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Darmstädter Geschichten

Fehlende Mädchen im 19. Jahrhundert

Eine Entdeckung mit Fragen

Aus einzelnen Regionen dieser Erde ist bekannt, daß es einen drastischen Männer„überschuß“ gibt. Schon vor oder nach der Geburt werden Mädchen gezielt abgetrieben oder getötet, nur weil sie Mädchen sind. Der Junge als Stammhalter oder Arbeitskraft wird geschätzt, während ein Mädchen als Kostenfaktor gesehen wird. Dieses Phänomen scheint weniger bei den Ärmsten einer Gesellschaft aufzutreten, sondern eher in Familienstrukturen, bei denen die Verheiratung einer jungen Frau einen erheblichen Kostenfaktor darstellt.

Für westliche Industrienationen wird bei der Geburt von einem Verhältnis von etwa 1,05 Jungen zu einem Mädchen ausgegangen. Hierbei muß aber die Möglichkeit der pränatalen Diagnostik mit gezielter Abtreibung nicht nur aufgrund des Geschlechts, sondern auch aufgrund einer zu erwartenden „Behinderung“ angenommen werden. Vergleichende Zahlen für das 19. Jahrhundert wären hier hilfreicher. Zudem ist zu berücksichtigen, daß die Geschlechts­bestimmung nicht immer eindeutig im Sinne einer Zweigeschlecht­lichkeit zu treffen ist und in Einzelfällen willkürlich (auch operativ) festgelegt wird (Transgender bzw. Intersexualität).

Das Phänomen „fehlender Frauen“ wird seit einigen Jahrzehnten vor allem in feministischen Zusammenhängen thematisiert. Femizid als eine Facette des globalen Patriarchats läßt sich nicht nur statistisch belegen, sondern auch strukturell begründen. Als ein Beispiel unter vielen sei hier das Interview mit Rita Banerjee zu rund 50 Millionen fehlenden Frauen in Indien genannt. Untersuchungen zu fehlenden Frauen im früh­industriellen Europa sind mir nicht bekannt, aber das kann an meiner Unwissenheit liegen.

Bei meiner Durchsicht der Verwaltungsberichte des Darmstädter Bürgermeisters aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fiel mir dieses ungleiche Verhältnis der Geburtenrate von Mädchen und Jungen auf. Dieses Phänomen gilt es zu erklären, denn es gibt keinen vernünftigen Grund anzunehmen, daß aus rein „natürlichen“ Gründen derart mehr Jungen als Mädchen geboren werden. Mögliche Erklärungen werden im Anschluß an die statistischen Daten vorgestellt.

Aufgrund der relativ geringen Fallzahl wird das Geschlechter­verhältnis der unehelichen Kinder wie der Totgeburten nicht eigens aufgeführt. Der Berichtszeitraum ist vor 1880 das Kalenderjahr, 1880/81 umfaßt den 1. Januar 1880 bis zum 1. April 1881, ab dann ist das Erfassungs- und Berichtsjahr von April bis März.


BerichtsjahrJungen ehelichMädchen ehelichVerhältnisJungen unehelichMädchen unehelichTotgeburten JungenTotgeburten Mädchenalle Jungenalle MädchenVerhältnis Gesamt
18775755181,11683136236795721,19
18785355400,99636127216256221,00
18795254871,08505239246145631,09
1880/816306021,05587033347217061,02
1881/824894891,00643924205775481,05
1882/834754521,05445127175465201,05
1883/844354371,00345138335075210,97
1884/854854301,13514027115634811,17
1885/864604471,03515026255375221,03
1886/875154631,11573928266005281,14
1887/884934211,17524627225724891,17
1888/896505931,10585240327486771,10
1889/906066170,98645421346917050,98
1890/916305931,06736742347456941,07
1891/926746631,02826939327957641,04
1892/936646341,05627633307597401,03
1893/947286891,06665146318407711,09
1894/956796781,00617039247797721,01
1895/967857371,07646533318828331,06
Gesamt11.03310.4901,051.1221.03462550412.78012.0321,06

Ein statistischer Jungenüberschuß von 6% über einen Zeitraum von 19 Jahren ist durchaus erklärungs­bedürftig. Insbesondere dann, wenn es fünf als Ausreißer erscheinende Jahre mit über 10% mehr lebend oder tot geborene Jungen als Mädchen gegeben hat.

Für die ehelich geborenen Kinder liegt in diesem Zeitraum das Geschlechter­verhältnis bei 1,05, für die unehelich geborenen bei 1,09 und für die Totgeborenen sogar bei 1,24. Warum bei der Geburt fast ein Viertel mehr Jungen als Mädchen sterben, wäre eine eigene Fragestellung wert. Das Verhältnis von Lebend- zu Totgeburten beträgt jedenfalls bei den Jungen 17,7:1, bei den Mädchen hingegen 20,8:1.

