere Subsysteme aus. Die Teile sollten das Ganze nicht nur tragen, sie sollten es sein. Identität war und ist die Formel für den so konzipierten Modus gesellschaftlichen Seins. Eine in Wahrheit geschichtlich eher selten anzutreffende Ausnahmegestalt, die sich in einzelnen Fällen durch die Behauptung angeblicher ethnischer oder anderer Homogenität noch potenziert fand, wurde zur Norm erhoben und zum Grund der Existenz eines dann wirklich fiktiven, namentlich nationalen Kollektivs erklärt. [8]

Wie fiktiv dieser nationale Unsinn ist, haben Miroslav Klose und Lukas Podolski im Vorrundenspiel gegen die polnische Auswahl erleben dürfen. Geradezu albern ist hier die Frage, für welche Nation man und frau denn dann jubeln dürfe. Aber so etwas beschäftigt die Medien, welche ihre Weisheiten zu dieser Frage im Vorfeld und beim Torjubel absondern durften.

Die Weltgesellschaft hingegen ist der globale Raum ohne derartige mythische Überladungen. Die Weltethnie ist noch nicht erfunden worden und die globale Symbolik ist eher künstlich oder kommerziell. Während im nationalen Rahmen aus regionale Differenzen Teil der Gesellschaft sind, ist im globalen Maßstab nicht jede Regung oder Äußerung gleich Ausdruck der Weltgesellschaft.

Es ist also ein Rahmen, den man und frau je nach Einstellung füllen oder fürchten kann. Und so wird der künstlich aufgebauschte Diskurs geführt, ob die Nation der Globalisierung noch standhalten könne. Dabei ist die Globalisierung Ausdruck des den nationalen Rahmen verlassenden Kapitals, das von seiner sozialen Natur her schrankenlos ist. Die Nation ist so betrachtet gleichzeitig Heimathafen und für den kommerziellen Erfolg des Kapitals eindeutig zu klein geraten. Hier greifen die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen multinationalen Institutionen zu, von der UNO über die NATO und die Europäische Union bis hin zum IWF und zur Weltbank.

Der Nationalstaat hingegen bleibt intakt und wird, zumindest in der Fiktion, das Leitmodell jeglicher Gesellschaftlichkeit gerade in den zuvor kolonisiert gehaltenen Teilen der Erde, oder in Osteuropa oder in der ehemaligen Sowjetunion. Das nationale Selbstbestimmungsrecht legitimiert den Aufbau einer eigenen, zumindest ideell selbständigen Gesellschaft, aber es schafft zugleich neue Grenzen auf der Basis eingebildeter Ethnizität.

Eine übersichtliche Welt ist nicht die Voraussetzung der klassischen Moderne gewesen, sondern ihre Zielvorstelllung. [9]

Die beiden großen Vereinfacher waren der Nationalismus und der Kapitalismus. Während der Kapitalismus nach der Theorie von Karl Marx letztlich nur zwei gesellschaftliche Klassen kennt, nämlich die Ausbeuterklasse der Bourgeoisie und die Arbeiterklasse, vereinheitlicht der Nationalismus die Gesellschaft innerhalb der eigenen Grenzen durch Abgrenzung zu anderen. Der nationale Staat ist so gesehen immer nur in der Rivalität denkbar, er kann nicht für sich alleine stehen. Mit der Auflösung derart eingebildeter ethnischer Homogenität gehen dem nationalen Staat daher wichtige Bezüge verloren; seinen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern fehlt es an Identitätsbezügen. Gerade deshalb sind regionalgeschichtliche Forschungen so wichtig geworden: sie geben den Menschen das, was ihnen im Strudel des globalen Wahnsinns verloren gegangen ist. Ob dies eine positive Entwicklung ist, mag dahin gestellt sein.

Der Kapitalismus mit seinen Marktgesetzen ist jedoch genauso wenig in der Lage, Bindungskräfte zu erzeugen. In seiner neoliberalen Variante, also der radikalen Anwendung der Marktkräfte auf alle gesellschaftlichen Zusammenhänge und sozialen Prozesse, schreitet die Zerstörung des Sozialen unter den Menschen notwendigerweise voran. Der Nationalstaat kann diesen Prozeß vielleicht abschwächen, aber nicht aufhalten, weil er selbst Akteur der Globalisierung ist.

