Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 28. Oktober 1998, 17.00 bis 17.55 Uhr
Wiederholt:
Dienstag, 29. Oktober 1998, 08.00 bis 08.55 Uhr
Dienstag, 29. Oktober 1998, 14.00 bis 14.55 Uhr
Zusammenfassung:
Wie kann der öffentliche Personenverkehr der Zukunft aussehen? Die Marktverfechter stellen die Automobilgesellschaft nicht in Frage und suchen nach einer zukunftsfähigen Nische. Dabei ist das Chaos typisch für diese Marktorientierung. Mord und Totschlag auf Deutschlands Straßen – kein Thema für die Bundesanwaltschaft. Aber auch auf der Schiene wird gerast. Brauchen wir das wirklich? Wo jede Minute zählt, wird getunnelt ohne Ende. Und anschließend werden die Filetstücke günstig verscheuert.
Besprochene Bücher/Zeitschriften:
Jingle Alltag und Geschichte
Heutiges Thema ist der Verkehr und hierbei insbesondere der öffentliche Personenverkehr, damit verbunden die vorherrschende, sich am Auto orientierende Verkehrspolitik. Städte wie Darmstadt sind immer noch weitgehend auf den privaten Automobilverkehr ausgerichtet, auch wenn dem öffentlichen Personennahverkehr inzwischen eine wichtige Rolle beigemessen wird. Radfahrerinnen wie Fußgänger fallen dabei wie meist unter den Tisch oder – was leider viel zu oft vorkommt – unter's Auto.
In der folgenden Stunde werde ich zwei miteinander verbundene Themen behandeln. Zum einen will ich zeigen, was es für Neuerungen gibt, die den öffentlichen Personennahverkehr attraktiver machen könnten, wenn der Wille vorhanden wäre, sie im Rahmen einer vernünftigen Verkehrspolitik zu nutzen. Zum anderen geht es genau um diese Verkehrspolitik, die – wie es ein Buchtitel beschreibt – unter dem Motto zu stehen scheint Einmal Chaos und zurück. Am Mikrofon ist Walter Kuhl.
Besprechung von : Verband Deutscher Verkehrsunternehmen, VDV-Förderkreis e.V. – Zukunftsfähige Mobilität. Menschen bewegen. ÖPNV in Deutschland, Alba Verlag 1997, 268 Seiten, 340 farbige Abbildungen, zweisprachig deutsch/englisch, DM 56,00, &euro 28,70
Menschen bewegen, das wollen die verschiedenen deutschen Verkehrsunternehmen. Sie beförderten 1995 etwa 8,5 Milliarden Menschen im Personennahverkehr, das sind etwa 23 Millionen pro Tag. Und das, obwohl der Motorisierungs- bzw. der Automobilisierungsgrad der bundesdeutschen Bevölkerung stetig zunimmt. Im statistischen Durchschnitt besitzt jede und jeder zweite Bewohner dieses Landes ein Auto, Kinder miteingerechnet.
Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen nutzte letztes Jahr einen internationalen Verkehrskongreß in Stuttgart zu einer Leistungsschau der deutschen Verkehrsunternehmen und Fahrzeughersteller. Zu diesem Zweck gab er begleitend ein Buch auf deutsch und englisch heraus, das ich dazu nutzen will aufzuzeigen, was heute in technischer und organisatorischer Hinsicht für ein gutes Nahverkehrssystem machbar ist, vorausgesetzt es gibt den politischen Willen hierzu.
Das Buch hat den Titel Zukunftsfähige Mobilität. Die 21 Autoren dieses Buches – Frauen sind wie üblich bei solch wichtigen Themen ausgeschlossen – schreiben darin über den Öffentlichen Personennahverkehr in Deutschland. Sie bewegen sich unkritisch in den Fahrwassern der deutschen Verkehrspolitik und stellen die einseitige Ausrichtung auf das Automobil auch nicht in Frage.
Der Blick ist vielmehr darauf ausgerichtet: was gibt der Markt her, wo können wir auf zusätzliche Marktsegmente zugreifen? Die Regionalisierung des öffentlichen Personenverkehrs seit 1996 zwang die verschiedenen Verkehrsunternehmen, miteinander in Konkurrenz zu treten. Zur Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit wurden und werden seither die üblichen kapitalistischen Allheilmittel zur Anwendung gebracht:
Aber das kümmert unsere Verkehrsunternehmen nicht. Ihr Verband faßt kurz und bündig zusammen, worum es geht:
Mit diesen Maßnahmen werden die Verkehrsunternehmen in Deutschland auf einen völlig neuen Qualitäts- und Wettbewerbsstandard gebracht, der es ihnen ermöglicht, im europäischen ÖPNV-Wettbewerbsmarkt zu bestehen. [Seite 26]
In den letzten 15 Jahren fand bei Schienen- und Busfahrzeugen geradezu eine technologische Revolution statt. Sogenannte Niederflurfahrzeuge gelten heute als der Stand der Technik und werden bevorzugt gebaut und eingesetzt. Aber es ist nicht allein die Niederflurtechnik, die völlig neue Busse und Straßenbahnen hat entstehen lassen.
