Darmstadtium
Schiefe Schachtel mit vorgeschalteter Stolperfalle.

Geschichte

Kirchen, Theorien und ein Hauch von Orgelmusik

Sendemanuskript

Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte

Radio: Radio Darmstadt

Redaktion und Moderation: Walter Kuhl

Ausstrahlung am:

Montag, 27. September 2010, 17.00 bis 18.00 Uhr

Wiederholt:

Montag, 27. September 2010, 22.00 bis 23.00 Uhr
Dienstag, 28. September 2010, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 28. September 2010, 13.00 bis 14.00 Uhr
Dienstag, 28. September 2010, 14.00 bis 15.00 Uhr [1]

Zusammenfassung:

Mittelalterliche Architektur als Ausdruck von Ideologie und Herrschaft. Marxismus als immer noch aktuelle Interpretations­folie zeit­genössischer Herrschaft. Was aßen die Keltinnen und Kelten vor zweieinhalb­tausend Jahren? Abschließend zwei Beiträge von Radio Corax in Halle über Burgerarbeit als Ausbeutungs­instrument und Radio Dreyeckland über die Ermordung von Andrea Wolf durch das türkische Militär 1998.

Besprochene Bücher und Zeitschrift:

Zusätzlich eingespielte Beiträge:

Zur Neoliberalisierung von Radio Darmstadt und seinen Trägerverein und zur Ausgrenzung mehrerer Mitglieder meiner Redaktion seit 2006 siehe meine ausführliche Dokumentation.


Inhaltsverzeichnis


Einleitung 

Jingle Alltag und Geschichte

Atomkraftwerke sollen länger laufen, der Hartz IV-Regelsatz wird umgestrickt, die Kopfpau­schale im Gesundheits­wesen wird weiter vorange­trieben und die Bundeswehr darf auch ohne ihre Kampfjets weiterhin an der militärischen, polizeilichen und zivilen Unterstützung des wiederge­wählten Warlord­regimes in Afghanistan mitwirken. Die Regierungs­koalition verliert an gefühlter Unterstützung und die Sarrazin-Parolen finden ihren Widerhall. Während soziale Proteste weiterhin eher ausbleiben, demonstriert das Bürgertum in Stuttgart gegen ein weiteres Milliardengrab. Die herrschende Klasse handelt abgehoben in ihrem ureigensten finanziellen Interesse und ist vermutlich nicht einmal besorgt darüber, daß populistische Bauernfänger die Meinungs­hoheit beanspruchen. Solange der deutsche Mob mit schillernden Parolen bedient wird, kommt er nicht auf den dummen Gedanken, die Nutznießer des nach dem rot-grünen und schwarz-roten nun schwarz-gelben Umverteilungs­programms anzugehen.

Daß die Grünen bei Meinungsumfragen mit der SPD gleichziehen, ist nicht unbedingt ein Hoffnungs­schimmer. Grüne Politik unterscheidet sich von der der Mövenpick­partei nur durch den ökologischen Mantel. Soziale Interessen finden dort ihren Platz eher nicht, was ja auch kein Wunder ist. Denn die Klientel dieser Partei besteht aus alternativen Kleinbetrieben, ökologischen Nischen und umweltbe­wußten Freiberuf­lerinnen. Diese Klientel ist scharf auf Unterstützung ihrer kulturellen Projekte, nicht jedoch darauf, daß ihre Beschäftigten anständig entlohnt werden. Tegut und Alnatura sind kein Deut besser als Aldi oder Lidl, nur teurer.

Doch um all dies wird es in meiner heutigen Sendung nicht gehen. Statt dessen stelle ich ein Handbuch über mittelalter­liche Architektur vor, ein Wörterbuch über den Marxismus und seine politische Instrumentali­sierung, sowie eine archäologische Zeitschrift. Am Mikrofon ist Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

 

In höherem Auftrag

Besprechung von : Matthias Untermann – Handbuch der mittelalterlichen Architektur, Konrad Theiss Verlag 2009, 400 Seiten, € 49,80

Bevor die Postmoderne uns mit mehr oder minder geschmacklosen Bauten beglückt hat, war der Zeitgeist etwas langweiliger. Statt schiefer Schachteln [2] neben einer mittelalter­lichen Stadtmauer, wie bei Darmstadtium, wurden Schneisen in die Städte geschlagen, um für einfallslos gestylte PKWs einfallslos betonierte und asphaltierte Fahrbahnen hinzu­klatschen. Die autoge­rechte Stadt konnte in Darmstadt nur teilweise zu Ende geführt werden. Der Einbahnstraßen­ring zeugt von der Phantasie­losigkeit einer städtebau­lichen Elite, und zum Glück konnten sie nicht alle ihre dämlichen Vorhaben umsetzen. So verfügen wir in der Nähe des Bürgerparks über eine vierspurige Einfall­schneise, die als Parkplatz benutzt wird, und die Nordostum­gehung ist eines der letzten Monster dieser Epoche, die von einigen Nimmer­müden immer noch gebaut werden will.

Nun sollten wir nicht denken, daß früher alles besser und schöner war. Jede gesellschaft­liche Epoche hat ihre eigenen Scheußlich­keiten errichtet, genauer: von mehr oder minder freien (Lohn-) Arbeitern errichten lassen. Wenn wir heute Bauwerke der Antike, des Mittelalters oder des Absolutismus mit verzückten Augen betrachten, dann abstrahieren wir von den Entstehungs­bedingungen dieser Bauten. Schon damals wurden Städte planiert und in handhab­bare Portionen unterteilt, wobei weniger die Bedürfnisse der Bevölkerungs­mehrheit im Vordergrund standen, sondern vielmehr das Prestige und eine zum Herrschen nützliche Zweckmäßigkeit.

