FDP gegen attac
Kante für Ware: FDP (hinten am Luisenkonsumtempel) gegen attac (vorne)

Phantomverbrechen

17. Folge: Die Obrigkeit

Sendemanuskript

Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte

Radio: Radio Darmstadt

Redaktion und Moderation: Walter Kuhl

Ausstrahlung am:

Montag, 14. März 2011, 17.00 bis 18.00 Uhr

Wiederholt:

Montag/Dienstag, 14./15. März 2011, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 15. März 2011, 05.10 bis 06.10 Uhr
Dienstag, 15. März 2011, 11.10 bis 12.10 Uhr

Zusammenfassung:

Eine Naturkatastrophe zerlegt ein Produkt der Atommafia mit unabsehbaren Folgen. Mit Libyen macht man gute Geschäfte, die auch mit eventuellen Nachfolgern fortgeführt werden sollen. Kriminelles Nachplappern wird begleitet von plagiierendem Journalismus. Die Grünen sind ein Projekt aufstiegsorientierter neuer Eliten. Losgelöst von den Vorgaben der Obrigkeit versuchte vor 140 Jahren eine Stadt, sich selbst zu regieren. Dafür wurde sie mit Massenmord abgestraft.

Besprochenes Buch:

Jutta Ditfurth : Die Himmelsstürmerin, Rotbuch Verlag

Zur Neoliberalisierung von Radio Darmstadt und seinem Trägerverein und zur Ausgrenzung mehrerer Mitglieder meiner Redaktion seit 2006 siehe meine ausführliche Dokumentation.


Inhaltsverzeichnis


Einleitung 

Jingle Alltag und Geschichte

Diese Sendung wurde vorproduziert. Diese Sendung wurde nicht freiwillig vorproduziert; sie wurde vorproduziert, weil der Trägerverein von Radio Darmstadt seine geltende Sendezulassung nicht einhält und die LPR Hessen, die Hessische Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien, in Kassel diesen rechtswidrigen Zustand duldet.

Und weil diese Sendung vorproduziert werden mußte, fehlt es mir an tages­aktuellen Berichten und Einschätzungen zu den Übeln dieser Welt. In Libyen läßt ein jahrelang von den Merkels und Sarkozys dieser Welt gehätschelter, weil nützlicher Diktator eine aufmüpfige Bevölkerung bombardieren und beschießen. Jetzt stehen dieselben Merkels und Sarkozys vor dem Problem, wem sie die zuweilen tödliche Aufgabe anvertrauen können, die Migrations­ströme aus dem afrikanischen Kontinent von Europa fernzuhalten.

In Japan erlebt die dortige Atommafia ihr Desaster, weil die Kühlung ihrer hochgerüsteten Maschinerie versagt. Der Betreiber der Reaktoren in Fukushima ist für sein betrügerisches Atommanagement bekannt. Das Erdbeben vom vergangenen Freitag war somit der Auslöser, nicht der Grund für diese Katastrophe. Allerdings wird auch in Deutschland munter getäuscht und vertuscht. Wenn nun Angela Merkel abwiegelnd ankündigt, die Sicherheit deutscher Schrott­reaktoren überprüfen zu wollen, bin ich geneigt, den heutigen Tag zum 1. April zu ernennen. Natürlich sind deutsche Reaktoren sicher, zumindest solange, bis das Restrisiko uns den Rest gibt.

Am Mikrofon ist Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

 

Kernschmelze und gute Geschäfte

Allein, so schlimm es die japanische Bevölkerung auch getroffen haben mag –und es ist schlimm –, so bedeutet das Blitzlicht­gewitter der internationalen Medien für selbige Medien eine willkommene Ablenkung von der Berichter­stattung über das im Namen von Geld und Profit angerichtete Desaster, das zwei Drittel der Erdbevölkerung tagtäglich heimsucht. Es bedarf keines Schocks der Magnitude 8,9, um Millionen von Menschen obdachlos zu halten, um mehr als eine Milliarde am Hungertuch nagen zu lassen oder um Tag für Tag Zigtausende Kinder krepieren zu lassen, nur weil es nicht profitabel ist, sie zu ernähren, sie zu kleiden, sie mit sauberem Trinkwasser zu versorgen oder zu impfen. All dies wäre möglich; der Reichtum dieser Welt ist groß genug. Aber dieser Reichtum muß ja für einige Wenige abgeschöpft werden.

