Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte
Radio: Radio Darmstadt
Redaktion und Moderation: Walter Kuhl
Ausstrahlung am:
Montag, 14. Februar 2011, 17.00 bis 18.00 Uhr
Wiederholt:
Montag/Dienstag, 14./15. Februar 2011, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 15. Februar 2011, 05.10 bis 06.10 Uhr
Dienstag, 15. Februar 2011, 11.10 bis 12.10 Uhr
Zusammenfassung:
Elitenwechsel in Nordafrika, ein widerständiger Verlag, Mausklicks, lange Wellen und ein Milliardengrab.
Besprochene Zeitschrift und Buch:
Zur Neoliberalisierung von Radio Darmstadt und seinem Trägerverein und zur Ausgrenzung mehrerer Mitglieder meiner Redaktion seit 2006 siehe meine ausführliche Dokumentation.
Jingle Alltag und Geschichte
Nach Tunesien nun Ägypten. Was als Volksaufstand begann, führt vermutlich in beiden Ländern zu einer Umgruppierung der herrschenden Eliten. Es ist kaum anzunehmen, daß die mit dieser internen Rochade verbundene Demokratisierung zu fundamentalen Veränderungen in den materiellen Verhältnissen eines Großteils der jeweiligen Bevölkerungen führen wird. Während in Tunesien etwa die Hälfte des Landes der Familie der Gattin des Präsidenten gehört haben soll, ein Vermögen, das nun innerhalb der tunesischen Eliten zur Umverteilung ansteht, hatte sich Husni Mubarak über eine profitable Klientelbeziehung zum ägyptischen Militär abgesichert. Selbiges ist der zentrale Macht- und Wirtschaftsfaktor im Land. Löst daher eine Militärdiktatur die vorherige, präsidial verkappte Diktatur ab? Wenn dann noch von Reformen, insbesondere Wirtschaftsreformen geredet wird, gilt es, genau hinzuhören. Derlei Reden verbergen ihren neoliberalen Kern recht gerne.
Das Manko der Massenbewegung in beiden Ländern liegt wohl darin begründet, daß es keine organisierte Opposition gibt, die eine tatsächliche Alternative zur jahrzehntelang vorherrschenden korrupten und repressiven Regierungsführung bietet. Daß sich sowohl das tunesische Regime des gestürzten Präsidenten Ben Ali wie auch die demokratisch eingefaßte Diktatur eines Husni Mubarak der Protektion der westlichen Welt erfreut haben, muß uns nicht verwundern. Wohlklingende Wirtschaftsbeziehungen sind allemal wichtiger als Demokratie und Menschenrechte. Am Mikrofon ist Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
Die meisten Menschen in den anderen Ländern der arabischen Welt nehmen diesen Umsturz, egal wie er sich entwickeln wird, wohl mit Interesse und Sympathie wahr. Leben sie doch selbst in gesellschaftlichen Verhältnissen, die Macht und Reichtum in den Händen Weniger konzentrieren. Selbst auf Palästina dürfte dieser frische Wind nicht ohne Einfluß bleiben. Die Frage ist, ob die Menschen der kapitalistischen Metropolen das Potenzial derartiger Massenbewegungen verstehen und aufnehmen können. Denn auch hierzulande verbirgt sich hinter einer formalisierten Demokratie mit rechtsstaatlichen Zügen eine Herrschaftsform, die Macht und Reichtum kanalisiert und die Ausbeutung mit medialem Kleister banalisiert.
Die Herausforderung der 1960er Jahre, die insbesondere in Frankreich, Italien und der Bundesrepublik Deutschland zu harten Auseinandersetzungen und letztlich auch gesellschaftlichen Veränderungen geführt hat, ist auf dem mit Anpassung und Integration verbundenen langen Marsch durch die Institutionen versandet. Witzigerweise sind es jedoch fast ein halbes Jahrhundert später nicht Sozialdemokraten, die von 1968 profitiert haben, sondern eine Bewegung, die es damals noch nicht gab und die sich heute als grüne Partei anschickt, die schwarz-rote Blockade zu brechen. Machen wir uns nichts vor – der geldgeile Stumpfsinn des bürgerlichen Lagers wird allenfalls durch die Bigotterie der ökologischen Gutmenschen ergänzt werden.