Wormser Dom.Die Kirchen und Burgen des Mittelalters erfreuen die kunst­sinnigen Bürgerinnen und Bürger heutzutage auch deshalb, weil in ihnen die Sehnsucht nach Teilhabe an der Macht und Herrlich­keit mitschwingt. Eine sozial kritische Betrachtung hingegen reflektiert die Peitsche, die Abgaben und den Hunger mit ein, ohne die weder die Pyramiden noch der Wormser Dom (links im Bild) möglich gewesen wären. Und es ist kein Zufall, wenn ein Darmstadtium eine auf Jahrzehnte angelegte Subventions­maschine für das Hotel- und Gaststätten­gewerbe ist [3], die bedient werden muß, weshalb an anderer Stelle soziale und kulturelle Projekte knapp zu halten sind, weil das Geld ja schon verpraßt worden ist. Das eine bedingt das andere, und es ist eigentlich nur die Schamlosig­keit, mit der dieser Umverteilungs­prozeß durchgezogen wird, die Epochen und Entwicklungen voneinander scheiden.

Das Mittelalter ist zumindest einem dem Volk in den Mund gelegten Wort zufolge ein dunkles Zeitalter gewesen, und zugegebener­maßen auch eines, das meine Aufmerksam­keit weniger erregt hat. Gotische und romanische Kirchen finde ich zum Beispiel einfach langweilig; vielleicht ist es einfach die christliche Kälte einer auf Beherrschung von Körper und Geist angelegte Architektur, die mich abstößt. Nichtsdesto­trotz ist es sinnvoll und notwendig, sich mit dieser Herrschaftsarchi­tektur auseinanderzu­setzen, um zu begreifen, wie soziale Machtverhält­nisse in Stein gemeißelt werden. Und umgekehrt natürlich auch: wie diese in Stein gemeißelte Macht psychologisch genutzt und von den Beherrschten angenommen wird. Hiermit lassen sich, nicht nur mentalitätsge­schichtlich, gewisse Linien bis zur Jetztzeit ziehen. Insofern lag es für mich nahe, mir das „Handbuch der mittelalter­lichen Architektur“ von Matthias Untermann aus dem Theiss Verlag näher anzuschauen.

Der Autor, Professor für Europäische Kunstge­schichte an der Universität Heidelberg, führt uns mit Hilfe von rund fünf­hundert Schlagwörtern in mittelalter­liche Bauten und ihre Technik ein, ohne die soziale Funktion bestimmter Bauelemente, ja der gesamten Baukon­struktion zu vernachlässigen. Eine mittelalterliche Kirche beispiels­weise, erst recht ein Dom oder eine Kathedrale, ist kein herrschafts­freier Raum, sondern soll eine spezifische Ausformung und Darstellung der hierarchischen Gliederung einer mittelalter­lichen Gemeinde widerspiegeln. Entsprechend werden Kleriker und Adlige durch spezifische Bauele­mente von ihren Untertanen getrennt, und genauso selbstverständ­lich Männern und Frauen verschiedene Orte im Raum zugewiesen. Als für das Verständnis nützlich erweisen sich die einführenden Kapitel zum Bau von Kirchen, Burgen oder ganzen Städten.

Mittelalterliche Bauwerke sind nur selten vollständig erhalten; hinzu kommt, daß gerade viele frühe Holzbauten kaum Spuren hinterlassen haben. Während wir einerseits die Monumente der Macht vielerorts noch, wenn auch entstellt, erkennen mögen, so sind Hinweise auf das Leben der einfachen Bevölkerung allenfalls durch den archäo­logischen Befund zu rekonstruieren und auch nur am Rande Thema dieses Handbuchs. Viele heute sichtbare Gebäude wurden mehrfach umgebaut oder vergrößert; alte Bausubstanz in die neue überführt oder anderweitig verwendet.

Nun handelt es sich beim Mittelalter um einen Zeitraum von rund eintausend Jahren; und schon hier lassen sich funktionale Unterschiede in der Nutzung dieser Gebäude aufzeigen. Zudem ist zu berück­sichtigen, daß wir heute ein ganz anderes Verhältnis zu Religiosität besitzen als die damalige Bevölkerung, so daß uns die Funktion der mittelalter­lichen Architektur mitsamt ihrer Skulpturen und Malereien nicht sofort einsichtig sein mag. Das Mittelalter war keine einheitliche Epoche, sondern unterlag einer sozialen, wirtschaftlichen und gesellschaft­lichen Veränderung; als Amalgam aus zerfallender antiker Sklavenhaltergesell­schaft und germanischem Bauern- und Kriegertum führte es zur Ausbildung von Handelsstädten und mündete im Absolutismus als Organisations­form früher kapitalistischer Expansion. Der Autor geht mit der Zeitspanne des Mittelalters zuweilen etwas großzügig um und erwähnt daher auch Umbauten aus dem 16. oder 17. Jahrhundert.

Die Ideologie der mittelalter­lichen Gesellschaft war das Christentum, manifestiert in Kirchen und Kapellen. Auch die weltliche Herrschaft mußte sich an den hiermit verbundenen ideologischen Vorgaben orientieren, wobei nicht zu verkennen ist, daß manche dieser Herrscher durchaus in der Lage waren, über den Tellerand dieser Ideologie hinauszu­schauen, um sie für ihre eigenen Machtinter­essen zu benutzen. Insofern unter­scheiden sich religiöse und profane Bauten, die jedoch beide neben ihrer Funktion auch ein Prestige zum Ausdruck bringen sollten. Insbesondere mit dem Übergang zur Neuzeit und der Entwicklung einer auf dem Schießpulver beruhenden Waffentechno­logie wurden Mauern und Türme von Städten und Burgen als Bollwerke nutzlos; wurden sie weiterhin errichtet, so überlagerten Geltungs­bedürfnis und Drohgebärde die ursprüngliche Funktion. Im Detail hingegen sind für viele mittelalter­liche Bauten die Raumbele­gung und Raum­nutzung alles andere als gesichert.