Wer redet noch von den Opfern des Erdbebens in Haiti am 12. Januar 2010, das weitaus mehr Menschenleben gefordert hat als das jetzige in Japan? Japan liegt zwar genausowenig wie Haiti vor unserer Haustüre, aber die mediale Penetration einer geschockten Metropolenge­sellschaft ist weitaus höher. Die Gaffer haben ihr Thema, doch irgendwann zieht die mediale Karawane weiter und sucht sich ihr nächstes Opfer.

Das Erdbeben ist nicht hausgemacht, die Kernschmelze, sofern sie erfolgt ist, jedoch schon. Hausgemacht ist auch die Gemeinheit einer globalen kapitalistischen Gesellschaft. Während es nach der sozialen Eruption der 1960er Jahre noch eine gewisse soziale Verantwortung und eine solidarische Denkweise gab, von der sich aus gesundem Eigeninteresse nicht einmal die herrschenden Klassen ganz freimachen konnten, regiert seit zwei Jahrzehnten die Knute der neoliberalen Idiotie. Nein, es ist keine Idiotie. Der Wahnsinn ist endemisch. Der Wahn, Menschen und ganze Gesellschaften marktwirt­schaftlich nach ihrer Nützlich­keit zu befragen, ist schon einige Jahrhunderte alt. Nützlich ist allein, was Profit ermöglicht. Alles andere sind Kosten. Kosten, die möglichst anderen aufzudrücken sind. Und so schreitet die Verrohung dieser Gesellschaft voran, woran uns Jutta Ditfurth in einem nachher eingespielten Telefoninter­view erinnern wird.

Diese Verrohung entsteht nicht in den Elendsge­bieten dieser Republik. Auch wenn uns die Bild-Zeitung und die Jugendredaktion dieses Senders einreden wollen, daß kriminelles Handeln überhand nehmen, so handelt es sich um nichts weiter als um eine Projektion der herrschenden Klasse und ihrer medialen Lakaien. Ich war baß erstaunt, als ich am 12. Februar [2011] einer Ansammlung von Polizei­meldungen lauschen durfte, die uns Jugend­redakteurin Margarita Nadolonski kredenzte. Darmstadt, so der Tenor ihrer Ausführungen, sei „eine gefährliche Stadt“. [1]

Ich frage mich, ob diese indoktrinierte Verblödung die Sorte Bildung ist, die allseits beschworen wird. Nun wußte unsere die Polizei­meldungen nachplapperde Jugend­redakteurin noch nichts von der Kriminalstatistik der Darmstädter Polizei, die erst einen Monat später veröffentlicht werden sollte, und nach der Darmstadt sogar die sicherste Großstadt Hessens ist. Womöglich hat auch nur Sigmund Freud im Hintergrund gewirkt, denn die junge Redakteurin bediente sich in derselben Sendung recht freizügig eines Internetartikels, selbstverständlich ohne uns die Quelle ihres geklauten Beitrags zu nennen. Das ist zwar kein Verbrechen, aber genauso unredlich wie die Kriminalitäts­hysterie, die seitens der CDU und mitunter auch der SPD nicht besser geschürt werden könnte.

Dabei ist es doch so: eine globale Gesellschaft, deren Werte kriminell sind, weil sie Hunger und Armut, Ausbeutung und Tod hervorbringen, wird folgerichtig etwas hervorbringen, was sie selbst kriminell nennt. Eine globale kapitalistische Gesellschaft, die durch Gewalt entstanden ist und die ohne die Gewalt ihrer Schutztruppen nicht auskommt, wird folgerichtig Menschen hervorbringen, die sich gewalttätig das zu nehmen versuchen, was ihnen dieselbe Gesellschaft vorenthält. Das ist nicht schön, aber erklärbar. Ich glaube nicht, daß sich Frau Nadolonski jemals mit der Frage­stellung beschäftigt haben, wer eigentlich definiert, was kriminell ist und was nicht. Was als kriminell betrachtet wird, ist nicht zuletzt eine Frage sozialer Auseinander­setzungen. Kriminell ist es nämlich nicht, täglich Zigtausende Kinder krepieren zu lassen, kriminell ist hingegen schon, im Supermarkt einklauen zu gehen.