Wer einmal mit der U-Bahn in Hamburg gefahren ist, konnte feststellen, daß Lärm nicht notwendig zum öffentlichen Nahverkehr gehört. Dieses subjektive Empfinden einer Geräuschlosigkeit läßt sich auch objektiv feststellen. Neueste Messungen zeigen, daß der in der derzeit gültigen Verkehrslärmschutzordnung festgelegte Wert für U-Bahnen durch die Anwendung neuester Technologie um 4 bis 8 Dezibel unterschritten werden kann. [Seite 34]
Und wie geht das? Der Fahrantrieb wird besser isoliert, der Motor mit Wasser statt mit Luft gekühlt, Absorber werden gegen das Kreischen der Räder in Kurven verwendet. Bei Straßenbahnen kommen zum Beispiel Rasengleise zum Einsatz. Hier hat sich technisch viel getan, so daß gerade Straßenbahnen wesentlich geräuschärmer fahren könnten. [Seite 34]
Allerdings – neue Technologien lassen sich so oder so nutzen: Moderne Informations- und Kommunikationssysteme lassen sich so nutzen, daß die Fahrgästin schon vier Minuten vor Ankunft der Straßenbahn weiß, wann diese kommt. In Darmstadt hat die HEAG ein solches System in Betrieb genommen. Andererseits lassen sich derartige Systeme auch für den ganz normalen kapitalistischen Wahnsinn nutzen.
In der Hamburger Hochbahn werden neuerdings Flachbildschirme eingesetzt, die es ermöglichen, in Fernsehqualität und in Echtzeit betriebliche Informationen an die Fahrgästin zu übermitteln. Andererseits lassen sich hierüber auch Nachrichten, Wetter oder Veranstaltungshinweise übertragen.
Und nicht zu vergessen: Werbung, denn die bringt Geld ins Haus. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir die 24-Stunden-Dauerberieselung mit Werbung haben, oder sollte ich sagen, das 24-Stunden-Gehirnwäscheprogramm, überall, wo wir uns bewegen? [Seite 36]
Ich sagte ja, daß das Buch auch als Leistungsschau bundesdeutscher Verkehrstechnologie zu begreifen ist. So darf es dann auch nicht verwundern, wenn selbst die Fahrzielinformationen das Umschalten zwischen der Information über den nächsten Zug und seinen Reiseweg und einem Werbeblock ermöglichen. Abgebildet wird ein Beispiel aus Hamburg, wo unterhalb der Angabe des Fahrtziels der U-Bahn steht: Italienische Küche bei "San Lorenzo". [Seite 40]
Die Automatisierung des Fahrbetriebs macht auch bei der Fahrerin des Zuges nicht Halt. Die neueren Betriebe fahren zum Teil automatisch, wobei die Fahrerin lediglich die Zugabfertigung an den Haltestellen und die Streckenbeobachtung übernimmt. Unterirdische Geisterzüge sind in der Testphase; am Frankfurter Flughafen sind solche Geisterzüge zwischen den Terminals 1 und 2 längst Realität.
Das hier nicht mehr benötigte Personal kann, so heißt es dann im Buch, flexibel im Netz für andere betriebliche Aufgaben, z. B. den Kundenservice, eingesetzt werden. [Seite 36] An anderer Stelle heißt es dazu:
Mit der Automatisierung des Bahnbetriebs ist demnach nicht zwangsweise Personal aus den Verkehrsunternehmen wegzurationalisieren – es kann bei dieser Betriebsform vielmehr in Kundennähe eingesetzt werden und weniger Routine-, sondern mehr Kundendienstaufgaben übernehmen. [Seite 248]
Das sind die ideologischen Bröckchen, die uns dann vorgesetzt werden, wenn von möglichem Personalabbau die Rede ist. Dabei ist Service für Verkehrsunternehmen doch auch weiterhin oftmals nur ein Fremdwort. Service ist zwar angeblich kundenorientiert. Aber die Realität zeigt die Grenzen dieser ideologischen Behauptung auf: Service nur da, wo er dem Profit dient. Und das ist auch verständlich.