Wichtig ist es, nicht nur nach ‚praktischen‘ Funktionen zu suchen. Burgen wurden auch dann demonstrativ wehrhaft gestaltet, wenn ihre Lage gar keine reale Bedrohung erwarten ließ, weil sie fernab großer Verkehrswege standen oder durch natürliche Steilhänge ohnehin gut geschützt waren. Sogar spätmittelalter­liche, mit Kanonen bestückte Bastionen zielten häufig nicht auf mögliche Feind­stellungen, sondern sollten lediglich Macht, Reichtum und Wehrbereit­schaft des Burgherrn sichtbar machen. Auch einzelne Bauelemente konnten vornehmlich repräsentative Funktion haben: Strebebögen an Kirchen waren statisch oft gar nicht nötig, Wehrgänge und Zinnen an städtischen Bauten lediglich Standesab­zeichen von Adligen oder von Bürgern, die diese Standeser­höhung anstrebten. Die scheinbare ‚Nutzlosigkeit‘ von Architektur ist bereits im Mittelalter ein wichtiger Hinweis darauf, dass sie symbolische Funktion hatte und der Bauherr Ziele verfolgte, für die er Kosten und Bauaufwand nicht scheute. [4]

Wobei hinzuzufügen wäre, daß sich manche Bastionen schon damals nicht gegen den äußeren, sondern den inneren Feind richteten. Folgerichtig errichteten Landesherren Burgen und Türme in oder in der Nähe ihnen untertäniger Städte, um Aufstände lokaler Adliger oder des sich seines Reichtums bewußt werdenden Bürgertums niederschlagen zu können.

Die Vorstellung davon, was eine mittelalter­liche Stadt gewesen ist, orientiert sich heute weitgehend an ihren noch vorzufindenden oder im 19. und 20. Jahrhundert dokumentierten Resten. Dabei handelt es sich jedoch zumeist um Stadtanlagen des 12. und 13. Jahrhunderts, die häufig frühere Anlagen überformt haben. Was eine Stadt zu sein hatte, wurde im frühen 12. Jahrhundert jedoch neu definiert. Frühere, eher großzügige Anlagen wichen nun einer planvoll gestalteten und umwehrten Bebauung. Hierbei wurden durchaus ältere Siedlungsstruk­turen aufwendig planiert und neu abgesteckt. Gewachsene oder neu gegründete Städte lassen sich nicht notwendiger­weise anhand ihres Aussehens unterscheiden. So kam es durchaus vor, daß Neugründungen auf bestehende Strukturen Rücksicht nahmen, während gewachsene Städte teilweise oder gar ganz überplant werden konnten. Hierbei lassen sich durchaus Herrschafts­konzepte ausmachen, etwa wenn ein rechtwinklig geplantes Straßenraster Bewohnerinnen und Besuchern ein herrschaftliches Ordnungs­konzept aufzwangen.

Buchcover Matthias UntermannFrühe Stadtmauern hatten eher einen symbolischen Charakter, auch wenn Einfälle von Normannen und Ungarn im 9. und 10. Jahrhundert Befestigungen erzwangen. Erst der Zerfall des Reiches in viele große und kleine territoriale Einheiten im 12. und 13. Jahrhundert führte zu neuen Bedrohungs­szenarien und der Notwendig­keit, die Städte dauerhaft zu befestigen. Innerstädtische Straßen erreichten nicht das Bauniveau der römischen Vorgänger. Statt Steinplatten gab es an den Hauptverkehrsadern allenfalls Kies oder Holzbohlen. Geplant errichtete oder durch Neustädte erweiterte Stadtanlagen erhielten große, meist rechteckige Marktplätze in ihrem Zentrum. In älteren Städten wie Köln mußten diese Marktplätze an der Peripherie errichtet werden; in Nürnberg und Würzburg vertrieb man die jüdische Bevölkerung, planierte das ehemals jüdische Viertel und betrieb danach dort ehrbaren christlichen Handel.

Städtische Steinbauten sind ein eher spätes Phänomen, wobei nicht die Verfügbar­keit von Holz oder Stein ausschlaggebend war. Fachwerk­bauten waren vorherrschend auch dort, wo es häufiger brannte. Erst mit der Renaissance im 16. Jahrhundert etablierte sich bei Adel und Bürgertum der Bau von steinernen Häusern. Diese verschiedenen Auformungen, ihre Baugeschichte, Funktionalität und durchaus auch herrschaftliche Ausformung werden vom Autor ausführlich und nachvoll­ziehbar dargestellt. Neben den Bauten als solchen bestimmen Bauformen und Bautechnik die zweite Hälfte dieses erkenntnis­fördernden Handbuchs.

Die Stichwörter werden durch die Nennung von architektonischen Beispielen ergänzt, so daß bestimmte Sachverhalte auch vor Ort eingesehen und nachvoll­zogen werden können. Ein ausführliches Schlagwortver­zeichnis und Ortsregister erleichtert das Auffinden des Zusammen­hangs von Baugeschichte mit den zugehörigen Fundorten. Darmstadt kommt hierin nicht vor, aber das sollte uns auch nicht erstaunen. Darmstadt war im Mittelalter ein unwichtiges Nest. Dieburg erscheint mit seiner Badstube von 1581. Man und frau kann das Handbuch von vorne bis hinten durchlesen, um den in sich geschlossenen Aufbau des Handbuchs zu würdigen und allerlei zu erfahren, was beim Durchblättern leicht überlesen wird. Es kann jedoch genauso, soll es vielleicht auch eher, tatsächlich als Handbuch genutzt werden; also: das spezifische Interesse an einem Ort oder einem Sachverhalt steht im Vordergrund. Durch die zahlreichen Verweise auf weiterführende Stichwörter erschließt sich auch so ein vielschichtiges Bild.