Die hier vorliegenden Zahlen basieren auf den entsprechenden Anmeldungen auf dem Standesamt; die Quelle verrät jedoch nicht, ob dies auch für Totgeburten gilt. Die Frage ist, wie genau die Geburten erfaßt worden sind. Es scheint statistisch betrachtet Jahre zu geben, in denen das Geschlechter­verhältnis so ausgeglichen wie zu erwarten ist. Die Anomalien sind es, die nicht ins Bild passen. Ich bin kein Statistiker, so daß ich den Zahlen nicht entnehmen kann, ob die Anomalien sich im Rahmen der statistisch möglichen Abweichungen bewegen oder nicht. Die Fallzahl für 1877 ist zu gering, um hieraus Signifikanz abzuleiten; aber es ist schon auffällig, daß mehr als doppelt so viele uneheliche Jungen wie Mädchen geboren wurden. Es mag eine Tendenz geben, daß gerade bei unehelichen Geburten die Mädchen „verschwunden“ sind. Aber auch bei den ehelichen Geburten sind die drei Jahre 1886/87 bis 1888/89 auffällig zu nennen. Handelte es sich hier um wirtschaftlich besondere Krisenjahre?

Welche Erklärungen wären denkbar?

  1. Die Statistiken sind weniger genau, als es uns die damaligen Zeitgenossen glauben machen. Zwar herrschte damals in den gebildeten Ständen eine gewisse Statistikgläubigkeit vor und man bemühte sich auch fortwährend, zu allen möglichen Themen möglichst präzise Statistiken zu erstellen. Allerdings ist eine Anmeldung auf dem Standesamt ein zwar angeordneter, aber in gewissem Maße auch subjektiver Akt. Sofern in einer bestimmten familiären oder sozialen Umgebung Wegschauen möglich war oder Einverständnis herrschte, mag die eine oder andere Geburt nicht entdeckt worden sein. Hausgeburten dürften noch die Regel gewesen sein, um die Privatheit zu gewährleisten. Kindstötung ist nicht geschlechtsneutral.
  2. In Zeiten vor den medizinischen Möglichkeiten der Geschlechts­bestimmung des Ungeborenen, beispielsweise durch Amniozentese, mag es althergebrachte Erfahrungen gegeben haben, welche Symptome vielleicht Auskunft über das Geschlecht des noch zu gebärenden Kindes geben. Ob das so gewesen ist, mag hier dahingestellt bleiben; allein der Glaube daran mag genügt haben, in bestimmten gesellschaftlichen Situationen abzutreiben, wenn ein Mädchen zu erwarten stand.
  3. Dies geht einher mit einer ohnehin vorhandenen größeren Kinderzahl. Diese durchzufüttern, war gerade in den Krisenzeiten der sogenannten Gründerkrise ab 1873 nicht so einfach. Wenn also schon ein oder mehrere Jungen vorhanden waren, könnte der Schritt zur Abtreibung leichter gefallen sein, auch wenn er unter Strafe stand. Statistisch betrachtet wirkt sich das so aus: wenn schon überproportional mehr Jungen als Mädchen vorhanden waren und demnach zum Ausgleich der Statistik nunmehr eher Mädchen zu erwarten wären, aber abgetrieben wird, kommt es, wenn auch in nur geringem Umfang zu einer Verschiebung des Geschlechter­proporzes. Wird diese Einstellung zu einem Phänomen, das sich in einem bestimmten sozialen Umfeld verbreitet, kann dies zu einer signifikanten statistischen Verschiebung führen. Ließe sich die hier vorliegende Zahlenreihe verlängern und mit anderen geografischen Regionen korrelieren, wäre vielleicht ein Muster erkennbar.
  4. Ob bestimmte Zeiten des weiblichen Zyklus die Empfängnis in Richtung eines bestimmten Geschlechts beeinflussen, weiß ich nicht. Möglich wäre es. Ein tatsächliches Wissen darum oder eine tradierte Überzeugung mag eine Rolle gespielt haben, ob und wann ein Kind gezeugt werden könnte.

Worin diese statistische Auffälligkeit nun tatsächlich begründet liegt, wäre eigentlich eine eigene Forschungsarbeit wert. Eine solche ist an einer neoliberal durchstylten Universität mit einem patriarchal geprägten Forschungs- und Erkenntnisinteresse gewiß nicht zu erwarten. Halten wir so lange einfach fest: im Zeitraum von 1877 bis 1895 wurden in Darmstadt etwa 1.000 Mädchen zu wenig geboren, und das ist nicht trivial.


Quellen


 
 
 
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