Die postsouveräne Nation der Weltgesellschaft hingegen legitimiert sich allein durch Recht und Verfahren. [10]

Diesen Gedanken von Ulrich Bielefeld weiter gedacht, heißt dies, daß diese Nation den Menschen fremd wird. Es fehlt ihm an Nestwärme (einer reaktionär-regressiven Vorstellung [11]) oder (emanzipatorischer gedacht) an sozialer Kohärenz. Die Weltgesellschaft mag einen weiteren Schritt hin zur Auflösung traditioneller Strukturen bedeuten. Vielleicht ist es auch so, wie der Autor meint, daß mit ihr das Auseinanderbrechen des Sozialen und des Politischen stabilisiert werden könne. Allein – es fehlt das solidarisierende Bindeglied im weltweiten Rahmen; und das Internet ist eher Ausdruck eines Kommunikationsbedürfnisses als seine Befriedigung. Doch welchen Schluß sollen wir hieraus ziehen?

Die Wahrheit ist, dass sich die aktuellen Kollektivbildungen unserem Verständnis entziehen. [12]

Wenn ich hinzufügen darf: die neoliberal verfaßte Gesellschaft würfelt alles und alle durcheinander. Sie bedarf allein künstlicher Kollektive, die nach Möglichkeit keine innere Kohärenz besitzen. Nur so ist zu vermeiden, daß die Menschen sich wieder ihrer selbst bewußt werden und gemeinsam, also kollektiv, solidarisch und mit emanzipatorischem Anspruch eine Welt schaffen, die keinen Platz für Kapitalismus und Nationalismus kennt. Dies ist im Grunde die Aufgabe, die sich für die Weltgesellschaft des 21. Jahrhunderts stellt. Wahrscheinlich wird die Geschichte jedoch ganz anders und viel schrecklicher verlaufen.

Um noch einmal auf den Fußball als nationales Identifikationsphänomen zurückzukommen. Die Identifikation mit der eigenen Nationalmannschaft ist zugleich künstlich und identitär. Es ist eine Kurzzeithülle, mit der sich Menschen einkleiden können, denen der soziale Bezugsrahmen in einer ihnen immer fremder werdenden Welt verloren geht. Deshalb feiern sie die Feste, wie sie fallen, nutzen die Gelegenheit zum geistigen wie zum flüssigen Rausch, und gehen wieder auseinander, wenn die Party vorbei ist. Diese im Grunde wenig produktive Haltung läßt sich natürlich für ganz andere Zwecke und Ziele instrumentalisieren, wenn an die Opferbereitschaft im Existenzkampf appelliert wird. Ganz wie beim Fußball.

Das Juniheft der Zeitschrift Mittelweg 36 aus dem Hamburger Institut für Sozialforschung befaßt sich daher wohl nicht ganz zufällig mit dem sozialen Phänomen der Freundschaft. Freundschaften sind ein wichtiger kommunikativer wie sozialer Zusammenhalt, der in Zeiten persönlicher wirtschaftlicher Krisen eine neue Bedeutung erhält. Wer Freundinnen und Freunde hat, kann die Folgen des sozialen Kahlschlags anders abmildern, als diejenigen, deren Atomisierung und kapitalkonformer Autismus soweit fortgeschritten sind, daß sie die soziale Kälte ganz besonders brutal spüren, wenn ihre ökonomische Basis wegbricht.

Mit dem vorangegangenen Heft 2 für April und Mai könnte der hier entwickelte Gedanke fortgeführt werden. Hier geht es um die Arbeitslosigkeitsforschung und den Begriff der sozialen Exklusion. Die Zeitschrift Mittelweg 36 erscheint in den geraden Monaten eines Jahres und ist als Einzelheft zum Preis von 9 Euro 50 zu erwerben.

 

Wo Technikbegeisterung den Odem des Todes verströmt

Besprechung von : Archäologie in Deutschland, Heft 3/2008, Mai-Juni 2008, 82 Seiten, €9,95

Kommen wir zu einem ganz anderen Thema. Ganz ohne Nationalismus und Fußball begegnet uns die Industriearchäologie. Es sind ja nicht nur die Relikte aus der fernen Vergangenheit, die unsere Neugierde reizen, sondern auch die Spuren der verhältnismäßig jungen vollkommenen Umkrempelung natürlicher, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Zusammenhänge. Das dritte Heft dieses Jahres der Zeitschrift Archäologie in Deutschland verweist uns ganz unnationalistisch auf die Spuren eines Umbruchs, der bis ins 18. Jahrhundert zurückreicht.