Daß die Bauten jüdischer Gemein­schaften bedauerlicher­weise nur vier Seiten einnehmen, kann dem Autor schwerlich angelastet werden. Hier hat die bis heute andauernde deutsche Intoleranz und ihr Verfolgungs­eifer ganze Arbeit geleistet. – Positiv aufgefallen ist mir die saubere Lektorierung dieses Bandes; störende Rechtschreib- oder Syntaxfehler sind hier nicht vorzufinden. Es ist dem Handbuch anzumerken, daß hier ein Fachmann in der Lage war, sein profundes Wissen systematisch aufzubereiten. Mir als architekturge­schichtlichem Laien wäre mitunter durch einige den Gesamtgrund­riß erklärende Skizzen geholfen gewesen; der Autor setzt offenkundig die Kenntnis und Lokalisierung gewisser Grundbegriffe (etwa des Aufbaus einer mittelalter­lichen Kirche) schon voraus. Dies soll auch mein einziger Kritikpunkt an diesem ansonsten gerade im Detail bereichernden Werk bleiben.

Das „Handbuch der mittelalterlichen Architektur“ von Matthias Untermann ist im vergangenen Jahr im Theiss Verlag zum Preis von 49 Euro 80 erschienen.

 

Die Köchin des Staates

Besprechung von : Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 7/II, Argument Verlag 2010, 632 Seiten, € 108,00

Noch etwas tiefer in die Tasche greifen müssen wir, sofern wir uns für das Historisch-kritische Wörterbuch des Marxismus interessieren. Hierbei wird deutlich, daß gesellschafts­kritische Literatur nicht nur teuer sein kann, sondern auch ein bestimmtes Lesepublikum, sofern es nicht auf Bibliotheken zugreifen kann, eher ausschließt. 108 Euro für einen über 600 Seiten starken Teilband hinzublättern, um sich ausführlich über zahlreiche Stichwörter von der „Knechtschaft“ bis zur „Krise des Marxismus“ zu informieren, setzt nicht nur ein ausgesprochenes Interesse, sondern auch Geld und Muße voraus. Dies dem herausge­benden Argument Verlag anzulasten, wäre jedoch verfehlt, zumal er auf seiner Webseite einzelne Artikel gegen geringes Entgelt zum Download bereitstellt (bzw. bereit­stellen will). Der neoliberale Zeitgeist bemißt die von Sponsoren und aus parastaatlichen Gedtöpfen finanzierten Werkeditionen und Katalog­projekte nach ihrer Nützlich­keit, und sei sie ideologisch bedingt.

Sofern Bücher, Bildbände und Kataloge ein bestimmtes erwünschtes Weltbild befördern, das die Gedanken der Besucherin einer Ausstellung oder des Leser einer Fachpublikation in die richtige Richtung lenken, so werden Finanzmittel freigesetzt, die gesellschafts­kritischen Publikationen in der Regel verschlossen bleiben. Ein derart ambitioniertes Projekt wie die Herausgabe eines Wörterbuchs des Marxismus, das nicht nur historische und kritische Ideen und Politiken beschreibt, sondern diese mit derselben Methode auch darstellt, muß beim Establishment Kopfschütteln hervorrufen. Der Kommunismus ist tot, lang lebe der Kapitalismus! Selbst wenn sich dieser als krisenhaft, verschwenderisch und zerstörerisch erweist.

An dieser von Wolfgang Fritz Haug, Frigga Haug und Peter Jehle herausgegebenen Edition haben mitgewirkt oder wirken mehr als 800 Wissenschaft­lerinnen und Wissenschaftler mit, die nicht nur aus Deutschland stammen, sondern aus allen Regionen dieser Erde. Dies läßt einerseits eine Vielschichtig­keit erwarten, die einer Eindimen­sionalität entgegenwirkt, andererseits auch eine Beliebigkeit befürchten, deren ideologischer oder methodo­logischer Standpunkt unklar bleibt. Jedenfalls handelt es sich um ein Projekt, daß jenseits der verknöcherten marxistisch-leninistischen Ideologie anzusiedeln ist; und das ist gewiß kein Schaden. Die Probleme tauchen an anderer Stelle auf. So sind nicht alle Stichwörter abgedeckt, bei denen eine erfrischende Neubewertung durchaus von Interesse wäre, etwa beim Stichwort „Kommunistische Partei“.

So muß offenbleiben, ob es sich bei diesem Politikmodell nicht um eine weiße, männliche Dominanzform handelt, die mit sozialistischer Demokratie unvereinbar ist. Ein historisch-kritischer Rückblick, der auch das Milieu der Entstehung und des Erfolgs derartiger Parteien reflektiert und nicht nur die teilweise Monstrosität der damit verfolgten Parteilinie, wäre durchaus eine spannende Angelegenheit. Nun gut – vielleicht findet sich ja für einen Ergänzungs­band eine kompetente Autorin.

Bei dem von mir hier besprochenen zweiten Teil des siebten Bandes steht der Buchstabe „K“ im Vordergrund. Neben der Knechtschaft, die in unterschiedlichen Formen in allen bisherigen Klassengesellschaften vorzufinden war und die im Kapitalismus Lohnarbeit heißt, gibt es einen längeren, gender­inspirierten Aufsatz von Frigga Haug über die Köchin. Nun mögen wir uns fragen, was eine Köchin in einem marxistischen Lexikon zu suchen hat, aber vielleicht hat der eine oder die andere schon einmal von dem nicht schriftlich fixierten Ausspruch Lenins gehört, daß eine kommunistische Gesellschaft darauf hinzuar­beiten hat, daß auch beine Köchin den Staat regieren könne. Selbst wenn dieser Ausspruch die damalige russische Wirklichkeit widerspiegelt, so zeigt Frigga Haug im Rückgriff auf die bürgerliche Emanzipations­geschichte, daß es sehr wohl einen Unterschied in der Stellung und im sozialen Prestige eines Kochs und einer Köchin gegeben hat.