Doch liegt gerade hier das Absurde auf der Hand. Stellen wir uns einfach eine Gesellschaft vor, in der nicht das Profit­interesse einer Minderheit regiert, sondern der ohnehin vorhandene, weil von einer Mehrheit produzierte gesellschaftliche Reichtum so verteilt wird, daß alle daran gleichermaßen partizipieren können. Eine solche Gesellschaft würde es für absurd halten, wenn in den Zentren der Lebensmittel­verteilung, die wir heute Supermarkt, Erlebniswelt und Einkaufs­zentrum nennen, sich lange Schlangen vor Apparaturen bilden würden, die zu nichts weiter da sind, als Kupferscheiben, Papierschnitzel oder Plastikkarten von einer Hand in die andere wandern zu lassen. Grob gerechnet verbringen wir mindestens einen Monat unseres Lebens in derartigen Menschenauf­läufen, und zwar gerechnet vierundzwanzig Stunden pro Tag. Diese gesellschaft­liche Verschwendung von Zeit und Ressourcen würde einer solidarischen Gesellschaft derart idiotisch vorkommen, daß sie einen blaugelben Propagandisten derartigen Schwachsinns mit Hohngelächter durch die Straßen jagen würde.

Aber hierzulande hat ja der Wahnsinn Methode. So etwa auch in Babenhausen. Während einige Kommunen, zu denen nicht Darmstadt gehört, gegen das neue Anflug­verfahren am Frankfurter Flughafen klagen wollen, beschloß der Babenhäuser Stadtrat, sich da fein herauszuhalten. Der Fraktionsvor­sitzende der dortigen CDU, Fridel Sahm, brachte die Sache auf den Punkt: Eine Klage würde der eigenen komfortablen Situation schaden. Und das ist ja auch wahr. Sollen doch die Anderen unter Fluglärm und all den Nettigkeiten leiden, welche uns die Fraport zugunsten eines allgemeinen Mobiltäts­wahns schenkt. Hauptsache, uns geht es gut. Und mit genau dieser Geisteshaltung verteidigen Kapitalverbände und Gewerkschaften, Medien und dumm Gehaltene den Standort Deutschland, mitunter auch den Standort Darmstadt. Eine Solidarität mit den anderen Ausgebeuteten und Entrechteten dieser Welt würde ja unsere eigene vergleichsweise gute Situation beschädigen.

Deshalb waren die Geschäfte mit Libyens Gaddafi auch so wichtig, auch die Waffengeschäfte. Der freundliche Diktator mit seinen kuriosen Ideen wurde gebraucht, damit nicht die Hungerleider dieser Welt aus den afrikanischen Staaten südlich der Sahara hierzulande das Paradies entdecken. Kaum auszudenken, wenn andere Menschen es wagen, an unserem hart verdienten Wohlstand teilhaben zu wollen. Das geht ja nun wirklich nicht! Lieber solidarisch sein mit denen, die uns alles nehmen und ein paar Brotkrumen lassen und tolle Castingshows bieten, als mit den Millionen, mit denen wir zusammen die Reichenklasse auf ihr Altenteil auf dem Mururoa-Atoll abschieben könnten. Ja, so sind wir eben. Ein paar Tränen über die Ertrunkenen im Mittelmeer sind natürlich obligatorisch, denn wir sind ja keine Unmenschen.

Nun wackelt die Position des Bündnis­genossen Gaddafi, und die herrschenden Klassen Westeuropas halten schon einmal vorsichtig nach neuen Kumpanen Ausschau. In Tunesien und Ägypten beispielsweise. Krass, aber durchaus berechnend, fand ich die Aussage des Präsidenten des Bundesverbandes Großhandel, Außenhandel, Dienstleistungen, eines gewissen Anton Börner. Der meinte nämlich am vergangenen Dienstag:

„Wir haben auch eine gewisse Portion an Wiedergut­machung zu leisten, wir haben mit diesen Regimen sehr eng zusammenge­arbeitet. Und es ist ja nicht so, dass wir nicht gewusst haben, wo die ganzen Gelder hinfließen, Geschäft ist halt gemacht worden.“

Genau, es ist ein Geschäft gemacht worden. Da zählen weder Menschenrechte noch Leichen, sondern nur die klingende Münze. Die Wiedergut­machung besteht dann darin, den Gesellschaften, die sich von ihrem Diktator befreit haben, dabei zu helfen, sich ganz demokratisch eine neue Obrigkeit auszusuchen, die dann mit dem Verband des Herrn Börner exquisite Geschäfte machen kann. Tja, es geht doch nichts über geniale kommunikative Sprachregelungen.