Vielleicht fehlt es bei dieser Forschungsrichtung ein wenig an Königen, an Goldschmuck und an Kriegsrequisiten, welche die Begeisterung meist männlicher Geschichtsinteressierter daher auch nicht so recht entfacht. Die frühen Industrien sind eher etwas Unansehliches und Schmutziges; auch wenn dieser Schmutz bei Eisenbahnromantikern erst den eigentlichen Reiz ausmacht.

Die Montan- und Metallindustrie verschmutzte Luft und Boden, Textilindustrie bzw. die zugehörigen Färbereien verunreinigten Wasser und so weiter. Erst allmählich begreift man, dass die institutionalisierte Erforschung einstiger Industrieanlagen auch eine große Chance für die Sichtbarmachung von Regionalität und Identität ganzer Landschaften und Menschengruppen bildet. [13]

So Julia Obladen-Kauder im einführenden Artikel zum Schwerpunktthema des Heftes. Zwar lassen sich in der Osteifel zwischen Mayen und Andernach Reste eines römischen Tuffsteinbergwerks begehen, doch erst in der industriellen Revolution schafft der entstehende Kapitalismus sich ein Ebenbild in Form von rauchenden Schloten, Abraumhalden und anderen Denkmälern der hemmungslosen Unterwerfung von Mensch und Natur unter die Prämissen des Strebens nach Profit.

Cover AiDDas hier besprochene Heft 3 der Zeitschrift Archäologie in Deutschland behandelt die Anfänge der Industrialisierung im Ruhrgebiet, eine alte Eisenschmelze in St. Ingbert im Saarland, aber auch eine Werftanlage in Bremen und eine Vitriolölhütte in Bayern. Vitriolöl wird bei der Textilbleiche, der Indigofärberei und der Herstellung von Sprengstoffen benötigt.

Zum Thema gehört nicht zuletzt ein Blick in das unterirdische Rüstungszentrum Mittelbau-Dora aus der späten NS-Zeit. Hier wurden Tausende V1-Marschflugkörper, V2-Raketen und Flugzeugtriebwerke hergestellt. Durch die Arbeitsbedingungen, Strafmaßnahmen und die Todesmärsche bei Kriegsende starben rund 20.000 KZ-Häftlinge. War die industrielle Revolution schon recht bald mit der industriellen Massenfertigung von Tötungswaffen verbunden, so zeigt dieses Außenlager des KZ Buchenwald die konsequente Form der Massentötung in der ungehemmten Vernichtung durch Arbeit. Vielleicht bewahrt uns der Blick in diese Stätte des Massenmordes davor, einer Technikbegeisterung zu frönen, die allzu leicht vergißt, daß die kapitalistische Technik weder ein Selbstzweck ist noch der Erleichterung menschlicher Arbeit dient, sondern ganz zweckrational nur ein Ziel kennt. Wenn dabei Menschenleben zu opfern sind, wird dies bereitwillig getan.

Das war vielleicht nicht immer so. Ein Blick in die Ferne führt das Heft nach Vietnam. Vor rund 3.000 Jahren produzierten im Süden des Landes die Vorfahren der Khmer durch ein ausgeklügeltes Verfahren Salz. Ein Forschungsprojekt begibt sich auf die Suche nach dem technologischen Verfahren und der wirtschaftlichen Verbindungen dieser frühen Gesellschaft. Denn das dort gewonnene Salz scheint ein wichtiges Handelsgut gewesen zu sein.

Die Zeitschrift Archäologie in Deutschland erscheint alle zwei Monate. Das Einzelheft kostet 9 Euro 95. Es ist über den Buchhandel oder direkt über den Konrad Theiss Verlag zu beziehen. Soeben erschienen ist Heft 4 mit dem Schwerpunktthema Schatzkammer Alpen.