Nun war (und ist) feministisches Gedankengut der sozialdemo­kratischen, sozialistischen und kommunistischen Bewegung weitgehend fremd; und hinter den öffentlich vorgetragenen Beschwörungen der anzustrebenden Gleichheit der Geschlechter ist auch hier nach der sozialen Wirklichkeit innerhalb eines von dieser Bewegung bestimmten Milieus zu fragen. So endet Frigga Haugs Abschweifung zur Sozial- und Kulturgeschichte der Köchin in dem nicht ganz konsistenten Schluß:

So vielschichtig also das Köchin-Diktum herangezogen wird, bleibt im Großen und Ganzen, dass es, wiewohl zunächst zur Unterstützung zur Befreiung der Frauen eingesetzt, weitgehend ohne Kenntnis der Koch- und Hausarbeit auskommt, so dass hier eine Quelle fürs Vergessen der Hausarbeit im Marxismus ausgemacht werden kann. Es ist dabei nicht davon auszugehen, dass die Frauen in der Küche und im Haus Kochen als Kunst betrieben. Gleichwohl begründet das Übergehen jeder praktischen Qualifikation auf diesem Gebiet, in dem es immerhin um wesentliche Elemente der Lebensge­staltung und ums Aufziehen der nächsten Generation geht, ihre Abstempelung als »kleinlich«, »abstumpfend« usw., eine lange Tradition in der Geschichte der Arbeiter­bewegung, bis die Zweite Frauen­bewegung in den 1970er Jahren mit der Hausarbeits­debatte energisch dagegen aufsteht. […] Angesichts des Leben und Ressourcen zerstörenden Kapitalismus zeigt sich in der Rede von der Köchin als Staatslenkerin am Ende doch noch das Tor zur Utopie einer befreiten Welt. [5]

Ich vermute einmal, daß Lenin seine Köchin in einer Rätedemo­kratie an der Staatsfüh­rung beteiligen wollte. Sein diskursiver Plan ging davon aus, vor allem die elendest Behandelten dazu zu befähigen, den neuen Staat als den ihren zu begreifen, der sie in den Srand versetzt, mitreden und mitent­scheiden zu können. Gehen wir dann davon aus, daß Lenin das Absterben des Staates als Vorbedingung einer kommunistischen Gesellschaft betrachtet hat, dann ließe sich der Gedanke dialektisch so fortspinnen: In dem Moment, in dem eine Köchin (heute würden wir vielleicht eine Migrantin auswählen), also, in dem eine Köchin den Staat regieren kann, ist er so weit umgestaltet, daß er abstirbt und alle Mitglieder einer Gesellschaft gemeinsam ohne unter­drückende Staatsform das Gemeinwesen gestalten können. Aber bis dahin werden wohl noch einige Jahrhunderte vergehen, sofern der Kapitalismus nicht in diesem oder im nächsten Jahrhundert eine verbrannte Erde hinterläßt.

Nach dem Zusammenbruch des Realen Sozialismus und dem für weite Teile der Bevölkerung katastrophalen Siegeszug des Kapitals in Osteuropa und den ehemaligen Regionen der Sowjetunion ist es eigentlich erstaunlich, daß der Marxismus nicht auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet ist. Ganz im Gegenteil – es gibt weiterhin kleine Gruppen, die sich am „Kapital“ von Karl Marx die Zähne auszubeißen versuchen und die im marxistischen Gedankengut weiterhin eine Quelle der Inspiration sehen. Selbstverständ­lich haben sie Recht damit. Der Marxismus ist eine wahre Fundgrube an Erkenntnis, allerdings hat sich hier auch massenhaft Müll angesammelt, nämlich dort, wo der Marxismus unter dem Deckmantel einer wissenschaft­lichen Methode zur Ideologie verkommen ist. Folgerichtig wird von einer „Krise des Marxismus“ gesprochen, welche als Begriff das letzte Stichwort des vorliegenden Teilbandes liefert.

Im Grunde genommen befand sich der Marxismus schon immer in der Krise, weshalb es nicht leicht ist zu entscheiden, was hieran normal und was krisenhaft ist. Krisen sind allerdings auch Ausdruck der Überholt­heit vorhandener Strukturen und Einstellungen und führen im günstigen Fall zu einer Lösung und Neubeszimmung. Ist der Marxismus demnach überholt? Wohl kaum. Die Frage ist ja eher, worin die Krise besteht und wer davon betroffen ist. Schon Marx hatte sich dagegen verwahrt, als Marxist bezeichnet zu werden, wohl wissend, wie schnell aus der historisch-dialektisch-materia­listischen Theorie ein ideologischer Baukasten eines revisionistischen Interesses werden könnte.

Die erste fundamentale Krise der deutschen Sozialdemo­kratie zeigte sich in der Auseinander­setzung zwischen Eduard Bernstein und Rosa Luxemburg. Eduard Bernstein nahm auf seine Weise die Verbürgerlichung und Integration der Sozialdemo­kratie in den imperialistischen Weltkrieg voraus, während sich Rosa Luxemburg als Internationalistin bemühte, das marxistische Gedankengut zu bewahren und revolutionär weiterzuentwickeln.

Die Spaltung der Arbeiterbewegung in einen sozialdemo­kratischen und einen kommunistischen Flügel ist jedoch nur zum Teil klassen­analytisch zu begreifen; vielmehr steckt in ihr das Grundproblem der Arbeiterklasse in den Metropolen, Teil eines globalen Ausbeutungsverhält­nisses zu sein. Die „Krise des Marxismus“, die dem Lexikonartikel zugrunde­liegt, ist jedoch eine andere und in die 1960er und 1970er Jahre zu datieren. Es waren westliche kommunistische Intellektuelle, die 1977 in Venedig selbige Krise ausriefen, weil sie sich vom Marxismus-Leninismus stalinistischer bzw. sowjetischer Prägung losmachen wollten. Nicht wenige von ihnen sind Jahrzehnte später zu intellektuellen Schoßhünd­chen der Bourgeoisie des Neoliberalismus mutiert.