Auf der Frankfurter Buchmesse traf ich im vergangenen Herbst auf dem Stand des Laika-Verlages Karl Heinz Dellwo. Dieser hat zusammen mit dem unabhängigen Filmproduzenten Willi Baer einen Verlag gegründet, der es sich zum Ziel gesetzt hat, das Emanzipatorische radikaler gesellschaftlicher Verhältnisse herauszuarbeiten, zu dokumentieren und für diejenigen verfügbar zu machen, die sich auch heute noch nicht mit einer Welt abfinden wollen, die auf Herrschaft und Ausbeutung aufbaut. Karl Heinz Dellwo hatte als Lehrling im Schwarzwald die Signale der 68er mit Enthusiasmus vernommen. In Hamburg führte seine Teilnahme an einer Hausbesetzung ins Gefängnis, von dort sein weiterer Weg in die Rote Armee Fraktion. Nach seiner Entlassung aus der Haft vor sechzehn Jahren ist er als Filmemacher auf den Spuren von Emanzipation und Widerstand.
Mit dem Laika-Verlag und der darin erscheinenden „Bibliothek des Widerstands“ werden weltweite Kämpfe für soziale Veränderung und Befreiung dokumentiert und reflektiert. Rund hundert sogenannte Mediabooks – eine Kombination aus Dokumentarfilm und Buch – soll die hiermit aufgebaute Reihe einmal umfassen. Die darin versammelten Texte und Filme werden nicht nur von Errungenschaften, sondern auch von Niederlagen und Rückschlägen erzählen. Dennoch zeigen sie zugleich, wie Kämpfe um die soziale Befreiung der Menschen immer wieder neu entstehen und aufgrund der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse auch immer wieder neu entstehen müssen und werden.
Gerhard Hanloser von Radio Dreyeckland sprach mit Karl Heinz Dellwo über die „Bibliothek des Widerstands“. Das Interview kann auf dem Audioportal des Bundesverbandes Freier Radios angehört und/oder heruntergeladen, aber auch direkt mit nebenstehendem Player aufgerufen werden.
In der vergangenen halben Stunde hörtet ihr einen Austauschbeitrag von Radio Dreyeckland aus Freiburg, den ich dem Audioportal des Bundesverbandes Freier Radios entnommen habe. Pikant hieran ist, daß Informationen aus dem Vereinsleben zufolge der Vorstand von Radar e.V. beschlossen haben soll, die Mitgliedschaft in selbigem Bundesverband Freier Radios zu beenden. Neben finanziellen Erwägungen sticht ein Argument für den Austritt besonders hervor. Man habe, so wird berichtet, den Austritt vor allem aus ideologischen Gründen erwogen [1]. Dies wäre durchaus konsequent. Denn Radio Darmstadt ist genauso wie sein Trägerverein längst nicht mehr ein Medium engagierter Gegenöffentlichkeit; und es ist frei nur noch insofern, als es sich von den lästigen Erinnerungen an seine emanzipatorischen Ansprüche vor anderthalb Jahrzehnten durch das Aussprechen von Sende- und Hausverboten befreit. [2]
Verlautbarungsjournalismus, der unkritisch auf der Paraphrase eingegangener Pressemitteilungen und Veranstaltungshinweise beruht, sowie Mainstreammusik prägen ein Programm, das mit Ausnahme winziger Programmnischen inhaltlich und ideologisch dem Neoliberalismus und seinen Werten verpflichtet ist. Logisch, daß ich in einem solchen Radiosender ein Hausverbot habe. Mit dieser Geisteshaltung steht Radio Darmstadt sozusagen mitten im Leben.
Vorletzte Woche fragte das Darmstädter Echo, ob Deutschland eine Frauenquote benötige. Nun wird eine kapitalistische Leistungsgesellschaft nicht besser dadurch, daß mehr Frauen in Leitungspositionen aufsteigen können, wie Angela Merkel und Ursula von der Leyen täglich nachweisen. Doch darum geht es nicht. Vielmehr ist es nur allzu offensichtlich, daß und wie Frauen in allen gesellschaftlichen Bereichen in der Minderheit sind, wo es um Macht und Einfluß, Karriere und Geld geht. Mehr als 90 Prozent der einhundert größten deutschen Konzerne haben nicht eine einzige Vorstandsfrau in ihren Reihen.
