Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 24. Mai 1999, 17.00 bis 18.00 Uhr
Wiederholt:
Dienstag, 25. Mai 1999, 00.00 bis 01.00 Uhr
Dienstag, 25. Mai 1999, 08.00 bis 09.00 Uhr
Dienstag, 25. Mai 1999, 14.00 bis 15.00 Uhr
Zusammenfassung:
Die politische Elite des globalen Kapitals traf sich 1999 in Köln zum Kampf gegen den Klassenfeind. Protest gab es auch. Wasser als begrenzt gemachte Ressource besitzt das Potential zur Waffe. Läßt sich dies nachhaltig verhindern?
Besprochenes Buch:
Jürgen Scheffran / Wolfgang R. Vogt (Hg.) : Kampf um die Natur, Primus Verlag
Playlist:
Zur Neoliberalisierung von Radio Darmstadt und seinem Trägerverein und zur Ausgrenzung mehrerer Mitglieder meiner Redaktion seit 2006 siehe meine ausführliche Dokumentation.
Jingle Alltag und Geschichte
In der heutigen Sendung der Reihe Kapital und Arbeit werde ich über die beiden Polit- und Wirtschaftsgipfel reden, die im nächsten Monat in Köln stattfinden werden. Die Regierungschefs der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union werden sich zu ihrem regelmäßig jedes halbe Jahr stattfindenden Gipfeltreffen am 3. und 4. Juni zusammenfinden.
Werden sie dort den europäischen Einigungsprozeß vorantreiben? Besser sollte ich fragen, um welchen Einigungsprozeß es geht. Denn vereinheitlicht werden sollen die Bedingungen, unter denen Wirtschaftsunternehmen aus Europa den neben dem US-amerikanischen Markt größten Binnenmarkt nutzen können. Vordergründig geht es hierbei um den Abbau von Monopolen und Subventionen. Tatsächlich geht es jedoch darum, welcher Mitgliedsstaat wieviel Geld in den gesamteuropäischen Topf einzahlt, und welche Mitgliedsstaaten wie weit davon profitieren. Die Zahlungsbereitschaft der einzelnen Staaten hängt natürlich davon ab, inwieweit die eigene nationale Wirtschaft aus dem gesamteuropäischen Einigungsprozeß Nutzen ziehen kann.
Zwei Wochen nach diesem EU-Gipfel werden dann die Regierungen der sieben wichtigsten kapitalistischen Industrieländer in Köln zu ihrem alljährlichen Weltwirtschaftsgipfel zusammenkommen. Der Weltmarkt ist ein durchaus brüchiges Gebilde; die Krisen der letzten Jahre in Lateinamerika und Südostasien zeigen dies sehr deutlich. Beim Treffen dieser G7-Staaten, zu dem sich noch Rußland gesellen wird, wird es also darum gehen, gemeinsam zu beraten, wie zu verhindern ist, daß sich diese Krisentendenzen ausbreiten. Zwar boomen die Börsen, aber nicht überall. Zwar wächst die Wirtschaft, zumindest in den Metropolen, aber so ganz stabil ist dieses Wachstum nicht. Und im Kapitalismus ist es ein eisernes Gesetz: die nächste Krise, die kommt bestimmt.
Den Ausblick auf den Monat Juni in Köln moderiert Walter Kuhl.
„Die globale Integration ist ein Prozeß, den wir seit jeher fördern und mitgestalten und der allen Menschen in der ganzen Welt eindeutig Vorteile bringt.“ [1] Dies erklärten die Regierungschefs der G8-Staaten zum Abschluß des letztjährigen Weltwirtschaftsgipfels im engelischen Birmingham. Dieses Plädoyer für die Segnungen des Freihandels ist natürlich ein Schlag ins Gesicht der unzähligen Millionen Menschen auf dieser Welt, die hungern, verelenden oder sterben müssen, nur weil sie nicht in der Lage sind, notwendige Lebensmittel oder Medikamente kaufen zu können.
Aber daran können wir schon sehen, daß die Deklarationen einer solchen Großveranstaltung nur Fassade sind. Denn hinter den Kulissen geht es ans Eingemachte. Die bisherigen Weltwirtschaftsgipfel, deren erster Mitte der 70er Jahre stattfand, hatten im Prinzip zwei Aufgaben zu erfüllen. Erstens geht es darum, die allgemeinen Rahmenbedingungen für die kapitalistische Produktion abzusichern. Im Prinzip soll jedes Kapital die Möglichkeit besitzen, zu denselben Ausbeutungs- und Verwertungsbedingungen produzieren und verkaufen zu können. Daß auf dem kapitalistischen Weltmarkt eine gleicher sind als andere, einige mächtiger und reicher, tut nichts zur Sache.