Diese „Krise des Marxismus“ bedeutet demnach wohl eher eine Krise derer, die als Marxistinnen und Marxisten ihre Perspektive verloren haben, der wahnwitzigen Wucht der neoliberalen Konter­revolution etwas entgegen­setzen zu können. Jede ausgerufene Krise des Marxismus bedeutet demnach eine Absetz­bewegung; bei anderen bildet sich eine Bunkermentalität heraus, um nun erst recht die Illusion zu verteidigen, ohne die sie nicht leben können. Nur die wenigsten sind in der Lage, den globalen Klassenkrieg als solchen zu begreifen und nach neuen Lösungen zu suchen, ohne der bisherigen Geschichte der Klassenkämpfe mit ihren Irrungen und Wirrungen abzuschwören. In gewisser Weise spiegelt sich dies auch im vorliegenden „Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus“ wider, das gleichzeitig Selbstkritik und Vergewisserung darstellt.

Während mich nun die schier endlose Aneinander­reihung von Positionen und Debatten seit den 1970er Jahren angeödet hat, mag die ausführliche Darstellung in 33 Textspalten zur Rekapitulierung einer nicht beendeten Debatte um diese „Krise des Marxismus“ auch weiterhin von Interesse sein. Interessanter finde ich hingegen die nicht so offensicht­lichen Stichwörter dieses Teilbandes.Wer würde in einem marxistischen Wörterbuch das Stichwort „Kriminalroman“ erwarten, obwohl es auf eine gewisse Weise durchaus nahe liegt. Denn der Kapitalismus ist ein Verbrechen, er erzeugt Verbrechen und er lebt von Verbrechen, den realen und den erschmökerten.

Den Kriminalroman hat sich Bertolt Brecht als Instrument des wissenschaft­lichen Zeitalters erhofft: Charaktere, welche aus ihren – als niedere gelennzeichneten – Handlungen und Interessen hergeleitet werden und die es den Lesenden erlauben, sich in kritisches Denken einzuüben. Doch im Verlauf seiner Gattungs­geschichte schwankt der Kriminalroman zwischen dem Verdacht, die bürgerliche Ordnung sei die eigentliche Unordnung, und der Hoffnung auf Wiederher­stellung der Ordnung durch die Aufklärung des Verbrechens; gekämpft wird darum, dass der Kriminalroman nicht bloß Opium des Lesevolks, Seufzer der bedrängten Kreatur bleibt, sondern »Vitamin der befreienden Bewegung« (Roland Spur) wird. [6]

Allerdings, so möchte ich hinzufügen, wäre es einer eigenen Untersuchung wert, weshalb im Kriminalroman und den hierauf aufbauenden Fernsehserien und Kinofilmen massenhaft Menschen alle möglichen und unmöglichen unnatürlichen Tode sterben müssen. Man und frau kann hierbei den Eindruck gewinnen, daß mit dem virtuellen Mord gleichermaßen bei Autorin und Leser Sozialisations­effekte zum Tragen kommen, die durch die permanent in Variationen durchgekaute Handlung eingedämmt werden sollen. Wenn schon die bürgerliche Gesellschaft ohne den Mord nicht auskommt, so dient der Kriminalroman als eine Art Fetisch gegen den bösen Blick. Eine bemerkens­werte marxistische Analyse des Kriminalromans hat im übrigen Ernest Mandel in seinem Buch „Ein schöner Mord“ vorgelegt, die beim vorliegenden Stichwort vielleicht hätte ausführlicher rezipiert werden sollen.

Eher zeitgeistgemäß scheint mir der Begriff „Körper“ in das Wörterbuch inkorporiert worden zu sein, was nicht gegen das Stichwort als solches spricht. Das Stichwort „Kopf und Hand“ führt uns zur gesellschaft­lichen Arbeitstei­lung und der Notwendig­keit von deren Überwindung. Beim Stichwort „Kopftuchstreit“ hingegen wird erkennbar, daß manche Einträge eher aus Aktualitäts- als aus historischen Gründen eingebunden werden, weshalb der dort vermittelte Diskussions­stand nur ein vorläufiger sein kann. Dies führt mich zum Stichwort „Kontingenz“. Das Adjektiv "kontingent" begegnet mir häufiger bei der Lektüre der Zeitschrift Mittelweg 36, und scheint auch so ein neumodischer Begriff für etwas zu sein, was sich nicht fassen läßt. Kontingent ist etwas, was nicht notwendig, aber möglich ist, und ist in gewissem Maße eine Umschreibung für den Zufall.

Nun geht es hierbei nicht um das zufällige Ereignis, wenn mir ein herab­fallender Ziegel auf den Kopf fällt, sondern um die Zufälle des Lebens, die innerhalb einer bestimmten Ordnung nicht nur möglich sind, sondern Teil des Prozesses. Schon Marx wußte um das Wesen derartiger Zufällig­keiten als Teil des Laufes der Geschichte, die durch andere ebensolche Zufällig­keiten kompensiert werden können. Historische Prozesse, die möglich, aber nicht notwendig sind, werden durch derartige Ereignisse verzögert oder beschleunigt, manchmal auch verhindert. Der sich nach Marx' Tod etablierende Marxismus betonte häufiger die Notwendig­keit und versuchte, das gesellschaftliche Leben in auch für Betonköpfe und Bürokraten handhabbare Schemata zu pressen. Da stören Zufälle. Sie sind zu eliminieren – aber das ist eine andere Geschichte, die uns wieder zur Kommunistischen Partei führt. Es gehört, so denke ich, schon eine gewisse mentale Stärke dazu, die Geschichte und die Zukunft kontingent zu denken. Ich verweise hier auf das geniale Kapitel von Leo Trotzki über die „Kunst des Aufstandes“ in seiner Geschichte der Russischen Revolution.

