Medienhaus Südhessen
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Kapital – Verbrechen

Vom Odenwald nach Ungarn

Sendemanuskript

Sendung der Redaktion Alltag und Geschichte

Radio: Radio Darmstadt

Redaktion und Moderation: Walter Kuhl

Ausstrahlung am:

Montag, 24. Januar 2011, 17.00 bis 18.00 Uhr

Wiederholt:

Montag/Dienstag, 24./25. Januar 2011, 23.10 bis 00.10 Uhr
Dienstag, 25. Januar 2011, 05.10 bis 06.10 Uhr
Dienstag, 25. Januar 2011, 11.10 bis 12.10 Uhr

Zusammenfassung:

Ein aus der Odenwaldschule abgeleitetes Sexualmodell, ein Zensurversuch der bigotten Art, ein Polizeieinsatz demonstriert die Pressefreiheit, und ein ungarischer Mob.

Zur Neoliberalisierung von Radio Darmstadt und seinem Trägerverein und zur Ausgrenzung mehrerer Mitglieder meiner Redaktion seit 2006 siehe meine ausführliche Dokumentation.


Jingle Alltag und Geschichte

Am Samstag übernahm die Onlineausgabe des Darmstädter Echo einen Artikel der Nachrichten­agentur dpa. Selbige schrieb, daß ein Mitbegründer der alternativen tageszeitung taz angeblich ein Kinderschänder gewesen sein soll. Vor rund vier Jahrzehnten war der inzwischen verstorbene Redakteur als Lehrer an der Odenwald­schule so manchem jungen Schüler zugetan. Der (nachträglich leicht erweiterte) Artikel endet mit folgenden Worten: „Der frühere Kollege habe als Lehrer sexuelle Gewalt gegen Jungen ausgeübt. Er soll aber später nur noch Beziehungen zu Frauen gehabt haben.“

Was will mir dieser Satz sagen? Daß der taz-Redakteur seine erotische Verirrung abstreifen konnte und später wieder ein ganz normaler Mann geworden ist, also heterosexuell orientiert? Oder daß Mädchen und Frauen die legitimen Partnerinnen für sexuelle Gewalt sind und nicht Jungs? Ein solcher Satz ist nämlich nicht gedankenlos daherge­schrieben, er drückt vielmehr die geistige Disposition einer verklemmt sexualisierten Männerge­sellschaft aus.

Nicht unbedingt verklemmt, aber vorausschauend agiert die präventive Konterre­volution. Der soziale Aufruhr von morgen vernetzt sich über das Internet, so wie dies ansatzweise vor kurzem auch in Tunesien geschah. Der kluge Staat baut vor und richtet ein Instrumentarium ein, unliebsame Seiten und Internetdienste abschalten oder blockieren zu können. Nun darf er das nicht so offen sagen und tun, weil es in diesem Land immerhin noch Ansätze einer liberalen Öffentlich­keit gibt. Also gilt es, ein Einfallstor für Internetzensur zu suchen, bei dem alle zustimmen und die, die prinzipiell gegen Zensur sind, ausgegrenzt werden können. Pädophilie ist solch ein Schlagwort, mit dem jede rationale Argumentation beiseite gewischt werden kann.

Das ist insofern auffällig und verlogen, weil Pädophilie, die außerhalb des Internets stattfindet, nicht nur alltäglich ist, sondern von der zensurgeilen Erwachsenen­welt auch geduldet wird. Etwa an Odenwald­schulen, in Sportvereinen oder den einschlägigen Einrichtungen der Katholischen Kirche. Dort gibt es keine Zensur, schon gar keine Internetzensur, sondern jahrzehntelanges Wegschauen und Mitwissen, bis es eben so offensicht­lich wird, daß das Schweigen gebrochen werden kann.

Werfen wir einen Blick nach Ungarn. Die sortige Mediengesetz­gebung sorgt für eine Empörung, die wir bei der Vorratsdaten­speicherung und angestrebten Internetzensur hierzulande vergeblich suchen. Allerdings ist Ungarn ein Staat, in dem die extreme Rechte auf dem Vormarsch ist. Die Kulturwissen­schaftlerin Magdalena Marsovszky sprach am 2. Dezember [2010] in Hamburg über Ungarns völkische Wende im Jahr 2010 hin zu einer Gesellschaft, in der Rassismus, Antisemitismus und Antiziganismus zum normalen Erscheinungs­bild gehören. In der folgenden Stunde hört ihr diesen vom Freien Sender Kombinat in Hamburg aufgezeichneten Vortrag.

Und nebenbei: es war die Hamburger Polizei, die in einem für Hamburger Verhältnisse ganz normalen Akt präventiver Medienzensur am 25. November 2003 die Redaktionsräume des Senders mit martialischem Aufgebot umzingelte, besetzt hielt und abfotografierte. Anlaß, nicht Grund, war ein Redakteur, der es gewagt hatte, den nicht autorisierten Mitschnitt eines Recherchege­sprächs mit dem Pressesprecher der Hamburger Polizei im O-Ton zu senden. Das Bundesverfassungs­gericht hat vor wenigen Tagen festgestellt, daß dieser Eingriff in die Presse- und Rundfunkfreiheit verfassungs­widrig war. Glück gehabt, wird man oder frau vielleicht denken, daß der Rechtsstaat doch noch funktioniert. Aber ist das so? [1]

Was bedeutet es, einer Hundertschaft [es waren sogar zwei!] von Polizeibeamten gegenüberzu­stehen und ohnmächtig mit ansehen zu müssen, wie ein möglicher­weise illegaler Mitschnitt zum Vorwand genommen wird, einen freien, politisch linken Radiosender nach allen Regeln der Polizeikunst einzuschüchtern? Was bedeutet es, jahrelang durch die gerichtlichen Instanzen ziehen zu müssen, wenn man und frau nicht die Finanzmacht multinationaler Pressekonzerne im Rücken hat? Wieviele Menschen geben angesichts mangelnder Finanzmittel und der offenkundig demonstrierten Macht des Stärkeren auf, anstatt sich für das eigene Recht aufzureiben? Hier sehen wir das Wesen des bürgerlichen Rechtsstaats, der natürlich jederzeit als Klassenstaat fungiert. Das ist in Deutschland so und das ist auch in Ungarn der Fall. Zuweilen benötigt ein solcher Staat nicht nur eine ausgefeilte Zensur, sondern auch ein geistiges Klima, in dem der Mob regiert.

Meint Walter Kuhl aus der Dissent – Medienwerkstatt Darmstadt angesichts des 66. Jahrestages der Befreiung der Insassen des Konzentrations­lagers Auschwitz durch die Rote Armee am 27. Januar 1945. Hören wir nun den Vortrag von Magdalena Marsovszky.

Vortrag von Magdalena Marsovszky

Mit dem nebenstehenden Player kann der Vortrag von Magdalena Marsovszky „Ungarns völkische Wende im Jahre 2010“ engehört werden. Länge 54:41 Minuten. Der Beitrag kann auch direkt bei Freie Radios Net angehört oder heruntergeladen werden.

 

ANMERKUNGEN
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»» [1]   Siehe auch die Pressemitteilung des Freien Sender Kombinats vom 5. Januar 2011,


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