Die neoliberale Theorie sieht vor, daß im Prinzip Alle gleich sind. Wenn sie es nicht sind, ist es ihr eigener Fehler.
Die allgemeinen Verwertungsbedingungen abzusichern, heißt aber auch, den Krisentendenzen entgegenzuwirken, die zum Kapitalismus genauso dazugehören wie der Profit. Und da die Staaten, nicht als geographische Gebilde, sondern als Staatsapparate im wesentlichen nichts weiter sind als der ideelle Gesamtkapitalist, müssen diese Staaten natürlich die Interessen des eigenen nationalen Kapitals nach außen vertreten. Der Staat als ideeller Gesamtkapitalist, das meint: der Staat muß dafür sorgen, daß die Wirtschaft gefördert wird, sich einige nicht unmäßig bereichern, alle vor dem Gesetz gleich sind, und es auch genügend Arbeitskräfte gibt, die sich bereitwillig ausbeuten lassen. Staatliche Investitions- und Infrastrukturprogramme gehören hierzu genauso wie eine den Interessen des nationalen Kapitals dienliche Bildungs- und Sozialpolitik.
Wenn sich also die Regierungschefs der sieben wichtigsten Industrienationen alljährlich treffen, dann tragen sie eben auch die Differenzen aus, die sich aus ihren unterschiedlichen Wirtschaftsinteressen ergeben. Dann wird darüber verhandelt, welche Wirtschaftssanktionen das eine Land treffen, das einem anderen den Markt nicht so öffnet, wie es das andere Land im Interesse des eigenen Kapitals wünscht.
Ist das zu abstrakt? Nun gut, ein Beispiel:
Vor drei Jahren drohten die USA der Bundesrepublik Deutschland Handelssanktionen an. Den Streit entfacht hatte der US-Konzern General Electric. Er wollte 1993 zwei Dampfturbinen an den deutschen VEAG-Konzern verkaufen. Die Manager der VEAG hatten jedoch nur mit europäischen Firmen verhandelt und an eine dieser Firmen den Auftrag in Höhe von 400 Millionen Mark vergeben. Das fand Geenral Electric nicht korrekt und klagte vor einem deutschen Gericht. Die deutschen Richter sahen jedoch keine Diskriminierung des US-Konzerns. Allerdings fand auch die Wettbewerbskommission der Europäischen Gemeinsachaft, daß die Praxis der Vergabe von Aufträgen in Deutschland zu kritisieren sei. Die damalige Bundesregierung sah jedoch kein Problem.
Was nach außen hin wie eine Frage der Wettbewerbschancen ausschaut, ist in Wirklichkeit eine Auseinandersetzung darüber, welche Klientel sich durchsetzt. Die Bundesregierung vertritt ganz klar die Interessen des deutschen Kapitals; das ist ja auch ihre Aufgabe. Die EU-Kommission muß hingegen Interessen der nationalen Kapitale aller EU-Mitgliedsstaaten berücksichtigen. Und da kann es eben sein, daß einige mehr als die Deutschen auf den US-Markt angewiesen sind und im Gegenzug US-amerikanischen Konzernen den Zugang zum europäischen Markt ermöglichen wollen. Vor allen Dingen dann, wenn diese Konzerne in Branchen stark sind, die meinetwegen die Interessen französischer oder britischer Konzerne nicht stören.
Nach außen präsentieren sich die G7-Staaten dann als Einheit und sie treten auch mehr oder weniger als Einheit dann auf, wenn es um die gemeinsamen Interessen an der Ausbeutung von Rohstoffen und billigen Arbeitskräften in den Ländern Lateinamerikas, Afrikas, Asiens und Osteuropas geht.