Selbst in einem nichtkommerziellen Lokalradio, in dem manche Moderatoren so zu klingen versuchen wie ihre kommerziellen Vorbilder, sind Frauen signifikant in der Minderheit. Allenfalls ein Viertel, eher noch weniger, aller Sendungen werden von Frauen gestaltet; das Radio ist eine Männerdomäne. In anderen gesellschaftlichen Bereichen ist das noch krasser. Allen Frauenförderplänen, dem weichgespülten Gender Mainstreaming oder Antidiskriminierungsgesetzen zum Trotz hat sich an diesem Zustand nur wenig geändert. Daher wurde kürzlich eine neue Diskussionsrunde darüber eröffnet, wie das weibliche Potenzial durch Einführung einer Frauenquote besser erschlossen und vernutzt werden kann. Denn um diesen Nutzen geht es, nicht etwa darum, daß Frauen diskriminiert werden.
Also fragte das Darmstädter Echo seine Leserinnen und Leser, ob dieses Land eine Frauenquote benötige. Wenig überraschend wiesen mehr als vier Fünftel der Mausklicks diese Zumutung zurück. Nun mag es eine Reihe von Gründen geben, weshalb 81,52% der Mausklicks ganz unquotiert leben wollen. Vermutlich waren es zumeist Männer, die sich an dieser Onlinebefragung beteiligt haben; aber auch viele Frauen haben sich dem Jahrtausende alten Diktat unterworfen, daß ihre Stimme (oder in diesem Fall: ihre Maus) nicht zählt. Frauen möchten keine Quotenfrauen sein, sondern stolz darauf, aus eigener Kraft etwas erreicht zu haben.
Sie verfallen derselben Illusion, wie sie das Märchen vom Tellerwäscher suggeriert. Es sind nun einmal die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die darüber entscheiden, welche Frau in den elitären Männerzirkel aufgenommen wird. Um dazu gehören zu dürfen, ist viel Selbstverleugnung und Verdrängung vonnöten oder das Ethos, besser sein zu wollen als die Männer; und das bedeutet: noch härter, noch unverwundbarer, noch männlicher aufzutreten als der Glanz der Schöpfung. Insofern hat diese Onlineumfrage nur bewiesen, wie krass die Werte einer Männerwelt in den Köpfen und Herzen von Männern und Frauen verankert sind.
In der vergangenen Woche wurde eine weitere Sozialisationsinstanz abgefragt. Diesmal ging es darum, die eigenen Kinder auf Erfolg zu trimmen. Die kapitalistische Leistungsgesellschaft frißt nicht nur Frauen, sondern auch Kinder. Von früh auf müssen sie Körperbau und Sprache entwickeln, erwünschte mentale Dispositionen nachweisen, bigotte Normen erlernen und akzeptieren, sich anpassen und vor allem: Entfremdung lernen, Disziplin lernen und nochmals den ideologischen Ballast dieser Gesellschaft lernen. Auch hier wird der Illusion Vorschub geleistet, daß Lernen Erfolg, Aufstieg und Karriere einbringt. Das mag im Einzelfall stimmen, gesellschaftlich betrachtet ist längst erwiesen, daß der soziale Status des Elternhauses, daß Geld und Beziehungen jeden Lernerfolg auffressen.