 

Schluß

Jingle Alltag und Geschichte

Heute mit einer Nachbetrachtung zur Fußball Europameisterschaft, einer Reflektion über den Nationalismus in der Weltgesellschaft, sowie einigen archäologischen Fragestellungen.

Zur Fußball Europameisterschaft 2008 gibt es inzwischen mindestens acht verschiedene Bilderbücher, zumindest habe ich diese am vergangenen Samstag im Buchhandel angetroffen. Besprochen habe ich den von Monica Lierhaus herausgegebenen Band aus dem Verlag Das Neue Berlin. Der Soziologe Ulrich Bielefeld hat in der Juniausgabe der alle zwei Monate erscheinenden Zeitschrift Mittelweg 36 das Verhältnis von Nation und Weltgesellschaft betrachtet. Ebenfalls im Zweimonats-Rhythmus ist die Zeitschrift Archäologie in Deutschland erhältlich; das von mir besprochene Heft für Mai und Juni behandelt schwerpunktmäßig die Industriearchäologie.

Ich danke der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt für ihre Unterstützung bei der Produktion dieser Sendung. Diese Sendung wird übrigens wiederholt, und zwar in der Nacht von Montag auf Dienstag nach den Deutschlandfunk-Nachrichten gegen 23 Uhr 10. Und dann noch einmal am Dienstag um 8 und wahrscheinlich um 14 Uhr. Es folgt eine Sendung der Kulturredaktion von Radio Darmstadt. Am Mikrofon für die Redaktion Alltag und Geschichte bei Radio Darmstadt war Walter Kuhl von der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

 

ANMERKUNGEN

 

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»» [1]   Dieses Event wird auch Tour de France genannt und geht auf ein historisch nicht faßbares Ereignis zurück, das in seiner mythischen Fassung als Asterix-Band vorliegt (in Frankreich Band 5, in Deutschland Band 6).

»» [2]   Im Gegensatz zur Tour de France gibt es bei den Olympischen Spielen einen historisch belegten Vorläufer. Schon in der griechischen Antike war nicht dabei sein alles, sondern der Sieg – die Wahl der Mittel entsprach dabei durchaus nicht dem modernen Fair Play-Gedanken.

»» [3]   Siehe hierzu exemplarisch: Udo Pollmer / Gunter Frank / Susanne Warmuth – Lexikon der Fitneß-Irrtümer [2003].

»» [4]   So zum Beispiel von Günter Netzer im Zwiegespräch mit seinem krampfhaft blödelnden Kompagnon Gerhard Delling, als er nach dem EM-Spiel gegen das französische Team am 13. Juni 2008 feststellte, dies seien wieder seine geliebten Holländer [YouTube]. Netzer bewies hier nur, wie wenig er vom holländischen Spiel begriffen hatte.

»» [5]   Das sogenannte Jahrhundertspiel zwischen Italien und der BR Deutschland bei der Fußball Weltmeisterschaft 1970 in Mexiko war die ersten 90 Minuten nur mäßig spannend. Erst die Dramatik in der Verlängerung machte hieraus ein außergewöhnliches Ereignis.

»» [6]   Monica Lierhaus (Hg.) : Euro 2008, Seite 45–46.

»» [7]   Ulrich Bielefeld : Nation und Weltgesellschaft, in: Mittelweg 36, Heft 3/2008, Seite 83–95, Zitat auf Seite 83.

»» [8]   Bielefeld Seite 85.

»» [9]   Bielefeld Seite 91.

»» [10]   Bielefeld Seite 93.

»» [11]   Bei Radio Darmstadt wird diese Nestwärme oftmals vermißt und deren Fehlen auch thematisiert. Für das Fehlen dieser Nestwärme werden drei langjährige Aktive verantwortlich gemacht, die man und frau auch deshalb aus dem Trägerverein von Darmstadts Lokalradio mobbt und/oder sie mit Sende- und Hausverboten überzieht.

»» [12]   Bielefeld Seite 95.

»» [13]   Julia Obladen-Kauder : Geächtet oder geachtet: Industrie vor der Haustüre, in: Archäologie in Deutschland, Heft 3/2008, Seite 18–19, Zitat auf Seite 18.

 


 

Diese Seite wurde zuletzt am 5. August 2008 aktualisiert. Links auf andere Websites bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. ©  Walter Kuhl 2001, 2008. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

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