Ein besonders drängendes Problem ist die immer wieder drohende Zahlungsunfähigkeit einzelner Länder. Gerade die Staaten der sogenannten „Dritten Welt“ sind in einem Maße verschuldet, daß sie gerade noch zur Zahlung ausstehender Zinszahlungen in der Lage sind; an die Rückzahlung der aufgenommenen Kredite ist in den seltensten Fällen zu denken. Deshalb werden die Kredite umgeschuldet, um die eigentlich vorhandene Zahlungsunfähigkeit nicht offen zutage treten zu lassen. Das Problem ist nämlich, daß keine Bank ihre Kredite abschreiben möchte. Außerdem gibt es Überlegungen nicht nur in Regierungs-, sondern auch in Bankenkreisen, einigen der ärmsten Länder die Rückzahlung der aufgenommenen Kredite zu erlassen.
Das ist –wir leben ja schließlich im Kapitalismus – keine mildtätige Geste. Dahinter steckt knallhartes ökonomisches Kalkül. Ein Land, dessen Daumenschrauben ein wenig gelockert wurden, ist in Zukunft vielleicht wieder in der Lage, Waren abzunehmen oder Investitionen zugunsten multinationaler Konzerne zu tätigen. An die in diesen Ländern lebenden Menschen denkt hingegen kaum ein Banker. Allenfalls dann, wenn es darum geht herauszufinden, wieviel Arbeitsleistung zu möglichst günstigen Löhnen aus diesen Menschen herauszupressen ist. Und hier sind die Banken durchaus erfinderisch. Kleinstkredite gerade an die Ärmeren in diesen Ländern können eine durchaus effektive Methode sein, diese Menschen sozusagen in den Würgegriff des Marktes zu integrieren. Wie hieß dies in der Abschlußerklärung des letztjährigen Weltwirtschaftsgipfels noch einmal? „Die globale Integration ist ein Prozeß, den wir seit jeher fördern und mitgestalten und der allen Menschen in der ganzen Welt eindeutig Vorteile bringt.“
Ähnlich salbungsvolle Worte an die Verdammten dieser Erde werden die Damen und Herren zum Ende ihres Weltwirtschaftsgipfels am 20. Juni [1999] finden. Public Relations gehören eben auch zum Geschäft.
Der erste der beiden diesjährigen Gipfeltreffen der Regierungen der EU-Staaten findet am 3. und 4. Juni unter der Ratspräsidentschaft der Bundesrepublik Deutschland, und deshalb auch in Köln statt. Auch das EU-Gipfeltreffen ist ein Arbeitstreffen zur internen Verständigung darüber, welche Wirtschaftspolitik im Interesse wenn nicht aller, so doch der meisten EU-Staaten sinnvoll ist. Strittig ist vor allem die Frage der Finanzierung der Ausgaben der Europäischen Union, vornehmlich der Agrarsubventionen. Die Staaten Westeuropas und hier insbesondere die Lobby der Großbauern bzw. der industriellen landwirtschaftlichen Großbetriebe haben sich einen vom allgemeinen Steueraufkommen finanzierten Markt ohne Konkurrenz von außen geschaffen. Also quasi ein Monopol.
Und dieses Monopol auf einen riesigen Binnenmarkt und eine gleichzeitige hochgradige Subventionierung der Agarexporte wollen sich diese Bauern nicht nehmen lassen. Vor allem die US-amerikanischen Farmer sehen sich hier in ihrer Wettbewerbsfähigkeit bedroht, weshalb es zuweilen zur Androhung von Handelssanktionen gekommen ist. Da ja angeblich die Kassen leer sind – das Geld wird ja neuerdings auch dazu gebraucht, um Krankenhäuser und Botschaften zu bombardieren [2] –, muß auch hier gespart werden. Und der Streit darum, wen's trifft, dürfte den EU-Gipfel mitbestimmen.
Aber es wird nicht nur um die Subventionierung der Landwirtschaft gehen. Der europäische Einigungsprozeß ist vor allem ein wirtschaftlicher Einigungsprozeß. Die Banken und Konzerne der Mitgliedsstaaten müssen sich darauf verlassen können, daß in jedem Land der Europäischen Union für alle die gleichen Wettbewerbsbedingungen vorherrschen. Im einen Land sind die Sozialleistungen höher als in einem anderen. Dafür werden im anderen vielleicht bestimmte Industriezweige besonders subventioniert, damit sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig sind. Der Ausgleich dieser unterschiedlichen Bedingungen findet – wer hätte etwas anderes gedacht? – im allgemeinen auf dem geringsten gemeinsamen Niveau statt.