Die Regionalisierung des Bahnverkehrs, die allgemeine Liberalisierung des europäischen Binnenmarkts zwingt die Verkehrsunternehmen geradezu, mit weniger Personal dieselbe Leistung zu erbringen. Hierzu gibt es faktisch zwei Möglichkeiten. Entweder durch neue technische Lösungen oder mit der Verdichtung des Arbeitsablaufs. Beide Möglichkeiten werden genutzt, wie in allen anderen Industrien auch.
Kommt das Verkehrsunternehmen nun mit weniger Personal aus, weil rationalisiert und automatisiert wurde, kann das sogar heißen, daß das Angebot ohne wesentliche Mehrkosten verbessert werden kann. Denn zusätzliche Personalkosten entstehen dann nicht. [Seite 36]
Vielleicht ist es auch so: das zusätzliche Zugangebot ist eigentlich nur als eine innerbetriebliche Verbesserung des Betriebsergebnisses zu sehen, da das Fahrzeug wirtschaftlicher abgenutzt werden kann. Und das wird uns dann als großzügiges Angebot verkauft, für das wir auch noch extra bezahlen sollen.
Neue Technologien finden in den neuesten Eisenbahnen, U-Bahnen oder Straßenbahnen auch an anderer Stelle Verwendung. Die Fahrzeugtechnik ist soweit entwickelt, daß die Züge wesentlich leichter werden können. Die verwendeten Komponenten haben eine Lebensdauer, die so lang ist, daß die Verkehrsunternehmen gehalten sind, sich Gedanken darüber zu machen, wie es den Nutzerinnen dieser Verkehrsmittel nicht langweilig wird.
Also wird darüber nachgedacht, wie diese langlebigen Fahrzeuge so zu gestalten sind, daß sie nach etwa zehn Jahren problemlos und natürlich kostengünstig umgestaltet werden können. Diese bloße Designänderung läßt sich gegenüber den Fahrgästen dann als etwas Neues verkaufen. [Seiten 38 und 50]
Andererseits machen sich die Hersteller der neuen Regionalbahnen ganz andere Gedanken. Es heißt dort:
Ein erhebliches Einsparungspotential dürfte in der Verringerung der Anforderungen an die Lebensdauer der Fahrzeuge liegen. Herkömmliche Schienenfahrzeuge […] werden üblicherweise auf eine Lebensdauer von 30 Jahren und mehr ausgelegt. In diesem Zeitraum sind erhebliche Aufwendungen für die Instandhaltung und Modernisierung der Fahrzeuge erforderlich.
Das ist natürlich ärgerlich und daher stellt sich für die Unternehmen die Frage, wie sie um diese Instandhaltungskosten drumherum kommen. Es heißt dann auch folgerichtig weiter:
Durch eine Verringerung der planmäßigen Lebensdauer […] könnten insgesamt Kosten reduziert werden. [Seite 56]
Bekommen wir dann demnächst die Wegwerf-Straßenbahn? Auf jeden Fall ist das ein weiterer Beleg für die allgemeine kapitalistische und unökologische Verschwendung von Ressourcen.
Aber die Verkehrsunternehmen haben ja nur unser Bestes im Auge. Also erfinden sie Straßenbahntypen, die sich modular auseinandernehmen und zusammensetzen lassen, um dem jeweiligen Bedarf Rechnung zu tragen. Die Niederflurbauweise ist natürlich eine sinnvolle Innovation, vor allem die Busse, die sich an der Haltestelle tiefer legen können, finde ich faszinierend.
Um den öffentlichen Nahverkehr attraktiver zu machen, werden bundesweit seit einiger Zeit neue Strecken in Betrieb genommen. Oft sind es Straßen- oder Eisenbahnstrecken, die in den 60er und 70er Jahren aus dem Verkehr gezogen wurden. Heute werden sie wieder gebraucht, weil damit so viele Fahrgäste vom Auto auf die öffentlichen Verkehrsmittel gelockt werden sollen, daß die anderen Autofahrer wieder freie Fahrt haben.
Hierzu werden Straßenbahnen auf eigene Gleiskörper verlegt oder für Busse extra Spuren zur Verfügung gestellt. Vorrangschaltungen sollen den öffentlichen Nahverkehr schneller werden lassen. Vertaktete Fahrpläne und bessere Verknüpfung einzelner Linien sind sozusagen Stand der Technik.