Und so fragte das Darmstädter Echo seine Mäuse, ob Kindererziehung mit Druck und Härte Sinn mache. Rund ein Zehntel der klickenden Mäuse war dieser Ansicht; weshalb es nicht verwunderlich ist, daß knallharte Zombies unseren Planeten bevölkern. Viel bedenklicher jedoch ist es, daß nur die Hälfte dieser Hartgesottenen, also etwa 5% der Antwortenden, ganz ohne Zucht und Ordnung auskommen will. Vier Fünftel der Befragten hingegen nahmen die suggestive und keiner und niemandem so richtig wehtuende Antwortmöglichkeit wahr, um zu sagen, sie seien gegen Druck und Härte, aber manchmal muß man eben doch durchgreifen. Das sind vermutlich die Hilflosen, die Bigotten und diejenigen, die sich etwas vormachen. Ob dies den Mädchen und Jungen wirklich nützt, wenn sie eigentlich nicht, aber dann doch hart angepackt werden, bezweifle ich. Kinder, die dieser Welt ausgeliefert sind, bedürfen sicherlich viel Liebe und Unterstützung, Mutmachen und ein soziales Auffangbecken, aber gewiß keine Instanz, die verständnisvoll tut, aber manchmal dann doch hinterrücks gnadenlos zupackt.
Diese Welt benötigt keine Mitmacher und Mitläuferinnen, sondern Kinder, die von früh auf lernen, sich zu wehren, Andere zu respektieren, Ungerechtigkeit zu bekämpfen und solidarisch zu sein. Das ist gewiß ein schwieriger, fast unmöglicher Erziehungsauftrag, aber der einzige, der aus der Misere dieser Welt hinausführt.
Der Wahn, die Menschen und damit auch die Kinder für die Erfordernisse einer auf Leistung getrimmten Spaßgesellschaft zu optimieren, führt zu einem verstärkten Konsum von vermeintlich wirksamen Medikamenten. Das Elend dieser Welt scheint anders nicht zu ertragen zu sein. Auch nicht besser ist es, Kindern, die für ihr Alter zu klein zu sein scheinen, mit Wachstumshormonen zu dopen. Wie das von der Pharmaindustrie unabhängige Projekt „Gute Pillen – schlechte Pillen“ vor kurzem mitgeteilt hat, ist eine Therapie mit Wachstumshormonen mit Risiken verbunden, deren Ausmaß nur schwer abzuschätzen sei. Eine Studie aus Frankreich legt den Verdacht nahe, daß mit Wachstumshormonen behandelte Kinder dem Risiko ausgesetzt sind, früher als statistisch für ihre Altersgruppe vorgesehen zu sterben. Weitere Informationen liefert die Webseite zum Projekt www.gutepillen-schlechtepillen.de. Passend zu dieser Meldung hat die BUKO-Pharmakampagne eine neue Webseite online gestellt, mit der gezielt Kinder und Jugendliche im Alter von 12 bis 17 Jahren dazu motiviert werden sollen, sich mit dem Konsum der Mittelchen der Pharmaindustrie kritisch und reflektiert auseinander zu setzen. Unter der Rubrik „Werbealarm“ werden die Tricks der Arzneimittelwerbung vorgestellt; und insofern eignet sich diese Webseite durchaus auch für Erwachsene. Zu finden auf www.pillenchecker.de.
Besprechung von : Lunapark21, Heft 12, Winter 2010, 72 Seiten, € 5,50
Der allseits beliebte, weil vielfältig zitierbare und ideologisch verwertbare demografische Wandel befördert eine eigene Wirklichkeit. Angeblich, so wird uns von den Think Tanks der neoliberalen Autisten und deren medialen Propagandistinnen verklickert, müsse das Renteneintrittsalter erhöht werden, um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhalten. Einmal ganz abgesehen davon, daß mir diese Wettbewerbsfähigkeit schon grundsätzlich schnurzpiepegal ist und im Detail auf den Knochen und Nerven der abhängig Beschäftigten und Scheinselbständigen (und hier insbesondere der Frauen) ausgetragen wird, ist der Standortvorteil der lebenslangen Arbeitszeit im Grunde einer der Geldbesitzer und Kapitaleigentümer.
Wenn wir uns jedoch auf diese absurde Logik einlassen, wettbewerbsfähiger als Andere sein zu wollen, damit diese und nicht wir am Hungertuch nagen, anstatt solidarisch weltweit den Reichtum der herrschenden Klassen unter uns zu verteilen, dann zeigen die weltweiten Wirtschaftsdaten den erstaunlichen Befund, daß dort, wo Menschen früher in Rente gehen, die Wirtschaft konkurrenzfähiger ist als in einem vergleichbaren Land, in dem die Menschen länger malochen müssen. Diese Einsicht vermittelt die vierteljährlich herausgebrachte ökonomiekritische Zeitschrift Lunapark21 in ihrer das Heft einleitenden Rubrik zur Quartalslüge.