Insbesondere bei der Sozialpolitik und bei den Maßnahmen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit bekommen die abhängig Beschäftigten dies deutlich zu spüren. Die europäische Einigung wird zum Vehikel gemacht, Maßnahmen durchzusetzen, die möglicherweise sonst am Widerstand der Beschäftigten und der Gewerkschaften gescheitert wären. Der angeblich nicht veränderbare von außen kommende Sachzwang der europäischen Einheit ist natürlich ein gefundenes Fressen für all diejenigen, die ohnehin meinen, die soziale Hängematte im Freizeitparadies Deutschland gehöre einmal kräftig durchgeschüttelt. Denn schließlich wird es so mancher deutsche Unternehmer nicht einsehen, warum ausgerechnet nur die Spargelbauern Arbeitskräfte mit tatkräftiger Unterstützung der Arbeitsämter zu Hungerlöhnen ausbeuten dürfen. Arbeitslosigkeit ist nämlich gut für's Geschäft. Steigen die Arbeitslosenzahlen, steigen auch die Börsenkurse. Das mag pervers sein, aber so das im Kapitalismus eben. Wer sagt denn, daß dieses Wirtschaftssystem moralisch und gut sein soll?
Auf dem EU-Gipfel in Köln wird sicher auch über den geplanten europäischen Beschäftigungspakt gesprochen werden. Die EU-Kommission macht in Form sogenannter Empfehlungen den einzelnen Ländern inzwischen detaillierte Vorschriften für deren Haushaltspolitik. Für Deutschland empfiehlt die EU-Kommission die Senkung der sozialen Absicherung für Niedrigverdiener, damit solche Arbeitsplätze billiger werden. Entsprechend soll das Sozialversicherungssystem überprüft werden. Und so wird an den Standards gerüttelt. Verschärfte Zumutbarkeitskriterien für Arbeitslose. Sozialhilfeempfänger, die für 3 Mark die Stunde Unkraut jäten dürfen. Ausdehnung der Ladenöffnungszeiten abends und am Wochenende. Ökosteuern, die gerade von den Ärmeren dieser Gesellschaft nicht steuerlich kompensiert werden können. Privatisierungen, Outsourcing, Lean Production, fit sein für den Euro.
Zwar regieren jetzt in allen Staaten der Europäischen Union Sozialdemokraten, aber das ist kein Anlaß, davon auszugehen, daß gerade die abhängig Beschäftigten hiervon profitieren. Und wer das grüne Wirtschaftsprogramm kennt, muß sich fragen, wieso wir neben der FDP noch eine zweite wirtschaftsliberale Partei brauchen.
Ach ja, fast hätte ich's vergessen: auf dem EU-Gipfel wird es sicher auch darum gehen, wie die Angriffe der NATO auf Jugoslawien so inszeniert werden können, daß nicht immer so peinliche Bilder von zerstörten Elektrizitätswerken, getöteten Flüchtlingen oder kriegswichtigen Krankenhäusern zu sehen sind. Die NATO zu ermahnen, die Ziele genauer zu bestimmen, finde ich eines grünen deutschen Außenministers wahrlich würdig. Vielleicht hat Joschka Fischer in seiner radikalen Jugendzeit einmal etwas davon gelesen, daß die US-Armee in Vietnam ganz gezielt vietnamesische Krankenhäuser, Schulen und Deiche zerstört hat. Und wenn ich mich nicht irre, sind es vor allem US-Kampfjets, die von der NATO losgeschickt worden sind. Aber ich denke, deutsche Bomberpiloten sind genauso fähig.
Für die Zeit des EU-Gipfels Anfang Juni und des Weltwirtschaftsgipfels Mitte Juni haben verschiedene Organisationen zu Kundgebungen, Demonstrationen und Gegenkongressen aufgerufen. Die Organisatorinnen und Organisatoren dieser Veranstaltungen haben sich in zwei größeren Zusammenschlüssen zusammengefunden, die größtenteils unabhängig voneinander für ihre jeweils eigene Veranstaltungen mobilisieren.
Bündnis Köln 99 nennt sich das größere und breitere Bündnis, das bereits vor einem Jahr ins Leben gerufen wurde. Hierin sind mehr als einhundert Organisationen aus allen möglichen gesellschaftlichen Bereichen zusammengeschlossen. Die Umweltschutzorganisation BUND ist darin genauso vertreten wie die Organisatorinnen und Organisatoren der Euromärsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung, Rassismus und Krieg. Hinzu kommen Asylgruppen wie Kein Mensch ist illegal, Friedensorganisationen, Frauengruppen, kirchliche Gruppen, und Zusammenschlüsse von Studentinnen und Studenten.