Daß die Verkehrsunternehmen durch geschickte Planung hierdurch mit weniger Fahrzeugen, also auch weniger Personal auskommen, ist einleuchtend; und es wird bewußt in Kauf genommen. Denn letztlich geht es um die Wirtschaftlichkeit, also um Profit. Das Ganze soll sich ja schließlich auch lohnen.
Wobei hier nicht daran gedacht wird, den öffentlichen Nahverkehr so zu gestalten, daß möglichst viele Menschen vom Auto umsteigen. Dies würde voraussetzen, daß der öffentliche Nahverkehr nicht nur schnell, überall verfügbar und bequem ist, sondern vor allem kostenlos. Die ökologischen und sozialen Kosten der Autogesellschaft sind immens und auf jeden Fall höher als ein für alle verfügbares kostenloses Verkehrssystem.
Aber nein, die Verkehrsunternehmen denken auch darüber nach, wie sie am effektivsten ihren Nutzerinnen das Geld aus der Tasche ziehen können. So halten auch hier elektronische Zahlungsmittel Einzug, die sogenannte Pay Card zum Beispiel. Man oder frau zahlt vorher für eine wiederaufladbare Karte (das Prinzip der Telefonkarte) und kauft damit sozusagen bargeldlos den passenden Fahrschein am Automaten. Und hier zeigt sich, was vom Geschwätz der Serviceorientierung wirklich zu halten ist.
Die zukünftige Fahrgästin muß erst einmal eine Karte besorgen, das Geld also dem Unternehmen zinslos vorstrecken, und darf dann doch wieder zum Automaten rennen, um eine Fahrkarte zu erwerben. Personal für den Fahrkartenverkauf läßt sich so prima einsparen; wie überall darf die Kundin selbst die Arbeit tun, die früher die Bediensteten des Unternehmens geleistet hatten. Das nenne ich wahren Fortschritt und vor allem Service.
Die HEAG wird demnächst ein ähnliches System einführen: die sogenannte GeldKarte.
Und weil es so lustig und typisch ist, zum Abschluß noch ein Zitat aus dem Buch über die Zukunftsfähige Mobilität:
Moderne Eingangsüberwachungssysteme mit berührungslosen Fahrkartenlesern ermöglichen die automatische Abbuchung des Beförderungsentgelts und eine differenzierte Fahrgastzählung. Daneben sollte sich hierdurch die Schwarzfahrerquote […] deutlich vermindern lassen. [Seite 40]
Also da hätte ich einen anderen Vorschlag: wenn alle schwarz fahren dürfen, weil die öffentlichen Verkehrsmittel wirklich öffentlich sind, kann man sich den ganzen technischen Apparat einfach sparen. Das wäre vielleicht was: Die Straßenbahnen führen alle fünf Minuten, wären gut gefüllt, und als Radfahrer müßte ich nicht mehr befürchten, in der Innenstadt von den üblichen Autofahrertrotteln belästigt zu werden. Na ja, man wird ja mal träumen dürfen …
Das von mir besprochene Buch, das letztes Jahr vom Verband Deutscher Verkehrsunternehmen herausgegeben wurde, heißt Zukunftsfähige Mobilität. Es behandelt den ÖPNV in Deutschland und faß die wichtigsten Entwicklungen, wenn auch mit eingeschränkter ideologischer Brille, ganz gut zusammen. Das Buch ist im Düsseldorfer Alba Verlag erschienen, hat 340 farbige Abbildungen und kostet 56 Mark.
Besprechung von : Gila Altmann / Heiner Monheim / Albert Schmidt / Bernhard Strowitzki / Winfried Wolf – Einmal Chaos und zurück. Wege aus der Verkehrsmisere, Neuer ISP Verlag 1998, 144 Seiten, DM 16,80
Wie systematisch der motorisierte Individualverkehr, kurz auch MIV (Mief) genannt, gefördert wird, wie systematisch gleichzeitig ein attraktiver öffentlicher Personennahverkehr be-, wenn nicht verhindert wird, zeigt die Initiative für eine bessere Bahn. Sie beschreibt in einem jüngst herausgekommenen Buch die vorherrschende Verkehrspolitik unter dem Motto Einmal Chaos und zurück und sie will damit gleichzeitig Wege aus der Verkehrsmisere aufzeigen.