Das im Dezember erschienene aktuelle Heft 12 befaßt sich folglich mit den realen Dingen dieser Welt und pfeift auf die Propaganda des kapitalistischen Krisenmanagements. Da wird dem ideologischen Akrobaten der Automobillobby Heiner Geißler, der einstmals meinte, es sei der Pazifismus, der Auschwitz erst möglich gemacht habe, bei seiner Arbeit zugunsten von „Stuttgart 21 plus“ auf die Finger geschaut. Da wird ein Theater in San Francisco vorgestellt, das den Mächtigen auf die Nerven gehen will. Da wird im wahrsten Sinne des Wortes Porzellan zerschlagen, um den Marktwert zu erhalten. Es räsoniert Lucas Zeise über die irische Krise und die deutsche Schuldenpolitik. Niedriglöhne in Deutschland und Sarkozys Rentenreform in Frankreich sind zwei Seiten desselben unsozialen Mainstreams. Gisela Notz führt uns den damit verbundenen Weg in die Bürgerarbeitsgesellschaft vor Augen. Das Erfolgsmodell der Bürgerarbeit, die für Erwerbslose nichts anderes ist als Zwangsarbeit, wird sowohl die ohnehin manipulierten Statistiken wie auch die öffentlichen Kassen entlasten. Die noch Beschäftigten werden weiter unter Druck gesetzt, denn eine allseits verwertbare industrielle Reservearmee lähmt auch den letzten Widerstand. Oder vielleicht doch nicht? Es soll vorkommen, daß sich drangsalierte Menschen nicht alles gefallen lassen. Diesen weit verbreiteten Unmut gilt es, emanzipatorisch zu organisieren.
In weiten Teilen dieser Erde ist die moderne Sklaverei schon weiter fortentwickelt. Seit einem halben Jahrzehnt arbeiten Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter in Asien an einer gemeinsamen Strategie zugunsten der Arbeitenden in der Textilindustrie. Ihr Ziel ist ein asiatischer Grundlohn, ihr Gegner ist die Bourgeoisie der von den multinationalen Konzernen gegeneinander ausgespielten Länder. Von derlei solidarischen Positionen sind die europäischen Gewerkschaften noch weit entfernt. Da gilt es, den eigenen Standort zu sichern. Doch dieser Standort sieht einer neuen Gefahr entgegen.
Die hermetisch abgeriegelte Festung Europa wird durch eine neue Welle der Arbeitsmigration von Osteuropa in den scheinbar goldenen Westen bereichert. Schon heute werden Millionen Männer und Frauen aus Polen und Rumänien, aus Ungarn und den baltischen Staaten zu Niedrigstlöhnen in Westeuropa beschäftigt. Deutschland und Österreich hatten im Rahmen des EU-Beitritts der osteuropäischen Länder eine Übergangsfrist zur Öffnung ihrer Arbeitsmärkte ausgehandelt, nicht zuletzt auf Wunsch der Gewerkschaften. Doch nach den 1. Mai-Feiern wird nach Ablauf dieser Übergangsfrist das verallgemeinert, was in der Landwirtschaft seit Jahren üblich ist: polnische oder kroatische Männer und Frauen werden zu Hungerlöhnen ausgebeutet. Anstatt daß alle zusammen für ausreichend hohe Löhne kämpfen, lassen sie sich gegeneinander ausspielen. Diese Binnenbewegung wird ergänzt durch das Frontex-Regime, dem jährlich wohl weit mehr als tausend Menschen zum Opfer fallen. Das europäische Grenzregime wird, wie ein weiterer Beitrag ausführt, durch die heuchlerische Migrationspolitik der Obama-Regierung ergänzt. Der Klassenkampf findet weltweit auf brutalisierter Stufenleiter statt.