In Abgrenzung hierzu hat sich ein Bundesweites Bündnis linksradikaler, antifaschistischer, radikalökologischer und autonomer Gruppen gegen EU und Weltwirtschaftsgipfel, abgekürzt Lira gebildet. Lira kritisiert im wesentlichen die reformistische Ausrichtung des Bündnisses Köln 99. Diesem ginge es nur um ein sozial besser abgefedertes Europa, nicht aber darum, Verwertbarkeit von Menschen und Marktmechanismen grundsätzlich zu kritisieren oder gar zu bekämpfen. Beispielsweise sei das in den Euromärschen geforderte Recht auf Arbeit kein erstrebenswertes Ziel. Es müsse vielmehr darum gehen, den Zwang zur Lohnarbeit mit all seinen Auswirkungen anzugreifen. Ein System, das Menschen nach ihrer Verwertbarkeit beurteilt und diejenigen ausgrenzt, die nicht arbeiten können oder wollen, sei nicht akzeptabel.
Mir liegt [bzw. lag 1999] der Aufruf des linksradikalen Bündnisses leider nicht vor. Deshalb möchte ich aus dem Aufruf des Bündnisses Köln 99 einige Passagen vorlesen. Diese Passagen werden noch einmal deutlich machen, für welche Politik die Damen und Herren stehen, die sich auf dem Weltwirtschaftsgipfel Mitte Juni in Köln treffen werden.
Von ihrem laut verkündeten Ziel, weltweit das wirtschaftliche Wohlergehen zu fördern, ist die herrschende Weltordnung weit entfernt. In ihrem aktuellen Gewand des Neoliberalismus stellt diese Ordnung nach wie vor eine Bedrohung für die Menschen dar. Sie zerstört die Umwelt ebenso wie die soziale Sicherheit.Sie verschärft Armut und Ausgrenzung, Erwerbslosigkeit und die Verschuldung der „Dritten Welt“. Sie verfestigt und begünstigt die Unterdrückung und Ausbeutung besonders von Frauen weltweit. Ökologischer Raubbau und kriegerische Gewalt nehmen zu.
Bei gleichzeitigem Reichtum und Warenüberfluß wie nie zuvor in der Menschheitsgeschichte haben die Schulden der arm gemachten Länder gigantische Größenordnungen erreicht. Die Schuldenfalle läßt ihnen kaum eine Entwicklungsperspektive: Die reichen Gläubiger haben sich damit auf Generationen hinaus die „Rechte“ an Ressourcen und zukünftigen Arbeitsleistungen der Schuldnerländer angeeignet. […]
Über 100 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht vor Armut, Krieg, Unterdrückung und Umweltzerstörung. Weit davon entfernt, ihre Verantwortung für diese Situation anzuerkennen, errichten die EU- und G7-Staaten rund um ihre Grenzen Zäune und Mauern. Flüchtlinge werden verjagt und zum Teil sogar getötet, wenn sie versuchen, diese [Grenzen] zu überwinden. […]
Gegen diese „Ordnung“ der Welt hat sich längst international Widerstand organisisiert. In allen Teilen der Welt kämpfen Menschen gegen die verschiedensten Formen der Ausbeutung und Unterdrückung. […]
Nicht die Gewinninteressen der transnationalen Konzerne und Banken, sondern die Interessen der großen Mehrheit der Menschen wie das Recht auf Nahrung, Wasser, Kleidung, Wohnung, ärztliche Versorgung, intakte Umwelt, Bildung und Arbeit müssen auf der Tagesordnung stehen.
Deshalb fordern die im Bündnis Köln 99 organisierten Gruppen die Streichung aller Schulden der armen Länder Afrikas, Asiens und Lateinamerikas. Ursprünglich wurde noch diskutiert, alle Schulden zu streichen und von den Profiteuren von 500 Jahren Ausbeutung und Kolonialismus Reparationszahlungen zu verlangen. Aber das war wohl einigen zu radikal. Wer wird schon hier den Gürtel ein wenig enger schnallen wollen? Weiterhin fordert das Bündnis eine Existenzsicherung und das Recht auf sozial geschützte Arbeit. Das wäre immerhin ein Fortschritt für wahrscheinlich 90% aller arbeitenden oder Arbeit suchenden Menschen weltweit; aber die Qualität dieser Arbeit bleibt unhinterfragt. Auch sozial abgesicherte Drecksarbeit bleibt Drecksarbeit. Schließlich fordert das Bündnis eine Welt ohne Grenzen und Rassismus und eine Neugestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen nach sozialen und ökologischen Kriterien.