 

Lokale Agenda 2010

Gewiß, hierzulande gibt es auch Armut. Unser Noch-Oberbürger­meister Walter Hoffmann war ja ein freudiger Claqueur der rot-grünen Agenda 2010, die Millionen von Menschen in Armut und Entrechtung gestürzt hat. Hartz IV ist ja kein von außen über uns herein gebrochenes Schicksal, sondern wurde uns von den Gutmenschen dieser Republik geschenkt, die es eben gut meinten mit den Kapitalisten und ihren Nutznießerinnen. Überall flexible, herumge­scheuchte, recht- und wehrlos gemachte Arbeitssklaven­heere sind nützlich, überaus nützlich. Die neu ausgebrochene allgemeine Lohndrückerei, die vor allem auf dem Rücken der Frauen ausgetragen wird, ist ein Ergebnis des Zusammen­bruchs des Realen Sozialismus. Nachdem der eingebildete Klassenfeind im Osten sein Leben ausgehaucht hat, kann munter über uns hinwegge­trampelt werden.

Sollten wir uns da nicht wehren? Nun, die bürgerliche Gesellschaft hat auch hier vorgesorgt. Ehe der Protest in Bahnen verläuft, die dem Kapital nun gar nicht gefallen könnten, hat selbiges eingesehen, daß eine gewisse demokratische Fassade den Unmut so kanalisiert, daß er wirkungslos verpufft. Und deshalb dürfen wir alle vier oder fünf Jahre die Repräsentanten der Obrigkeit wählen, die völlig losgelöst von ihrer Wählerschaft das Süppchen der Reichen und Mächtigen köcheln und kredenzen. In zwei Wochen dürfen wir dann mal wieder ran an die Wahlurnen. Die Auswahl ist ja auch riesengroß. Bunte Plakate lächeln uns an, versprechen uns die dollsten Illusionen, dabei wird erst nach dem Wahltag Kassensturz gemacht. Nun mag es ja einen Unterschied machen, ob der neue Oberbürger­meister Rafael Reißer von der CDU heißt oder Jochen Partsch von der Partei der grünen Gentrifizierung im Oppenheimer Park. Aber im Grunde genommen dürfen wir uns ein bißchen selbst verarschen, anstatt die ganze Bäckerei zu übernehmen und selbst zu betreiben.

Ehrlich ist ja immerhin die Partei der sozialen Ungerechtig­keit schlechthin. Auf dem Luisenplatz sah ich sie am Samstag mit ihrem gelbblauen Stand und einer unmißver­ständlichen Ansage: „Klare Kante.“ Ja, wer die Arnemänner und Blums kennt, weiß, wessen klare Kante da über uns herunterge­brochen wird. Na gut, wer meine Sendung hört, wird sicherlich nicht die Autisten von der Bereicherungs­front wählen. Aber die FDP spricht offen das aus, was die anderen Parteien nur verklausuliert benennen, um ihre Wählerschaft nicht zu verprellen. Auch das Plakat „Sozial ist, was Arbeit schafft“ sagt uns alles. Weder gibt es eine Aussage über die Qualität dieser Arbeit, noch, was diese Arbeit die Gesellschaft kosten wird, noch, mit wieviel Ausbeutung ein wie großer Profit dabei für die Jungs der neoliberalen Erweckung herausspringt. Damit die hiermit Beglückten nicht auf dumme Gedanken kommen, hat das Landgericht Köln einer Einstweiligen Verfügung stattgegeben, mit denen Hartzies das Glücksspiel untersagt ist.

Die damit verbundenen sozialverächt­lichen Unterstellungen sind unverschämt, aber typisch deutsch. Zwar ist es richtig, daß Hartzies alles zu unternehmen haben, um sich aus der obrigkeits­staatlich geführten Schikanemaschine der Erwerbslosen­agenturen, die jetzt Jobcenter heißen, zu befreien. Glücksspiel gehört nicht dazu. Nur harte Arbeit, möglichst bei den Sklavenhaltern der Zeitarbeitsfirmen.