Es würde zu weit führen, die einzelnen Stichwörter vorzuführen, von der Krise zur Konjunktur zu springen, vom Krieg zur Korruption, vom Kommunismus zur Konsumgesell­schaft. Ein solches Wörterbuch ist eben auch ein Lexikon zum darin Stöbern, selbst wenn die damit verbundenen Einträge nicht häppchenartig wohlpro­portioniert kurz und knapp sind, sondern der Darstellung ihren angemessenen Raum lassen. Manchmal schimmert der Ärger einzelner Autorinnen und Autoren mit den Verhältnissen durch, manchmal auch der Unmut über konkurrierende Diskurse. Hier wäre vielleicht ein bißchen mehr nonchalante Zurückhaltung angesagt gewesen, andererseits darf ein marxistisches Wörterbuch auch durchaus pointiert polemisch oder gar sarkastisch sein. Aber dann muß es auch sitzen. [7]

Der hier vorgestellte zweite Halbband des siebten Bandes des Historisch-kritischen Wörterbuch des Marxismus ist dieses Jahr im Argument Verlag herausge­bracht worden. Der Band umfaßt 632 Seiten und kostet stolze 108 Euro.

 

Leckereien bei wohligen Klängen

Besprechung von : Archäologie in Deutschland, Heft 5, September-Oktober 2010, 82 Seiten, € 9,95

Nicht ganz so harte Kost wie das ausgewachsene marxistische Lexikon ist die September­ausgabe der Zeitschrift Archäologie in Deutschland. Das erhoffte Publikum ist ein anderes. Doch um Kost, wenn auch nicht harte Kost, geht es auch hier. Was, so untersuchte eine Forscherinnen­gruppe, aßen die vermutlich keltischen Bewohnerinnen und Bewohner in der Eisenzeit Mitte des 1. Jahrtausends vor unserer Zeitrechnung im Raum zwischen Main und Bodensee? Läßt sich so etwas feststellen? Genau das galt es zu untersuchen, und das Ergebnis ist durchaus interessant.

Cover AiDEs zeigt nämlich unterschiedliche Ernährungsgewohn­heiten bei den Zentralorten Heuneburg an der Donau oder auf dem Ipf in der Schwäbischen Alb auf der einen Seite und den vielen kleineren Ansiedlungen in der gesamten untersuchten Region. Sowohl auf der Heuneburg wie auf dem Ipf ist eine Konzentration auf Gerste und Dinkel als Getreide sowie als Besonderheit Kalbfleisch festzustellen, während andernorts eine größere Vielfalt vorherrschte.

Die beiden Zentralorte, die auch als Fürsten­sitze bezeichnet werden, besaßen Ansiedlungen mit einer größeren Bevölkerungs­zahl. Während auf dem Land die Selbstverorgung einen differenzierten Speiseplan ergab, war man und frau auf der Heuneburg und auf dem Ipf auf die Anlieferung größerer Getreide- und Fleischmengen von außerhalb angewiesen. Dies geschah offensicht­lich zentralisiert, so daß eine Konzentration auf wenige und leicht beschaffbare Konsumgüter vorgenommen wurde. Die Kelten, so erahnen wir hier, bilden den Schwerpunkt des aktuellen Heftes. Wenn wir dann noch lesen, daß für die Erforschung und Ergrabung frühkeltischer Fundstätten seit 2004 jährlich eineinviertel Millionen Euro zur Verfügung standen und stehen, dann müssen wir uns eigentlich fragen, was so spannend an den Kelten ist, daß hier die andernorts keineswegs üppig fließenden Fördergelder locker gemacht werden.

Die großräumige Untersuchung geht jedenfalls zudem der Frage nach den Gemeinsam­keiten und Unterschieden der Fundorte nach, die als Fürstensitze bezeichnet werden. Nun ist diese Fragestellung gar nicht so uninteressant, zumindest dann nicht, wenn sich hieraus Muster gesellschaftlicher Zentralisierung und Hierarchie­bildung ableiten lassen. Ob es sich bei den Fürstensitzen tatsächlich um die Hauptorte größerer territorialer Einheiten gehandelt hat oder was genau wir uns unter einer solchen, wenn auch bescheidenen, Bevölkerungskon­zentration vorstellen sollen, berührt die nicht schriftlich überlieferte Vorgeschichte der Herausbildung sozialer Schichten und Klassen. Um auf den Fleischkonsum zurückzu­kommen – Fleisch war sicherlich das Vorrecht einer Elite. Dies gilt insbesondere für das frisch eingeführte Haushuhn.

Die beim Theiss Verlag beheimatete Zeitschrift Archäologie in Deutschland gibt zudem eine Vorschau, oder besser: einen Appetithappen, auf einzelne Bücher und Katalogbände aus dem eigenen Verlag. Dies gilt hier insbesondere für das Buch „Tatort Eulau“ über ein in den letzten Jahren ergrabenes Massaker zum Ende der Jungstein­zeit. Eine Kurzfassung der Grabung und ihrer forensischen Interpretation findet sich im Heft; das Buch hierzu werde ich in einer meiner nächsten Sendungen vorstellen.

Nach einem Abstecher zu den Pyramiden wird uns eine rekonstruierte römische Wasserorgel voirgestellt. Martin Braun und Justus Willberg bauten ein derartiges Exemplar auf der Grundlage antiker Bechreibungen nach und fanden aufgrund der hierbei gewonnenen Erkenntnisse heraus, daß sich die in der Literatur verbreiteten Zeichnungen als untauglich erwiesen. Zuweilen ist das praktische Experiment doch ganz hilfreich, um theoretische Überlegungen am lebenden Objekt zu überprüfen. Festzuhalten ist jedenfalls, daß die 1931 in Aquincum, dem heutigen Budapest, ergrabenen Reste einer Wasserorgel zu einem Kammermusik­instrument gehört haben müssen, was neue Überlegungen herausfordert, wie denn dann eine Wasserorgel aufgebaut war, die mit mächtigem Klang in antiken Arenen zu hören war. Und wie so eine nachgebaute Wasserorgel klingt? So!