Gegen die beiden Gipfeltreffen in Köln, den EU-Gipfel am 3. und 4. Juni und den Weltwirtschaftsgipfel vom 18. bis zum 20. Juni, sind vielfältige Aktionen geplant.
Beginnend am kommenden Freitag, findet ein insgesamt sechstägiger Alternativgipfel zum EU-Gipfeltreffen statt. Nach einer Auftaktveranstaltung am Freitag kommt es am Samstag zur ersten großen Demonstration gegen den EU-Gipfel. Dort treffen sich auch die verschiedenen Europäischen Märsche gegen Erwerbslosigkeit, ungeschützte Beschäftigung, Ausgrenzung, Rassismus und Krieg. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser Euromärsche kommen aus Brüssel, München, Athen und Prag. In Prag startete am 11. Mai eine Fahrradkarawane, die über Leipzig, Dresden kommend am vergangenen Freitag in Braunschweig Halt machte.
Die Braunschweiger Polizei nutzte die Gelegenheit, den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Karawane die gesellschaftlichen Realitäten hautnah zu vermitteln. Beim Verlassen Braunschweigs wurde die Fahrradkarawane von der Polizei angehalten, weil sie nicht ordnungsgemäß den Fahrradweg benutzt habe. Aus Protest gegen diesen Polizeieinsatz besetzten die Demonstrationsteilnehmerinnen und -teilnehmer eine zentrale Kreuzung in Braunschweig. Im Anschluß daran, so berichtete Thomas Dietrich, Sozialarbeiter im braunschweiger Arbeitslosenzentrum, sei es zu Rangeleien gekommen. Ein Teil der Beamten habe wohl mit dem Begriff Deeskalation nichts anfangen können, so daß ein Teilnehmer verletzt wurde. Die Braunschweiger Polizei wiederum wird Strafanzeige gegen zwei Beteiligte der Fahrradkarawane stellen. Eine weitere Fahrrad- und Bauwagenkarawane wird aus der Schweiz kommend erwartet.
Auf dem Gegengipfel werden die Auswirkungen de Politik der EU- und G7-Staaten diskutiert, Alternativen entworfen und Möglichkeiten überlegt werden, wie frau und man sich dagegen zur Wehr setzen kann. Für eine weitere Demonstration zur Eröffnung des EU-Gipfels am 3. Juni [1999] ruft hingegen das linksradikale Bündnis auf. Ziel ist hier, den Ablauf des EU-Gipfels zu stören. Der daran anschließende Kongreß dieses Bündnisses beginnt am 4. Juni [1999] und dauert drei Tage. Thematisiert werden dort Weltwirtschaft und Repression, Bevölkerungspolitik, Imperialismus und Kolonialismus. Vor und während des Weltwirtschaftsgipfels Mitte Juni sind weitere Aktionen geplant.
Ist das alles? Nein – das verrückteste Projekt zu den beiden Gipfeln der Reichen und Mächtigen kommt aus dem Süden dieser Erde. Es heißt daher intern auch das Totally Crazy Project. 500 Bäuerinnen und Bauern aus dem Süden Indiens wollen in einer Karawane quer durch Europa ziehen und pünktlich zum Auftakt des Weltwirtschaftsgipfels in Köln ankommen. Dort treffen sie auf Vertreterinnen und Vertreter der Landlosenbewegung aus Brasilien, Textilarbeiterinnen aus Bangladesh, die Mütter der Verschwundenen aus Argentinien und andere von den Segnungen der kapitalistischen Weltwirtschaft betroffenen Männer und Frauen. In einem Brief beschreibt die größte indische Bauernorganisation KRRS, worum es ihr mit der Karawane geht:
Wir wollen dem Norden vermitteln, wie der Süden das System der Ausbeutung erlebt, das uns von Euren Regierungen und internationalen Organisationen wie der WTO und von den multinationalen Konzernen aufgezwungen wird. Wir wollen Euch aus erster Hand eine Vorstellung davon geben, welche Auswirkungen diese Institutionen auf uns haben und wie sie unser Leben zerstören. […] Wir kommen, um mit Leuten auf der Straße zu sprechen und mit Männern und Frauen Kontakt aufzunehmen, die genauso wie wir von der weltweiten Mißordnung betroffen sind.