Die Große Koalition von FDP, CDU, SPD und Grünen legt uns in zwei Wochen eine weitere Möglichkeit vor, das Kreuzchen an der falschen Stelle zu machen. Eine Verfassungs­änderung soll in Hessen längerfristig eine Schuldenbremse ermöglichen. Das klingt so gut, daß es einer überwälti­genden Mehrheit einleuchten wird. Schulden muß man und frau ja schließlich auch im täglichen Leben brav zurückzahlen. Wer will schon über die eigenen Verhältnisse leben? Daß uns dieselbe Koalition die Schulden eingebrockt hat, um damit ihre bourgeoisen Erfordernisse zu finanzieren, verschweigt sie vorsichtshalber.

SPD-WahlplakateNun finanziert sich jede kapitalistische Gesellschaft über Steuern und Anleihen. Der medial unterfütterte Kampf gegen die Schulden richtet sich nicht gegen die Verschwendung gesellschaft­lichen Reichtums zugunsten der herrschenden Klasse, sondern gegen uns. Wir kosten zu viel. Sozialklimbim und Kultur sind ein Kostenfaktor, sie werden angesichts von Millionen austauschbarer Erwerbsloser nicht mehr benötigt. Also weg damit. Damit in Zukunft keine Kommune mehr auf die Idee kommen kann, sich derert Überflüssiges zu leisten, wird eine Daumenschraube angelegt. Nur, was an Steuern hereinkommt, darf ausgegeben werden; und zunächst sind hierbei die Bedürfnisse der kapitalistischen Verwertungs­maschine zu berücksichtigen.

Eher erheitert haben mich zwei Wahlplakate der SPD. Auf dem einen versichert uns Walter Hoffmann unseres Darmstadts, doch im Bildhinter­grund wird womöglich schon sein Nachfolger aufgebaut. Schaut mal genau hin; die Symbolik finde ich klasse. Wenn dann ein weiteres Plakat derselben ehemals roten Partei direkt darunter verkündet, auch für künftige Generationen Werte erhalten zu wollen, dann sollten wir nicht unbedingt gleich vom Zynismus der Filzmacht sprechen. Es steckt selbst im verlogensten Wahlver­sprechen ein Körnchen Wahrheit. Die Werte, die erhalten bleiben, sind ein Überbleibsel, ein Biotop, das es gegen die Bösewichte von blaugelb, orangeschwarz und reinstgrün zu verteidigen gilt. Längst weggeschenkt wurden die Werte der Solidarität und des Sozialen Anfang dieses Jahrtausends durch die rot-grüne Koalition in Berlin. Walter Hoffmann war damals Bundestagsab­geordneter und unterstützte das Demontage­projekt aus vollem Herzen.

Zu den Grünen und ihrer verlogenen Moral sagt uns gleich Jutta Ditfurth etwas. Bleibt die Partei „Die Linke“, die so marginal bleiben wird wie die aufrechten Ritter aus dem Hause Uffbasse. Bemerkenswert finde ich, daß selbige „Linke“ ein wesentlich ökologischeres und durchdachteres Verkehrskonzept für Darmstadt vertritt als die in ihren Pöstchen flügellahm gewordenen Grünen. Wer die Grünen über die Jahrzehnte verfolgt hat wie ich, wundert sich darüber kein bißchen. Wer einmal mittendrin gewesen ist, erst recht nicht. Jutta Ditfurth, einst eine der Bundesvorstands­sprecherinnen dieser Partei, hat soeben ein neues Buch herausgebracht. Es heißt: „Krieg, Atom, Armut. Was sie reden, was sie tun: Die Grünen“. Wer vorhat, in zwei Wochen entweder diese Partei oder ihren Frontmann Jochen Partsch zu wählen, sollte vielleicht doch einen Blick in den Spiegel der Realität werfen. Philipp Eckstein von Radio Dreyeckland in Freiburg hat das Buch gelesen und sprach hierüber mit der Autorin; und ich übernehme dieses 33-minütige Interview gerne.

Nach dem Interview stelle ich einen Roman vor, den Jutta Ditfurth schon vor knapp anderthalb Jahrzehnten geschrieben hat und der im vergangenen Herbst neu aufgelegt wurde. Ein Roman über die Pariser Commune, die im Mai 1871 mit deutscher Hilfe zerschlagen und ermordet wurde.