Nützlich, wenn auch theoretisch anspruchsvoll, ist die Einlassung der in Wien lehrenden Historikerin Andrea Komlosy über Krisen und lange Wellen. Vor rund einhundert Jahren wurde erstmals ein Krisenzyklus postuliert, der weit über den Zeitrahmen eines normalen industriellen Zyklus von rund zehn Jahren hinausreicht. Die später vereinfacht sogenannten „Langen Wellen der Konjunktur“ durchziehen die kapitalistische Entwicklung, auch wenn nicht abschließend geklärt ist, seit wann und weshalb. Daß sie existieren, kann nur schwerlich bestritten werden, als problematischer erweist sich ihre analytische Begründung.
Doch weshalb sind sie nicht nur für Wirtschaftstheoretiker, sondern auch für uns von Interesse? Wie der marxistische Ökonom Ernest Mandel in den 70er und 80er Jahren gezeigt hat, gibt es eine Korrelation zwischen den Langen Wellen und Zyklen des Klassenkampfes. Vereinfacht gesagt: wenn wir unsere Position in einer langen Welle erkennen, können wir theoretisch auch die Widersprüche herausarbeiten, die den Klassenkampf gegen dieses absurde kapitalistische System befördern. Allerdings liegt dem kein Automatismus zugrunde, und Ernest Mandel wäre auch der letzte gewesen, der solcherlei behauptet hätte.
Andrea Komlosy gibt uns im aktuellen Winterheft von Lunapark21 eine geraffte Fassung des Forschungsstandes und wagt eine Einordnung der aktuellen Krise des Kapitals. Dies ist insofern problematisch, weil im Grunde erst im Nachgang, nach Analyse verschiedenster Daten, der konjunkturelle Verlauf eines sogenannten Kondratieff-Zyklus rekonstruiert werden kann. Wenn wir hingegen annehmen, daß ein solcher Zyklus rund 50 Jahre beträgt und die vier Phasen der Prosperität, der Rezession, der Depression und der Erneuerung umfaßt, dann können wir auf Grundlage vorhandener Daten vermuten, daß ein neuer Zyklus Mitte der 90er Jahre begonnen hat, in dessen prosperierender Phase wir uns befinden.
Die Finanzkrise von 2007 mit der nachfolgenden fundamentalen Wirtschaftskrise scheint dem zu widersprechen. Dabei kann es durchaus sein, daß der Kapitalismus selbst an Grenzen stößt, die selbst in prosperierenden Phasen schwerwiegende Rückschläge provozieren. Damit will ich nicht sagen, daß der Kapitalismus vor einer Systemkrise steht. Vielmehr denke ich, daß das 21. Jahrhundert noch barbarischer werden wird als sein Vorgänger. Die allenthalben feststellbare Regression, die mit Neoliberalismus, Postmoderne, Globalisierung, Lohndumping und sozialdarwinistischer Verachtung der ausgebeuteten Menschen verbunden ist, wird die Luxemburgsche Fragestellung von Sozialismus oder Barbarei zwangsläufig wieder auf die Tagesordnung stellen. Ich stimme hingegen der konjunkturellen Einschätzung von Andrea Komlosy nicht zu, wenn sie den Aufschwung des 5. Kondratieff-Zyklus derzeit enden läßt, weil ich die Dynamik des Kapitals anders einschätze. Als Einführung ist ihr Aufsatz dennoch von Interesse. [3]
Das Bedrohliche an der Lunapark21 ist, daß sie mit viel Text und schwerlastigen Inhalten daherkommt. Das Angenehme an der Lunapark21 ist, daß diese Texte auf eine Weise geschrieben werden, die nicht abschrecken, nicht belehren, sondern Horizonte öffnen und den Wahnsinn verstehbar machen soll. Zudem werden zum Schrecken mancher Redakteurin und manchen Autors die 72 Seiten eines Heftes mehr und mehr von Bildern und Grafiken, überhaupt von Elementen der Auflockerung okkupiert. Unschlagbar jedoch ist der Geldwert eines solchen Heftes; denn so viel Aufklärung gegen die Propaganda der Macht finden wir zum Preis von 5 Euro 50 pro Heft nun wirklich nicht. Und ein Sozialabo gibt es auch.