Die eine Autorin und die vier Autoren des Bandes sind allesamt Verkehrsexpertin und –experten, sie arbeiten bei den GRÜNEN oder der PDS. Auch wenn hier wiederum nur eine Frau am wichtigen Thema Verkehrspolitik mitarbeitet, findet dennoch eine Akzentverschiebung statt. Gila Altmann, die eine Autorin, beschreibt das so:
Obwohl Frauen mehr als 50% der Bevölkerung ausmachen, gehören ihnen nur etwa ein Viertel der PKW. Frauen besitzen aber nicht nur seltener ein Auto, sie fahren auch weniger. Frauen haben ein pragmatischeres Verhältnis zum Auto als Männer. Die herrschende Verkehrspolitik ist an den Bedürfnissen erwerbstätiger Männer ausgerichtet. Auch der ÖPNV ist zur Zeit auf die Bedürfnisse der erwerbstätigen Männer ausgerichtet und wird auf die Entlastung von Spitzenzeiten reduziert. Die komplizierten Wegeketten von Frauen, die sich aus Familien- und Teilzeitarbeit, Begleit- und Bringedienste ergeben, bleiben unberücksichtigt. Noch immer sind 60% der Frauen ohne Auto unterwegs. […] Bisher sind nur 1,2% der EntscheidungsträgerInnen Frauen. Dementsprechend planen Männer nach ihren Erfahrungen. Das sind eindimensionale Wegeketten: zur Arbeit und zurück und die Fahrt in der Freizeit, die "Fahrt ins Blaue" oder zum Supermarkt "auf der grünen Wiese". [Seite 20]
Eine Aussage, die den Propheten einer zukunftsfähigen Mobilität nicht einmal im Traum eingefallen wäre.
Ein wichtiger Grundpfeiler der deutschen Verkehrspolitik – egal ob Straßenbau oder Bahnstrecke – ist der sogenannte Bundesverkehrswegeplan. Mit welch absurden Methoden versucht wird, ein Projekt, also meist eine Straße, dort unterzubringen, beschreibt ebenfalls Gila Altmann:
Ein Projekt kommt nur dann in den [sogenannten] "vordringlichen Bedarf", wenn es den magischen Nutzen-Kosten-Faktor "3" erreicht, d.h. mit einer investierten Mark müssen drei verdient werden können. Diese sogenannte "Nutzen-Kosten-Analyse" versucht, Aspekte wie Transport- und Wegekosten, Verkehrssicherheit, Zeitersparnis, Beschäftigungseffekte, städtebauliche und Umweltverbesserungen monetär zu bewerten. Die ökologischen Folgekosten des Verkehrs werden dabei systematisch unterbewertet. Zeitgewinne von 2 Minuten und geringste Einsparungen bei den Transportkosten werden rechnerisch zu einem "volkswirtschaftlichen Nutzen" aufgeblasen, während die Verlagerung von Kauf- und Arbeitskraft aus den Regionen in die Zentren ignoriert wird. Der zusätzliche Verkehrsaufwand, der beispielsweise zum Einkaufen zusätzlich aufgebracht werden muß, fällt ebenfalls unter den Tisch. [Seite 8]
Aufgeblasene Projekte, meist zum Wohl der Automobilindustrie. In Darmstadt haben wir die Planung der unsäglichen Nordostumgehung, die inzwischen auch zum Programm der angeblich ökologisch orientierten Partei Die Grünen gehört. Ich wage folgende Voraussage: sollte diese Umgehung jemals gebaut werden, wird spätestens zwei Jahre nach ihrer Eröffnung genauso viel Verkehr den Rhönring verstopfen und dessen Bewohnerinnen und Bewohner belästigen wie heute. Denn neue Straßen, das ist eine allgemeingültige Erfahrung, bringen neuen Verkehr.
Sprachen die Autoren des vorhin besprochenen Buches über Zukunftsfähige Mobilität, so nahmen sie Mobilität als gegeben und notwendig hin. Genau dies wäre jedoch zu hinterfragen. Was für eine Gesellschaft ist das, die Wohn- und Arbeitsorte so voneinander trennt, daß Menschen morgens, nachmittags und sogar nachts stundenlang unterwegs sind – egal, ob zu Fuß oder mit dem Flugzeug?
Mobilität, das heißt ja auch jährlich mehr als 8000 Tote auf deutschen Straßen, 20.000 Schwerbehinderte, über 100.000 Verletzte. Aber es werden munter weiter Straßen gebaut und Autos produziert. Statt dessen werden die technischen Möglichkeiten eines effektiven öffentlichen Nahverkehrs nicht genutzt.
Eigentlich wäre es die Aufgabe der Bundesanwaltschaft, hier Ermittlungen wegen Bildung, Mitgliedschaft und Unterstützung einer Kriminellen Vereinigung nach Paragraph 129 des Strafgesetzbuches aufzunehmen. Aber Bundesanwälte, das weiß ich aus Erfahrung, fahren selbst Auto und brauchen zu ihrem Schutz, denn sie sind ja wichtig, noch gleich eine zweite gepanzerte und vor allem spritfressende Limousine, in der ihre Bodyguards sitzen.