Das Interview mit Jutta Ditfurth kann mit neben­stehendem Player angehört oder auf dem Audioportal des Bundesverbandes Freier Radios heruntergeladen werden.

 

Selbstregierung ist ein Verbrechen

Besprechung von: Jutta Ditfurth – Die Himmelsstürmerin, Rotbuch Verlag 2010, 416 Seiten, € 12,95

1998 veröffentlichte Jutta Ditfurth, die ihr soeben im Gespräch mit Philipp Eckstein von Radio Dreyeckland gehört habt, einen Roman über die Pariser Commune. Als ich dieses Buch, von dem ich gar nicht mehr weiß, wer es mir aus welchem Anlaß geschenkt hat, damals gelesen habe, dachte ich mir, Jutta Ditfurth sollte keine Romane schreiben. Ich fand ihren Roman „Die Himmelsstürmerin“ doch recht traditionell und kitschig. Nun bin ich kein Literaturkritiker und ich lese auch selten belletristische Werke. Derartige Bücher zu besprechen, überlasse ich lieber Cornelia Roch aus der Redaktion „Gegen das Vergessen“; die kann das viel besser als ich.

Aber – als ich im vergangenen Oktober Jutta Ditfurth auf der Frankfurter Buchmesse traf, als sie ihren Roman signieren wollte, dachte ich mir, warum ihn nicht ein zweites Mal lesen? Die Neuauflage, die im vergangenen Herbst bei Rotbuch herausge­kommen ist, lag seither bei mir auf einem großen Bücherstapel; doch nun dachte ich, es ist Zeit, ihn auch endlich zu lesen und zu besprechen. Denn – es ist ja nicht einfach eine kitschige Romanze, die hier vor mir lag, sondern gleichzeitig ein politischer historischer Roman. Die Pariser Commune war nämlich etwas so Ungeheuerliches, daß zu ihrer Vernichtung die vor Paris lagernden deutschen Truppen ihre französischen Kriegsge­fangenen freiließen, damit die bürgerliche Regierung in Versailles ihre bewaffneten Haufen auf doch recht friedliche Pariser Bürgerinnen und Bürger loslassen konnte. Und die nochmalige Lektüre hat sich gelohnt. Ich bin bereit, mein Urteil als vorschnell zu revidieren.

Buchcover Die HimmelsstürmerinSicher, eine Liebesge­schichte spinnt sich auch weiterhin durch die rund 400 Seiten. Dennoch ist es eine recht ungewöhnliche Geschichte, bei der die Autorin für das Gelingen ihres Plots die eine oder andere Verrenkung machen muß, damit ein Solinger Handwerker und eine Tochter aus adeligem Haus eine Revolution gegen die Obrigkeit kennenlernen, wie sie die Welt noch nicht erlebt hatte. Eine Revolution, in der nicht nur die zweckent­fremdete Urgroßmutter der Autorin, Gertrud von Beust, und der Messerschleifer aus Solingen Albert Lauterjung, sondern eine ganze Stadt lernen mußten, was es heißt, keinen Befehlen und Bürokraten mehr zu gehorchen, sondern sich selbst zu verwalten. Es ist dieselbe Pariser Commune, der Karl Marx in seiner Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich ein Denkmal gesetzt hat, und es ist eine Selbstver­waltung, die ganz gehörig an den Fesseln der verlogenen bürgerlichen Moral gerüttelt hat. Vor allem aber – die Stadtregierung war ihren Wählern (Frauen durften selbst hier nicht wählen) gegenüber verantwortlich und hatten deren Interessen auch wahrzunehmen.

Die Geschichte beginnt damit, daß Gertrud von Beust an den Herzogshof nach Glücksburg an der dänischen Grenze verscherbelt wird, damit ihr Vater seinen adeligen Grundbesitz im thüringischen Langenorla halten kann. Sie reißt aus und gelangt auf recht merkwürdigen Umwegen nach Paris. Albert Lauterjung hingegen organisiert einen Streik, der vom mutigen preußischen Militär rücksichtslos zusammenge­schossen wird. Es sind dieselben Preußen und ihre Verbündeten, die im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 geradezu heldenhaft ganze Dörfer einäschern, die Bevölkerung terrorisieren und Männer, Frauen und Kinder nach Gutdünken abknallen. Das lernen wir nicht in der Schule, aber die dort vermittelte Bildung soll ja auch nicht empören, sondern nützliche, weil verwertbare Mitglieder einer Ausbeutergesell­schaft hervorbringen. Mit einem Heer, das er verabscheut, marschiert Albert Lauterjung nach Paris, und dort desertiert er zum französischen Erzfeind.