Besprechung von : Jürgen Scheffran / Wolfgang R. Vogt (Hg.) – Kampf um die Natur. Umweltzerstörung und die Lösung ökologischer Konflikte, Primus Verlag, Darmstadt 1998, 304 Seiten, DM 39,80
Zum Abschluß der heutigen Folge von Kapital und Arbeit möchte ich mich einem scheinbar ökologischen Problem widmen. Wassermangel in weiten Teilen dieser Erde könnte in Zukunft zu einem großen politischen und militärischen Konfliktpotential werden. Gerade im Nahen Osten besteht die Gefahr, daß knappe Wasserressourcen einem verstärkten Bevölkerungswachstum und einer zunehmenden Industrialisierung entgegenstehen. Zwischen der Türkei, Syrien und dem Irak gibt es schon heute einen Konflikt um die Nutzung der beiden Flüsse Euphrat und Tigris.
Manuel Schiffler versucht in seinem Aufsatz „Wasserkonflikte im Nahen Osten“ nachzuweisen, daß das Problem eigentlich nicht das zukünftig fehlende Wasser ist, sondern daß politische Differenzen als ein Kampf um die begrenzte Ressource Wasser ausgetragen werden. Denn im Nahen Osten sei genügend Wasser vorhanden, um auch eine wachsende Bevölkerung mit ausreichend Wasser für den häuslichen und industriellen Bedarf zu verorgen. Ein Großteil des benötigten Wassers wird in der Landwirtschaft zur Bewässerung eingesetzt. Gerade hier könne zu relativ geringen Kosten in großen Mengen Wasser eingespart werden. Auf die gesamte Region des Nahen Ostens übertragen könnte ein gemeinsames Wassermanagement den Wasserbedarf senken und somit potentielle Konflikte entschärfen.
Dies setze jedoch den Willen zu einer politischen Einigung voraus. Aber das Gegenteil ist der Fall. Gegensätzliche politische, wirtschaftliche und militärische Interessen können über den Zugriff auf das Wasser ausgetragen werden. Die Türkei kann den Wasserhahn für Syrien und den Irak zudrehen und damit beide Staaten erpressen. Der Irak wie Syrien sind oder waren Rückzugsgebiete für die Guerillaverbände der kurdischen Arbeiterpartei PKK. Ein weiteres Problem ist die Subventionierung der Landwirtschaft durch kostenlos zur Verfügung gestelltes Wasser. Manuel Schiffler schlägt daher die Verringerung derartiger Subventionen vor, um die Wasserbilanz zu entlasten und Wasser für den wachsenden städtischen Bedarf freizusetzen.
Manuel Schiffler entpuppt sich hier als unkritischer Marktwirtschaftler. Er argumentiert so: wenn man verstärkt auf Marktmechanismen setze und so die Unterstützung der einheimischen Agrarproduktion aufgebe, führe dies dazu, daß weniger Wasser in der Landwirtschaft verschwendet werde und so anderweitig genutzt werden kann. Er sagt dies so:
Eine konsequente, auf industrielle Wettbewerbsfähigkeit und hohe Beschäftigungsintensität ausgerichtete Wirtschaftspolitik bei gleichzeitiger schrittweiser Liberalisierung der Agrarimporte ist wahrscheinlich die wichtigste Voraussetzung für nachhaltiges Wassermanagement im Nahen Osten." [3]
Als Ergebnis einer derartigen Politik könnte der Wasserbedarf der gesamten Region bis weit in das nächste Jahrhundert gedeckt werden – trotz Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstums. Ich finde das einerseits interessant, nachlesen zu können, daß der angeblich drohende Wassermangel nur eine Frage des Umgangs mit dieser beschränkten Ressource ist. Andererseits finde ich es problematisch, aber irgendwie typisch, das Problem über den Markt lösen zu wollen. Erhöht man die Kosten für das knappe Gut, werde sich automatisch alles regulieren. Manuel Schiffler fragt jedoch nicht, welche Auswirkungen eine Liberalisierung der Agrarimporte auf die jeweilige nationale Wirtschaft hat. Er fragt nicht nach dem Sinn und den Auswirkungen der von ihm vorgeschlagenen industriellen Wettbewerbsfähigkeit bei hoher Beschäftigungsintensität.