Seit die gute alte Bundesbahn privatisiert und zur Deutschen Bahn AG mutiert ist, gebärdet sie sich wie ein stinknormales kapitalistisches Wirtschaftsunternehmen. Sie versucht, möglichst wenig Personal möglichst viel Leistung abzupressen. Sie lagert Arbeitsabläufe aus, die anderswo profitabler wieder eingekauft werden können. Eine Folge davon ist besispielsweise die Zunahme von Eisenbahnunfällen, bei den Streckenarbeiter getötet wurden. Denn Zuliefererbetriebe arbeiten nicht nach den althergebrachten Sicherheitsstandards der Bahn.
Aber die deutsche Bahn liegt hier voll im Trend. Privatisierung ist weltweit angesagt. Die Folgen sind teilweise noch viel gravierender als hierzulande. In England zum Beispiel kam es seit 1994 vor allem auf den weniger profitablen Strecken zu einer drastischen Verschlechterung des Service. Personal wurde entlassen, Züge fielen einfach aus. (Das kennen wir doch. Zeitweise war nach der Privatisierung das Chaos im Darmstädter Hauptbahnhof fast schon der Normalfall.)
Anfang dieses Jahres stellte die angesehene Financial Times nüchtern fest, daß sich der Bahnbetrieb seit der Privatisierung verschlechtert habe. Strecken wurden dichtgemacht anstatt sie zu betreiben; und die neu konzessionierten Betreiber zahlten dafür lieber ein Strafgeld an die staatliche Aufsichtsbehörde. Das ist nämlich billiger und vor allem – profitabler.
Welche Folgen die deutsche Variante der Privatisierung hatte, beschreibt Winfried Wolf im Kapitel über das ICE-Unglück in Eschede. Die Deutsche Bahn AG beschreibt den Unfallhergang als eine unglückliche Verkettung von Zufällen. Winfried Wolf kommt zum Ergebnis, daß die Verantwortlichen der Bahn wie auch die Hersteller für den Unfall mitverantwortlich sind.
Aber auch hier wird die Bundesanwaltschaft sicher nicht tätig werden.
Der Unglücks-ICE wurde zweieinhalb Stunden vor dem Unfall außerplanmäßig auf freier Strecke gestoppt. Der Triebkopfführer und ein Zugbegleiter hatten "mahlende Geräusche" wahrgenommen. Ein Zugbegleiter stieg sogar aus, konnte aber nichts entdecken. Die Bahn versuchte, diesen Vorgang zu verschweigen. Als er dann öffentlich wurde, hieß es, ein zusätzlicher Zugbegleiter sei zugestiegen.
Auf freier Strecke? Ernsthaft? Hat da wer was zu verbergen?
Beim Unglück in Eschede wurden auch zwei Gleisbauarbeiter getötet. Die Bahn behauptet, der abgerissene Radreifen soll an der Unfallstelle eine Weiche umgestellt haben, so daß der Zug auseinandergerissen wurde. Es könnte aber auch sein, daß die Gleisbauarbeiter die Weiche verstellt haben. So etwas ist schon einmal passiert.
Obwohl die Bahn behauptet hat, ihr ICE sei bislang unfallfrei gefahren, entgleiste 1993 ein ICE in Hanau beim Überfahren einer Weiche. Die Weiche war, anders als normal, nicht verriegelt. Das scheint bei Gleisbauarbeiten üblich zu sein, kann sich also auch täglich wiederholen. Bleibt für Eschede die Frage: wieso gab es dort keine Langsamfahrstelle? Winfried Wolf bat die Bahn hierzu um eine Stellungnahme – die Antwort war Schweigen.
Nun ist Winfried Wolf nicht irgendwer, sondern [war 1998] der verkehrspolitische Sprecher der PDS im Bundestag.
Aber bleiben wir bei der Weiche. Seit einiger Zeit werden im Hochgeschwindigkeitsnetz und auf älteren Strecken mit hohen Anforderungen spezielle Schnellfahrweichen eingebaut. Diese zeichnen sich durch besondere Laufruhe und höhere Spursicherheit aus. Das Unglück, zumindest wie es vom Eisenbahnbundesamt beschrieben wurde, hätte mit einer solchen Weiche so nicht geschehen können.
Aber der Bahn scheint das egal zu sein: nach dem Unglück wurde wiederum eine Weiche alten Typs eingebaut. Es scheint eine Frage der Kosten zu sein, denn die Schnellfahrweichen sind erheblich teurer. Schon hier ein Fazit: an der Sicherheit wird gespart. Das wird im folgenden noch deutlicher.