Was geschieht mit einer wohlbehüteten Frau aus reaktionärsten Kreisen, wenn die Welt anders ist als sie es gelernt hat, wenn sie ohne allmächtige Obrigkeit auszukommen trachtet? Was verblüfft einen jungen Mann, wenn er sich anstecken läßt vom Aufbau einer neuen Gesellschaft? Kann man Ratten essen? Weshalb benötigt eine solche Kommune kein Standesamt mehr? Und wo sind all die Bürokraten geblieben?

Das Spannende an dem Roman ist weniger die doch recht traditionell aufbereitete heterosexuelle Liebesge­schichte; vielmehr läßt uns die Autorin an der Verwunderung all derer teilhaben, die eine Revolution tagtäglich neu zu gestalten suchen, die in ihren Widersprüchen gefangen sind, und die gleichzeitig offen sind für all die Möglichkeiten, die ihnen eine Gesellschaft ohne kapitalistische Ausbeuter und deren Schergen eröffnet. Die Frauen von Paris durften zwar (noch) nicht wählen, aber bewaffnet gegen die in Versailles versammelte Obrigkeit kämpfen. Es waren die Frauen von Paris, die am 18. März 1871 im belagerten Paris den Aufstand gegen das reaktionäre französische Regime begannen, ein Regime, das bei der Nieder­schlagung der Commune zeigte, wozu eine bürgerliche Regierung fähig ist, wenn es darum geht, Ausbeutungs- und Herrschaftsver­hältnisse zu sichern. Sie scheut vor keinem noch so abscheulichen Verbrechen zurück.

Es ist ein Roman, der vor genau einhundert­vierzig Jahren spielt, und der in so manchem auch heute noch aktuell ist. Denn es reicht nicht, gegen die herrschenden Verhältnisse zu protestieren und den mörderischen Wahn profitabler Geschäfte­macherei anzuprangern. Ohne eine Vision einer anderen Welt und ohne eine Vorstellung davon, was alles auf uns zukommt, sollten wir die Bäckerei doch einmal übernehmen, werden wir uns irgendwann frustriert esoterischen oder anderen Spinnereien zuwenden, wie der Altlinke in Jutta Ditfurths „Die Himmelsstürmerin“.

Überhaupt findet sich die eine oder andere bissige und treffende Anspielung auf heutige Verhältnisse und ideologische Gedankenwelten, ohne daß sie als störend empfunden würden. Man oder frau merkt dem Roman die sorgfältige Recherche damaliger sozialer und politischer Verhältnisse an [2], allerdings auch die roman­technische Schwierigkeit, uns Heutigen durch geschickte Dialoge in diese Verhältnisse einzuführen: „Die Jugend hat keine Allgemeinbildung mehr. Sehr bedauerlich.“ [3] Der im Rotbuch Verlag herausgebrachte Roman hilft dem ab. Er ist eine zuweilen vergnügliche, dann doch recht bittere Lektüre, mit einem offenen Ende. Wir müssen es nur aufgreifen. Das Buch kostet 12 Euro 95.

Am Mikrofon war Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.

 

ANMERKUNGEN
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»» [1]   Der Name der Redakteurin wurde geändert, damit die datenkrakigen Suchmaschinen dieser Welt keine Chance erhalten, der Redakteurin ihr verwerfliches Tun ein Leben lang vorzuhalten. Ein bißchen vom erwähnten Geplapper wurde im Originalton vorgestellt.

»» [2]   Nur die Notbremsen funktionierten 1870 in den Zügen noch nicht so, wie es die Autorin auf Seite 33 schildert. Entsprechende Bremssysteme waren allenfalls in der Erprobung oder noch nicht erfunden, auf gar keinen Fall im Regeleinsatz.

»» [3]   Jutta Ditfurth : Die Himmelsstürmerin, Seite 215.


Diese Seite wurde zuletzt am 6. Januar 2012 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. ©  Walter Kuhl 2001, 2011, 2012. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.

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