Aber es handelt sich hierbei um theoretische Konstrukte, die gut zur gegenwärtigen Weltwirtschaftspolitik passen. Empfehlungen dieser Art könnten auch der Internationale Währungsfonds oder die Weltbank abgeben. Empfehlungen dieser Art haben bislang immer die Armut der Menschen in den davon betroffenen Ländern vergrößert. Liberalisierung der Agrarimporte bedeutet nur vordergründig, daß die Lebensmittelpreise sinken. Die Agrarimporte müssen irgendwie finanziert werden. Also muß stärker exportiert werden. Industrien müssen aufgebaut, das Geld hierfür von den Banken der Metropolen geliehen werden. Diese orientieren sich in ihren Kriterien zur Kreditvergabe an den Leitlinien des Internationalen Währungsfonds. Und das bedeutet, daß statt der Landwirtschaft transnationale Konzerne subventioniert werden, damit diese sich ansiedeln und zu den angestrebten Exporten beitragen. Umweltauflagen werden außer Kraft gesetzt, Löhne gedrückt, Gewerkschaften diskriminiert, Steuern müssen fast keine gezahlt werden. Wahrlich ein tolles Wassermanagement-Konzept!
An Ländern wie Algerien, früher Getreideexporteur, heute fast vollständig vom Import abhängig, hoch verschuldet und ohne wirtschaftliche Perspektive, dafür mit einem Bürgerkrieg, der eigentlich ein Krieg gegen eine perspektivlose Jugend ist, können die Auswirkungen einer solchen Politik studiert werden. Manuel Schifflers Aufsatz über die „Wasserkonflikte im Nahen Osten“ zeigt die Beschränktheit eines auf ökologisch nachhaltige Entwicklung ausgerichteten poltischen Konzepts auf.
Ende 1996 fand in der Evangelischen Akademie Mülheim an der Ruhr ein interdisziplinäres Fachgespräch statt. Die Fragestellung lautete: „Frieden durch nachhaltige Entwicklung? Nachhaltige Entwicklung durch Frieden?“ Die Beiträge dieser Tagung, zu denen auch der Aufsatz von Manuel Schiffler gehört, sind in einem Buch unter dem Titel „Kampf um die Natur“ zusammengestellt worden. Veranstalter der Tagung waren die Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Naturwissenschaft, Technik und Sicherheit (IANUS) an der TU Darmstadt, die Naturwissenschaftler-Initiative „Verantwortung für den Frieden“ und die Arbeitsgemeinschaft für Friedens- und Konfliktforschung (AFK).
Jürgen Scheffran von IANUS und Wolfgang Vogt haben das im Darmstädter Primus Verlag erschienende Buch herausgegeben und darin die Beiträge der Tagung zusammengestellt. Der Untertitel lautet „Umweltzerstörung und die Lösung ökologischer Konflikte“. Beim Lesen dieses Buchs beschlich mich immer wieder das Gefühl, daß die Autorinnen und Autoren der Beiträge vor lauter nachhaltiger Entwicklung nicht berücksichtigt haben, wie Kapitalismus funktioniert und daß Marktmechanismen eine sehr funktionale Lösung für Ausbeutung und Profit sind. Darin liegt auch die Schwäche dieses Buchs begründet. Das Buch „Kampf um die Natur“ kostet 39 Mark 80.
Jingle Alltag und Geschichte
Durch die heutige Sendung der Reihe Kapital und Arbeit mit einem Ausblick über den bevorstehenden EU-Gipfel und den Weltwirtschaftsgipfel in Köln führte Walter Kuhl. Die Sendung wird morgen ab 0.00 Uhr, nach dem Radiowecker ab 8.00 Uhr und nachmittags ab 14.00 Uhr wiederholt.
»» [1] Soz (Sozialistische Zeitung), Heft 11/1998, Seite 3.
»» [2] Anspielung auf den damals andauernden NATO-Krieg gegen Jugoslawien.
»» [3] Manuel Schiffler : Wasserkonflikte im Nahen Osten, in: Jürgen Scheffran / Wolfgang R. Vogt (Hg.) : Kampf um die Natur, Seite 23–41, Zitat auf Seite 29.
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