Besprechung von : Volker Lösch, Gangolf Stocker, Sabine Leidig und Winfried Wolf (Hg.) – Stuttgart 21 – Oder: Wem gehört die Stadt, Papyrossa Verlag, 199 Seiten, € 10,00
Überhaupt – für diejenigen, die ihr Abo zu einem Abo PLUS umwandeln, gibt es die zwei oder dreimal im Jahr zusätzlich herausgegebenen Sonderhefte zu aktuellen Themen kostenlos dazu. Und wenn mal die Zeit nicht reicht, um ein solches Sonderheft rechtzeitig fertigzustellen, dann gibt es durchaus Alternativen. Als verfrühtes Weihnachtsgeschenk flatterte den Abonnentinnen und Abonnenten nämlich anstelle eines solchen Sonderheftes ein Buch ins Haus. Genauer: ein soeben im PapyRossa Verlag herausgekommenes Paperback zu Stuttgart 21 mit der Fragestellung „Wem gehört die Stadt“. Anstelle des Feuilletons der liberalen Presse oder der suggestiven Bilder der am Wohlergehen dieses Landes interessierten Fernsehsender lesen wir hier ungeschminkt die Tatsachen hinter dem Milliardengrab unterhalb des Stuttgarter Kopfbahnhofs. Da werden Intrigen gesponnen, die Demokratie ausgehebelt, die Gegnerinnen verhöhnt und – wenn sie nicht brav zur Schule gehen – einfach einmal verprügelt.
Wer dieses Buch in der Hand gehabt und darin geblättert hat, mag verstehen, weshalb ein nicht einmal linksradikaler, sondern mitunter ziemlich biederer bürgerlicher Protest eine derartige Wirkung erzielen konnte. Allerdings, so müssen wir festhalten, ist die Taktik der Tunnelmaulwürfe aufgegangen: das einlullende Schlichtungskonzept mit dem geschickt ausgesuchten Moderator Heiner Geißler scheint zu funktionieren. Insbesondere erhalten wir über das Buch eine fundierte Antwort auf die von interessierten Kreisen immer wieder hartnäckig gestellte Frage: Warum kommt ihr erst jetzt mit eurer Kritik? Die Antwort lautet: diese Kritik wurde schon im vergangenen Jahrhundert geäußert und nach allen Regeln der herrschenden Kunst marginalisiert.
Ich habe in meiner kleinen Bibliothek ein Büchlein mit dem fragenden Titel „Stuttgart 21 – Hauptbahnhof im Untergrund?“ stehen, das schon 1996 in zweiter Auflage im Neuen ISP Verlag erschienen ist. Schon damals wurde die Gigantomanie des Projekts angeprangert, schon damals wurde das finanzielle Kalkül kritisiert, aus dem Stuttgarter Hauptbahnhof ein Immobilienfilet zu köcheln, schon damals wurde aufgezeigt, in wessen Interesse die Menschen in den Untergrund gedrängt werden sollten. Es sind dieselben Interessen, die hinter der Bahnreform stehen, dieselben Interessen, die den öffentlichen Personenverkehr unattraktiv gestalten, es ist dieselbe Lobby aus Öl, Gummi, Auto und Flugverkehr. Und wer jetzt fragt, was erzählt der denn da gerade über ein Büchlein aus seiner Bibliothek, was habe ich denn davon? Der oder dem kann ich sagen, daß selbige auch heute noch interessante und in Buchform gepreßte Broschüre nun als kostenloser Download auf der Webseite des Neuen ISP Verlags zur Verfügung steht.
Aber zurück zu dem in grün und gelb gehaltenen Buch aus dem PapyRossa Verlag. Wem gehört die Stadt? Dies ist durchaus eine berechtigte Frage, die sich nicht nur beim Vorgehen des rot-grünen Bauvereins in der Oppenheimer Straße stellt. Hinter Stuttgart 21 steht die autogerechte Stadt, der jeglicher öffentliche Personenverkehr im Wege ist. Punkt für Punkt werden die Märchen der Ideologen der Macht demontiert, Punkt für Punkt werden die Ungeheuerlichkeiten aufgelistet, mit welchen das größenwahnsinnige Projekt auch dann durchgezogen werden soll, wenn die Kosten davonlaufen und die Projektausführung mehr nebulös als sauber geplant daherkommt, dessen Risiken zum Teil unkalkulierbar sind.