Weblinks zum Nachbau und zum Klang der Wasserorgel

Irgendwie erinnert mich das an uralte Hollywood-Schinken. Aber die haben das wohl auch alles nur geklaut. – Neben aktuellen Mitteilungen aus der Landesarchäo­logie der Bundesländer werden uns zeitgenös­sische museale Einfälle vorgestellt, etwa: wie lasse ich mich von einem römischen Feldwebel anschnauzen, oder: wie verpacke ich ein Limestor in einem Glasverhau? Das aktuelle Heft von Archäologie in Deutschland ist über den Buch- oder Zeitschriften­handel zu erstehen oder im Abonnement über den Theiss Verlag zu beziehen. Das Einzelheft kostet 9 Euro 95.

 

Schluß

Bürgerarbeit und kurdische Berge

Eingespielt wurden zwei Beiträge von Radio Corax in Halle und Radio Dreyeckland in Freiburg zu Bürgerarbeit als Ausbeutungs­projekt und zur juristischen Aufarbeitung der Ermordung von Andrea Wolf durch das türkische Militär 1998.

Jingle Alltag und Geschichte

In der vergangenen Stunde sprach ich über mittelalter­liche Architektur, marxistische Krisendis­kurse und römische Wasserorgeln. Hierbei stellte ich das „Handbuch der mittelalter­lichen Architektur“ von Matthias Untermann aus dem Theiss Verlag, einen Teilband des Historisch-kritischen Wörterbuchs des Marxismus aus dem Argument Verlag und die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift Archäologie in Deutschland vor. Zudem gab es noch zwei Interviews mit Chris von Beatpunk über Bürgerarbeit als Ausbeutungs­projekt und mit Nick Brauns über die Ermordung von Andrea Wolf durch das türkische Militär 1998. Ich danke Radio Corax in Halle und Radio Dreyeckland in Freiburg für die Möglich­keit, die dort produzierten Beiträge zu übernehmen. Wiederholt wird diese Sendung am Dienstag um 8.00 und um 14.00 Uhr. Am Mikrofon war Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

 

ANMERKUNGEN
Mittels eines Klicks auf die Nummer der jeweiligen Anmerkung geht es zur Textpassage zurück, von der aus zu den Anmerkungen verlinkt wurde.

»» [1]   Dem Programmrat von Radio Darmstadt scheint es auf seiner Sitzung am 13. September 2010 nicht gelungen zu sein, einen Sendeplatz zwei Wochen später (am 27. September von 22.00 bis 23.00 uhr) zu vergeben. Folglich schlug das Programm Kapriolen. Mangels Alternative starteten die beiden Redakteure von Area 64 um 22.00 Uhr nach Ablauf ihrer Sendung die erste Wiederholung meiner Sendung um eine Stunde verfrüht. Aus mir nicht einsichtlichen Gründen endete diese Wieder­holung kurz nach 23.00 Uhr in einem kurzen Sendeloch, gefolgt von sieben Stunden absolut unnützer Mainstream-Dudel­berieselung aus dem Sendeloch­erkennungs­computer. Die regulären Wieder­holungen um 23.10 Uhr und (verkürzt) um 5.10 Uhr entfielen daher. Mit Start der sechs­stündigen Wiederholungs­schleife nach dem Radiowecker um 8.00 Uhr war folglich um 13.00 Uhr eine weitere Wieder­holung dieser Sendung zu hören, die jedoch aus unerfind­lichen Grüunden von einer offenkundig besonders autorisierten Person rund fünf Minuten vor Ende abgewürgt und durch Dudelmusik ersetzt wurde. Um 14.00 Uhr wurde die Wiederholungs­schleife erneut gestartet. Für diese leicht ins Absurde abgleitende qualifizierte Programm­leistung des Programmrats (übrigens nicht zum ersten Mal) sollte sich das Gremium vielleicht doch einmal – wie ich ihm schon einmal vorgeschlagen habe – selbst abmahnen, anstatt wie die Geier darauf zu warten, der Redaktion Alltag und Geschichte eins auswischen zu können. Aber für diese Geste fehlt es diesem Gremium schlicht an Kompetenz. Siehe hierzu auch meine Dokumentation Drohgebärden eines Programmrats.

»» [2]   Für die Auswärtigen: Aufgrund seiner architektonischen Vorgaben, möglichst verwinkelt Platz zu verbrauchen, wird das Gebäude auch „Schepp Schachtel“ (also: schiefe Schachtel) genannt. Wer den Namen in die Welt gesetzt hat, ist nicht bekannt.

»» [3]   In der Onlineausgabe des Darmstädter Echo hieß es hierzu am 1. September 2010: 77,1 Millionen Euro bleiben in der Stadt. Genau betrachtet, landet der allergrößte Teil hiervon in privatkapita­listischen Schatullen, während die Stadt angeblich noch ein Steueraufkommen von 1,6 Millionen Euro erwirtschaften konnte. Dieses für die lokale Bourgeoisie schmackhafte Geschäft wird jährlich mit drei oder noch mehr Millionen Euro subventioniert. Den Nutzerinnen der verschachtelten Geld­maschine ist es ja auch nicht zuzunuten, höhere Nutzungs­gebühren zu verlangen, damit sich der Laden von selbst trägt. Wehe, wenn eine oder jemand der Wirtschafts­clique ihr Spielzeug verteuert! Das schreckt ja die Investoren ab. Ja, dann sollen sie woanders hingehen und nicht das Stadtsäckel belasten.

»» [4]   Matthias Untermann : Handbuch der mittelalterlichen Architektur, Seite 16.

»» [5]   Frigga Haug : Köchin, in: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus, Band 7/II, Spalte 1093–1094.

»» [6]   Stefan Howald : Kriminalroman, in: HkWM, Band 7/II, Spalte 2109–2120, Zitat in Spalte 2109.

»» [7]   Leider habe ich es bei der Lektüre unterlassen, diese Stellen gesondert zu vermerken. Aber so wichtig ist es nun auch wieder nicht.


Diese Seite wurde zuletzt am 7. Oktober 2010 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. ©  Walter Kuhl 2001, 2010. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

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