Ob die Radkonstruktion des Unglücks-ICE wirklich zum Unfall geführt hat, muß offen bleiben. Tatsache ist, daß die von der Deutschen Bahn AG verwendete Konstruktion von Radfelge, Hartgummieinlage und Hartreifen schon seit langem als problematisch bekannt war.
Der japanische Hochgeschwindigkeitsbetreiber Japan East Railways prüfte diese Konstruktion für den eigenen Betrieb und lehnte sie ab. Die japanischen Experten hatten einen erheblichen Verschleiß dabei festgestellt. Die Probleme waren aber auch durch deutsche Prüfberichte bekannt.
Schwerwiegender aber noch: trotz (oder vielleicht wegen ?) bekannter Probleme wurde die Ultraschall-Komponente bei den ICE-Inspektionsanlagen seit Jahren abgeschaltet. Seit etwa Anfang 1994 wurden die Radsätze optisch per Taschenlampe und Hammerschlag kontrolliert.
Daß die Ultraschalluntersuchung die wirksamere ist, beweist die Bahn dadurch, daß sie die Ultraschalluntersuchungen nach dem Unglück von Eschede wieder aufgenommen hat. Ein alternatives und möglicherweise geeigneteres Meßverfahren, die sogenannte Wirbelstromprüfung, findet bis heute keine Anwendung.
Die Wirtschaftswoche bemerkte 1995:
Bahnfahren könnte sicherer sein. Doch aus Kostengründen setzt die Deutsche Bahn AG die vorhandene Sicherheitstechnik nicht ein.
Und warum?
1991 ging die Bahn bei ICEs von einer Instandhaltungsreserve von 20 Prozent aus, das waren damals 12 von 60 ICE-Zügen der 1. Generation. Heute ist die Reserve Null, alle Züge sind im Einsatz, permanent. Entsprechend müssen auch die Instandhaltungsfristen angepaßt werden. Sie wurden von 5000 auf 240000 Kilometer zum Beispiel für die Ultraschalluntersuchung ausgedehnt.
Das ist Kapitalismus. Pur. Und die Folgen nennen sich dann unglückliche Verkettungen von Zufällen. Ich wußte nicht, daß Profit ein Zufall ist. Ein Unglück vielleicht schon.
Ermittelt wird jetzt gegen zwei Bahnmitarbeiter, die im Wartungswerk in München Mängel am Unglücks-ICE festgestellt haben sollen. Ermittelt wird nicht gegen die Verantwortlichen, die dafür gesorgt haben, daß die Ultraschalluntersuchungen unterlassen wurden. Wie oft werden solche Mängel schon festgestellt worden sein? Und wie oft werden die ICEs trotzdem gefahren sein, weil die Bahn keine Betriebsreserve mehr vorsieht und jeden ihrer Züge braucht?
Nach dem Unfall von Eschede kam aber noch etwas ganz anderes zum Vorschein. Die als Ersatz für die zeitweise ausgemusterten ICE-Garnituren verwendeten Intercity- und Interregio-Garnituren fuhren auf der Strecke Hannover-Frankfurt auch nicht viel langsamer als die Hochgeschwindigkeits-ICEs. Stellt sich die Frage, ob 250 oder – wie geplant – 350 Kilometer in der Stunde sein müssen. Der Energieverbrauch pro befördertem Fahrgast liegt dann höher als beim Auto; soviel zur unökologischen Stromschleuder ICE.
Einmal Chaos und zurück, so heißt der dritte Band der Initiative für eine bessere Bahn. Darin geht es auch, so der Untertitel, um Wege aus der Verkehrsmisere. Das Buch ist vor kurzem im Neuen ISP Verlag erschienen und kostet 16 Mark 80. Das interessante daran ist auch, daß hier Abgeordnete und Mitarbeiter der GRÜNEN und der PDS zusammenarbeiten. Die beiden anderen Bände der Initiative stelle ich gleich vor.
Besprechung von : Jan Gympel / Ivo Köhler / Konrad Koschinski / Bernhard Strowitzki / Winfried Wolf – »Tunnelmania«. Licht & Schatten im Untergrund, Neuer ISP Verlag 1996, 109 Seiten, DM 12,80
und
von : Winfried Wolf – »Stuttgart 21«. Hauptbahnhof im Untergrund? Neuer ISP Verlag 2. Auflage 1996, 101 Seiten, DM 9,80
Die Gigantomanie unsinniger Verkehrsprojekte wird in zwei anderen kleinen Büchlein der Initiative für eine bessere Bahn beschrieben.