Carl Waßmuth hat die Verblendung dieser Macher in einem kurzen Aufsatz prägnant zusammengefaßt: „Sie wollen, daß wir blind sind“. Dies ist real wie metaphorisch gemeint. Die Knüppel- und Pfeffersprayorgie am 30. September 2010 hat nicht nur Empörung hervorgerufen, sondern auch Erblindung hervorgebracht. Auf der metaphorischen Ebene bedeutet dies, daß wir nicht sehen können sollen, was sie tun, daß wir durch lichthelle Architekturmodelle geblendet werden sollen, während wir gleichzeitig wie die Maulwürfe durch lange Tunnelstrecken durch Stuttgarts Untergrund geleitet werden. Das Licht der Öffentlichkeit ist für die Protzbauten der Macht vorgesehen; uns bleibt das Dasein als apathische, vom Strahl der Erkenntnis nicht erhellte Troglodyten.
Der von Volker Lösch, Gangolf Stocker, Sabine Leidig und Winfried Wolf im PapyRossa Verlag herausgegebene Band heißt „Stuttgart 21 – Wem gehört die Stadt“. Die hier auf 200 Seiten zusammengeballte Informationswut kostet nicht einmal viel. Klar, für Abonnentinnen und Abonnenten der Lunapark21 mit ihrem Plus-Abo ist der Band kostenfrei, doch auch für andere Interessierte sind zehn Euro sicher nicht zuviel verlangt.
Am Mikrofon war Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt.
»» [1] Mit Datum vom 14. Februar 2011 verabschiedete sich der das Darmstädter Lokalradio betreibende Verein aus dem Bundesverband Freier Radios, um mit den Mitgliedsbeiträgen „sinnvollere Investitionen“ zu tätigen. Das hierin zutage tretende Verständnis, ein Verband freier Radios sei eine Investitionsmaschine, belegt, daß die Managergruppe im Vorstand ein freies Radio mit einem Kosten-Nutzen-Kalkül verwechseln. Seltsam ist nur, daß der ideologische Grund „teilweise extremer politischer Positionen“ keine Rolle gespielt hat, als Radar Mitte der 1990er Jahre dem Verband beigetreten war. Die Positionen haben sich seither nicht geändert und können in der 1994 verabschiedeten Charta des Verbandes nachgelesen werden. Wer so etwas teilweise extrem findet, besitzt offenkundig einen teilweise extremen Tunnelblick. Der wirkliche Grund: dem BFR sind die Methoden des Vereins, aktive Personen der freien Radioszene aus dem Sendebetrieb auszugrenzen, viel zu extrem.
»» [2] Am selben Abend, direkt nach der Erstausstrahlung meines Podcasts, verhängte der Programmrat ein erneutes, diesmal dreimonatiges Sendeverbot gegen eine Redakteurin, die in einem Nachruf auf den im Oktober 2010 verstorbenen Christian Knölker die gesellschaftliche und soziale Dimension seines Todes auf eine Weise thematisiert hatte, die den Verein und sein Radio in die Pflicht nahm. Das hierbei vom Programmrat und vom Vorstand des Vereins veranstaltete Affentheater wurde von einem BFR-Mitglied so kommentiert, daß die Betreiber dieses Radios lieber einen „Verein der beleidigten Pappnasen“ gründen sollten anstatt ein nichtkommerzielles Lokalradio zu betreiben. Treffender hätte ich es auch nicht ausdrücken können.
»» [3] Meine Gedanken zu diesen langen Wellen habe ich 1986 in einem kurzen Aufsatz zusammengefaßt.
Diese Seite wurde zuletzt am 11. März 2011 aktualisiert. Links auf andere Webseiten bedeuten keine Zustimmung zu den jeweiligen Inhalten, sondern sind rein informativer Natur. © Walter Kuhl 2001, 2011. Die Wiedergabe, auch auszugsweise, ist nur mit dem Einverständnis des Verfassers gestattet.
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