Zum einen wird auf eines der Großprojekte der Deutschen Bahn AG eingegangen, nämlich das Versenken verschiedener Hauptbahnhöfe in den Untergrund. In Frankfurt, München und Stuttgart sollen die Kopfbahnhöfe, angeblich aus Gründen der Beschleunigung des Zugverkehrs, abgerissen werden. Die Züge kommen dann in neu errichteten unterirdischen Bahnhofshallen an und werden durch Tunnel quer durch die Städte geführt.
Neben "Frankfurt 21", "München 21" gibt es auch "Stuttgart 21". Die futuristische Namensgebung verschleiert, daß es auch hier um zweierlei geht: ein gigantisches milliardenschweres Abzocken auf dem Immobilienmarkt und um eine deutliche Verschlechterung des öffentlichen Nahverkehrs. Kein Wunder, denn in Vorstand und Aufsichtsrat der Deutschen Bahn AG sitzen genügend Vertreter der Automobillobby.
Winfried Wolf beschreibt in "Stuttgart 21" die Methoden und Hintergründe. Seine Ergebnisse lassen sich problemlos auf das parallele Projekt in Frankfurt übertragen. Er beweist: Kopfbahnhöfe sind besser als ihr Ruf. Und er beweist: die geplanten Tunnelbahnhöfe bringen eine Verkürzung der Fahrzeit, die durch eine bessere Technik der heutigen ICE-Generation längst hätte erreicht werden können. Ganz ohne Milliardeninvestitionen. Ich erinnere daran, daß die ICEs der 1. Generation aufgrund eines Konstruktionsfehlers nach Schließen der Türen fast eine Minute warten müssen, bis sie abfahren können.
Das Buch heißt "Stuttgart 21", ist 1996 in erweiterter Auflage im Neuer ISP Verlag erschienen und kostet 9 Mark 80.
Warum legen Männer aber soviel Wert darauf, möglichst viele Verkehrswege unter die Erde zu verlegen. Warum ein Tunnel unter den Ärmelkanal, wenn er verkehrstechnisch wenig Nutzen bringt? Warum riesige Tunnel- und Brückenprojekte von Schleswig-Holstein über Dänemark bis nach Schweden? Warum wird der öffentliche Personennahverkehr in Innenstädten möglichst unter die Erde gelegt? Damit Autos umso besser die Luft verpesten können?
Als zweiter Band der Initiative für eine bessere Bahn erschien ebenfalls 1996 das Buch Tunnelmania. Licht und Schatten im Untergrund. Es beantwortet die gerade gestellten Fragen und macht so noch einmal die zerstörerische Logik kapitalistischer Verkehrspolitik deutlich. Auch dieser Band ist im Neuer ISP Verlag erschienen und kostet 12 Mark 80.
Jingle Alltag und Geschichte
Da gibt es in Darmstadt immer noch Leute, die die Straßenbahn nach Kranichstein verhindern wollen. Da gibt es immer noch Leute, die nicht begreifen, daß ein gut ausgebauter und vor allem kostengünstiger öffentlicher Nahverkehr in jeder Hinsicht effektiver, gesünder und sogar bezahlbarer ist als die Fortsetzung der Autogesellschaft um jeden Preis.
Haben diese Damen und Herren jemals gegen eines der vielen unsinnigen Straßenbauprojekte protestiert? Etwa die überflüssige B3-Umgehung oder die Nordostumgehung? Nein, haben sie nicht.
Ja, auch die B3-Umgehung ist unsinnig. Die Bewohnerinnen und Bewohner von Arheilgen mögen anderer Ansicht sein. Aber mal ganz ketzerisch: was hätte dagegen gesprochen, im Norden Arheilgens ein Parkhaus mit Straßenbahnanschluß zu bauen und dafür die Frankfurter Landstraße für den Durchgangsverkehr zu sperren? Ein Parkhaus, groß und häßlich, so richtig mit Beton und einer riesigen Aufschrift: Kulturdenkmal der Automobilgesellschaft. Auf so einen Gedanken sind nicht einmal die darmstädter GRÜNEN gekommen. Aber das wundert mich auch nicht.
Am Mikrofon verabschiedet sich Walter Kuhl. Und zum Schluß noch ein Hinweis in eigener Sache: diese Sendung wurde garantiert nicht von der Automobilindustrie gesponsert.
Diese Seite wurde zuletzt am 2. März 2008 aktualisiert. Links auf andere Websites bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. © Walter Kuhl 1998, 2001, 2008. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.
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